Lauter Leben - Helga Schubert - E-Book

Lauter Leben E-Book

Helga Schubert

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Beschreibung

»Lieber ein blutiges Ohr und zufrieden.« Lauter Leben, nichts als Leben begegnet uns in Helga Schuberts erstem Erzählband von 1975: Alleinstehende Freundinnen, die so allein gar nicht stehen, Anna, die nicht allzu genau ist, »mehr so, wie es Spaß macht«, ein spätes Mädchen, das unverhofft einen Mann findet, »weil sie einmal war wie vorher noch nie«, oder eine Familie, bei der alles drunter und drüber geht, weil das Kind einen Hund will. Lauter Leben, selbst wenn vom Friedhof die Rede ist. Mit feiner Ironie, Anteilnahme und literarischem Gespür erzählt Helga Schubert von ganz normalen Menschen in der DDR. Tragik und Komik des Alltags spiegeln sich in einer glasklaren Sprache und mit scheinbar einfachen Pinselstrichen zeichnet Helga Schubert ganze Lebensgeschichten.

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Seitenzahl: 171

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Helga Schubert

Lauter Leben

Erzählungen

Mit einem Nachsatz von Sarah Kirsch

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Meine alleinstehenden Freundinnen

Meine alleinstehenden Freundinnen kann man unangemeldet besuchen. Meistens ist schon jemand da. Man kann zu ihnen jemand mitbringen. Meine alleinstehenden Freundinnen kommen nie unangemeldet, und wenn sie vorher von der Ecke anrufen. Sie wollen, dass man dann allein ist. Sie bringen niemand mit.

 

Meine alleinstehenden Freundinnen wohnen in Altbauwohnungen. Entweder im vierten Stock oder zu ebener Erde in einem Laden. Sie sagen, dass sie nicht jeden Dienstag auf dem Wohnungsamt sitzen wollen. Aber in Wirklichkeit wollen sie keine Neubauwohnung. Ihre Wohnungen sind nämlich unverwechselbar.

 

Meine alleinstehenden Freundinnen sind stolz auf ihre Besonderheit. Darauf vor allem. Ihre Türschilder sind handgemalt, unübersehbar. Neben dem Türschild hängt ein Schreibblock und daneben an einem Bindfaden ein Bleistift, für diejenigen, die vergeblich gekommen sind.

In den Wohnungsfluren liegen rote Kokosläufer. An den Flurwänden hängen Zeichnungen, Plakate, Kuckucksuhren. Bei einer steht am Flurende auf dem Fußboden ein zwölfbändiges Lexikon.

 

Meine alleinstehenden Freundinnen haben auch besondere Toiletten. Sofern sie sich nicht dem Geschmack der Mitbenutzer anpassen müssen. Die eine hat ihre Toilette, im Keller hinter zwei Sicherheitsschlössern, mit Wachstuch ausgekleidet. So sitzt man unter einem Wachstuchhimmel. Bei der anderen muss man erst geradeaus und dann rechtsherum gehen. So gelangt man zum Ziel, das auf einem Podest steht. Von dort sieht man an der Wand Bilder von Strumpfpackungen. Bei einer dritten alleinstehenden Freundin muss man erst das Fahrrad vom Toiletteneingang zum Kochherd schieben. So sieht man immer, wenn besetzt ist.

 

Die Küchen meiner alleinstehenden Freundinnen sind auch ihre Wasch- und Frühstücksräume. Die Küchenwände sind mit Farbfotos von Kochrezepten, Zwiebelbündeln sowie Hängeregalen mit Zwiebelmusterporzellan geschmückt. Die Tischdecken auf den Küchentischen sind blau kariert. Die Küchenschränke und -stühle sind selbst lackiert, rot oder weiß. Sie haben sich einen kleinen Elektroboiler und zum Ansehen einen dreiteiligen Spiegel daneben anbringen lassen.

 

Die Wohnzimmer meiner alleinstehenden Freundinnen fallen durch breite Liegen auf. Diese Liegen sind mit Teppichen oder Samtdecken und Kissen bedeckt. Daneben Glasvitrinen mit Nippes von den Großmüttern. Die Fernsehapparate, versteckt zwischen Büchern, übersieht man leicht. Meine alleinstehenden Freundinnen wollen keine Übergardinen.

Beleuchtungskörper sind Architektenarbeitslampen an der Wand. Die Wände sind weiß gekalkt und voller Bilder, sodass sie die Wände nicht so oft kalken müssen. Die Bilder sind eingetauscht oder in Großmut gekauft. Manchmal auch selbst gemalt. Eine Ikone hängt auch dabei, falls es IHN doch gibt.

 

Meine alleinstehenden Freundinnen gehen nicht zum Friseur, besitzen aber heimlich Lockenwickler. Sie schneiden sich ihre Haare gegenseitig. Meinen alleinstehenden Freundinnen ist es ganz egal, was sie anhaben. Und nur zufällig passt das Samthosenbraun zum Pulloverocker. Sagen sie. Für ihre Augen geben sie viel Geld aus. Für Lidpuder und -schatten, für Eyeliner, kleine Pinsel, für kuss- und tränenfeste Wimperntusche.

Wenn sie schon nichts für sich tun, müssen sie wenigstens etwas für sich tun.

 

Meine alleinstehenden Freundinnen haben, sofern sie nicht kinderlos sind, ein Kind. Die Kinder brauchen nicht so viel aufzuräumen, müssen nicht so früh ins Bett wie andere Kinder und gehen ebenfalls nicht zum Friseur. Die Kinder sind immer dabei. Meine alleinstehenden Freundinnen wollen ihre Kinder antiautoritär erziehen, aber die Kinder danken es ihnen nicht so, zunächst. Die Kinder ähneln ihren Vätern. Und da ist der Haken.

 

Mit den Vätern ihrer Kinder ist es im Guten auseinandergegangen. Sagen sie. Aber meistens wollten die Männer bleiben. Das betonen meine alleinstehenden Freundinnen. Darum würden diese Männer sie auch auf der Stelle wieder heiraten oder überhaupt heiraten. Wenn diese Männer nicht schon wieder verheiratet oder noch verheiratet wären.

 

Meine alleinstehenden Freundinnen vertreten die Meinung, dass man einmal im Leben verheiratet gewesen sein muss. Wenn sie keinen Freund haben, sagen sie, dass sie auf keinen Fall jeden Tag einen Mann in der Wohnung ertragen könnten. Wenn sie einen Freund haben, wohnt er bei ihnen. Aber unangemeldet. So viel Freiheit brauchen meine alleinstehenden Freundinnen.

 

Wenn meine alleinstehenden Freundinnen einen Freund haben, werden sie traurig. Weil sie ihn lieben, wie das auch klingt. Weil die Liebe so anstrengt. Dieser soll wirklich der letzte Versuch sein, bei ihm bleiben sie. Auf ihn hat sich das Warten gelohnt. Alles dies hoffen sie. Jedes Mal. Alle. Und die Freunde spüren zwar die Hoffnung, aber noch mehr die Anstrengung und werden misstrauisch.

 

Meine alleinstehenden Freundinnen finden sich nicht schön. Zum Ausgleich sind sie viel netter, als sie es wären, wenn sie sich schön fänden. Darum nimmt ihnen auch niemand diese Überzeugung, nicht einmal ihre Freunde. Oder, darum nehmen gerade ihre Freunde ihnen diese Überzeugung nicht.

 

Meine alleinstehenden Freundinnen nehmen die Pille. Aber gleich zu Anfang sagen sie das ihren neuen Freunden nicht. Weil die sich sonst ihr Teil denken. Die denken sich schon genug Teile beim Studium der vorhandenen Buchwidmungen. Aber so etwas sammelt sich eben an.

 

Am Beginn einer neuen Epoche machen meine alleinstehenden Freundinnen einen vorläufigen Abschiedsbesuch. In nächster Zeit werden sie nicht kommen können und vielleicht auch nicht anrufen, eventuell sogar das Telefon abstellen und den Schreibblock von der Korridortür wegnehmen. Denn es könnte ihn stören.

 

Im Hinausgehen geben meine alleinstehenden Freundinnen noch eine kurze Einschätzung. Er ist endlich einmal ein ganz normaler Mensch, sodass sie für die Fisimatenten der anderen Männer kein Verständnis mehr aufbringen können. Er hat in der richtigen Reihenfolge gelebt, erst für den Beruf, jetzt für eine Frau, von der er Gott sei Dank weiß, wie er sie zu nehmen hat. Er ist ein stämmiger Adonis, der nicht zu viel denkt. Oder er ist ein Mann, der sich nicht diesen Leistungsmarotten, diesem Autofimmel unterordnet, ein nachdenklicher und sensibler Mensch, der sie versteht und nicht gleich an das Bett denkt. Er hält die Ehe nicht für eine moderne Form des Zusammenlebens. Will aber den Glauben anderer Menschen, die daran einen Halt suchen, nicht zerstören. Darum lässt er sich auch nicht scheiden, was meine alleinstehenden Freundinnen verstehen. Vorerst.

 

Meine alleinstehenden Freundinnen ernähren sich sowie ihr Kind selbst. Ihre Arbeit macht ihnen Spaß. Sie sind fleißig. Ihre Arbeit ist ihnen wichtig, weil sie ihr einziges Außerhalb ist. Nach den Männern. Im Interregnum. Darum fallen sie auch im Beruf auf Lob und Tadel herein.

Meine alleinstehenden Freundinnen haben es nie mit ihrem Chef. So was nutzen sie nicht zu so was aus.

Meine alleinstehenden Freundinnen machen im Urlaub weite Reisen. Sie sind sehr neugierig und fahren immer woandershin. Aber sie trampen nur, wenn sie noch jemand bei sich haben. Besonders abends soll man nicht allein trampen, weil sonst was passieren könnte. Sie sind schon mal in eine ganz andere Richtung gefahren, nur weil der Lkw-Fahrer gesagt hat, dass er nicht an die polnische Ostseeküste fährt, sondern woandershin und es dort viel schöner ist als da, wo er nicht hinfährt.

So lernen sie die Welt kennen.

 

Meine alleinstehenden Freundinnen kann man um etwas bitten. Sie leihen einem ein Ohr oder ein Buch, je nachdem. Wenn sie Geld hätten, würden sie auch das borgen.

Anna kann Deutsch

Anna kann Deutsch. Noch von der deutschen Besatzung. Da hat sie in einem deutschen Lazarett gearbeitet. Als Pflegerin. Und weil sie dort so gut gearbeitet hat, haben die Deutschen sie sogar zu einem Lehrgang geschickt und sie eine Prüfung machen lassen. Damals war sie noch echt blond und sehr schlank und nicht so, dass sie mit einer Sicherheitsnadel den Rock zumachen muss unter dem Pullover.

 

Anna kann Deutsch. Und darum haben sie ihr die Leitung eines Erholungsheims für deutsche Touristen angeboten. Sie würde es machen, dann brauchte sie nicht mehr bis nachts an der Theke zu stehen und sich mit den Kellnerinnen um die Abrechnung zu streiten. Aber der, der das Heim jetzt leitet, soll weiter ihr Vorgesetzter bleiben. Bloß dass sie ihm die Arbeit macht, wo er nicht wirtschaften kann und nicht Deutsch und sie die Suppe auslöffeln soll. Sie überlegt es sich noch.

 

Anna kann Deutsch. Und hat ein Haus am Berg und am Fluss. Darum hat sie sich entschlossen, privat an Deutsche zu vermieten. Aber sie nimmt nur Gäste, die Freunde empfehlen. Sie geben ihre Telefonnummer weiter. Das Telefon hat sie noch nicht lange. Aber nun ist sie mit der ganzen Welt verbunden, kann fragen, was es im Gasthaus zum Abendbrot gibt und ob die Strickerin im Nachbarort schon das Kleid fertig hat aus der blauen Wolle, ganz eng.

 

Anna kann Deutsch. Und darum sagt sie, wenn deutsche Gäste anrufen, genau, was sie mitgebracht haben möchte: Dragees 19 für die Großmutter, die hat schlechte Verdauung, und Seehundstiefel Nummer 43 für ihren Sohn, weil der Reißverschluss von den vorigen kaputtgegangen ist und es dafür keinen Ersatz gibt, und Tuben für Heimblondierung, so viel wie möglich, weil die Friseurin auch welche abnimmt.

 

Annas Gästezimmer geht von innen zuzuriegeln, aber in der Tür ist ein großer Ritz. Deshalb hört man Anna im Korridor telefonieren. Und Anna hört ihre Gäste. Das Gästezimmer hat an der Decke eine Glühbirne. Die Glühbirne muss brennen, wenn der Heizofen an ist. Weil der auch an der Zimmerdecke angeschlossen ist. Links und rechts neben dem Fenster stehen die beiden Feldbetten, und dazwischen knarren die Fußbodendielen. Unter dem Fenster hängt ein Zentralheizungskörper mit fünf Rippen, der nur lauwarm wird. Morgens frühstückt man zwischen Feldbett und Fenster im Mantel.

 

Anna findet, dass zu Käse morgens kein Kaffee passt, beides zusammen ist zu schwer. In Polen trinken sie Kaffee nur, wenn es passt. Zum Beispiel zu gebratenen Eiern. Abends gibt es Quark mit Naturalni-Honig. Den hat sie aus ihrer Heimat in der Krakower Gegend. Abends hört man Anna in der Küche brutzeln, denn die Polen essen gern reichlich. Darum haben auch die Frauen solche schönen Busen, was zum Beispiel den Männern in Schweden sehr auffällt und gefällt. Warum hätten sich sonst alle Männer in Schweden nach ihr und ihrer Schwester umgedreht? Weil die schwedischen Frauen keinen Busen haben. Die schönen Frauen gibt es nur auf den Titelfotos, sagen die Schweden.

 

So, wie sie dasteht, ungepflegt, dick und alt, könnte Anna eine sehr gute Partie machen in Schweden, aber sie will von Männern nichts mehr wissen, alle gestohlen bleiben können sie ihr. Und aus Kummer darüber hat sie noch mehr gegessen.

 

Ihren Mann hat sie aus dem Haus rausgeschmissen. Sie ist froh, jetzt ist endlich Ruhe. Und als ihr Mann im vorigen Jahr im Schlafanzug an ihrem Bett stand und sagte, sie müssten nochmals über alles reden, da hat sie gesagt, er irrt sich in der Tür, die Toilette ist eine halbe Treppe tiefer, und sie ist kein Taxi, in das man reintreten kann, so oft man will, und sie ist nicht das vierte Wasser nach dem Pudding. So nennen sie das in Polen.

 

Das mit der Untreue, dass er alle sechs Wochen mit einer anderen Frau was anfing und drei Ehen im Ort seinetwegen kaputtgegangen sind, das nahm sie ihm nicht so übel. So ist das Leben, und Männer müssen andere Frauen haben, Frauen nicht so, außer solche koketten Weiber. Aber dass er sie bei der Miliz angezeigt hat, sodass die sogar eine Haussuchung bei ihr machte. Gold sollte sie zu Hause haben, illegal aus dem Ausland mitgebracht. Und er zeigte sie an, wo er doch genau weiß, dass sie immer alles anmeldet. Zuerst wollten ihr die Milizsoldaten die Anzeige gar nicht zeigen. Aber als sie es einfach nicht glauben wollte, taten sie es doch, fanden ja selber nicht richtig, dass ein Mann seine eigene Frau anzeigt. Ja, und aus diesem und keinem anderen Grund, Jesus und Maria, hat sie die Scheidung eingereicht. Ganz allein. Während er sich einen Advokaten genommen hat. Und die vier Kinder waren als Zeugen geladen, und mit den beiden ältesten Söhnen musste sie extra zum Staatsanwalt in die Stadt fahren, weil die das mit der Anzeige auch erst glaubten, als sie es direkt unter der Nase hatten.

 

Zu tausend Zloty im Monat hat sich ihr Mann freiwillig verpflichtet, aber jetzt zahlt er nur fünfhundert, wo doch der Sohn allein für tausend Zloty im Monat isst. Der Sohn blickt die Gäste finster an, das hängt mit den bevorstehenden Skiabfahrtsausscheidungskämpfen und seiner Abiturprüfung zusammen. Mit Ziegenflügeln kam er gerade von einer Klasse zur andern. Darum warten Lehrerin und Mutter nur auf eine Gelegenheit, ihm das Skifahren zu verbieten. Diesen Gefallen tat er ihnen, denn er stürzte, als sein Vater Schiedsrichter war und mit ihm angeben wollte. Sogar seine neue Frau brachte er mit, die hat schon alle Milizmänner im Ort durch und muss extra eine Brille tragen für ihr eines Auge, das nach außen blickt. Vor den beiden war der Sohn nervös und wackelte mit den Beinen. Da sieht man, was für einen schlechten Einfluss der Vater auf den Jungen hat. Statt dass der Junge sich ein bisschen anstrengt, wenn der Vater schon Schiedsrichter ist und nur darauf wartet, dass sein Sohn siegt und in die Zeitung kommt. Aber nur angeben will der Vater mit ihm. Sie aber will, dass etwas aus ihm wird. Studieren muss er wie die anderen Söhne, die sind Magister beim Technikum und Ingenieur. Er kann ihretwegen Trainer werden, aber dann muss er das wenigstens studieren und jetzt mit dem Sport aufhören.

 

In Polen halten alle zusammen. Wenn einer schwindeln kann und stehlen, dann gibt er dem ab, der nichts hat. Sagt Anna. In Polen sind sie nicht so punktuell. Mehr so, wie es Spaß macht. Und nicht fürs Auto, wenn man dafür sparen muss. Annas Bruder sagt immer, der Taxifahrer muss auch leben. Jetzt hat der Bruder sogar einen neuen Fiat, aber ohne zu sparen. Er war Gaststättenleiter, und vor zwei Jahren sagte sein Chef zu ihm, kündigen Sie jetzt, dann können Sie in drei Monaten in der Stadt ein Haus kaufen, das dann frei wird und sich für eine Restauration eignet. Annas Bruder tat das, und heute fährt er einen Fiat.

 

Annas Schwester blieb in Schweden. Ein Pole, der schon seit siebenundzwanzig Jahren in der polnischen Kolonie wohnt, drehte sich nach ihr um und heiratete sie. Weil Annas Schwester so etwas ahnte, hat sie in Polen einen Kosmetikkurs absolviert. Obwohl sie eigentlich Journalistin ist. Jetzt hat sie schon große Angebote, als Kosmetikerin zu arbeiten. Und Anna fuhr allein zurück. Obwohl es in Schweden alles gibt. Dort haben sie keine Kühlschränke, sondern Kühlwände. Die Babynahrung kaufen sie in großen Packungen, nehmen die Flaschen nur heraus, haben gar keine Arbeit damit. Und wenn das Baby die Flasche ausgetrunken hat, werfen sie die Flasche mitsamt dem Nuckel in den Müll, stellen Sie sich vor! Wenn sie schmutzige Schuhe haben oder schmutzige Kleider, die legen sie in Kästen am Haus, schreiben nichts auf, und am Morgen kommen die Fahrer der einzelnen Reinigungsbetriebe und kontrollieren, ob für ihre Firma etwas dabei ist. Die Schweden sehen nur ab und zu mal nach, ob wieder etwas zurück ist. Alles wird vom Konto abgebucht, und wenn die Schweden neugierig sind, gehen sie zu ihrer Sparkasse und fragen, was sie noch für Geld haben.

 

Ganz allein fuhr Anna nicht zurück. In einer Streichholzschachtel nahm sie zehn Paar goldene Trauringe mit, das Stück elfhundert Zloty wert, sagt der Juwelier, dem sie die Ringe – ohne Quittung – zum Schätzen daließ. Wir in Polen haben kein Gold, sagt sie.

 

Die beiden großen Söhne haben sehr schöne Frauen geheiratet, wie auf den Hochzeitsfotos zu sehen ist. Die Tochter hat noch keinen Mann und wohnt noch zu Hause. Sie arbeitet im Reisebüro an der Kasse und kann dort gar nicht weg, guckt immer auf ihr Geld, wenn mal ein passabler Mann etwas länger rumsteht. Darum braucht Anna einen langen Reißverschluss für das neue Kleid der Tochter, damit man sieht, dass sie gar nicht so dünn ist, wie man zuerst fürchtet. Das hat sie nicht von der Mutter. Die Tochter muss sofort nach Büroschluss nach Hause kommen. Dass sie nicht etwa noch im Café sitzt und Zigaretten raucht, wie solche Mädchen. Abends kann sie ja noch einmal weggehen, wenn die Mutter weiß, wohin. Und heiraten soll sie bald. Wir in Polen heiraten jung. Und aus Liebe. Anna ist jetzt noch ihrem Mann treu, obwohl er es nicht verdient.

 

Anna hat auch einen Hund. Er heißt Kuban, hat eine rosa Schnauze und ein Fell wie ein Schwein. Wenn er im Schnee auf dem kleinen Trampelpfad vom Haus bis zur Straße läuft, muss er sehr zittern. Dann hinkt er auf drei Beinen, damit das vierte, eingezogene Bein es etwas wärmer hat. Er hat bei den Nachbarn eine Freundin, aber auch einen Rivalen. So kommt er abends mit einem blutigen Ohr nach Hause. Aber zu Hause würde er vor Sehnsucht verkümmern.

Lieber ein blutiges Ohr und zufrieden, sagt Anna.

 

Am letzten Tag schenkt Anna den deutschen Gästen eine Flasche Wodka, holt drei Gläser und erzählt, warum sie so gut Deutsch kann. Nicht nur von der Arbeit im deutschen Lazarett oder von den Lehrgängen, nein, vom Flirten mit den SS-Offizieren, einzeln übrigens ganz charmante Männer. Ja, als Partisanin musste man alles können. Da war sie sehr geeignet, schon wegen der blonden Haare. Und weil man sie als Volksdeutsche ausgab. Oft war es ja anstrengend, nach dem Dienst im Lazarett noch die Aufträge zu erfüllen, manchmal sogar als Kurier durch die Wälder bis zur Grenze. Aber sie war jung vor achtundzwanzig Jahren und außer der Mutter als Einzige aus der Familie noch zum Kämpfen da.

 

Einen Auftrag aus dieser Zeit kann Anna nicht vergessen. Das war an dem Abend, bevor ihr Bruder hingerichtet werden sollte. So wie heute ist ihr das alles. Der Kellner aus dem Gasthaus, in dem die SS-Offiziere abends ihr Bier tranken, gehörte auch zu den Partisanen. Er pries den Offizieren Anna und ihre Freundin als sehr hübsche volksdeutsche Polinnen an, und er könnte es einrichten, dass die Mädchen hier ins Gasthaus in ein abgeteiltes Zimmer kämen. Obwohl sie sonst sehr anständig sind. Die Verabredung wurde noch für den gleichen Abend festgemacht, und Anna schminkte sich zum ersten Mal so, dass sie vor sich selber einen Schreck bekam. Mut musste sie sich auch antrinken, aber dann sorgte der Kellner dafür, dass sie was anderes bekamen als die Offiziere. Als die Herren fragten, ob sie noch zu den Mädchen fahren könnten, sträubte sie sich ein bisschen und willigte dann verschämt ein.

Das alles hat ihr große Mühe gemacht, weil doch ihr Bruder nur noch ein paar Stunden leben sollte.

Sie fuhren in einem Militärauto. Der Weg ging durch den Wald, natürlich. Es dauerte nicht lange, und sie wurden von einer Militärstreife angehalten. Alle aussteigen mussten sie und den Ausweis zeigen. Da waren die Herren Offiziere aber überrascht, dass sie sich ausziehen mussten, viel früher, als sie dachten. Den einen schickten sie nackt durch den Wald in sein Lager zurück, mit der Mitteilung, dass sie den anderen erschießen um sechs Uhr früh, wenn Annas Bruder nicht bis dahin an dieser Stelle abgeliefert wird. Der Nackte muss sehr schnell gelaufen sein, denn der Bruder war noch vor sechs da.

In dieser Nacht hat Anna sehr große Angst gehabt.

 

Einmal haben sie ihr den Kameraden erschossen auf einem Kuriergang im Winter. Und sie musste ihn liegen lassen, denn die Deutschen hatten sie hinter den Bäumen nicht gesehen. Sie musste ihn liegen lassen. Er war gleich tot, und es hätte ihm doch nichts genützt. Und sie trug auf dem Rücken einen Sack mit Gold und Schmuck und Geld, der nach Ungarn sollte für den Widerstandskampf.

Anna ist bei den Deutschen nie ins Gefängnis gekommen. Aber als die Sowjetarmee in Polen einmarschierte und Anna aus dem Wald kam, um die Mutter wiederzusehen, wurde sie gleich verhaftet und ins Zuchthaus gebracht. Den ganzen Tag hatten sie schon nach ihr gefragt, und die Mutter hatte es nicht verstanden und große Angst gehabt. Alle im Dorf hielten Anna für eine Verräterin. Weil sie doch bei den Deutschen gearbeitet hatte. Bis sich die Wahrheit herausstellte – und das dauerte lange, die meisten Partisanen waren umgekommen –, hatte Anna keine Vorderzähne mehr. Aber die Mutter rettete sie, fuhr nach Warschau zum General, zum Freund des Bruders. Der ist gleich mit ihr zum Zuchthaus gefahren, hat mit dem Kommandanten gesprochen und sich die Liste der Häftlinge zeigen lassen. Und als sie Anna darauf fanden, sind sie in ihre Zelle gekommen und haben sich bei ihr entschuldigt und ihr ein Gebiss machen lassen.

In jedem Jahr fährt Anna zum Treffen der ehemaligen Kuriere. Es werden immer weniger.