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»Es liegt eine Kraft in den Geschichten ihres Lebens und dem Sinn, den sie darin gefunden haben.« (Kerry Egan)
Dies ist kein Buch über das Sterben – es ist ein Buch über das Leben! Die erfahrene Hospiz-Seelsorgerin Kerry Egan erzählt Geschichten von Sterbenden. Sie handeln von Hoffnung und Glück, Reue und Trauer, Stolz und Demütigung, Offenbarung und viel zu lange gehüteten Geheimnissen. Und vor allem: von der Liebe – zu ihren Kindern, Partnern und Freunden, von unerfüllter, verlorener, vergeblicher Liebe. Gemeinsam ist allen Geschichten das Ringen darum, dem eigenen Leben einen Sinn zu geben, und der unbedingte Wille, die Welt nicht schwarzweiß zu sehen, sondern in all ihren Schattierungen von grau bis bunt.
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Seitenzahl: 231
Kerry Egan
Leben
Von Sterbenden lernen,
was zählt
Aus dem Amerikanischen
von Juliane Gräbener-Müller
FÜR MEINE KINDER
INHALT
1. Geschichten, die wir erzählen
2. Die Feuerprobe der Liebe
3. Glorias Baby
4. Ach, hätte ich doch mehr getanzt
5. Wo Atem ist, ist auch Hoffnung
6. Ein Leben in Grau
7. Jeremia
8. Geboren und noch mal und noch mal geboren
9. Liebe und andere reale Dinge
10. Gewöhnliche Engel
11. Vorstellungskraft und Leid
12. Sterben ist nur ein Verb
13. Es ist ein wunderbares Leben, und dann geht man
Danksagung
1. GESCHICHTEN, DIE WIR ERZÄHLEN
Weise bin ich nicht geworden. Man denkt immer, wenn man alt wird, sollte man auch weise werden. Aber hier bin ich nun, dem Tod nah, und bin es bis jetzt nicht geworden.«
Glorias milchig blaue Augen weiteten sich, und sie zog die Augenbrauen hoch. Sie lachte, nur ein wenig.
»Bei allem, was ich durchgemacht habe, hätte ich ja gedacht, wenn überhaupt jemand das alles kapiert, dann ich.« Wieder lachte sie, eine Art rollendes Glucksen, das ihre langsame, gedehnte Sprechweise unterbrach. Sie lachte immer.
»Wissen Sie.« Als sie sich zu mir beugte, beschien Sonnenlicht den weißen Babyflaum auf ihrem Oberkopf. »Ich hab mir immer gewünscht, einen Schriftsteller kennenzulernen, dem ich meine Geschichten erzählen kann, damit andere Leute sie hören können und nicht dieselben Fehler machen wie ich.Ich würde ihm einfach meine Geschichten geben. Ich würde sagen: ›Hier, nimm sie und erzähl sie ihnen.‹ Sie wissen ja, was für verrückte Geschichten das sind. Aber ich hab nie einen Schriftsteller kennengelernt.«
Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte. Mehr als zehn Jahre zuvor hatte ich ein Buch geschrieben, war aber jetzt nicht als Autorin hier. Gloria war eine Hospizpatientin und ich war ihre Seelsorgerin. Von meiner Vergangenheit hatte ich ihr bisher nichts erzählt.
»Ich habe immer darum gebetet, einem zu begegnen«, fuhr sie fort. »Aber dieses Gebet wird wohl nicht mehr erhört werden.«
Wir verstummten, und ich hoffte, dass Gloria das Thema wechseln würde.
Sie hob die Hände von den Armlehnen und ließ sie mit einem tiefen Seufzer wieder fallen. »Ich verlasse nicht einmal mehr dieses Haus. Ich stecke hier fest. Wie soll ich da noch einen echten Schriftsteller kennenlernen?«
Sie sah mich an und schüttelte lächelnd den Kopf.
»Ich hab gebetet und gebetet und gebetet. Manche Gebete werden wohl einfach nicht erhört.« Sie lachte wieder, doch diesmal klang es traurig.
Langsam wurde es lächerlich. Ich zögerte noch eine stille Minute, dann sagte ich: »Gloria, habe ich je erwähnt, dass ich einmal Schriftstellerin war?«
»Ein echte Schriftstellerin?« Ihre dünnen Augenbrauen gingen wieder nach oben.
»Ja, aber schon vor langer Zeit.«
»Also eine, die ein Buch geschrieben hat?«
»Ja. Veröffentlicht und alles.«
Sie warf die Hände in die Luft und blickte zur Decke. »Und ich hab die ganze Zeit auf einen Mann gewartet!«, rief sie. Sie hüpfte ein bisschen in ihrem Lehnstuhl, drehte sich um und sah mich an. »Ich dachte, es würde ein Mann sein, Kerry! Aber das ist es!« Sie schaukelte vor und zurück und breitete die Arme weit aus. »Ich spüre es! Das ist die Antwort. Der Heilige Geist hat Sie zu mir geschickt, und ich habe Ihnen doch schon alle meine Geschichten erzählt. Sie brauchen sie nur noch aufzuschreiben. Vielleicht können sie jemandem helfen. Vielleicht wird jemand anderes durch sie weise. Versprechen Sie mir, dass Sie meine Geschichten erzählen werden.«
Mir hatten zwar schon vor Gloria einige Patienten gesagt, sie wünschten, andere Menschen könnten aus ihren Lebensgeschichten lernen – hatten mir sogar erlaubt, sie anderen zu erzählen –, doch der Anstoß zu diesem Buch kam tatsächlich von Gloria und meinem Versprechen an sie. Im Laufe der Jahre hatte ich mir schon viele Geschichten gemerkt, Geschichten, die Patientinnen und Patienten vor mir ausgebreitet und über die sie nachgegrübelt hatten, Geschichten, die sie in Gedanken ebenso drehten und wendeten wie ihre Rosenkranzperlen und zerlesenen Bibeln in den Händen. Ich sammelte sie und bewahrte sie in meinem Herzen. Oft, aber nicht immer, fanden meine Patienten im Lauf unserer Gespräche ein gewisses Maß an Seelenfrieden. Oft, aber nicht immer, wurde ihr Glaube an etwas Besseres und Größeres als sie selbst bestätigt. Oft, aber nicht immer, fanden sie unerwartet Kraft, bei den Menschen in ihrem Leben Abbitte zu leisten, und den Mut, furchtlos auf ihren Tod zuzugehen.Und immer lehrten diese Menschen mich etwas.
Wir alle haben Erfahrungen, die unser Leben prägen. Patienten erzählten mir diese Erfahrungen, diese Geschichten, manche nur ein oder zwei Mal, andere immer wieder. Normalerweise änderte sich bei jeder Wiederholung die Art und Weise, wie sie sie erzählten. Aber nicht das Wesentliche der Geschichte änderte sich, sondern die Betonung von Details, die hergestellten Zusammenhänge zwischen diesen Details, und schließlich formten sich die Zusammenhänge zwischen schon lange zurückliegenden Geschichten neu. Der Sinn in ihren Geschichten erweiterte und verlagerte sich.
Fast immer handelten ihre Geschichten von Scham, Kummer oder Trauma: Mein Kind starb mit vier Jahren in meinen Armen. Meine Frau verließ mich wegen eines anderen Mannes, während ich als Soldat weit weg war. Ich habe jemanden umgebracht. Mein Vater hat mich vergewaltigt. Ich hab mich fast tot gesoffen. Mein Mann schlägt meine Kinder und ich habe vor lauter Angst nichts dagegen unternommen. Ich wurde nicht geliebt und weiß nicht, warum. Die Geschichten verwirrten sie. Wie konnten diese Dinge nur passiert sein, und was bedeutete das alles?
Ich weiß nicht, ob es einen weise machen kann, wenn man sich die Lebensgeschichten von Menschen anhört, die im Sterben liegen, aber ich weiß, dass es die Seele heilen kann. Meine wurde dadurch geheilt.
So wie jedem einzelnen meiner Patienten war auch mir etwas passiert. Für die Geschichte, die mein Leben bis dahin geformt hatte, schämte ich mich. Mir war, als wäre ich geborsten und zerbrochen und könnte nicht wieder zusammengesetzt werden, als wäre ich tief im Innersten unwiederbringlich zerstört. Als ich anfing, im Hospiz zu arbeiten, war mir noch nicht klar, dass jeder, wirklich jeder Mensch geborsten und zerbrochen ist.
Nur wenige Monate, nachdem ich die Arbeit im Hospiz aufgenommen hatte, betrat ich das dunkle, nicht besonders wohnliche Zimmer einer Pflegeheimpatientin, die ihrem Krankenblatt zufolge sowohl unter Darmkrebs als auch unter fortgeschrittener Demenz litt. Ich erwartete eine schwache, zusammengerollt daliegende Patientin. Stattdessen traf ich auf eine schöne Frau mit exakt gelegten weißen Locken, die kerzengerade auf ihrem Bett saß. Sie wirkte auf mich wie eine ausgezehrte, bläuliche Porzellanpuppe auf weißen Anstaltslaken.
Statt mich mit dem tiefen Schweigen der Demenz im Endstadium zu begrüßen, sprach sie mit einem breiten neuenglischen Akzent darüber, was es bedeutete, Teile des eigenen Körpers zu verlieren, Teile, die man nie besonders wahrgenommen hatte, bis sie nicht mehr da waren. Selbst bei Demenz im Endstadium kann es passieren, dass ein Patient Momente, ja einen ganzen Tag vollkommener Klarheit erlebt. Während sie über die vielen Jahre ihrer Krebsbehandlung sprach, wurde ihre pergamentene Haut in Nacken und Gesicht rosarot. Ihre Hände begannen zu zittern, dann der ganze Körper. Ihre Stimme wurde allmählich lauter, während ihr Körper sich immer stärker verkrampfte.
»Ich habe kein Arschloch!«, brach es schließlich aus ihr heraus. Dabei schlugen ihre kleinen weißen Fäuste auf das Bett. Selbst unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft erzeugte sie kaum eine Delle in den Laken. »Ich kann nicht scheißen!«
Sie wandte den Blick ab und richtete ihn unverwandt auf den Heizkörper. Als sie wieder sprach, hörte man nur noch ein raues Flüstern. »Alle Leute, die in dieses Krankenzimmer gekommen sind, haben auf mich herabgeschaut. Sie haben mich eigentlich gar nicht gesehen. Sie wollten mich nicht sehen. Sie haben in Babysprache mit mir geredet, so als wäre ich eine Idiotin. Sie haben mich angeschaut und gedacht: ›Zum Glück bin ich nicht wie die.‹ Selbst bei den Netten wusste ich, dass sie heilfroh waren, nicht so zu sein wie ich. Ich wusste, dass sie nur eine verrückte, jämmerliche alte Frau sahen, die nicht einmal ein Arschloch hat.«
Ein paar Sekunden, die sich wie Minuten anfühlten, saßen wir schweigend da. Als sie mich wieder anblickte, sagte ich: »Was Sie brauchten, war Mitgefühl, bekommen haben Sie aber Mitleid.«
»Ja.« Sie sog Luft ein. »Ja, das stimmt. Ganz genau.« Überraschung lag in ihrem Blick. Sie zog die Augenbrauen zusammen und sagte in einer anderen, fast anklagenden Stimme: »Sie sind sehr jung.«
»Ich bin älter als ich aussehe.«
»Nein. Sie sind jung«, sagte sie kategorisch. »Woher wissen Sie so etwas?«
»Nun ja.« Diese Frage hatte ich nicht erwartet. »Also, ich habe ein paar schwere Dinge durchgemacht. Ich weiß, wie Mitleid sich anfühlt.«
Sie setzte sich noch aufrechter hin und fixierte mich mit ihrem Blick. »Warum? Wie geht Ihre Geschichte? Was ist Ihnen widerfahren?«
Ich spürte ein heißes Kribbeln in meinem Körper. »Das erzähle ich lieber nicht, ich bin doch hier, um über Ihr Leben zu sprechen. Meine Rolle als Hospizseelsorgerin besteht darin, Ihnen zuzuhören, Ihnen zu helfen, Ihre spirituelle Kraft auszuschöpfen, um Sie durch diese Zeit zu bringen.« Ich bemühte mich um einen professionellen Ton.
»Sie schämen sich.«
»Nein, nein. Kein bisschen.« Plötzlich wäre ich amliebsten aufgestanden und weggerannt. In meinen Ohren hörte ich Meeresrauschen und spürte den Herzschlag in meiner Brust. Ich hielt mich an der Bettkante fest. »Es ist einfach so, dass ich mich kenne und weiß, wenn ich erst einmal anfange, von mir zu erzählen, spreche ich nur noch darüber, und das ist nicht richtig, denn ich bin ja hier, um für Sie da zu sein, nicht umgekehrt.«
Natürlich war das eine Lüge. Ich schämte mich, und das wusste sie. Freundlicherweise sprach sie mich aber nicht weiter darauf an.
Sie starrte mich mit ihren braunen, leicht aus den knochigen Augenhöhlen und eingesunkenen Wangen hervortretenden Augen an. Dann griff sie nach meinen Händen und räusperte sich.
»Was immer Ihnen in Ihrem Leben Schlimmes passiert ist, was immer Sie Schweres durchzustehen hatten, Sie müssen drei Dinge tun: Sie müssen es akzeptieren. Sie müssen freundlich zu ihm sein«, sagte sie langsam, während sie meine Finger zusammenquetschte. »Und, hören Sie mir gut zu: Sie müssen ihm erlauben, freundlich zu Ihnen zu sein.«
Ich verstand nicht, was sie damit meinte. Wie sollte ich meinem schweren Schicksalsschlag erlauben, freundlich zu mir zu sein?
Bei meinem ersten Kind hatte ich einen Notkaiserschnitt, in dessen Verlauf irgendwann die Periduralanästhesie nicht mehr wirkte. Ich konnte alles spüren, aber das eigentlich Gefährliche daran war, dass ich mich bewegte, als der Bauchraum noch offen war. Daraufhin bekam ich eine Notanästhesie mit Ketamin, einem Narkosemittel, das normalerweise nur bei Pferden, bei Soldaten im Kriegseinsatz und bei Technopartys zum Einsatz kommt. Die Wirkungsweise von Ketamin ist anders als die üblicher Mittel, die das Schmerzempfinden des Körpers ausschalten. Ketamin wirkt als »dissoziative Anästhesie«, das heißt, es kappt die Verbindung zwischen Körper und Bewusstsein, sodass man Schmerz nicht als solchen erkennt. Es löst also mit anderen Worten einen psychotischen Zustand aus.
In meinem unglücklichen und ungewöhnlichen Fall war das kein vorübergehender Zustand. Diese medikamenteninduzierte psychotische Störung hielt sieben Monate an. Als frischgebackene Mutter wurde ich plötzlich in eine Welt von Halluzinationen, Wahnvorstellungen, Dissoziationen, Selbstmordgedanken und Katatonie gestürzt. An das erste halbe Lebensjahr meines Sohnes kann ich mich praktisch nicht erinnern, und die anschließenden achtzehn Monate habe ich dank eines Cocktails aus starken psychiatrischen Medikamenten mehr oder minder verschlafen. Mithilfe von sehr viel Therapie, Medikamenten und Zeit ging es mir zwar irgendwann besser, aber diese Psychose hat mich Jahre meines Lebens gekostet.
Und ich schämte mich noch immer dafür, dass ich den Verstand verloren hatte.
Ich ging noch oft zu dieser Demenzpatientin, immer in der egoistischen Hoffnung auf ein weiteres Gespräch. Ich wollte erfahren, was sie damit gemeint hatte, dass man seinen schlimmen Erlebnissen erlauben solle, freundlich zu einem zu sein. Doch sie sprach nie wieder ein einziges Wort. Nicht einmal Augenkontakt konnte sie herstellen, geschweige denn halten. Sie lag im Bett oder in einem der riesigen, gepolsterten Pflegerollstühle für Heimpatienten, die keine Kontrolle über ihre Körperfunktionen haben. Die Demenz verschluckte sie wieder vollständig. Was übrigblieb, waren ein zusammengerollter und verkrampfter Körper und ein gläsernes Schweigen.
Ich saß dann bei ihr, sang ihr etwas vor und hielt ihre Hände, wenn sie nicht gerade schmerzhaft verkrampft waren. Ich weiß nicht, ob sie Trost daraus ziehen konnte. Ein paar Monate später starb sie, mitten in der Nacht, allein in ihrem dunklen Zimmer.
Sie erinnerte sich wahrscheinlich nicht daran, mich je kennen gelernt zu haben. Aber ich denke seitdem immer wieder über das Gesagte nach. Über die Weisheit in Geschichten wie ihrer und die Güte, die man auch nach schwersten Schicksalsschlägen, selbst jetzt, mitten im Leben, finden kann.
»Mommy.« Mit einem tiefen Seufzer betrachtete mein fünfjähriger Sohn die Schachtel mit Apfelmusbechern auf der Küchentheke. Während ich versuchte, vor der Arbeit noch Lunchpakete für die Schule fertigzumachen, nahm er meine beiden Hände. »Ich hab eine Idee.« Das war immer sein Eröffnungsschachzug. »Ich weiß, dass du zur Arbeit musst und dass du da Leute sterben lässt, aber ich möchte heute unbedingt zu Friendly’s.« Er lächelte und nickte. »Also, Mommy? Können wir hingehen? Zum Mittagessen? Und hinterher ein Eis? Einen Eisbecher zum selber Zusammenstellen? Mit Gummibärchen und bunten Zuckerstreuseln? Du gehst doch gern zu Friendly’s! Ja?«
»Halt, halt!«, sagte ich.
Er setzte sein Kindergartenlächeln auf, nur Zahnfleisch und keine Zähne, und nickte unaufhörlich.
»Noch mal zurück. Was meinst du, was ich auf der Arbeit mache?«
»Leute sterben lassen, damit sie in den Himmel gehen können«, sagte er nüchtern. »Aber das kannst du auch morgen machen, dann können wir nämlich heute zu Friendly’s gehen, ok? Du isst doch auch gerne Eis. Sogar gerner als ich. Gerner als alle anderen. Deshalb gehen wir hin. Sterben können die Leute auch morgen.« Er nickte noch ein paarmal.
Es schien ihm bemerkenswert wenig auszumachen, dass seine Mutter ein weiblicher Sensenmann mit Clogs und immer etwas zu eng sitzender Hose war, in deren Händen nicht nur sein Apfelmusbecher, sondern auch die Macht über Leben und Tod lag.
Um es einmal erwähnt zu haben, ich lasse Leute nicht sterben.
Ich kann meinem Sohn aber nicht verübeln, dass er die Arbeit seiner Mutter nicht verstand. Die wenigsten Leute wissen genau, was Hospizseelsorger tun. Selbst andere Hospizmitarbeiterinnen haben manchmal nur eine vage Vorstellung, die meistens mit Handhalten und Ave-Maria-Beten zu tun hat.
Mir fiel es ja selbst schon schwer, anderen meine Arbeit zu erklären.
»Ein bisschen verwirrt bin ich jetzt schon«, sagte einmal eine Frau bei einem Buchklubtreffen zu mir, als wir beide vor einem Tablett mit Käse und Trauben standen. »Was macht eine Hospizseelsorgerin denn nun genau?«
»Wir gehören zum Hospizteam, und unsere Aufgabe besteht darin, Patienten, Angehörigen und Personal geistlichen Beistand und Hilfe zu gewähren«, gab ich ihr meine Standardauskunft, während ich mir Cracker und den köstlichen Ziegenkäse mit Kräuterkruste auf den Teller lud.
»Das sagt mir gar nichts«, erwiderte sie. »Erzählen Sie mir doch mal ganz genau, was Sie heute bei der Arbeit gemacht haben.«
An diesem Tag war ich in einem Pflegeheim gewesen und hatte ein halbes Dutzend mittellose alleinstehende Patienten mit Demenz im Endstadium besucht.
Für eine Hospizseelsorgerin sind Menschen mit Demenz im Endstadium die einfachsten und zugleich schwierigsten Patienten. Wie die Porzellanpuppenpatientin sitzen sie, ihre kleinen Körper schmerzhaft verkrampft und verdreht, mitStofftieren als Trostspendern in den großen Pflegerollstühlen. Ihre riesig erscheinenden eingesunkenen Augen starren in die Ferne. In den Winkeln ihres offenen Mundes bilden sich oft Krusten. Ihre Haut reißt ganz leicht, wie ein feuchtes Papiertaschentuch. Sie können weder sprechen noch gehen noch selbstständig essen. In ihren letzten Wochen oder Monaten – in einigen der traurigsten Fälle, die ich erlebt habe, sogar über Jahre hinweg – können sie nicht mehr lächeln oder den Kopf allein aufrecht halten.
Wie gibt man einem solchen Menschen geistlichen Beistand? Was kann man anbieten, wenn man nicht weiß, ob ein Gebet oder ein Lied, ja schon die Berührung mit der Hand sich tröstend oder eher verstörend auswirkt? Wenn der Mensch einem nicht sagen kann, wer er ist, und es keine Familie oder Freunde gibt, die ein bisschen über ihn erzählen können? Versetzen Sie sich einmal in die Lage so eines Menschen. Da taucht eine Fremde in Ihrem Zimmer auf. Sie können sie, falls Sie allein sein wollen, nicht bitten zu gehen. Ebenso wenig können Sie sie, wenn Sie einsam sind oder Angst haben, bitten zu bleiben. Sie können ihr nicht sagen, sie möge still sein oder aber bitte sprechen und weitersingen. Als Buddhist können Sie nicht verhindern, dass sie Ihnen aus der Bibel vorliest, oder als Atheist, dass sie mit Ihnen betet. Sie können Sie auch nicht bitten, den Rosenkranz für Sie zu beten, falls das Ihr einziger Trost ist. Sie können dieser fremden Frau nicht sagen, dass ihre Hand, die leicht auf Ihrem Handgelenk liegt, Ihnen unsägliche Schmerzen verursacht – oder dass Sie sich nichts sehnlicher wünschen als die Wärme und Weichheit menschlicher Berührung und sich fragen, warum sie nicht Ihre Hand hält.
Und dann stellen Sie sich vor, die Seelsorgerin bei einem solchen Fremden zu sein und nicht zu wissen, ob das, was Sie tun oder nicht tun, ihm Trost bringt oder Schmerz bereitet. Wie sollte ich nach einem Tag mit einem halben Dutzend solcher Patienten – ein Kollege nannte das einmal »die Mauer der Demenz« – jemandem erklären, was ich tat?
Dennoch wollte ich es versuchen. Mich fragten nur selten Leute nach meiner Arbeit, und das konnte ein Gefühl von Einsamkeit erzeugen.
Ich sagte, an diesem speziellen Tag hätte ich bei meinen Patienten gesessen. Zunächst hätte ich festzustellen versucht, ob es ihnen den Umständen entsprechend gut ging, und, falls nicht, mit einer Krankenschwester oder einer Pflegehelferin gesprochen. Dann hätte ich vielleicht ihre Hände oder Arme leicht berührt, falls sie das zu entspannen schien. Oder für sie gesungen. Oder ich hätte, falls esüberhaupt welche gab, Fotos und andere Gegenstände von ihrem Toilettentisch genommen und ihnen gezeigt. Hauptsächlich hätte ich jedoch die elementarste und schwierigste Arbeit einer Hospizseelsorgerin getan: Ich hätte versucht, einfach präsent zu sein.
»Dann haben Sie nur da gesessen?«
»Nein. Das heißt, ja. Ich meine, ich habe bei ihnen gesessen, aber nicht einfach nur da gesessen.«
Sie zog eine Augenbraue hoch.
»Ich saß bei ihnen und bot ihnen eine friedliche Präsenz an.«
»Eine friedliche Präsenz? Und wie genau machen Sie das? Das klingt, als würden Sie ihnen eine Tasse Kaffee anbieten.«
Das war der Moment, in dem ich einfach mit einem freundlichen Lächeln, einer witzigen Bemerkung das Thema hätte wechseln können. Ich konnte aber auch dranbleiben und es mit einer Erklärung versuchen, wohl wissend, dass es in ihren Ohren womöglich lächerlich klang.
»Also. Bevor ich das Zimmer betrete, atme ich tief durch und bitte Gott um seinen Beistand. Ich besinne mich darauf, warum ich da bin, und lasse im Kopf alles andere los. Ich versuche, in meinem Inneren den Fokus auf die Liebe zu legen. Dann gehe ich hinein, sage hallo und erspüre, ob die Person mich wahrnimmt. Ich lächle freundlich und stelle mich mit Namen vor. Ich versuche, in mir ein Gefühl von Frieden und Annahme und Liebe entstehen zu lassen, das meine Bewegungen, mein Sitzen, meinen Blick bestimmt. Ich lenke meine ganze Energie auf das Gesicht meines Gegenübers.«
Ihre Miene wechselte von Skepsis zu Ungläubigkeit. Da es mir noch nie etwas ausgemacht hat, mich in der Öffentlichkeit lächerlich zu machen, fuhr ich fort: »Und dann stelle ich mir eine riesige Hülle aus Liebe vor, die den Patienten und mich umfängt. Das ist mein Vorgehen. So versuche ich, eine friedliche Präsenz zu erzeugen. Aber andere Seelsorger machen es sicher anders.«
Bestimmt zehn Sekunden lang sagte sie gar nichts. Lange genug, um die Stille peinlich werden zu lassen.
»Sie sitzen also nur da und versuchen, sie zu lieben? Wollen Sie das damit sagen?«, fragte sie kühl. »Und das soll eine richtige Arbeit sein? Für die man ein Studium braucht?«
»Genaugenommen ist das noch längst nicht alles«, sagte ich.
»Aber das haben Sie heute gemacht? Den ganzen Tag lang? Und haben auch noch Geld dafür bekommen?«
»Genau.«
»Und das betrachten Sie als Arbeit?«
Wirklich zu schaffen machte mir, dass ich mich an solchen Tagen, im Angesicht dieser Mauer aus Demenz, selbst fragte, was ich eigentlich getan hatte.
In der Kinofilmversion der Hospizseelsorge würde ich kurz vor dem Tod hereinstürzen, um dem Patienten die gehauchte Beichte abzunehmen und gleichzeitig die heulende Familie zu trösten. Der Patient würde ein paar schöne letzte Worte hervorstoßen und dann unvermittelt und leise aufhören zu atmen. Ich würde ihm danach feierlich die Augen schließen.
Das klingt gut, gehört aber ins Reich der Fiktion. Ein Großteil unserer Arbeit im Hospiz – das, was wir seelsorgerische Betreuung nennen – passiert schon Wochen, Monate oder, in einigen ungewöhnlichen Fällen, sogar Jahre, bevor der Patient stirbt. Die Zahl der Hospizpatienten, deren Tod ich ganz konkret mitbekommen habe, kann ich an Händen und Füßen abzählen. Letztlich war ich häufiger dabei, wenn Patienten im Krankenhaus starben als im Hospiz.
Manche Leute, in vielen Fällen Skeptiker, gehen davon aus, dass Hospizseelsorger Scharlatane oder Missionierende sind, die wehrlosen Patienten und trauernden Familien ihren Glauben aufdrängen wollen. Vielleicht gibt es davon wirklich ein paar, aber mir ist noch nie einer begegnet. Manche Seelsorger sind fähiger und empathischer als andere, aber ich habe noch keinen kennen gelernt, den ich als Vollidioten bezeichnet hätte.
Was wir tun, ist jedoch schwer zu beschreiben. Das Wesentliche an einer sinnvollen seelsorgerischen Betreuung ist zwangsläufig nebulös und unbeschreibbar, und wer es beschreiben will, gerät schnell in den Ruf, kindisch zu sein.
An diesem Abend im Buchklub wäre es mir leichter gefallen zu erklären, was ich mache,wenn ich auch nur einen Teil dieses Tages mit einem Patienten oder einer Familie zugebracht hätte, die kommunizieren konnten, zu denen ich bereits eine Beziehung aufgebaut hatte und die sprechen wollten. In diesem Fall hätte ich erklären können, dass eine Hospizseelsorgerin gewissermaßen das Gegenteil von einer Geschichtenerzählerin ist. Wir bewahren die Geschichten auf.
Wir lauschen den Geschichten, die das Leben der Menschen geformt haben. Wir lauschen den Geschichten, die die Menschen zu erzählen bereit sind, und dem Sinn, den sie in solchen Geschichten sehen.
Während für manche Patienten die Religion bei der seelsorgerischen Betreuung eine zentrale Rolle spielt, ist es für viele andere nicht so. Seelsorgerische Betreuung, Glaube und Religion sind nicht dasselbe. Manche Hospizseelsorger mögen auch Priester und Pastoren sein, die aber in ihrer Rolle als Seelsorger nicht predigen oder lehren.
Stattdessen schaffen sie einen heiligen Ort – zeitlich und räumlich gesehen –, an dem Menschen ihr bisheriges Leben betrachten und herausfinden können, was das alles für sie bedeutet.
Wenn man mit Hunderten von Menschen spricht, die im Sterben auf ihr Leben zurückblicken, fällt einem etwas Erstaunliches auf: Jeder Mensch hat eine eigene Geschichte, eine seltsame, verrückte, erschütternde Geschichte, die ihm den Boden unter den Füßen wegzieht. Jeder Kunde im Lebensmittelgeschäft, jeder Telefonverkäufer am anderen Ende der Leitung, jede Mutter, die ihre Kinder von der Schule abholt, jeder Banker, der mit großen Schritten vorbei eilt. Geld, Glaube, Beliebtheit, Schönheit, Macht – nichts bewahrt einen davor.
Jeder von uns macht Dinge durch, die den inneren Kompass durcheinanderbringen und uns den Sinn abhanden kommen lassen. Jeder, der nicht jung stirbt, durchlebt eine Art spirituelle Krise, in der er das Gefühl dafür verliert, was richtig und falsch, möglich und unmöglich, real und nicht real ist. Man darf niemals unterschätzen, wie beängstigend, empörend, verwirrend, vernichtend es ist, so eine Krise zu durchleben. Sinn in etwas Sinnlosem zu finden, ist harte Arbeit. In sich zu gehen, ist schmerzhaft. Und diesen Prozess der Sinnsuche oder Sinnfindung am Ende des Lebens begleitet eine Hospizseelsorgerin. Die Arbeit leistet nicht sie, sondern der Patient. DieSeelsorgerin ringt nicht mit den Ereignissen eines Lebens, die dem zuwiderlaufen, was der Patient als wahr gelernt hat, aber sie wendet sich auch nicht ängstlich ab. Sie versucht nicht, vorgefertigte Antworten zu geben, damit er aufhört, über den Schmerz zu reden, und bringt ihn nicht mit Plattitüden zum Verstummen, die ihr ein besseres Gefühl geben, aber nichts dazu beitragen, die von ihm empfundene Verwirrung und Sehnsucht aufzulösen. Die Seelsorgerin quält sich nicht selbst damit ab, Sinn im Angesicht des Todes zu finden, aber sie hat schon einige Menschen dabei begleitet. Sie weiß, was hilfreich sein kann und was nicht. Vielleicht stellt sie Fragen, auf die der Patient nie gekommen wäre oder die ihm helfen, sich an andere Situationen zu erinnern, in denen er etwas Schweres überstanden oder Sinn in etwas scheinbar Sinnlosem gefunden hat. Sie kann seiner Geschichte einen neuen Rahmen geben, kann eine andere Deutung anbieten, die er in Erwägung ziehen, akzeptieren oder verwerfen kann. Sie kann den Patienten an die größere Geschichte seines Lebens erinnern, oder an die Weisheit seiner Glaubenstradition. Sie kann, wenn er nicht mehr die Kraft oder Konzentration hat, die Mauern am Einstürzen zu hindern, einen Raum für Gebet, Meditation oder Rückschau offenhalten. Sie wird ihn nicht verlassen. Und was vielleicht am wichtigsten ist: Sie weiß, dass die Arbeit zu bewältigen ist. Sie weiß, dass er sie bewältigen kann und nicht davor zusammenbrechen wird.
So oft habe ich in der Stille gesessen, die Luft schwer und voller Spannung, während ein Patient mein Gesicht abgesucht hat. Mit der Zeit entwickelt man ein Gespür dafür, wann dieser Moment eintritt. Ein Gefühl der Elektrizität liegt in der Luft, und der Patient prüft die Ladung. Dann muss ich warten, denn ich weiß, wenn ich einfach präsent bleibe, schweige und warte, egal, wie schwer das fällt, wird der Patient irgendwie den Mut finden. Er wird das Unaussprechliche aussprechen. Er wird, nicht nur vor sich selbst, sondern auch vor einem anderen Menschen, das aussprechen, wovon er dachte, er würde es nie über die Lippen bringen, das Schlimme, von dem er dachte, schon das bloße Eingeständnis würde ihn zerstören.
Tatsache bleibt aber, dass eine Hospizseelsorgerin, bevor sie mit einem Patienten an diesen Punkt kommt – den Punkt, an dem er in ein tiefes Loch der Sinnlosigkeit starren oder sogar hineinspringenkann, um in dem einsamen existenziellen Morast dort unten zu kämpfen, bis allmählich eine Art Leiter auftaucht, eine Leiter, die auf eine Weise, die ich mir immer noch nicht ganz erklären kann, immer aufzutauchen scheint –, einen heiligen Raum schaffen muss, und dazu muss sie zuerst ihre liebevolle Präsenz anbieten.
Diese Geschichten können nämlich – und sind es oft – ganz entsetzlich sein. Sie waren entsetzlich, als sie passierten, und sie sind es immer noch. Viele Menschen meiden diese oftalles verändernden Geschichten ihr Leben lang.
Sie nun wieder ans Licht zu holen, kann der Patient nur dann ertragen, wenn er es gefahrlos tun kann. Er muss wissen, dass er dabei nicht allein ist. Und wenn die Seelsorgerin dem Patienten, der sich anschickt, den Sprung zu wagen, eine Hilfe sein will, sollte sie nicht plötzlich zurückschrecken.
Wer meint, es sei keine Arbeit, ruhig und präsent zu bleiben und im Angesicht fürchterlichen Leidens keinen Rückzieher zu machen, der war noch nie in einer solchen Situation. Ich habe dabei schon versagt. Ich versuche, nicht zurückzuschrecken, nicht überfordert zu sein, nicht fortzulaufen. Und habe das alles doch schon getan.