Leben mit Migräne - Praxedis Kaspar-Schmid - E-Book

Leben mit Migräne E-Book

Praxedis Kaspar-Schmid

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Beschreibung

Die Migränepatientin erzählt, ihr Neurologe gibt Ratschläge - gemeinsam schreiben sie einen Ratgeber, in dessen Fokus nicht medizinisch-wissenschaftliche Aspekte, sondern die persönlichen Erfahrungen mit Migräne und deren Bewältigung stehen: Die Journalistin Praxedis Kaspar-Schmid berichtet von ihrem Leben, das von schwerer Migräne, aber auch von deren Folgen wie Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch geprägt war. Wie ein erfüllendes Leben mit dieser Erkrankung gelingen kann, reflektiert sie erzählend sowie im Dialog mit ihrem Neurologen Andreas Gantenbein. Die beiden legen den Schwerpunkt dabei auf Ressourcen und Copingstrategien für eine höhere Lebensqualität und geben zahlreiche Tipps, um den Alltag mit Migräne besser bewältigen zu können. Das Werk richtet sich an Migränebetroffene, mit seinen erzählenden Teilen eröffnet es aber gerade auch Nicht-Betroffenen eine neue Sicht auf diese oft missverstandene Krankheit.

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Inhalt

Cover

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Geleitwort

Vorwort

Migräne leben – ein Erfahrungsbericht

Migräneslogans I: Allgemeines

Dialog zwischen einer Migränepatientin und ihrem Neurologen

Fünfzehn Fragen an meine Patientin

Sechzehn Fragen an meinen Neurologen

Migräneslogans II: Erklärungsmodelle

Migräne – Praktisches und Theoretisches zur Behandlung und Bewältigung

Die drei Säulen der Migränebehandlung

Werden Sie BEST-Expertin oder -Experte

Migräneslogans III: Therapeutische Empfehlungen

Migräne-ABC

Literatur

Dank

Die Autorin und der Autor

Kohlhammer

Rat + Hilfe

Fundiertes Wissen für Betroffene, Eltern und Angehörige –Medizinische und psychologische Ratgeber bei Kohlhammer

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Ratgeber aus unserem Programm finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/rat+hilfe

Praxedis Kaspar-SchmidAndreas R. Gantenbein

Leben mit Migräne

Erfahrungen und Ratschläge einer Patientin und ihres Neurologen

Mit einem Geleitwort vonProf. Dr. med. Hans Christoph Diener

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten verändern sich ständig. Verlag und Autoren tragen dafür Sorge, dass alle gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Eine Haftung hierfür kann jedoch nicht übernommen werden. Es empfiehlt sich, die Angaben anhand des Beipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-044566-6

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-044567-3epub:ISBN 978-3-17-044568-0

Geleitwort

von Hans Christoph Diener

Die Migräne ist mit Abstand die häufigste neurologische Krankheit. Sie ist eine Krankheit, bei der immer noch erstaunlich viele Vorurteile bestehen (»Es ist alles psychisch« ...), und in weiten Kreisen der Bevölkerung und der Ärzteschaft findet sich ein mangelndes Wissen über die Pathophysiologie und die Behandlungsmöglichkeiten. Als ich von 1969 – 1975 Medizin in Freiburg studierte, kam die Migräne im Medizinstudium überhaupt nicht vor. In meinem Psychologiestudium kam die Migräne vor, aber unter der Rubrik psychosomatische Erkrankungen ohne organische Ursache.

Seitdem hat sich sehr viel geändert. Wir haben, basierend auf tierexperimentellen Modellen und Untersuchungen am Menschen, die meisten Aspekte des Zustandekommens der Migräne verstanden. Dies führte auch zur Entwicklung ganz neuer Medikamente zur Behandlung akuter Migräneattacken, den Triptanen. Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts hatten plötzlich viele Patientinnen und Patienten mit Migräne zum ersten Mal in ihrem Leben Zugang zu einer wirksamen Behandlung akuter Migräneattacken.

Wie in der Lebensgeschichte von Frau Kaspar-Schmid zu lesen ist, waren die Triptane aber nicht die Lösung des Problems. Eine zu häufige Einnahme der Triptane konnte zu einer Zunahme der Migräneattacken führen und zu einem medikamenteninduzierten Dauerkopfschmerz. Dieser musste dann sehr schmerzhaft und eingreifend durch einen Medikamentenentzug behandelt werden.

Ein weiterer wichtiger Aspekt der Behandlung der Migräne waren Maßnahmen zur Migränevorbeugung. Hier gab es medikamentöse und nichtmedikamentöse Ansätze. Die anfangs zur Verfügung stehenden Migräneprophylaktika waren bzgl. ihrer Wirkung alle zufällig entdeckt worden, da sie ursprünglich für andere Indikationen entwickelt worden waren. Die neueren Erkenntnisse zur Pathophysiologie der Migräne, insbesondere der Rolle von CGRP (Calcitonin Gene-Related Peptide), führten dann zur Entwicklung von monoklonalen Antikörpern gegen CGRP oder den CGRP-Rezeptor oder zu Substanzen, die direkt am CGRP-Rezeptor angreifen. Die monoklonalen Antikörper gegen CGRP oder den CGRP-Rezeptor waren ein Durchbruch in der Prophylaxe der Migräne, da sie nicht nur hochwirksam sind, sondern auch sehr wenige unerwünschte Arzneimittelwirkungen haben. Angesichts des hohen Preises sind allerdings die Hürden hoch, um Patienten einen Zugang zu diesen Medikamenten möglich zu machen. Auch diese Erfahrungen hat Frau Kaspar- Schmid gemacht.

Die Lebensgeschichte von Frau Kaspar-Schmid zeigt, wie massiv die Krankheit Migräne in ein Leben von der Kindheit bis ins Alter eingreift. Ich habe als behandelnder Arzt auch meinen Patientinnen und Patienten Ratschläge zu einer geregelten Lebensführung inkl. einer gesunden Ernährung gegeben. Heute frage ich mich, ob das strikte Einhalten dieser Empfehlungen wirklich eine positive Auswirkung auf die Migräne hatte. Wenn ich mich recht erinnere, hatten einige meiner Migränepatientinnen und -patienten, die ein chaotisches Leben führten, keineswegs mehr Migräneattacken als diejenigen, die außerordentlich streng alle Aspekte ihres Lebens kontrollierten.

Die Leidensgeschichte von Frau Kaspar-Schmid zeigt, welche massiven Einschränkungen der Lebensqualität und der Lebensplanung mit einer Migräne einhergehen können. Erfreulicherweise sind nicht alle Patientinnen und Patienten so schwer betroffen. Die andere gute Nachricht ist, dass es immer mehr wirksame und verträgliche Medikamente zur Akuttherapie und Vorbeugung von Migräneattacken gibt.

Prof. Dr. med. Hans Christoph DienerLeiter der Abteilung für Neuroepidemiologie an der Universität Duisburg-Essen, bis 2016 Direktor der Universitätsklinik für Neurologie, des Westdeutschen Kopfschmerzzentrums und des Schwindelzentrums Essen

Vorwort

von Andreas R. Gantenbein

Im Studium hat mich die Geburtshilfe fasziniert. Was gibt es Schöneres, als den Frauen zu helfen, ein Kind zur Welt zu bringen. Ich hatte mich jedoch dagegen entschieden, weil ich für mich dachte, ich könne die werdenden Mütter nicht in einer Situation ausreichend betreuen, die ich selbst nie erleben würde. Nun bin ich Neurologe geworden und berate auch Kopfwehpatientinnen und -patienten, obwohl ich selbst nicht an Migräne leide. Da gehöre ich sogar zur knappen Minderheit, denn über 50 Prozent der Neurologen und Kopfschmerzspezialisten kennen diese wiederkehrenden Kopfschmerzen aus eigener Erfahrung. Umso mehr interessierte es mich immer, wie die Betroffenen lernen können, neben den Medikamenten, die mal mehr, mal weniger gut wirken, mit der Krankheit besser umzugehen. Neben der medizinischen Beratung lernt der Mensch sicherlich am besten von Erfahrung aus erster Hand – peer to peer. Die Idee war geboren, einen Ratgeber für Migränepatientinnen und -patienten zu produzieren, der nicht von therapeutischer Seite kommt und sich doch auch an den medizinischen Standards orientiert.

Nach langer Suche habe ich eine Patientin gefunden, die nicht nur bereits ein langes, spannendes Leben mit Migräne hat, sondern dieses – als freischaffende Journalistin – auch wunderbar beschreiben kann.

Ziel unseres Ratgebers ist es, den Migränebetroffenen in jedem Alter andere Perspektiven zu zeigen, aber auch bei den Angehörigen oder sogar Arbeitgebern das Verständnis für diese häufige, nicht sichtbare und gerade deshalb stark einschränkende Krankheit des Gehirns zu vergrößern.

Hierfür haben wir das Buch in drei Teile aufgeteilt: Im ersten Abschnitt beschreibt Praxedis Kaspar-Schmid ihr Leben mit Migräne, mit allen Höhen und Tiefen. Auch bereits vor der Zeit der verbesserten medikamentösen Möglichkeiten hat sie einen Weg gefunden, mit der Krankheit umzugehen und ihre Ressourcen zu nutzen. Im zweiten Teil lesen Sie Interviews aus unser beider jeweiliger Perspektive: jener von Praxedis Kaspar-Schmid als Patientin und meiner als Neurologe. Im dritten Teil folgen dann klinisch-wissenschaftliche Empfehlungen zur Optimierung der Migränebehandlung. Zwischen diesen Teilen stehen kurze Sammlungen von »Migräneslogans«. Diese Merksätze sind auf zahlreichen Visiten,1 im direkten Gespräch mit den Patientinnen und Kollegen entstanden.2 Sie sollen wichtige Strategien bildlich und lebensnah darstellen und den Migränebetroffenen den Umgang mit ihren langjährigen Kopfschmerzen erleichtern.

Nun wünsche ich viel Spaß beim Lesen!

Andreas R. Gantenbein

Endnoten

1Zu einigen dieser Slogans habe ich bereits an anderer Stelle einen kurzen Text zusammen mit Professor Peter S. Sandor verfasst (Sandor & Gantenbein, 2015).

2Uns ist eine geschlechtersensible Sprache wichtig. Unser Ratgeber wechselt daher oft zwischen der weiblichen und männlichen Form, wobei Menschen aller Geschlechtsidentitäten gemeint sind. Gerade im Falle der Migräneerkrankung, bei der die Betroffenen überproportional oft Frauen sind, war es uns wichtig, dies auch sprachlich abzubilden.

Migräne leben – ein Erfahrungsbericht

von Praxedis Kaspar-Schmid

Eine Fotografie im Album meiner Kindheit. In Mutters Handschrift die Bildlegende: »Porträt der Eindreivierteljährigen« (▸ Abb. 1). Ich trage ein türkisblaues Wollkleidchen mit Spitzenkragen, verziert mit einem Strauß winziger Filzblumen, Großmutter hatte es gestrickt. Mein Haar ist zum Bubikopf geschnitten, im Gesicht nicht die Spur eines Lächelns. Ich stehe vor der sonnenbeschienenen Mauer auf Großmutters Terrasse, mein Blick geht nicht zu Mutter mit dem Fotoapparat, sondern in die Ferne. Im Arm halte ich meine Stoffpuppe namens Bias. Ich halte sie achtlos, ihr Stoffgesicht ist dem Boden zugekehrt. Dadurch wird der Hinterkopf sichtbar, in dessen Zenit wie ein Propeller drei Sicherheitsnadeln befestigt sind. Auf meine irritierte Nachfrage hin sagte mir Mutter vor Jahren, ich hätte sie gebeten, die Sicherheitsnadeln der Puppe in den Kopf zu stecken. Trotz ihres Befremdens soll ich darauf bestanden haben, nur mit der Puppe zu spielen, wenn die Nadeln im Kopf staken. Ich war 21 Monate alt.

*

Frühe Erinnerung: Die Tür zum Elternschlafzimmer ist geschlossen, ich sehe vor mir das weiß bemalte Massivholz, die geschwungene Klinke aus Messing. Ich spüre die Stille am hellheiteren Tag, die Leere im Haus. Mutter ist nicht da, wo sie sein sollte. Nicht in der Küche, nicht im Garten, nicht im Bücherzimmer. Sie hat keinen Tee gemacht, keinen Zvieri vorbereitet. Ich weiß jetzt, wie der Tag enden wird – in Gedrücktheit und Langeweile. Etwas ist nicht gut an diesem und an vielen Tagen. Etwas fehlt und etwas verdirbt mir die Freude. Ein grauer Schleier liegt über den Stunden. Immer wieder höre ich Mutter im Bad verschwinden, ich höre das Würgen, wenn sie erbricht.

Wie meine Geschwister Mutters Migränekrankheit wahrnehmen, weiß ich nicht, für mich ist es so: Ich bin bereit für die Schule, den Schulranzen auf dem Rücken, die Türklinke in der Hand. Bevor ich gehen kann, frage ich sie wie jeden Tag: Hast du Kopfweh, Mutter? Wenn sie ja sagt, legt sich ein fahler Schein über den Tag, dann ist fertig lustig für heute. Wenn sie nein sagt, atme ich auf und kann den Tag für mich leben, ohne an Mutter denken zu müssen.

Ein paar Jahre später, als meine Pubertät begann, ergoss sich die Migräne aus Mutters Kopf in meinen, teilbar wie eine Essigmutter. Hinreichend für mein ganzes Leben.

Abb. 1:Die Autorin im Alter von knapp zwei Jahren. Man beachte die Nadeln im Kopf der Stoffpuppe. (Bild privat)

Meine Mutter, meine beiden jüngeren Schwestern und ich, die älteste: Wir alle sind Migränikerinnen, nur unser Bruder bleibt verschont, in Vaters Familie ist uns keine Migräne bekannt. Bei meiner Mutter verlieren sich die Anfälle nach den Wechseljahren, meine Schwestern sind wie ich auch nach dem Klimakterium belastet, aber nicht so heftig wie ich. Ich bin heute 74 Jahre alt, seit meinem 16. Lebensjahr leide ich an Migräne, stärker, häufiger und länger als alle, die ich kenne. Im Lauf meines Lebens hat sich die Krankheit verändert. Losgelassen hat sie mich nie, nur in jenen glücklichen Zeiten, als ich mit meinen drei Söhnen schwanger war, kam sie selten. Als mein ältester Sohn mit 19 Jahren an einem Hirntumor starb, spürte ich monatelang mich selbst nicht mehr, selbst die Erinnerung an die Zeit seines Krankseins war verloren. Sieben Jahre lang konnte ich das Datum seines Todes nicht nennen, wenn mich jemand danach fragte. Ich war erstarrt. Die Migräne blieb auch in dieser Zeit eine Konstante. Aber sie kam nicht häufiger als vor der Krankheit des Sohnes. Sie war und ist ein dunkler Strom, der durch mein Leben fließt und manchmal nur wenig Ufer lässt. Meine Krankheit erklärt mir den Tarif und setzt den Preis fest, den ich zu bezahlen habe. Tage ohne Migräne sind Tage fast ohne Eigengewicht. Nichts ist so wohltuend wie das wasserhelle Dahinfließen schmerzfreier Zeit. Solange der Schmerz mich freilässt, kann ich mich diesem Strom der Bedeutungslosigkeit hingeben. Wenn mein Kopf leer ist vom Schmerz, bin ich so leicht, dass meine Füße den Boden kaum finden, es ist, als ginge ich schwerelos über alles hinweg. Wenn ich mehrere Tage schmerzfrei bin, werde ich stark und leistungsfähig und erlebe, wie ich sein könnte ohne all das in meinem Kopf. Ich würde das Doppelte schaffen, das Doppelte leben.

Aber was kann ich anderes tun, als meine genetisch bedingte Krankheit zu akzeptieren? Ich habe ja keine Wahl, ich weiß nicht, wer ich wäre ohne sie. Es gibt wohl inzwischen in mir eine Grundakzeptanz, eine Schicksalsergebenheit, die mir sagt, das bist nun einmal du. Aber wenn es mich tagelang nicht loslassen will, wenn der Schmerz mich überwältigt, ein Medikament erst nach Stunden oder Tagen Erleichterung bringt, wenn ich keine Minute ruhig daliegen kann, weil es bohrt und bohrt im Kopf, derweil die Füße zappeln, wenn es hämmert rechts über der Stirn, wenn am Hinterkopf ein eiserner Reif aus Schmerz sich immer enger zusammenzieht, wenn er eine ganze Woche lang jeden Tag wiederkommt – dann werde ich zum Fluchttier. Dann möchte ich fort aus mir selbst und nie wieder in mich zurück, weil ich so in mir nicht daheim sein kann. In meinem Kopf zerbricht die Welt.

In Schmerz-Phasen bin ich ganz Migräne, mit jeder Faser meiner Existenz, sie prägt mich, sie beherrscht mich, sie macht mich aus und sie verhindert mich. Sie setzt mich hintan. In guten Phasen, die kaum je länger als eine Woche dauern, weigere ich mich, über die Migräne zu sprechen, ich versuche, sie mit einem Bann zu belegen, in ein Astloch meines Daseins zu bannen und mit Schweigen zu verzapfen. Ich bin Journalistin, ich bin fünfzig Jahre meines Lebens in unterschiedlicher Intensität berufstätig gewesen, ich habe mir mein Leben mit Schreiben verdient. Ich habe über weiß der Himmel was geschrieben. Nur nie ein Wort über die Hölle in meinen Kopf.

*

Weiterlesen oder nicht? Was denkt sich eine junge Leserin, ein junger Leser mit Migräne nach diesem ersten Abschnitt? Mehr als fünfzig Jahre leben mit schwerer Migräne? Wie soll ich das überstehen? Kann ich Familie haben? Berufstätig sein und für mich selbst sorgen? Kann ich mich am Leben freuen? Freunde haben? Reisen? Wie soll das gehen mit dieser unheilbaren Krankheit? Was soll ich Ihnen antworten, liebe Leserin, lieber Leser? Wir Menschen sind zum Überleben gemacht, zum Überwinden von Schwierigkeiten. Wenn wir uns vom Anfall erholt haben, sind wir gesund – vereinfacht gesagt. Die Migräne ist eine Anfallskrankheit. Solange der Anfall da ist, geht es uns miserabel, wir sind am Boden zerstört und sehen schwarz für die Zukunft. Ist der Anfall vorbei – nach Stunden oder schlimmstenfalls Tagen –, fühlen wir uns nach einer Phase der Erholung wieder ziemlich gut und so gesund, wie wir eben sind. Kann sein, dass die Medikamente nachwirken, dass unser Kopf rot und dumpf, unser Magen empfindlich ist. Aber meist ist der Anfall nach einem oder zwei Tagen vorbei und wir fühlen uns gut und fast ein wenig euphorisch. Wir klettern aus dem tiefen Loch, sehen eine grüne Ebene vor uns und setzen Schritt vor Schritt.

Außerdem: Nur wenige Menschen müssen wie ich bis ins hohe Alter mit starken und häufigen Migräneanfällen leben. Bei manchen werden die Anfälle mit dem Alter von alleine seltener, bei vielen Frauen bessert sich die Krankheit nach den Wechseljahren, die Abstände werden größer und die Schmerzzustände milder. Heilbar ist die Migräne nicht, aber sie kann gebessert werden, denn inzwischen gibt es hervorragende Medikamente. Und vor allem: Wir selbst können einiges tun, um besser mit ihr zu leben.

*

Ein paar besonders üble Anfälle bleiben hängen in meiner Erinnerung wie dunkle Ikonen, ich kann die Bilder jederzeit abrufen, ich kann hören, sehen, schmecken, riechen, wie es war:

Sechzigerjahre. Ich bin Klosterschülerin, Gymnasiastin im Nonnen-Internat. Seit ich fünfzehn bin, kommen die Anfälle. Im Schutzengel-Schlafsaal stehen die Betten von etwa vierzig Schülerinnen schnurgerade ausgerichtet in mehreren Reihen. Jedes Bett ist von weißen Vorhängen mit eingewebtem Streifenmuster umschlossen, die mit Ringen und Klammern an Eisenstangen aufgehängt sind. Über Nacht sind sie zugezogen, tagsüber müssen sie offen sein. Links neben dem Bett stehen ein Nachttisch und ein Stuhl. Die Waschbecken ziehen sich in einer Reihe durch die Längsseite des Saals, vierzig Waschbecken für vierzig Schülerinnen, eins neben dem andern ohne Zwischenraum. Beim Zähneputzen stoßen wir die Ellbogen gegeneinander. Jede Schülerin verfügt über ein Kästchen über dem Lavabo, in dem sie ihre Toilettensachen verstauen kann. Wenn Unordnung herrscht, kippt Schwester Laetitia den Inhalt ins Lavabo.

Ich erwache mitten in der Nacht an einem hämmernden Schmerz im Kopf, es ist mir übel. Ich steige aus dem Bett, ziehe möglichst geräuschlos Morgenrock und Pantoffeln an und laufe aufs Klo. Hier brennt das Licht die ganze Nacht. Der Geruch der kalten Kacheln und des feuchten Steinbodens schlägt mir entgegen. Ich öffne die Kabinentür, die zwanzig Zentimeter über dem Boden endet, werfe mich über die Toilettenschüssel und erbreche, erbreche, erbreche. Irgendwann kommt die Nachtaufsicht, Schwester Birgit ist vollständig angezogen, sie trägt ihren schwarzen Habit. Sie fragt, was mir fehle. Irgendwie muss ich wieder ins Bett gekommen sein, irgendwann hat es aufgehört. Irgendwann kam der nächste Anfall, das nächste große Magendrehen.