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Colin Fox erhält den Auftrag, in Barcelona einen Mann zu töten. Eigentlich verläuft die Mission nach Plan. Aber nur eigentlich. Denn die Folgen des Mordes lassen ihn erkennen, was aus ihm geworden ist, und an seine Vergangenheit denken. Ohne wirklich zu wissen, was in den letzten Monaten passiert ist, wird ihm klar, dass er zurück in sein 'altes' Leben will. Durch einen weiteren Auftrag erhält er einen Hinweis auf den Mann, den er für alle vergangenen Katastrophen verantwortlich macht: William St.John-Smith. Obwohl ihm eine direkte Spur fehlt, nimmt er die Verfolgung seines Todfeindes auf, die ihn nicht nur nach Mexico-City führt. Währenddessen will der neue Leiter des ESS seinen verloren geglaubten Top-Agenten zurück – tot oder lebendig…
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Seitenzahl: 541
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Colin Fox erhält den Auftrag, in Barcelona einen Mann zu töten. Eigentlich verläuft die Mission nach Plan. Aber nur eigentlich. Denn die Folgen des Mordes lassen ihn erkennen, was aus ihm geworden ist, und an seine Vergangenheit denken. Ohne wirklich zu wissen, was in den letzten Monaten passiert ist, wird ihm klar, dass er zurück in sein ‚altes‘ Leben will. Durch einen weiteren Auftrag erhält er einen Hinweis auf den Mann, den er für alle vergangenen Katastrophen verantwortlich macht: William St.John-Smith. Obwohl ihm eine direkte Spur fehlt, nimmt er die Verfolgung seines Todfeindes auf, die ihn nicht nur nach Mexico-City führt. Währenddessen will der neue Leiter des ESS seinen verloren geglaubten Top-Agenten zurück – tot oder lebendig…
Callum Conan ist zwanzig Jahre alt und studiert Medienmanagement an der Universität zu Köln. Leben ist kälter als der Tod ist bereits sein drittes Werk mit Colin Fox als Protagonisten und ein viertes Buch der Reihe ist derzeit in Planung. Wie genau das aussehen wird ist aber offen, denn die Reihe war von Anfang an Figuren-unabhängig konzipiert.
Geprägt von großen Autoren wie allen voran Ian Fleming, aber auch Robert Ludlum, Tom Clancy, Colin Forbes und deren Romanverfilmungen sind Conans Thriller mit bewährten Zutaten ausgestattet, aber durch die Einflüsse einer neuen Generation gezeichnet. (Stand: 10/2015)
Ein Agententhriller aus der
Im Geheimauftrag von Callum Conan-Reihe
Englischer Titel: Broken Mirror
ePubli-Verlag
Impressum:
2.Auflage
Copyright © 2016 Callum M. Conan
Überarbeitung durch Bernd und Mathis Lepski
1.Lektorat: Susanne Schmidt-Lepski
2.Lektorat: Ilona Schmidt
Umschlaggestaltung by: ML
Verlag: ePubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
Arnsberg, 11.10.2015
Mit Überarbeitungen zum 17.10.2015 und zum 27.05.2016
Man sagt ja immer, man könne sich seine Eltern nicht aussuchen, aber dürfte ich mein Leben mit der bereits gesammelten Erfahrung noch einmal neu beginnen, so würde ich genau meine beiden wieder wählen!
(frei zitiert nach Voltaire)
Wenigstens wimmelt es hier nicht von Touristen. Das war sein einzig positiver Gedanke, als er auf der Spitze des Montjuїc angekommen war. Er begab sich zu der einige Schritte entfernten Holzbank und setzte sich darauf. Missmutig blickte er sich um. Im Sommer war hier normalerweise mächtig Betrieb. Dass dem heute nicht so war, hatte Vor- und Nachteile. Sein Kontaktmann hatte offenbar nur die Vorteile gesehen.
Die Sonne strahlte vom Himmel und erwärmte die Luft, die durch die milden Temperaturen der letzen Tage ohnehin sehr angenehm war. Einige Vögel zwitscherten umher, als wäre bereits der Frühling ausgebrochen und ein Kaninchen hoppelte über die kurzgemähte Wiese. Es war Sonntag, der 24. Dezember. Ein Heiligabend wie jeder andere, bis auf das Wetter vielleicht. Wäre da nicht dieser Auftrag...
Colin Fox zog das Trikot des FC Barcelona mit dem Messi-Aufdruck aus der großen Sporttasche, die er seit der Ankunft am Sants-Estació bei sich trug. Er war sich reichlich blöd vorgekommen, mit dem Ding vom Plaça de Catalunya über die Flaniermeile La Rambla zu laufen. Wer würde schon an einem Heiligabend zum Sport gehen? Noch dazu, wenn es ein geschäftsfreier Sonntag war, an dem nicht einmal die spanische Fußballliga Spiele austrug. Am Ende war Spanien nun einmal doch ein katholisches Land, das wenigstens an Weihnachten die kommerziellen Wünsche der TV-Sendeanstalten zurückstellte. Fox zog eine Grimasse. Aber im Grunde konnte es ihm ja auch egal sein, wie die Menschen in der Innenstadt der katalonischen Hauptstadt auf ihn reagierten. Er hatte schließlich einen Job zu erledigen, nur deshalb war er hier. Kein Gedanke an etwas Anderes!
So nahm er auch die lächerliche Erkennungsprozedur einfach hin. Ein Messi-Trikot war vermutlich nirgendwo auf der Welt als besonderes Merkmal geeignet. Aber so waren die Spanier eben. Fox schoss der flüchtige Gedanke durch den Kopf, warum er eigentlich so lange kein Spiel seiner Dortmunder Borussia gesehen hatte. Der Gedanke löste ein seltsames Gefühl in ihm aus. Fast so etwas wie Heimweh... Verärgert unterdrückte er die Regung.
Denk an den Auftrag!
Genau das war jetzt wichtig. Nichts Anderes. Wenn nur endlich dieser verdammte Kontaktmann auftauchen würde. Bis Mitternacht sollte alles erledigt sein und bis zu der Villa am Fuß des Tibidabo war es ja auch noch ein ganzes Stück. Eigentlich hatte er sich vorab noch einen Eindruck vor Ort verschaffen wollen, aber wie es aussah, musste er wohl auf die Aufnahmen und die Erinnerungen an die virtuelle Observation im ESS-Headquarters zurückgreifen. Sein Blick ruhte auf der Sagrada Familia, der großen Basilika im Zentrum Barcelonas, als sein iPhone vibrierte. Er nahm es hervor und registrierte die Nachricht. Es würde glücklicherweise nicht mehr lange dauern. Er sah wieder auf, dann erhob er sich und ließ seinen Blick über das Panorama der Stadt schweifen. Der Torre Agbar fiel ihm durch die ovale Form und den gläsernen Baustil sofort ins Auge. So wirklich passte er nicht zum Stadtbild. Wenn, dann hätte man ihn an den Hafen setzen sollen. Im Kreis der Luxusliner wäre er gar nicht aufgefallen. Ein müdes Lächeln huschte über Fox‘ Lippen, während er die Ausfahrt eines Schiffes aus dem großen Fährhafen beobachtete. Das Ziel seines Auftrages war ebenfalls über das Wasser nach Barcelona gekommen. Man hatte seine Ankunft für den heutigen Vormittag prognostiziert und recht behalten. Der Auftrag musste schnell und präzise ausgeführt werden, weil man befürchtete, dass sich das Zielobjekt nicht lange in der spanischen Hafenstadt aufhielt. Fox hatte keinerlei Informationen über die Art seines Zielobjekts. Er wusste lediglich, dass es sich um einen Menschen handelte und eben, dass es nicht viel Zeit gab, den Auftrag zu erledigen. Umso wichtiger, dass sein spanischer Kontakt endlich auftauchte.
Der Wind frischte etwas auf. Es würde doch jetzt keinen Wetterumschwung geben? Das hatte ihm auch noch gefehlt. Er wusste zwar nicht, was genau er für seinen Auftrag gleich bekommen würde, aber je schlechter das Wetter, desto schwieriger würde definitiv auch das erfolgreiche Ausführen der Aufgabe sein. Fox klappte den Kragen seiner schwarzen Jacke hoch. Sie war speziell für solche Aufträge entwickelt worden – irgendwas zwischen Jackett und Windjacke, aber vor allem mit der Möglichkeit zwischen einem elegant gekleideten und einem unsichtbaren Mann zu wechseln. Ein großer Fortschritt im Vergleich zu den militärischen Tarnjacken – die hätte er in vornehmen Etablissements sicherlich nicht tragen können.
Aus Richtung der Seilbahnstation kamen einige Menschen in seine Richtung.
Nun also doch mehr los!
Fox breitete das Messi-Trikot neben sich auf der Bank aus, so dass die Nummer zehn und der Namensschriftzug deutlich zu erkennen waren. Laut Vereinbarung hätte er das Jersey anziehen sollen, aber über die Spezialjacke bekam er es definitiv nicht. Er untersuchte nochmals die Sporttasche, um sich zu vergewissern, dass alle wichtigen Gegenstände herausgenommen worden waren. Das war offenbar der Fall. Dann betastete er die großen Innentaschen seiner Jacke und stellte befriedigt fest, dass er die Umrisse dieser wichtigen Gegenstände fühlen konnte. Mit einem Tritt beförderte er die Tasche vor die Bank. Die Menschen aus der Seilbahn kamen immer näher. Der Wind hatte sich schon wieder gelegt.
Ein Paar mit einem kleinen Mischlingshund und eine größere Familie, die lautstark plauderte, gingen an ihm vorüber, ohne auch nur von ihm Notiz zu nehmen. Schnell wurde es wieder ruhig. Fox lehnte sich zurück und nahm ein Kaugummi aus der Verpackung. Langsam begann er, darauf zu kauen. Aus dem Augenwinkel erkannte er einen Schatten, der seine Bank fast erreicht hatte. Als er sich wie zufällig in die Richtung des Schattens drehte, erkannte Fox, dass es sich um einen Mann mittleren Alters handelte. Vermutlich ein Katalane. Schwarze, lockige Haare, kurzer Bart, ein Tattoo, das seinen Nacken zierte. Automatisch speicherte Fox auch noch alle weiteren Informationen, die er auf den ersten Blick erkennen konnte und die für eine exakte Beschreibung wichtig waren oder bei einer körperlichen Auseinandersetzung hilfreich sein konnten.
Der Mann schob das Trikot zur Seite und setzte sich wortlos neben ihn auf die Bank. Eine schwarze Sporttasche, die er bei sich trug und die der von Fox erstaunlich genau ähnelte, stellte er zwischen sie auf den Boden. Eine Weile saßen sie beide so da. Der Katalane kratzte sich ein paar Mal am Hals und zündete sich nach einigen Minuten eine Zigarette an. Nichts passierte. Die Vögel sangen weiterhin ihr Lied, zu dem Kaninchen hatte sich mittlerweile ein zweites gesellt und ein lautes Tuten kündigte die Ankunft eines weiteren Kreuzfahrtschiffes an. Fox nahm sein iPhone hervor und rief eine Nachrichten-App auf. An Heiligabend stellten sich augenscheinlich selbst die Agenturen auf Ruhe und Besinnlichkeit ein – laut der News-Übersicht war am Tage noch rein gar nichts passiert.
Als die nächste Seilbahn die Bergstation erreicht und einige wenige Fahrgäste ausgespuckt hatte, warf der Spanier seine Zigarette weg. Lustlos griff er zu seiner Sporttasche hinunter und hob sie vom Boden auf. Er trat den noch qualmenden Stummel aus und trottete langsam zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.
Fox sah sich langsam um. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand ihn beobachtete, nahm er die Sporttasche und stopfte das Trikot hinein. Während er den Reißverschluss zusammenzog, warf er einen kurzen Blick ins Innere: Ein Scharfschützengewehr also. So wusste er zumindest, wie er den Auftrag angehen konnte. Die Übergabe hatte reibungslos geklappt. Blieb zu hoffen, dass sich das am Abend genauso darstellte. Fox stand auf, nahm die Tasche und schlenderte in Richtung Seilbahnstation. In der Nähe des Casa Milà, eines der berühmten Gebäude des Modernisme-Architekten Antoni Gaudí, befand sich ein gutes Restaurant, in dem er auch mit der Sporttasche nicht besonders auffallen würde. So konnte er die Zeit, bis er in Richtung Norden fahren würde, gut rumkriegen.
Es war bereits dunkel, als das Taxi ihn am Fuße des Tibidabo absetzte. Er zahlte ein angemessenes Trinkgeld, weniger als gewöhnlich, um nicht besonders aufzufallen, und schritt die Straße entlang, bis er die Rückseite eines kleineren Anwesens erreicht hatte, dessen Garten auf einer Seite durch ein kleines Wäldchen begrenzt wurde. Schnell blickte er sich um und schlug sich dann in die Büsche. Was ihm fehlte, war ein Nachtsichtgerät. Lediglich das Visier des Scharfschützengewehrs hatte eine solche Funktion. Beim Beobachten war er also auf seine eigenen Augen angewiesen, wenn er nicht extra die sperrige Waffe herausnehmen wollte.
Fox zog ein Blatt Papier aus seiner Jackentasche, das er zuvor in der Sporttasche entdeckt hatte. Es zeigte das Zielobjekt auf seiner Yacht, einige Wochen zuvor. Nach wie vor wusste er nicht, wen er da eigentlich vor sich hatte und es war ihm auch egal. Er musste sich nur die wichtigsten Merkmale einprägen, um ihn zu erkennen. Aber da es auf dem Anwesen nicht nach einer Party aussah, würde er vermutlich ohnehin nicht zwischen vielen Menschen unterscheiden müssen. Die Ruhe, die den großen Garten und das Haus umgab, deutete darauf hin, dass der Herr des Hauses allein war. Es sei denn, er hatte Personal. Oder Familie. Was ein Problem darstellen würde. Aber auch kein allzu großes.
Langsam und geduckt schlich er sich an der Grundstücksbegrenzung entlang in Richtung Wald. Dabei ließ er das Haus nicht aus den Augen. In diese Richtung gab es nicht viele Fenster, aber ein einziges konnte ja schon ausreichen, um dem Hausherrn einen Blick auf ihn zu ermöglichen. Genau das wollte er vermeiden. Fox erreichte das kleine Wäldchen und drang tiefer in die Botanik ein. Als er ein paar Baumreihen zwischen sich und das Grundstück gebracht und die Sporttasche mit dem Gewehr so auf dem zum Grundstück hin abfallenden Gelände platziert hatte, dass sie nicht umfallen konnte, drehte er sich erstmals um. Durch die Äste und Zweige hindurch spähte er zum Haus. Ein schwacher Lichtstrahl fiel aus einem oberen Fenster. Noch erkannte man nicht viel. Im schwachen Mondlicht konnte Fox lediglich die Umrisse des Anwesens und die Reflektion auf der Wasseroberfläche eines Pools erkennen. Einen wirklichen Überblick über die Lage hatte er von hier aus nicht. Seine Hoffnung hatte sich also nicht erfüllt. Aber irgendwie würde sicherlich alles klappen. Er wusste von den Fotos, dass sich der Hauptwohnbereich, wenn man es denn so nennen konnte, zu dieser Seite hin erstreckte. Eine große Glasfassade wie von einem Wintergarten schloss sich direkt an die Terrasse vor dem Pool an. Zumindest würde er so einiges im Blick haben.
Die nächste halbe Stunde nutzte Fox, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen und sich ein genaueres Bild von der Lage zu verschaffen. Er prägte sich die natürlichen Hintergrundgeräusche der Umgebung ein, um auf jedwede Störung aufmerksam zu werden. Viele Tiere waren zu dieser Jahreszeit nicht unterwegs. Das Bellen eines Hundes auf dem Nachbargrundstück war während der gesamten Zeit das Lauteste, was er vernahm. Einmal glaubte er, ein ankommendes Auto zu hören, aber das stellte sich letztlich als Trugschluss heraus. Die Familien waren wohl doch bereits von der Christvesper wieder nach Hause gekommen.
Dank seiner Spezialjacke und der milden Temperaturen fröstelte er nicht. Nach dieser halben Stunde fasste er einen Entschluss. Wenn alles so kam, wie geplant, wäre dies der beste Plan. Er legte sich flach auf den Waldboden und nahm das Scharfschützengewehr aus der Tasche. Fox vergewisserte sich, dass alles richtig angebracht und funktionsfähig war und überprüfte zuletzt noch die Munition. Dann stellte er die Waffe auf das Zweibein und zielte auf die Glasfläche hinter dem Pool. Ein Blick durch das Visier bestätigte ihm die richtige Einstellung der Mündung. Durch die Enge zwischen den Bäumen hatte er zu den Seiten nicht viel Spiel, aber sobald sich sein Zielobjekt am richtigen Fleck befand, würde es gehen. Er musste nur schnell reagieren.
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sich etwas tat. Um kurz vor halb zehn wurde in dem wintergartenähnlichen Vorbau ein Licht eingeschaltet. Fox wartete darauf, dass der Spanier in sein Blickfeld kam, aber es tat sich nichts. Zumindest schien seine These bestätigt, dass sich nicht viele Menschen im Haus aufhielten, denn sonst wäre es nicht so ruhig geblieben. Er nahm ein paar Korrekturen an der Visierlinie vor und lud die Waffe durch. Ein Vogel wurde durch das Geräusch aufgeschreckt, aber da niemand in seiner Nähe war und er das Überraschungsmoment auf seiner Seite wusste, erregte es keinerlei Aufmerksamkeit. Schnell wurde alles wieder ruhig.
Als Fox erneut durch das Zielfernrohr blickte, zog eine Bewegung im Haus seine Aufmerksamkeit auf sich. Er sah auf und erkannte eine Gestalt, die sich langsam durch den Raum bewegte und sich dann auf einem der breiten Sofas niederließ, die von hier aus gut zu erkennen waren. Es war eindeutig eine Frau. Fox fielen sofort die geschmeidigen Bewegungen auf. Das war nicht sein ZielobjektEr warf einen weiteren Blick durch das Visier und erschrak. Er kannte die Frau. Hier an diesem Ort, in diesem Kontext hätte er sie niemals erwartet, aber es gab keinen Zweifel. Dieses Ziehen in seiner Brust, das er heute schon in ähnlicher Weise bei dem Gedanken an Borussia Dortmund registriert hatte, meldete sich zurück. Diesmal aber erheblich stärker. Er konnte es nicht genau lokalisieren, geschweige denn beschreiben. Etwas wie Heimweh, aber nicht wirklich. Er vermutete es in seiner Brustgegend, aber vielleicht war das auch ein Trugschluss. Warum nur hatte er dieses Gefühl?
Verärgert versuchte er auch dieses Mal es abzuschütteln. Aber es gelang nicht wirklich. Er musste an den Auftrag denken, nur an den Auftrag!
Der Gedanke in seinem Kopf verblasste zu seinem Entsetzen. Er konnte das Gefühl nicht ignorieren. Aber er kannte auch den wirklichen Grund dafür nicht. Eine weitere Bewegung im Haus lenkte ihn ab. Ein Mann trat auf die Frau zu, die sich erhob und ihn zärtlich umarmte. Fox erkannte ihn: Das war sein Zielobjekt. Der Spanier war nicht direkt in seiner Schusslinie, das hinderte ihn daran sofort abzudrücken. Er wollte Perfektion – und das war an diesem Abend sein Fehler. Während er darauf wartete, dass sich der Mann bewegte, fiel ihm sein beinahe unverschämt gutes Aussehen auf. Fox fragte sich, warum er in dieser Situation an so etwas dachte, aber auch dieser Gedanke bekam keine befriedigende Antwort. Die beiden Personen im Haus umarmten sich noch intensiver und begannen sich zu küssen. Fox‘ Magen krampfte sich zusammen.
Jetzt denk an deinen Auftrag, Mann!
Der Mann löste sich aus der Umarmung der Frau und wollte sie mit sich auf das Sofa ziehen. Dabei bewegte er sich so weit, dass er exakt zwischen zwei Baumstämmen auftauchte, die bislang noch ein Hindernis im Schussfeld dargestellt hatten. Fox drückte ab.
Noch während er das charakteristische Geräusch der aus dem Schaft austretenden Kugel vernahm, wusste Fox, dass er einen Fehler gemacht hatte. Es war nicht der erste an diesem Abend, aber ein folgenschwerer. Mit einem lauten Krachen zerbarst das Glas der Fensterfassade und fiel in tausend Einzelteilen klirrend zu Boden. Fox sprang auf. Schon mit bloßem Auge erkannte er, dass er sein Ziel verfehlt hatte. Der Spanier war zwar zu Boden geworfen worden, aber es hatte sich lediglich um einen Streifschuss gehandelt. Aufgeregte Rufe aus Richtung des Hauses drangen an sein Ohr, während er das Gewehr halbherzig in der Sporttasche verstaute und sich mit schnellen Schritten in diese Richtung aufmachte. Auf seinem Weg nahm er die Walther PPQ aus seinem Halfter.
Nur für Notfälle! Das hier war einer.
Fox schwang die Tasche über die Schulter und hielt sie mit dem Riemen in einer Hand. In der anderen hatte er die Pistole, die bereits durchgeladen und entsichert war. Er musste aufpassen, um nicht über die Veranda oder in den Pool zu stolpern, aber er erreichte auf schnellstem Wege den wintergartenähnlichen Vorbau. Drinnen lag der Spanier inmitten eines Scherbenhaufens auf dem Boden und stöhnte vor Schmerz auf. Die Frau hatte sich über ihn gebeugt und versuchte verzweifelt, etwas gegen das austretende Blut an seiner Schulter zu unternehmen. Sein Name, den Fox bislang nicht gekannt hatte, schien Àlex zu sein, denn sie wiederholte ihn mehrfach in ihrem Wortschwall der Verzweiflung.
Der Spanier hatte Fox offenbar bemerkt, denn er drehte seinen Kopf zur Seite und schrie etwas Unverständliches in die Nacht. Im Hintergrund lief ein Song der Beatsteaks, der so gar nicht in dieses spanische Ambiente passte, sich von dem vorherrschenden Chaos aber nicht beeindruckt zeigte. Als er direkt über dem Spanier stand und auf ihn zielte, drehte die Frau sich zu Fox um. Ihre Blicke trafen sich und ließen einen sehr langen Moment nicht voneinander ab. Er registrierte ihre Verzweiflung, die ihn zu fragen schien „Warum tust du das?“. Eine kurze Regung zeigte sich in seinem Gesicht, dann wandte er sich von Lavinia ab und schoss dem Spanier direkt in den Kopf.
Ein Jahr zuvor, am Montag, den 19.12., in Konstanz:
Ronald Freud war kein Mann, den man gerne warten ließ. Trotz seiner ziemlich kleinen, aber robusten Gestalt, konnte er auch den noch so stärksten Gegner einschüchtern, was vermutlich vor allem seiner absoluten Ruhe und Selbstsicherheit zuzuschreiben war. Der sechzig Jahre alte Interimschef des European Secret Service, kurz ESS, dem man sein Alter wenn überhaupt nur durch das deutlich zurückgehende und angegraute Haar ansah, stand vor dem großen Fenster, das den Blick auf den Seerhein freigab und zeigte keinerlei Regung, als Constantin Fröhlich an die Tür klopfte und dann eintrat. Draußen schipperte ein kleines Fischerboot vorbei und ein abschätziges Lächeln huschte über Freuds Miene. Einige Minuten verharrte er noch in dieser Position, dann drehte er sich langsam zu seinem Gast um, der immer noch vor dem großen Eichenschreibtisch stand. Wortlos wies er ihn an, Platz zu nehmen und verschwand dann auf dem Flur. Nach kurzer Zeit kam er wieder und setzte sich ebenfalls.
-„Ich hatte vor einer Viertelstunde meinen Tee bestellt und der ist immer noch nicht da. Offenbar muss man hier erst ein bisschen Druck machen, bis etwas passiert.“
Fröhlich lächelte ein unsicheres, zustimmendes Lächeln und wartete darauf, dass sein Chef fortfuhr.
„Na ja, fangen wir trotzdem mal an.“ Er nahm seine Brille von der breiten Nase und fuhr sich mit der Hand über das rundliche Gesicht. „Was macht Ihr Death-Panel?“
-„Alles läuft soweit nach Plan. So wie es aussieht, bekommen wir im neuen Jahr auch noch weitere Personen, die wir in das Programm einspannen können. Bislang haben wir ja nur zwei sehr unterschiedliche Testpersonen, die zwar für eine Überprüfung der Vorbereitung geeignet sind, aber nicht ausreichen, um das Panel erfolgreich in die Tat umzusetzen. Zumindest nicht in dem Maße, wie wir es zuletzt geplant hatten.“
-„Wie Sie Ihre Leute rekrutieren ist für mich zweitrangig. Der Erfolg des Programms ist wichtig. Wie sieht es mit Colin Fox aus?“
-„Ich hatte erwartet, dass Sie das fragen.“ So allmählich entspannte sich Fröhlich. Hier war er in seinem Element. Dass sein Chef unangenehme Fragen stellte und schroffe Kommentare abgab, war er gewohnt. Es ging am Ende nur darum, das, was er tat, erfolgreich zu verkaufen. Als Leiter einer völlig neuen Abteilung im Geheimdienst, von dem weder die federführende Europäische Union, noch die für die Gründung des ESS verantwortlichen Vereinten Nationen wussten, hatte er eine große Verantwortung, aber auch einiges an Spielraum. Das Death Panel, eine Unterabteilung, beschäftigte sich mit einem Gebiet, das schon immer in das Ressort der Geheimdienste gefallen war, niemals aber offiziell gebilligt wurde. So war es in den letzten Jahren zunehmend abgebaut und verändert worden, aber Fröhlich teilte die Auffassung Ronald Freuds, dass den Gefahren des neuen Jahrtausends nur mit großer Härte zu begegnen war und auch ein Feld in der Arbeit nicht vernachlässigt werden durfte: Das Feld der politischen Morde.
Er war noch nicht einmal zwei Wochen im Amt, aber zusammen mit einigen anderen einflussreichen Männern in unterschiedlichsten politischen und außerpolitischen Kreisen hatten er und sein Chef schon vor Monaten mit den Planungen begonnen. Als sich dann Ende November ankündigte, Freud würde in ein Gremium gehoben werden, das dem ESS so nahe stand, dass es möglich war, Einfluss zu nehmen, waren ihre Ideen erstmals konkreter geworden. Constantin Fröhlich hatte keine Ahnung, wie es zu den Veränderungen im Service und letztendlich zu der Einsetzung Ronald Freuds als Leiter des ESS gekommen war, aber es interessierte ihn im Grunde auch gar nicht. Sein Metier war die tägliche Arbeit am Programm, an der Beeinflussung und Ausbildung von Menschen. Es gab einiges zu tun, um einen Menschen zu dem zu machen, was er am Ende für das Death Panel sein sollte: ein Killer. Aber eben ein Killer, der für das Gute kämpfte. Es ging nicht darum, grundlos Menschen zu töten und Profite daraus zu schlagen. Es ging vielmehr um die Sicherheit der gesamten Weltbevölkerung. Was die Amerikaner sich vor Jahrzehnten auf die Fahnen geschrieben hatten, die Demokratie in alle Teile der Welt zu bringen und für die Sicherheit der Welt zu sorgen, war ein hehres Ziel. Darauf mussten sie heute aufbauen, wenn auch aus einer anderen Position heraus und mit weniger eindeutig politischen Absichten, als vielmehr aus sicherheitstechnischen Gründen. Die Maßnahmen, die dafür nötig waren, konnten auf den ersten Blick schockierend wirken, aber der Nutzen war das Entscheidende. Ein Satz, der Fröhlich jeden Morgen, bevor er zur Arbeit fuhr, wieder in den Sinn kam.
„Um Ihre Frage kurz zu beantworten: Es sieht durchaus erfolgsversprechend aus.“ Fröhlich lächelte bei dem Gedanken daran, dass dies die einzige Antwort war, die seinen Chef zufriedenstellte. „Offenbar haben die Umstände, unter denen Sie ihn mir vorgesetzt haben, seine psychische Verfassung stark beeinträchtigt. Man kann nicht wirklich von einer eindeutigen psychischen Diagnose sprechen, das haben mir auch unsere Experten bestätigt. Vielmehr scheint seine Welt vor kurzem auf den Kopf gestellt worden zu sein. Eine Art Schock oder Verwirrung verhindert, dass er sich unseren Maßnahmen dauerhaft widersetzt. Von Zeit zu Zeit kommt zwar eine gewisse Stärke in ihm zum Vorschein, aber da er offenbar keinen Anhaltspunkt hat, um die Frage nach richtig und falsch zu beantworten, ist es keine große Herausforderung für uns, das in den Griff zu bekommen.“
-„Ihnen sollte aber klar sein, dass er uns schwach und unberechenbar nichts nützt. Wenn wir ihn als Prototyp in das Death Panel einspannen, muss er funktionieren. Reibungslos und jederzeit.“
-„Das ist mir bewusst. Wissen Sie“, ein Hauch von Verunsicherung flog erneut durch sein Gesicht, „das Programm ist genau so angelegt, dass es anfänglich vonnöten ist, den Zustand einer psychischen Desillusionierung zu erreichen. Der Vorteil bei Colin Fox ist, dass er diesen Zustand bereits vor Eintritt in das Programm erlangt hat. Für einen eigentlich – wie die Tests gezeigt haben - geistig starken Dreiundzwanzigjährigen ist das durchaus bemerkenswert.“
-„Nach dem, was in Brüssel vorgefallen ist, erscheint mir das auch nicht gerade verwunderlich. Aber das haben Sie natürlich nicht vor Augen.“ Freud kostete diese Bemerkung aus. Fröhlich unter die Nase zu reiben, dass er nicht weiter in Dinge eingeweiht war, die von größter Wichtigkeit für das Gesamtsystem schienen, bereitete ihm offensichtlich eine gewisse Genugtuung.
-„Wie dem auch sei. Sie brauchen sich über das Fortkommen des DPs keine Sorgen zu machen.“
-„Wenn das so ist... Eine Frage habe ich allerdings noch, bevor ich die erste größere Sitzung unter meiner Leitung eröffne, an der Sie teilnehmen können, falls Sie das wünschen.“ Abwesend betrachtete Ronald Freud seine Brillengläser durch eine größere Distanz und entschied dann, dass sie sauber waren. „Wann wird er seinen ersten Auftrag ausführen können?“
-„Das sollte bereits zu Beginn des neuen Jahres möglich sein. Aber wir sollten vorsichtig anfangen, falls es zu Komplikationen kommt...“
-„... sind Sie natürlich dafür verantwortlich“, beendete Freud den Satz.
Fröhlich schluckte. Wie sollte es auch anders sein? Er hatte zwar große Freiräume, aber die Verantwortung lag am Ende doch auf seinen Schultern. Sein Boss sicherte sich natürlich großräumig ab. Doch er war sich dessen bewusst und hatte selbst seine Vorkehrungen getroffen. Um fahrlässig zu sein, kannte er Ronald Freud zu gut. Diesen Fehler würde er nicht machen.
-„So“, Freud erhob sich langsam aus seinem Bürosessel, „es ist gleich neun. Ich will die Sitzung schnell zu Ende bringen, also sollte ich nicht länger warten. Wollen Sie dabei sein?“
-„Ach, ich weiß nicht...“
-„Doch, ich denke, es wäre eine gute Gelegenheit, Ihre neuen Kollegen kennen zu lernen und unter die Lupe zu nehmen. Was wir absolut nicht gebrauchen können, ist zu großer Widerstand aus den eigenen Reihen.“
Im Flur kam ihnen ein Angestellter mit einer Tasse Tee entgegen.
-„Die ist dann wohl für mich“, bemerkte Freud leicht genervt. „Besser spät als nie.“
Der Angestellte wollte ihm die Tasse reichen.
-„Was soll ich jetzt damit? Stellen Sie sie in den Konferenzraum, ich werde dort erwartet.“
Der Mann wandte sich eingeschüchtert um und folgte den beiden anderen in den Konferenzraum, wo er die Tasse auf den Platz am Kopf des Tisches stellte und dann schnell verschwand. Freud schob den breiten Sessel zur Seite und begrüßte die bereits anwesenden Abteilungsleiter und führenden Angestellten des European Secret Service. Als er bemerkte, dass noch nicht alle Plätze besetzt waren, verzog er kurz die Miene und setzte sich dann in seinen Sessel. Fröhlich ließ sich auf dem Platz zu seiner Rechten nieder. Nach einem skeptischen Blick in die Runde begann Ronald Freud langsam mit einem kleinen Löffel in seinem Tee zu rühren.
-„Können wir die Anderen noch erwarten?“, fragte er mit leichter Verärgerung. Gerade als er zu einer wütenden Bemerkung ansetzen wollte, weil ihm niemand antwortete, traten weitere Männer ein, unter ihnen auch Orlando Gomez und Filip Ekholm, die Leiter der Abteilungen für operative Einsätze und Informationsbeschaffung.
-„Da wir nun vollzählig sind, können wir anfangen“, stellte Freud angesäuert fest, während die Neuankömmlinge sich mit betretener Miene auf ihren Plätzen niederließen. „Ich bin also der neue Opal Alpha. Ich denke, wirklich vorstellen müssen wir uns einander nicht. Wir werden in den nächsten Wochen Zeit genug haben, uns kennen zu lernen und im Grunde liegt mir auch mehr daran, Sie für Ihre Arbeit zu beurteilen und nicht für irgendwelche Nebensächlichkeiten, die Sie uns heute hier präsentieren. Mein Name ist Ronald Freud und ich wünsche auch weiterhin so angeredet zu werden, da mir, auch wenn ich nicht umhin komme, diesen Titel weiterzutragen, diese Opal-Bezeichnung etwas albern erscheint.“ Er warf einen Blick in die Runde und trank einen Schluck Tee. „Mir liegt viel an Effizienz und Erfolg und daher hoffe ich, dass wir diese Sitzung hier schnell hinter uns bringen, damit wir uns wieder dem Wesentlichen zuwenden zu können. Ich weiß, dass es einige organisatorische und verwaltungstechnische Angelegenheiten zu regeln gibt, also schlage ich vor, jemand von Ihnen präsentiert mir kurz ihre bisherige Struktur und anschließend teile ich Ihnen mit, was es von ganz Oben Neues gibt. Zwar ist mir ein theoretischer Einblick in die Organisation dieses Dienstes bereits gewährt worden, aber um sich näher damit vertraut zu machen, fehlte mir bislang leider die Zeit. Wenn ich also um eine Einführung bitten dürfte.“
-„Ich denke, das wäre dann wohl meine Aufgabe“, meldete sich ein Mann in den Dreißigern mit einem Hauch von französischem Akzent zu Wort. Ein aufgeweckter, drahtiger Typ, wie Freud missbilligend feststellte. Nicht gerade die Art von Mitarbeitern, die er schätzte. Stellte für gewöhnlich zu viele Fragen. Aber das blieb abzuwarten.
-„Bitte sehr.“
-„Ich bin Opal Sigma, Leiter der Verwaltungs- und Kommunikationsabteilung. Mein Name ist Rene Lecout. Um den allgemeinen Organisationsaufbau kurz zusammenzufassen: Bislang hatten wir eine pyramidale Grundstruktur, die sich in vier Hauptabteilungen aufteilte, denen die Geheimdienstleitung überstand und einige weitere Unterabteilungen unterstanden. Zum Führungsteam der vier Abteilungen gehören Joachim Bergmann für die Ausrüstungs- und Ausbildungsabteilung Gamma“, Bergmann erhob sich kurz und nickte Freud zu, „Filip Ekholm für die Informationsbeschaffungsabteilung Delta“, auch Ekholm erhob sich“, Orlando Gomez für die operative Abteilung Omega“, Gomez deutete ein salutieren an, blieb aber sitzen, „und zuletzt ich selbst. Uns unterstehen jeweils weitere Führungskräfte und eine Vielzahl von Angestellten.“
-„Wie dem auch sei“, unterbrach ihn Freud, „mich würde nun vordergründig die Aufteilung für die geheimdienstliche Arbeit interessieren. Wie erledigen Sie das tägliche Geschäft und die Vorgehensweise bei speziellen Einsätzen?“
-„Nun, ich schätze, da können Ihnen die jeweiligen Abteilungsleiter und ihre Führungskräfte detailliertere Informationen bereit stellen, aber ganz allgemein teilen wir die Arbeit bei uns derzeit in HUMINT und SIGINT. Während die Informationsbeschaffungsabteilung laufend Daten sammelt und stets mit den staatlichen Geheimdiensten sowie der Europäischen Union in Kontakt steht, werden operative Einsätze jeweils speziell geplant. Natürlich gibt es einige Einsatzgebiete, die dauerhaft von uns bearbeitet und überwacht werden, aber da wir eine sehr gute Zusammenarbeit mit den nationalen Institutionen pflegen, liegt die Präferenz auf speziellen Einsätzen, die wir von hier aus koordinieren.“
-„Und was genau sind das für Fälle?“
-„Im Grunde genommen geht es letztendlich immer um die Weltsicherheit. Die von den Vereinten Nationen unter einem Deckmantel gegründete World Security Intelligence Organisation, kurz WSIO, zu der wir ebenfalls gehören, soll letztendlich ergänzend zu den nationalen Geheimdiensten fungieren. Da wir aber offiziell eine an die EU angehängte Institution sind...“
-„...geht es vor Allem um europäische Angelegenheiten“, beendete Freud den Satz. „Ja, danke, das ist mir bereits bekannt. Man wird nicht an die Spitze eines so großen Geheimdienstes befördert, wenn man keine Ahnung hat, was der Dienst überhaupt tut und wie er aufgebaut ist. Sie werden also verzeihen, wenn ich Sie unterbreche, aber mir ging es lediglich um die Herangehensweise bei Einsätzen. Um eine Information von meiner Seite vorweg zu nehmen: Es wird bei den bislang bestehenden zwei Geheimdiensten unter der WSIO-Leitung nicht bleiben. Vielmehr sind einzelne kontinentale Vertretungen geplant. Der ESS wird aber der bedeutendste Dienst bleiben. Was die innerdienstliche Organisation angeht, wird es ebenfalls einige Änderungen geben. Ihnen allen liegt ein Dossier vor, das die für Sie relevanten Änderungen zusammenfasst. Zum Teil geht es darin um Bestimmungen, die uns von der Europäischen Union auferlegt worden sind, zum Teil aber um Neuerungen, die ich einführe. Ich hatte gehofft, dass durch meine kleine Einstiegsfrage deutlich wird, was ich als ein Problem der bisherigen Arbeit unter meiner Vorgängerin ansehe: Der ESS arbeitet progressiv, reagiert nur, statt zu agieren. Sie sprachen zwar gerade von einigen fortlaufenden Einsätzen, Lecout, aber im Grunde sind diese eindeutig zweitrangig. Solange nicht eine offensichtliche Gefahr vermittelt wird, überlassen wir die Arbeit den nationalen Kollegen. Das gedenke ich ab heute zu ändern.“ Freud ließ seinen kurzen Vortrag nachwirken und blickte in eine Reihe skeptischer Gesichter. Ihm war klar gewesen, dass er zu Beginn keine große Zustimmung ernten würde. Die Frage war nur, wie verblendet die Männer und Frauen in diesem Dienst von der Vorgehensweise seiner Vorgängerin waren. Sollte die Loyalität ihr gegenüber größer sein als gegenüber der Sache, konnte das zu einem Problem für ihn werden. Es würde aber ebenso schnell zum Ende der Karriere der jeweiligen Mitarbeiter führen. „Was also passieren wird“, fuhr Freud fort, „ist Folgendes: Ab jetzt werden wir agieren, werden den weltweiten Gefahren degressiv begegnen. Wir werden die Sicherheit gewährleisten, indem wir Probleme bekämpfen, bevor sie wirklich entstehen. Die Anschläge in Deutschland vor gut drei Wochen haben mal wieder gezeigt, dass der Terror die größte Gefahr weltweit ist. Ich schließe mich der Bundeskanzlerin und dem US-Präsidenten an, wenn ich sage, dass der Kampf gegen den Terror unseren größten Einsatz verdient.
Dazu wird es einige strukturelle Veränderungen in dieser Organisation geben. Zuallererst wird eine neue Abteilung ins Leben gerufen, die strikter Geheimhaltung unterworfen ist. Was Sie hier an diesem Tisch darüber wissen dürfen, wird Ihnen gleich der Leiter dieser Abteilung mit der Abkürzung DP, Constantin Fröhlich, erläutern. Sie wird vollkommen unabhängig von allen anderen Abteilungen sein und verwaltet werden. Lediglich eine Information geht indirekt auch Sie an.“ Freud wandte sich an Gomez. „Colin Fox hat sich bereit erklärt, der Abteilung beizutreten und wird Ihnen demnach ab sofort nicht mehr zu Verfügung stehen. Sollte es Möglichkeiten und Notwendigkeiten geben, Ihre Abteilung mit dem DP zu verknüpfen, werden Sie das zu gegebenem Zeitpunkt mit Herrn Fröhlich besprechen.“ Gomez nickte skeptisch. Etwas in seinem Blick gefiel Freud nicht, aber es war zu früh darüber zu urteilen. Bis zu diesem Punkt verlief alles zu seiner Zufriedenheit. Niemand stellte unnötige Fragen, und das, obwohl er selbst so wenige Informationen wie möglich über die neue Abteilung gegeben hatte. „Die Informationen zu den weiteren neuen Abteilungen, die durch die Anweisungen aus Brüssel und Straßburg eingesetzt wurden, entnehmen Sie bitte den Dossiers. Ich habe mir erlaubt, diese neuen Posten mit meinen eigenen Leuten zu besetzen, statt sie hier heute wählen zu lassen. Im Gegenzug wird vorerst jeder Einzelne von Ihnen seinen bisherigen Posten behalten.“ Mache Zugeständnisse und konfrontiere sie dann erst mit Neuem – so kannst du nur gewinnen. Wie es aussah, ging seine Taktik auf. Niemand wandte etwas ein. „So konnte ich auch gleich die nächste Auflage der EU erfüllen und die neuen Führungsplätze so mit Frauen besetzen, dass wir die Quote erfüllen. Wo wir gerade bei Frauen sind: Man hat mir bislang keine feste Sekretärin zugeteilt. Mit den bisherigen war ich nicht wirklich zufrieden. Ich denke, es wäre Ihre Aufgabe, Lecout, mir jemanden vorzuschlagen.“
Rene Lecout schaute etwas pikiert auf das Dossier vor ihm, das er bereits zu lesen begonnen hatte, und wandte sich dann seinem neuen Chef zu.
-„Da Sie uns gerade mitgeteilt haben, dass Colin Fox von seinem bisherigen Posten zurückgetreten ist, gehe ich davon aus, dass wir ihn in anderen Abteilungen nicht mehr einplanen müssen?“
-„Davon können Sie ausgehen. Allerdings ist mir zu Ohren gekommen, dass Sie alle ihre Einsatzagenten nach eingehender Besprechung nun mit einer Kennung versehen wollen. Wie lautet die für Colin Fox?“
-„Wir hätten ihm die Bezeichnung Omega 5 zugewiesen. Es wäre rein aus verwaltungstechnischen Gründen passiert.“
-„Die Idee finde ich trotzdem durchaus gut. Er wird diese Kennung auch in neuer Funktion behalten, berücksichtigen Sie das bitte. Aber zurück zu meiner Sekretärin...“
-„Fox hatte bislang eine Privatsekretärin, ich denke, die benötigt er in der neuen Funktion nicht mehr, wenn die Verwaltung der Abteilung ohnehin unabhängig organisiert ist. Also schlage ich vor, dass Sie Lisa Maytree übernehmen. Sie war zuvor schon Sekretärin Ihrer Vorgängerin.“
-„In Ordnung. Ich übernehme sie.“ Freud blickte auf seine Uhr. Das alles hier dauerte länger, als er geplant hatte. „Ich denke, ich werde Sie gleich allein lassen müssen. Ich habe noch zu tun.“
-„Eine Sache, der Sie zustimmen müssen, gäbe es da noch“, wandte Lecout ein. „Es existiert ein Rahmenvertrag mit der Firma Centrotherm und der Würth-Gruppe...“
-„Über diese Sache bin ich bereits informiert. Wir übernehmen das Centrotherm-Gebäude für unsere Zwecke, es wird der Abteilung Delta zugewiesen. Und was die Würth-Gruppe angeht, so brauchen Sie sich darum nicht weiter zu kümmern. Also, Gentlemen, bevor ich gehe:“, Freud hob herrschaftlich die Hand, „auf eine gute Zusammenarbeit.“ Dann verschwand er aus dem Konferenzraum und ließ einige sehr verunsicherte Gesichter zurück.
Joachim Bergmann und Orlando Gomez trafen sich zufällig zwei Stunden nach der Konferenz am Kaffeeautomaten im Aufenthaltsraum. Beide schwiegen erst eine ganze Weile, bis Bergmann etwas sagte.
-„Und was halten Sie vom neuen Opal Alpha?“
-„Ich weiß nicht.“ Gomez nahm die Tasse mit dem heißen Kaffee entgegen. „Irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl. Schlimm genug, dass er alles umkrempeln will, aber seine Herangehensweise wirkt so... bedrohlich.“
-„Vielleicht sind wir ja auch einfach nur ein bisschen eingerostet und nicht mehr so flexibel.“
-„Möglich, dass Sie recht haben. Gerade wo wir doch eigentlich besonders flexibel sein sollten.“
-„Eben.“ Bergmann schüttete sich einen halben Becher Zucker in den Kaffee.
-„Das ist aber nicht gerade gesund, was Sie da machen“, bemerkte Gomez lachend.
-„Ich beuge nur vor, falls Ihr Gefühl Sie doch nicht trügt. Zyankalikapseln haben wir ja leider keine hier.“
Beide mussten lachen.
-„Aber Spaß beiseite“, Gomez wurde wieder ernst. „Mir gefällt diese Sache mit der neuen Abteilung außerhalb des inneren Verwaltungsapparats nicht. Schlimm genug, dass Freud sich nicht näher zu den Veränderungen und neuen Abteilungen geäußert hat. Zumindest konnte er uns seine neuen Leute nicht vorstellen, weil die Neuerungen erst zum Jahreswechsel greifen. Aber was dieser Fröhlich über das Death Panel angedeutet hat, klingt sehr nach den alten Methoden, die wir als unabhängiger Geheimdienst gerade nicht mehr unterstützen wollten.“
-„Zumindest hat er uns ja ziemlich im Unklaren gelassen. Vielleicht sehen wir auch einfach nur Gespenster, weil wir eine so fantastische Chefin hatten.“
-„Mag sein...“ Gomez trank einen Schluck Kaffee und stellte dann fest, dass es Bergmanns Kaffee war. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schluckte er den Kaffee herunter.
-„Gut, nicht?“, witzelte Bergmann.
-„Süße Plörre!“ Er wischte sich mit einer Serviette den Mund ab. „Wir sollten die Sache zumindest im Auge behalten. Dass er uns alle auf unseren Posten belassen hat, könnte durchaus Taktik sein. Wiege sie ihn Sicherheit, damit sie nicht merken, wie um sie herum alles zusammenbricht. Ein unheimliches Szenario.“
-„Wir werden sehen.“
Währenddessen hatten Constantin Fröhlich und Ronald Freud in dessen Büro gerade ein Gespräch beendet.
-„Gehen Sie also davon aus, dass der Komplex in Rorschach mitsamt dem riesigen Keller-Areal weiterhin für Sie nutzbar ist“, schloss Freud. „Die Würth-Gruppe wird keine Probleme machen. Wenn auch die Gründe und die Art unserer Nutzung nicht bekannt sind, so läuft trotzdem alles vertragliche über die EU. Ich denke, es wird uns einige Vorteile verschaffen, dass die Würth-Gruppe so vielfältige Unternehmungen betreibt. So können wir die Absolventen des Death-Panels mit sehr unterschiedlichen Legenden ausstatten. Aber das besprechen wir zu gegebenem Zeitpunkt.“
In diesem Moment trat Lisa Maytree nach einem kurzen Klopfen in das Büro. Sie blieb in einiger Distanz zum großen Schreibtisch von Freud im Raum stehen und warf einen abschätzigen Blick auf Constantin Fröhlich, der sie interessiert ansah.
-„Ah, Sie sind also Miss Maytree.“ Freud blickte gar nicht erst von seinen Unterlagen auf. „Ich denke, man hat Sie bereits informiert und eingewiesen. Ich habe auch sofort eine spezielle Aufgabe für Sie.“ Er reichte Fröhlich eine dicke Aktenmappe und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, sie an die blonde Frau weiterzuleiten. „Es geht um eine Recherche, die den aktuellen Informationsstand der Öffentlichkeit über unseren Geheimdienst aufzeigen soll. Suchen Sie nach Medienberichten, Blogeinträgen, Forumsdiskussionen. Alles, was Sie über den European Secret Service finden. Mir reicht eine einfache Zusammenstellung mit inhaltlichen Überblicken. Im zweiten Schritt recherchieren Sie dann bitte noch eine Auswahl an Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Institutionen aus unserer Branche. Ich denke, dass dürfte innerhalb dieser Woche zu schaffen sein. Mehr brauche ich vorerst nicht.“
Ohne ein Wort zu sagen verschwand Lisa Maytree aus dem Büro. Fröhlich warf ihr einen lüsternen Blick hinterher.
-„Nettes Ding.“
-„Warten wir es ab.“ Freud suchte bereits eine weitere Aktenmappe auf seinem ungeordneten Schreibtisch. „Wenn Sie nicht herausragend gut ist, werde ich noch eine zweite Sekretärin brauchen.“
-„Ach, ich wäre mit ihr schon völlig zufrieden.“
Freud warf ihm einen bösen Blick zu.
-„Um so was geht es mir hier aber nicht, Sie Idiot. Und jetzt lassen Sie mich allein, ich habe noch einige Dinge zu klären. Viel Erfolg in Rorschach.“
Fröhlich verließ eingeschüchtert das Büro und ging in Richtung der Aufzüge.
Ronald Freud lehnte sich in seinem Sessel zurück und überlegte kurz. Dann griff er zum Hörer seines Telefons und tippte eine Nummer auf der Konsole ein. Sekunden später meldete sich Filip Ekholm. Freud wies ihn an, in sein Büro zu kommen und legte auf. So langsam kam alles ins Rollen. Schritt zwei war nun auch planmäßig verlaufen. Zwar würde sich zeigen, inwiefern es in naher Zukunft zu Komplikationen käme, aber er hatte zusammen mit seinen Vertrauten, unter ihnen auch Constantin Fröhlich, eine gute Vorarbeit geleistet und so setzten sich die Projekte in Gang.
Für einen Geheimdienst war der ESS wirklich gut organisiert, soweit Freud das nach seiner bisher kurzen Amtszeit beurteilen konnte. Wenn seine Prioritäten nun auch noch geachtet würden, sollte ihnen eine rosige Zukunft bevorstehen. Er fragte sich zwar, wo genau er sich zu gegebenem Zeitpunkt die Lorbeeren abholen sollte, aber das würde sich dann schon einrichten.
Ekholm erschien vor der Tür und Freud winkte ihn herein.
-„Läuft mit dem neuen Gebäudetrakt alles nach Plan?“
-„Ja, ich denke, der Umzug wird reibungslos verlaufen. Sollte alles kein Problem darstellen.“
-„Freut mich, das zu hören. Nachdem Sie meine Vorstellungen von der Ausrichtung des ESS gerade erst kennen gelernt haben, gibt es bereits den ersten Auftrag für Sie.“
-„Stress sind hier alle gewohnt...“ Ekholm unterbrach sich, als er den Blick seines neuen Chefs bemerkte. Seine Miene zu deuten war schwierig, aber irgendwas sagte ihm, dass es besser war, zu schweigen.
-„Es geht um Zusammenhänge zwischen hiesigen Finanzgeschäften und dem Drogenhandel in Südamerika. Unsere amerikanischen Freunde sind dem schon lange nicht mehr gewachsen. Auch unser Partnerdienst traut sich nicht, tiefer in die Todeskette einzudringen, die sich von Mexiko bis Kolumbien zieht. Nun sollen Sie dort nicht sofort einen Kampf gegen die Kartelle starten. Im Grunde wäre das ja auch gar nicht unsere Aufgabe. Aber es gibt Verknüpfungen nach Europa. Geldwäsche, Finanzmarktgeschäfte, Unternehmungen, mit denen die Kartelle ihre Gewinne verwalten und vervielfachen – alles das spielt sich auf dem Kontinent ab und niemandem ist das bislang so wirklich klar geworden. Drogen sind nicht unser Problem und die hiesigen Mafia-Clans versperren den nationalen Behörden die Sicht auf das Offensichtliche. Wir müssen da ansetzen. Vorerst geht es darum, Informationen zu sammeln. Wer ist beteiligt? Was wird getan? Kümmern Sie sich darum. Wir haben keine Namen, nur lose Anhaltspunkte. Die verfügbaren Informationen befinden sich in diesem Dossier.“ Freud reichte dem Schweden eine weitere Aktenmappe. „Durchforsten Sie alle Kanäle. Zeigen Sie mir, wie gut die Informationsbeschaffungsabteilung arbeitet. Vielleicht können wir schon zu Jahresbeginn daraus einige Einsätze aufbauen, die einen Schlag gegen die Kartelle und ihre Machenschaften bedeuten.“
-„Alles klar. Ich setze sofort einige Mitarbeiter darauf an.“
-„Denken Sie dran: Das hier hat für mich oberste Priorität. Ziehen Sie nicht gleich alle verfügbaren Leute ab, aber was nicht akut ist, muss warten. Verstanden?“
-„Ich denke schon.“ Ekholm runzelte die Stirn. Nicht gleich am ersten Tag des neuen Chefs bei ihm unbeliebt machen! Einfach Befehle befolgen! Es würde schon einen Sinn ergeben.
-„Gut. Das war es bis hierhin.“ Ohne noch einmal aufzusehen, widmete sich Freud wieder seinen Unterlagen. Ekholm wandte sich mit leichtem Unwohlsein zur Tür. Ging es nur ihm so, oder verursachte dieser Neue bei allen ein schlechtes Gefühl?
Colin Fox schob sich hektisch durch die Menge in der völlig überfüllten Bahnhofshalle des Madrider Fernbahnhofs Atocha, die mit ihren übertriebenen Grünanlagen eher an das Tropenhaus eines Botanischen Gartens erinnerte, als an den Aufenthaltsbereich eines Verkehrsknotenpunkts. Vor der Halle angekommen nahm er sofort ein Taxi in die Stadtmitte. Nahe der Plaza Mayor stieg er aus und betrat ein heruntergekommenes Hotel in der Calle de Esparteros. Ein gelangweilter Portier händigte ihm die Schlüssel aus, nachdem er bar bezahlt und eine Tageszeitung gekauft hatte. Es hätte ihn zwar verwundert, aber vielleicht stand ja schon etwas zu seiner gestrigen Aktivität in Barcelona im Innenteil. Er wollte jetzt auf Nummer sicher gehen, nachdem gestern so einiges schief gelaufen war. Deshalb hatte er auch den Zug genommen, anstatt zu fliegen. Die Eisenbahn war immer noch deutlich anonymer als die übertrieben kontrollierten Flieger. Ein Grund, warum er auch diese billige Absteige gewählt hatte. Hier würde man sich nicht an ihn erinnern und wenn er am nächsten Morgen die iberische Halbinsel wieder verließ, deutete nichts darauf hin, dass er Madrid zwischenzeitlich überhaupt verlassen hatte.
Als er die Tür zu seinem Zimmer aufgeschlossen hatte, warf er seinen Koffer ohne ihn auszupacken auf das Bett und setzte sich in einen schäbigen Sessel am Fenster. Von draußen drangen leise Verkehrsgeräusche und einige Stimmen herein, aber im Vergleich zur sonstigen Atmosphäre im Madrider Stadtzentrum war es beinahe ruhig. Der erste Weihnachtsfeiertag schien die Menschen trotz des guten Wetters Zuhause zu halten.
Lustlos blätterte Fox in der Zeitung. Nichts Interessantes. Kein Hinweis auf ein Verbrechen in Barcelona. Da erst fiel ihm das Datum der Zeitung auf. 23/12. Natürlich, wieso sollte es auch ausgerechnet an einem Feiertag die neuesten Nachrichten geben? Verärgert warf er das Papier zu Boden und starrte missmutig aus dem Fenster. Er blickte auf eine typisch kastilische Häuserfassade. Plötzlich ergriff ihn ein Gefühl der Enge und Verzweiflung. Er musste raus hier, musste sich bewegen. Fox streifte sein Jackett über und verließ das Hotel. Vor dem Gebäude wandte er sich nach links, an der nächsten Abzweigung nach rechts. Hektisch blickte er sich um, ohne zu wissen, wo er sich eigentlich befand. An der Puerta del Sol lief er vorbei ohne zu registrieren, dass er am zentralen Platz der Stadt angekommen war. Fox ging immer weiter und weiter, kreuz und quer durch das Straßengewirr der Altstadt. Er wurde immer schneller, rannte bereits, als er die Paseo del Prado überquerte. Menschen starrten ihm verwundert hinterher, Hunde bellten ihn an, Autofahrer bremsten abrupt ab, wenn er vor ihnen die Straße überquerte. Er war wie in Trance.
Als Fox völlig außer Atem war, hielt er an. Einen Moment ging er in die Knie und holte tief Luft. Ihm wurde schwindelig, er merkte, wie sein Kreislauf rebellierte. Eine Sekunde war alles schwarz, dann richtete er sich auf und wankte zu einer Bank in seiner Nähe. Fox setzte sich und versuchte, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Langsam suchte er seine Umgebung ab. Wie es aussah, war er im Parque del Buen Retiro gelandet. Allmählich kam er wieder zu Atem. Wieso war er hier? Was hatte ihn so plötzlich aus der Fassung gebracht? Richtig, es war der Gedanke an den gestrigen Abend gewesen. Dabei war der Auftrag letztendlich erfolgreich ausgeführt. Der Spanier war tot und mehr hatte er nicht zu erledigen gehabt. Ob er dafür einen oder zwei Schüsse gebraucht hatte, spielte schließlich keine Rolle. Aber etwas anderes war passiert. Etwas, das er nicht wirklich zuordnen konnte. Es war der Blick dieser jungen Frau gewesen. Natürlich kannte er sie. Sie hieß Lavinia. Und wie aus einem Lexikon-Artikel hätte er eine Reihe von Informationen über sie aufzählen können, die ihm sofort ins Bewusstsein kamen. Aber da war dieses Gefühl, das sich mit den Informationen verband. Er hatte dieses Ziehen am gestrigen Tag zweimal verspürt. Bei ihrem Anblick war es noch um einiges stärker gewesen, als wenige Stunden zuvor. Fox hatte allerdings keine Erklärung dafür. Wenn er sich die Informationen über sie vor Augen rief, kamen ihm zwangsläufig Wörter wie Liebe, Heimat, Leben in den Sinn, aber ihm fehlte ein kognitiver Zusammenhang. Nur dieses Ziehen lieferte den Hinweis, dass es etwas Besonderes war. Die Verbindung passte nicht in sein übliches Schema. Sie war keine Gefahr, aber auch keine Kontaktperson oder kein Auftraggeber. Fox wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Eine Erinnerung schoss ihm durch den Kopf. Krampfhaft versuchte er, sie festzuhalten. Es war eine Situation vor vielen Jahren. Er saß dieser jungen Frau gegenüber und sie lächelte. Ein Glücksgefühl kam in ihm auf. Dieses Lächeln... Die Erinnerung verflüchtigte sich und verband sich mit einer Idee, die gegen eine automatische Verdrängung durch sein Gehirn ankämpfte. Irgendwie schaffte er es, diesen Gedanken festzuhalten. Ich hatte ein Leben. Was hatte dieser Gedanke nur zu bedeuten? Fox versuchte, diese Idee weiterzuentwickeln, sie zu bearbeiten, ihr einen verständlichen Bezug zu geben. Ich hatte ein Leben. Es wollte ihm in diesem Moment nicht gelingen, aber die Idee hatte sich in seinem Kopf festgesetzt. Ich hatte ein Leben und ich war glücklich...
Lavinia Lichtsteiner saß mit leerem Blick in einem Straßencafé am Boulevard Saint-Michel in der Nähe der Sorbonne und stocherte mit einer Gabel in ihrem Fruchtsalat.
-„Komm schon, Lavi, du musst doch wenigstens etwas essen“, ermunterte sie eine blonde Frau, die ihr gegenüber saß. Ihr Name war Mareen Schuhmacher.
Draußen schlenderten vergnügte Passanten über den Bürgersteig und genossen die letzten hellen Minuten an diesem ersten Weihnachtsfeiertag. Die Sonne zeigte noch einmal ihre volle Pracht und ließ die Mansarddächer der Häuser am Boulevard aufleuchten. Mareen Schuhmacher hatte ihre beste Freundin vor einer knappen Stunde vom Flughafen Charles de Gaulle abgeholt und war mit ihr in dieses Café nahe der Universität gefahren, an der sie derzeit studierte. Noch in der Nacht hatte Lavinias Anruf sie aus dem Schlaf gerissen und die verzweifelte Stimme ihrer besten Freundin von den Geschehnissen in Barcelona berichtet. Es war Mareens Vorschlag gewesen, diesen Zwischenstopp in Paris einzulegen und nicht direkt von Barcelona in ihre westfälische Heimat zurückzukehren. Die Polizeibeamten hatten Lavinia nach Registrierung ihrer Daten offenbar die Ausreise aus Spanien erlaubt, was man durchaus als Glücksfall bezeichnen konnte. Nicht auszudenken, wenn ihre beste Freundin neben den Strapazen der allgemeinen Umstände auch noch selbst in den Mittelpunkt der Ermittlungen gerückt wäre.
Mareen fühlte sich hilflos, ja beinahe selbst verzweifelt, weil sie keine Ahnung hatte, wie sie ihrer besten Freundin in dieser Situation helfen konnte. Dass sie allein durch ihre Anwesenheit eine große Hilfe für Lavinia war, kam ihr dabei nicht in den Sinn. Sie wollte etwas tun, was die Situation verbesserte, aber wie sollte sie das anstellen? Konnte in dieser Lage überhaupt jemand etwas tun?
-„Er hat Àlex getötet“, murmelte Lavinia leise. „Er hat Alex getötet. Warum nur, Mareen? Wieso hat er das getan?“ Der Schock war ihr weiterhin anzumerken.
Mareen schluckte. Sie hatte keine Ahnung, was sie darauf antworten sollte. Aus ihrer Sicht gab es nichts, dass diesen Umstand erträglicher machen konnte.
„Er wollte mich heiraten. Àlex wollte mich wirklich heiraten.“
Mareen rückte mit ihrem Stuhl neben ihre Freundin und nahm sie mitfühlend in den Arm.
„Und ich habe nein gesagt...“ Lavinia begann zu schluchzen. „Verstehst du, was ich sage? Ich habe seinen Antrag abgelehnt. Ich habe ihn abgelehnt, weil ich Colin das nicht antun wollte. Ich wollte warten. Wegen ihm...“ Dicke Tränen kullerten über ihre Wangen. Mareen schwieg und umarmte sie noch fester.
Fox kehrte in der Dämmerung zu seinem Hotel in der Calle de Esparteros zurück. In den zurückliegenden Stunden war er weiter durch die spanische Hauptstadt geirrt und hatte den Gedanken verfolgt, der ihn so beschäftigte. Immer wieder kamen Erinnerungsfetzen aus seiner Vergangenheit zutage, mit denen er vorerst nichts anfangen konnte. Das Problem war einfach, den Erinnerungen einen Bezug im Gesamtzusammenhang zu geben. Er hatte keine Amnesie, denn wenn er darüber nachdachte, konnte er sich an jedes noch so kleine Detail aus seinem bisherigen Leben erinnern. Doch so sehr er auch versuchte, das Puzzle zusammenzuhalten, es wollte ihm nicht gelingen.
Die Luft im Zimmer war stickig, also öffnete er das Fenster. Draußen wehte ein leichter Wind. Fox klappte seinen Koffer auf und entnahm ihm eine kleine Kosmetiktasche. Einen Moment überlegte er, dann zog er den Reißverschluss zur Seite und wählte zwei Dosen sowie eine Spritze aus den Gegenständen aus. Die Spritze und die Dose mit der durchsichtigen Flüssigkeit waren nur für Notfälle gedacht, er hatte sie bislang nie selbst benutzt. Fox fragte sich, wann wohl die nächste routinemäßige Untersuchung der ESS-Mediziner bei ihm anstand. Es sollte nicht mehr allzu lange dauern. Wenn er richtig gerechnet hatte, war es nächste Woche so weit. Also steckte er die Spritze wieder in die Kosmetiktasche.
Der Flügelschlag einer Taube ließ ihn aufhorchen. Das Tier machte es sich gerade auf dem Fensterbrett vor seinem Zimmer gemütlich. Fox öffnete die zweite Dose mit den Tabletten. Er hatte in den letzten beiden Tagen keine der Kapseln genommen, was gegen die Vorschrift war, aber bislang war das nie zu einem Problem geworden. Was genau bewirkten die Tabletten eigentlich? Es war das erste Mal, dass Fox sich diese Frage stellte, seit er vor knapp einem Jahr begonnen hatte, sie regelmäßig zu schlucken. Im Grunde musste er sich eingestehen, dass er keine Ahnung hatte. Es war nie wichtig gewesen. Solange die zuständigen Mediziner beim ESS sich darum kümmerten und sie ihm verschrieben, war es ihm absolut gleichgültig. Es würde schon einen Sinn haben. Aber heute war alles anders. Hatten vielleicht die fehlenden Tabletten diese Unsicherheit bei ihm ausgelöst?
Fox schüttete sich zwei der Kapseln auf die Handfläche. Was würde nun passieren, wenn er sie nahm? Wären all die Gedanken, die ihm seit gestern Abend gekommen waren, einfach so verschwunden? Konnte das sein? Er war überrascht, wie viele Fragen er sich stellen konnte. Das war ebenfalls etwas Neues. Und doch erinnerte er sich an Zeiten, in denen gerade das zu seinem täglichen Leben gehörte. Was war passiert? Das war die einzige Erinnerung, die ihm komplett fehlte. Wie war er so geworden, wie er heute war? Fox verschloss die Dose wieder und warf sie in seinen Koffer. Erst wenn er eine Antwort auf diese Frage hatte, würde er das Risiko eingehen, die Gedanken an sein früheres Leben wieder zu vergessen. Seine Pflicht konnte er auch ohne die Kapseln erfüllen. Wenn alles normal lief, würde er in dieser Woche ohnehin noch zu einer Untersuchung nach Rorschach reisen.
11 Monate zuvor:
Ronald Freud winkte seinen Vertrauten herein, als dieser vor seiner gläsernen Bürotür erschien. Constantin Fröhlich trat ein und setzte sich auf den Sessel vor Freuds Schreibtisch. Draußen rieselten kleine Flocken vom Himmel und tauchten die Konstanzer Landschaft in ein strahlendes Weiß. Die Fußwege am Seerhein wurden gerade von einem städtischen Trupp vom Schnee befreit. Während Freud seine Brille putzte, nahm Fröhlich ein einzelnes Blatt Papier aus einem Umschlag. Er legte es nicht sofort auf die Glasplatte vor ihm, sondern warteteauf den Ausgang ihres Gesprächs, das noch gar nicht begonnen hatte.
-„Wie es aussieht, gehen wir in die nächste Phase“, bemerkte der Leiter des ESS, als er das Brillenputztuch zur Seite legte und das Gestell wieder aufsetzte. „Sie müssen nicht alle Einzelheiten kennen, aber die Abteilung Delta hat sehr gute Arbeit geleistet und eine Liste von Namen zusammengestellt, die uns das bringt, was wir wollten. Sie können damit also Ihr Programm in die operative Phase überführen umsetzen. Ich erwarte, dass alles nach Plan läuft und wir keine Probleme bekommen. Bevor ich Ihnen die Liste gebe“, er zog ein Blatt aus dem Drucker, „möchten Sie mir aber offenbar ebenfalls etwas geben, oder habe ich Ihr Dokument, das Sie da in der Hand halten fälschlicherweise als für mich bestimmt eingeschätzt?“
-„Nein, das haben Sie nicht“, bestätigte Fröhlich und legte das Blatt auf den Schreibtisch. „Ich bin davon ausgegangen, dass Sie einen Vorschlag von mir hören wollen, wer den ersten Auftrag ausführen soll und ich habe Ihnen dafür eine Übersicht über die Leistungen des Mannes erstellt, den ich für am Weitesten halte. Wir haben zwar in den letzten Wochen eine Vielzahl von Probanden ins Programm aufgenommen, aber die Ergebnisse aus den Tests in Verbindung mit der Tatsache, dass er der erste war, der unsere Mittel verabreicht bekam, sprechen für ihn.“
Freud warf einen flüchtigen Blick auf den Zettel.
-„In dieser Hinsicht vertraue ich ganz auf Ihre Kompetenz. Sie kennen die Konsequenzen genauso gut wie ich, also wird Ihr Vorschlag schon der richtige sein. Allerdings sollten wir es bei einer erfolgreichen Einführung nicht bei ihm allein belassen.“
-„Natürlich.“
-„Es geht also um Folgendes: Mehrere Stufen einer Planung durch die latein- und südamerikanischen Kartelle sehen offenbar vor, auch in Europa Fuß zu fassen. Das alles ist noch im absoluten Anfangsstadium, also geht es für uns lediglich darum, die an den Deals beteiligten Personen unschädlich zu machen. Das ist unser erster Schritt. Einen weiteren habe ich bereits in Planung, aber dabei bewegen wir uns dann schon näher am Kern der Organisationen und dafür will ich eine erfolgreiche Bestätigung des Programms im Ernstfall. Zunächst geht es also um einfache Boten. Es sind Männer – und zum Teil auch Frauen – die ganz unten in der Kette stehen und demnach über keinerlei für uns nützliches Wissen verfügen.“
Fröhlich fragte sich, woher Freud das so genau wissen wollte, wo doch jede noch so kleine Information einen Wert haben konnte. Aber das hier war nicht sein Spezialgebiet und er wollte seinem Chef um Himmels Willen nicht widersprechen.
-„Der Vorteil für uns“, fuhr Freud fort“, liegt vor allem darin, dass unser Vorgehen für die andere Seite unbemerkt bleiben wird. Und nicht nur das, auch was die herkömmlichen Strafverfolgungsbehörden angeht, wird es nicht auffallen, wenn ein paar Junkies oder arme Fischer in Südeuropa verschwinden. Wir operieren also vorerst in den Schatten, die sich uns bieten. Die nächsten Schritte werden vorbereitet sein, wenn alles positiv verläuft.“
Natürlich, dachte Fröhlich, die Planungen gehen immer schon mindestens zwei Schritte weiter.
-„Hier haben Sie also die Liste mit den Namen und einigen weiteren nützlichen Informationen.“ Freud reichte ihm die Liste. „Vielleicht finden Sie sogar noch etwas mehr heraus, das Ihren Männern helfen könnte. Sie haben ja die Möglichkeiten, eigenmächtig zu recherchieren. Jeder Auftrag sollte aber einzeln und unter strengster Geheimhaltung erteilt werden. Statten Sie Ihre Agenten mit wasserdichten Legenden aus, planen Sie die komplette Mission vor. Das heißt, Reise, Unterkunft, Durchführung und Verschwinden muss durchkalkuliert worden sein. Bei dem einen oder anderen Fall kann es zudem sinnvoll sein, einen zweiten Mann hinterher zu schicken, der aufräumt, wo es nötig ist.
Kommen wir zu Ihrem Vorschlag: Sie meinen also Omega 5 ist bereit? Haben Sie keine Bedenken wegen seiner psychischen Instabilität?“
-„Wir haben noch nicht wieder über ihn gesprochen, seit er die letzten Phasen des Programms begonnen hat. Die Instabilität ist durch die Präparate uneingeschränkt aufgehoben. Unsere Spezialisten von medizinischer und psychologischer Seite sind sich da einig. Er wird uns nicht enttäuschen.“
-„Gut. Aber unterschätzen Sie nicht seine Charakterstärke und was er erlebt hat.“
-„Genau das war von vornherein die beste Mischung, um das gewünschte Ziel zu erreichen.“
-„Dann müssen Sie ja jetzt nur noch beweisen, dass ihre Kalkulation aufgeht.“ Freud setzte ein gespieltes Lächeln auf.
Fröhlich wusste, was das hieß: Fehler durfte er sich keine erlauben.
Kurz vor Mitternacht verließ Colin Fox das kleine Restaurant nahe der Plaza de Castilla und schritt energisch in Richtung Metro-Station. Als der Blick auf die beeindruckenden, schräg aufeinander zulaufenden Zwillingstürme des Puerta de Europa frei wurde und er mit dem Gedanken spielte, einen Moment innezuhalten, was er sofort wieder verwarf, vibrierte sein Handy. Er warf einen flüchtigen Blick auf das Display: Der nächste Auftrag also. Passenderweise befand sich das Ziel hier in Madrid. Zwei Haken hatte das Ganze aber: Die Zielperson hatte ein Zimmer im Hotel Ritz, was den Auftrag nicht gerade erleichterte, und er musste bereits am Vormittag erfolgreich ausgeführt sein. Dieses Mal konnte es schmutzig werden, das wusste er. Die Sporttasche hatte er mitsamt dem Scharfschützengewehr in einem vorab vereinbarten Schließfach am Bahnhof in Barcelona deponiert und den Schlüssel unter die Klappe eines Snackautomaten geklebt. Er musste die Mordwaffe nun also selbst wählen und es würde auf engstem Raum erledigt werden müssen.
An der Metrostation angekommen, stieg er schnell die Stufen hinab und hastete in eine einfahrende Bahn. Um in Ruhe planen zu können, musste er ins Hotel zurück. Ein paar Stunden Schlaf konnten ebenfalls nicht schaden.
Bevor er sein Hotel erreichte, entschied er sich anders. Fox schritt weiter durch das enge Straßengewirr Madrids, vorbei an der Oper und dem Palacio Real, bis er das neu gestaltete Ufer des Manzanares erreichte. Dort ließ er sich auf einer Bank nieder und starrte ausdruckslos auf die vom Mondlicht beschienene Oberfläche des Flusses. Was machte er hier eigentlich? Gerade erst war ihm der Gedanke an sein früheres Leben gekommen, dem er nachgehen und den er sich erklären wollte und gleichzeitig bereitete er hier einen weiteren Mord vor. Wie passte das zusammen? Fox merkte, wie sein Leben mehr und mehr aus dem Gleichgewicht geriet. Und er konnte nichts dagegen tun. Völlig hilflos saß er hier auf einer Bank mitten in Madrid und verzweifelte an seiner Lage. Auf der einen Seite zwang etwas in ihm seinen Verstand sich zu beruhigen und die Situation sachlich zu betrachten. Er hatte einen Auftrag und er musste seine Pflicht erfüllen – dafür war er hier. Aber auf der anderen Seite zerrte ein Gefühl ihn weg von der logischen Analyse, die durch sein Denkmuster vorgefertigt wurde. Er wollte nicht mehr töten. Es war ihm widerwärtig und er fragte sich, wie er überhaupt dazu gekommen war. Sicherlich, da war weiterhin diese Stimme, die ihm sagte, dass er alles für eine gute Sache tat, dass er sich selbst dafür entschieden hatte. Aber sobald er darüber nachdachte, kam ihm die vergangene Nacht in den Sinn, der verzweifelte Blick der jungen Frau, der ihn nach dem Warum zu fragen schien.
Fox schreckte aus seinen Gedanken, als er eine Gestalt hinter sich bemerkte. Seine Muskeln spannten sich, sein Verstand arbeitete auf Hochtouren, um die Situation zu überblicken – sofort war er in Kampfbereitschaft. Als er sich langsam umdrehte, entfernte sich die wankende Gestalt eines betrunkenen Obdachlosen bereits in Richtung Calle Segovia. Fox entspannte sich wieder und versuchte, seinen letzten Gedanken aufzugreifen. Das Schlimme war, dass er selbst keine Antwort auf das Warum hatte. Es war ein Auftrag, seine Pflicht. Vermutlich hatten all die Menschen etwas Böses getan, anders konnte er sich nicht erklären, wie sie ins Visier des ESS geraten sein konnten. Aber war das wirklich so eindeutig? Konnte er sich sicher sein, dass das, was er aus Pflichtbewusstsein getan hatte, wirklich richtig war?
Eins war klar: Er würde dieser Frage nachgehen. Den neuen Auftrag würde er nicht so einfach fraglos hinter sich bringen. Er wollte wissen, was der Mann getan hatte, den er im Ritz umbringen sollte. Dass sich dabei ein weiteres Problem auftat, übersah er vorerst.
Früh am nächsten Morgen schlenderten Mareen Schuhmacher und eine noch sichtlich angeschlagene Lavinia Lichtsteiner am Seine-Ufer entlang, vorbei an der Île de la Cité mit den eindrucksvollen gotischen Türmen der Kathedrale von Notre-Dame, und unterhielten sich über belanglose Themen. Als sie die Pont Neuf erreichten, blieb Lavinia plötzlich abrupt stehen.
-„Was ist?“, fragte Mareen erschrocken.
-„Ach nichts Wichtiges.“ Lavinia ging bereits weiter und blickte gedankenverloren in den blauen Pariser Himmel. Von vorn kam ein Fahrradfahrer auf sie zu und Mareen konnte sie gerade noch zur Seite ziehen, um einen Zusammenstoß zu verhindern.
-„Ich hatte gedacht, ein Spaziergang durch Paris würde dich vielleicht ein wenig ablenken, aber stattdessen wirkst du noch abwesender und lässt dich beinahe überfahren. Also sag mir wenigstens, woran du gerade gedacht hast.“
-„Ach, eigentlich ist es wirklich nichts. Als du gerade von der Stadt geschwärmt hast, musste ich nur daran denken, dass Colin mich ziemlich oft gefragt hat, in welche Stadt ich am liebsten reisen würde.“ Lavinia schwieg eine Weile und sah unsicher auf den blauen Fluss hinab. Nach einer Weile fuhr sie fort: „Ich hab immer anders geantwortet.“
-„Natürlich, du hattest ja auch immer die unterschiedlichsten Vorstellungen.“ Mareen lächelte. „Ich kann mich noch erinnern, dass du mir mal vorgeschlagen hast, nach Riga zu fahren.“
-„Naja, ich bin ja auch gerne rumgereist. Aber als Colin mich das erste Mal danach gefragt hat, habe ich Paris gesagt. Sicher auch, weil ich die Stadt mag, aber er hat immer so von London geschwärmt und ich wollte etwas Vergleichbares dagegen setzen. Vermutlich einfach nur, um ihm nicht den Gefallen zu tun, dass er mir vorschlagen kann, dass wir gemeinsam hinfahren.“
-„Was er dann natürlich doch getan hat.“
-„Ja, natürlich.“
-„Wieso hast du’s denn dann nicht einfach gemacht? Wir haben da nie wirklich drüber gesprochen. Ich glaube, ich dachte einfach, dass ich dich damit zu sehr nerven würde, weil ich ja weiß, wie sehr er nerven kann und du oft genug genau das erwähnt hast. Außerdem hatte ich gerade was dieses Thema anging ja selbst genug Sorgen.“
-„Was du nicht sagst.“ Lavinia musste unwillkürlich lachen. Es war das erste Mal seit den furchtbaren Ereignissen an Heiligabend.
-„Ja, lach du nur“, spielte Mareen die Verärgerte, während sie sich innerlich jedoch beinahe überschwänglich freute, dass ihre beste Freundin wieder lachen konnte.
-„Ich weiß es nicht.“ Lavinia wurde wieder ernst.
-„Was weißt du nicht?“, fragte Mareen überrascht.
-„Deine Frage. Ich weiß nicht, warum ich nicht mit ihm weggefahren bin. Ich glaube, ich wollte einfach nicht.“
-„Hm.“ Mareen wollte ihre beste Freundin nicht weiter mit Fragen belasten, die sie an die vergangenen Ereignisse erinnerten, also sagte sie nichts. Allerdings fiel ihr auch keine gute Überleitung zu einem anderen Thema ein und so gingen sie weiter, ohne zu überlegen, wohin sie ihr Weg eigentlich führte. Auf dem Place du Carrousel vor dem Louvre angekommen, blieben sie stehen.
-„Ich wollte ihm vor allem keine Hoffnungen machen. Du weißt selbst, wie anhänglich er war und es war offensichtlich, dass er alle anderen Mädchen übersehen hat. Es gab doch bessere für ihn als mich...“
-„Meinst du nicht, du machst es dir damit ein bisschen zu einfach? Es ging doch letztendlich nicht um ihn. Du hast ihn nicht geliebt und wusstest nicht, wie du damit umgehen sollst, dass er seine Gefühle so offensiv gezeigt hat.“
-„Kann schon sein, dass du Recht hast...“
-„Lavi, du weißt doch, das hab ich häufiger als dir lieb ist.“
Beide lachten.
-„Hast du eigentlich noch Kontakt zu ihm gehabt?“
-„Zu wem? Zu Colin? Nein, nicht seit meinem Auslandsjahr. Beziehungsweise“, sie musste lachen, „seit meinem ersten Auslandsjahr. Das hier ist ja auch nicht Deutschland.“
-„Wie kannst du das nur vergessen?“ Auch Lavinia lachte, kehrte aber schnell zu ihrer nachdenklichen Miene zurück. „Dann musstest du dir also nicht anhören, dass ich ihn vermutlich verrückt gemacht habe?“
-„Das hast du sowieso schon immer, verrückt vor Liebe.“