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Wieder einmal gingen Ende August Bilder durch die Medien, die aufrüttelten: Ein Hagelsturm von wenigen Minuten zerstörte ganze Dörfer. Das Kloster Benediktbeuern, ein kulturelles, religiöses und pastorales Zentrum, verlor sein Dach und bot ein Bild der Verwüstung. Es kann ganz schnell gehen und das Leben wird von heute auf morgen prekär: Naturkatastrophen, eine falsche berufliche Entscheidung oder ein persönlicher Schicksalsschlag – das Leben rutscht ab und ist nicht mehr, wie es war, weit über die materielle Dimension hinaus. In diesem Themenheft der Lebendigen Seelsorge werden einige Facetten und Perspektiven prekären Lebens beleuchtet: Prekarität trifft einzelne Gruppen der Bevölkerung stärker und wird so zu einem Maßstab für sozialpolitisches Handeln, wie in den Themenbeiträgen diskutiert wird. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Prekarität der Klimakrise. Diskursfelder wie die Frage nach dem diakonischen Wirken im Streetwork oder in der Jugendhilfe sind Thema des Projekt-Artikels und des Interviews. Grundlegend ist "precarious life" (Judith Butler) auch eine Frage des Werts menschlichen Lebens und hat ebenso eine religiöse Dimension, denn sie berührt die Möglichkeit, in der heutigen Zeit zu glauben und zu zweifeln. Eine besondere Perspektive, die Anfragen an das eurozentrische Selbstverständnis formuliert, bietet der interkulturelle Beitrag zur Haltung der Verletzlichkeit in der Pastoral mit Migrantinnen und Migranten. Wo Seelsorge auf Prekarität trifft, geht es um den Kern des Auftrags, den das 2. Vatikanische Konzil etwa in Gaudium et spes 27 formuliert: "Alle müssen ihren Nächsten ohne Ausnahme als ein 'anderes Ich' ansehen, vor allem auf sein Leben und die notwendigen Voraussetzungen eines menschenwürdigen Lebens bedacht." Menschliche Prekarität bleibt eine entscheidende Größe, an der sich die Pastoral messen lassen muss. In welcher Art und Weise sich Ihre Berührungspunkte mit dem prekären Leben auch gestalten mögen, wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.
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Seitenzahl: 149
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INHALT
THEMA
Prekäres Leben und prekäre Lebenslagen
Ein sozialpolitisches und emotionales Chamäleon
Von Ulrich Hemel
Nach der Krise ist vor der Krise
Wozu ein Bewusstsein von der Prekarität des Lebens befähigen kann
Von Ursula Diewald
Menschen sind schöpferisch und verletzlich zugleich
Die Replik von Ulrich Hemel auf Ursula Diewald
Semantische Sorgen, ethische Erwartungen und reelle Risiken
Die Replik von Ursula Diewald auf Ulrich Hemel
Verletzte Schöpfung – prekäres Leben
Warum wir eine Debatte über das Opfern brauchen
Von Hildegund Keul
PROJEKT
Prekäre Jugend
Wohlwollende Präsenz in der Arbeit mit schwer erreichbaren jungen Menschen
Von Andreas Kirchner
INTERVIEW
„Nichts kann die menschlichen Beziehungen in der Begleitung von Kindern und Jugendlichen ersetzen.“
Ein Gespräch mit Kerstin Fuchs
PRAXIS
Geteilte Gefährdetheit – ungleiche Lebbarkeit
Praktisch-theologische Überlegungen zur Prekarisierung im Anschluss an Judith Butler
Von Ellen Geiser
Die Revolution der Compassio und der Zärtlichkeit
Herausforderung für eine für Migrant*innen offene und von ihnen evangelisierte Gemeinschaft
Von Karina Navarro HC
„Dann sitzt man einfach da, und dann denkt man: Oh nein …“
Einblicke in das prekäre (Er-)Leben älterer Menschen mit Versorgungsbedarf als Lern- und Entwicklungschancen für Seelsorge
Von Marion Riese
Das nächste große Artensterben
Von Jochen Ostheimer
Prekärer Glaube
Von Stefan Walser OFMCap
SEELSORGE UND DIASPORA: BONIFATIUSWERK
Die verborgene Stadt
Von Max Balzer
FORUM
„Jede Menge Leben um den Tod“
Erfahrungen aus dem Masterstudiengang Perimortale Wissenschaften an der Universität Regensburg
Von Michael Lohausen
IN SERIE
Gestatten, Mike Ross!
Warum es sich lohnt, Suits anzuschauen
Von Christian Bauer
NACHLESE
Buchbesprechungen
Impressum
POPKULTURBEUTEL
Crashpad
Von Stefan Weigand
Die Lebendige Seelsorge ist eine Kooperation zwischen Echter Verlag und Bonifatiuswerk.
Katharina Karl Herausgeberin
Liebe Leserinnen und Leser,
wieder einmal gingen Ende August Bilder durch die Medien, die aufrüttelten: Ein Hagelsturm von wenigen Minuten zerstörte ganze Dörfer. Das Kloster Benediktbeuern, ein kulturelles, religiöses und pastorales Zentrum, verlor sein Dach und bot ein Bild der Verwüstung. Es kann ganz schnell gehen und das Leben wird von heute auf morgen prekär: Naturkatastrophen, eine falsche berufliche Entscheidung oder ein persönlicher Schicksalsschlag – das Leben rutscht ab und ist nicht mehr, wie es war, weit über die materielle Dimension hinaus.
In diesem Themenheft der Lebendigen Seelsorge werden einige Facetten und Perspektiven prekären Lebens beleuchtet: Prekarität trifft einzelne Gruppen der Bevölkerung stärker und wird so zu einem Maßstab für sozialpolitisches Handeln, wie in den Themenbeiträgen diskutiert wird. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Prekarität der Klimakrise. Diskursfelder wie die Frage nach dem diakonischen Wirken im Streetwork oder in der Jugendhilfe sind Thema des Projekt-Artikels und des Interviews. Grundlegend ist „precarious life“ (Judith Butler) auch eine Frage des Werts menschlichen Lebens und hat ebenso eine religiöse Dimension, denn sie berührt die Möglichkeit, in der heutigen Zeit zu glauben und zu zweifeln. Eine besondere Perspektive, die Anfragen an das eurozentrische Selbstverständnis formuliert, bietet der interkulturelle Beitrag zur Haltung der Verletzlichkeit in der Pastoral mit Migrantinnen und Migranten. Wo Seelsorge auf Prekarität trifft, geht es um den Kern des Auftrags, den das 2. Vatikanische Konzil etwa in Gaudium et spes 27 formuliert: „Alle müssen ihren Nächsten ohne Ausnahme als ein ‚anderes Ich‘ ansehen, vor allem auf sein Leben und die notwendigen Voraussetzungen eines menschenwürdigen Lebens bedacht.“ Menschliche Prekarität bleibt eine entscheidende Größe, an der sich die Pastoral messen lassen muss.
In welcher Art und Weise sich Ihre Berührungspunkte mit dem prekären Leben auch gestalten mögen, ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.
Prof.in Dr.in Katharina Karl
Prekäres Leben und prekäre Lebenslagen
Ein sozialpolitisches und emotionales Chamäleon
Alles Leben ist prekär. Und alle Menschen sind verletzlich, einige aber in besonderem Maße. Speziell in der Zeit der Corona-Pandemie wurde oft von ‚vulnerablen Gruppen‘ gesprochen, also denjenigen Menschen, die besonders anfällig für eine Erkrankung sein könnten. Dadurch wurde das Stichwort der Vulnerabilität oder der Verletzlichkeit in breiten Kreisen bekannt. Ulrich Hemel
Seit geraumer Zeit ist unsere Gesellschaft durch die Einsicht geprägt, dass Menschen nicht nur auf Wettbewerb aus sind, sondern auch auf Kooperation. Gerade mit Blick auf anthropologische Grundfragen ist es sinnvoll, eine umfassende Sichtweise zu suchen, die angemessen auf den Spannungsbogen zwischen Verletzlichkeit oder Vulnerabilität und Schöpferkraft oder Kreativität eingeht (vgl. Hemel 2015, 9–16). Prekäre Lebenslagen (vgl. Pichler/Küffner 2022) erinnern an beide Seiten der Medaille, laden aber auch zu tieferem Nachdenken ein.
Auch wenn es in der Zwischenzeit wieder still rund um vulnerable Gruppen geworden ist, so gehören doch nach wie vor Herausforderungen durch Krankheit, Armut, Benachteiligung und Einsamkeit zu vielen Lebensläufen. Aber nicht alle Herausforderungen sind dauerhaft und nicht alle Betroffenen lassen sich vom Stichwort des prekären Lebens erfassen. Denn wenn von ‚prekärem Leben‘ oder gar vom ‚Prekariat‘ gesprochen wird, dann bildet die grundlegende Einsicht in die Fragilität menschlichen Lebens allenfalls den größeren Rahmen. Mit dem Ausdruck ‚prekäres Leben‘ sind nämlich typischerweise soziale Lebenssituationen gemeint, die von einem besonderen Maß an Unsicherheit, an sozialen und wirtschaftlichen Sorgen (vgl. Vogel 2009), aber auch an mangelnder gesellschaftlicher Beachtung, an Fragmentierung und an sozialer Unsichtbarkeit gekennzeichnet sind. Wer von ‚prekärem Leben‘ spricht, spricht eben nicht nur über individuelle Notlagen, sondern auch von gesellschaftlichen Verhältnissen, die politische Veränderung erfordern (vgl. Castel/Dörre 2009; Lorey 2015; Butterwegge 2020).
Da Appelle an politisches Handeln unter dem Druck stehen, Aufmerksamkeit zu erzeugen, kommt es vor, dass reale Nöte und berechtigte Anliegen in emotional besonders mitreißender Form präsentiert werden. Dem realen Leben mit seinen realen Sorgen nimmt eine solche rhetorische Verwendung des Begriffs des prekären Lebens nichts. Es entsteht dann aber leicht eine Art von Überbietungswettbewerb, weil sehr unterschiedliche Lebenslagen in gewisser Weise gegeneinander aufgerechnet werden. Ein Beispiel: Um Spenden für Afrika einzuwerben, wurden oft Bilder von hungrigen Kindern mit großen Augen gezeigt. Afrikanerinnen und Afrikaner empfinden dies nicht selten als übergriffig, weil extreme Armut auch in Afrika längst nicht mehr der Normalfall ist. Aufgrund des genannten rhetorischen und sachlichen Dilemmas hat der Ausdruck ‚prekäres Leben‘ den Charakter eines Chamäleons. Er schillert in verschiedenen Farben, ist oft passend, manchmal übertrieben. Wenn es in anwaltlicher Form um Dritte geht, die betroffen sind, kann der Ausdruck herablassend wirken. Er kann aber auch punktgenau dem Selbstbild der Betroffenen entsprechen.
Ulrich Hemel
Dr. theol., Dr. theol. habil., Lic. rer. soc, Bundesvorsitzender des Bundes Katholischer Unternehmer (BKU); seit 2018 Direktor des Weltethos-Instituts in Tübingen.
‚Prekäres Leben‘ kann sozialwissenschaftlich (vgl. Dörre 2021), empirisch (vgl. Butterwegge 2020) und phänomenologisch (vgl. Pugliese 2020) beleuchtet werden. Es wird aber wie beschrieben auch als Schlagwort in der Arena der sozialpolitischen Kampfrhetorik eingesetzt. Dies gilt besonders dann, wenn über den abstrakteren Begriff des Prekariats eine Assoziation zum früher flächendeckend gebrauchten ‚Proletariat‘ entsteht. Dann aber geht es um die Lage einer bestimmten sozialen Klasse, nicht um das individuelle Elend einer einzelnen Person mit ihren speziellen Schicksalsschlägen.
Pastoraltheologisch ist dieser schillernde Charakter des Begriffs vom prekären Leben durchaus eine Chance. Denn in der christlichen Seelsorge geht es sehr wohl um den einzelnen Menschen, um die konkrete Person in ihrer sehr speziellen Lebenslage. Diese braucht Zuspruch, aber auch Feinfühligkeit und Entdeckergeist, denn das Besondere an prekären Lebenslagen ist ja häufig ihre weitgehende Unsichtbarkeit. Niemand trägt ein Schild vor sich her, auf dem ‚prekäres Leben‘ steht. Kaum jemand offenbart sich so ohne Weiteres gegenüber Dritten. Häufig genug fehlt es sogar an Bewusstsein und Einsicht in das Prekäre der eigenen Lebenssituation. Einer im besten Sinn empathischen, sinnesoffenen und zuhörenden Seelsorge kann es gelingen, hier den richtigen Ton zu treffen. Denn das Lebensgefühl bedrohlicher Unsicherheit wird schon dadurch leichter, dass jemand zuhört, ernst nimmt und Verständnis zeigt.
Pastoraltheologisch ist dieser schillernde Charakter des Begriffs vom prekären Leben durchaus eine Chance. Denn in der christlichen Seelsorge geht es sehr wohl um den einzelnen Menschen, um die konkrete Person in ihrer sehr speziellen Lebenslage.
Umgekehrt gehört es zu den Standardformen der Kritik an einer individuell betriebenen Seelsorge, dass sie im Blick auf die einzelne Person die strukturellen Ursachen und die gesellschaftlichen Schräglagen nicht ausreichend in den Blick nimmt. Nicht Seelsorge, sondern politische Aktion, nicht Zuspruch, sondern diakonisches und prophetisches Handeln im Sinn einer ‚Arbeit am System‘ statt der ‚Arbeit im System‘ sei gefragt.
Im Folgenden soll dieser individualethische und sozialethische Spannungsbogen bewusst entfaltet, aber auch ‚ausgehalten‘ werden. Dabei wird zunächst (1) auf einige Fallbeispiele eingegangen, die die ungeahnte Vielfalt prekären Lebens veranschaulichen sollen. Anschließend (2) folgt eine sozialethische Reflexion, die unterschiedliche Formen prekärer Lebenslagen in den Blick nimmt. Zum Schluss (3) geht es um die durchaus ambivalente Rolle der Kirche rund um prekäre Lebenslagen sowie um die besondere Aufgabe einer zukünftigen, empathischen Seelsorge.
Die besondere Schwierigkeit beim Umgang mit prekären Lebenslagen ist ein gewisses Maß an mangelnder Eindeutigkeit. Diese geht hauptsächlich auf zwei schon erwähnte Ursachen zurück: die mangelnde ‚Sichtbarkeit‘ des Prekären und der teilweise subjektive, teilweise objektive Charakter der inneren Einordnung und der äußeren Zuschreibung prekärer Lebenslagen. Hierzu einige Beispiele:
Alina (41) ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann und drei Kindern im kürzlich gebraucht gekauften Einfamilienhaus. Äußere Indikatoren sprechen nicht für eine prekäre Lebenslage. Wer mit Alina ins Gespräch kommt, erfährt aber eine andere Sicht: „Ich bin depressiv geworden, denn mein Mann und seine Familie haben meine Tochter aus erster Ehe nie akzeptiert und sie aktiv herabgesetzt. Nun ist sie aus dem Leben geschieden. In ihrem Abschiedsbrief schreibt sie: ‚Mama, ich wollte Dir nicht zur Last fallen‘“. Alina sagt: „Diese Ehe ist für mich ein Gefängnis, aber ich kann nicht weg wegen der Kinder.“
Marek (52) ist LKW-Fahrer aus Litauen. Sein Stundenlohn beträgt drei Euro, weil er bei einem litauischen Subunternehmer beschäftigt ist. Er ist stolz darauf, LKW-Fahrer zu sein und mit seinen Fahrten nach Deutschland und zurück seine Familie ernähren zu können, auch wenn er nur selten zuhause sein kann.
Karoline (62) lebt allein in einer kleinen Wohnung. Sie ist auf die Zahlungen ihres Ex-Mannes angewiesen, lebt aber in ständiger Angst davor, dass er die Zahlung der 900 Euro, die sie zum Leben braucht, einstellt. Sie ist zu stolz, um ‚aufs Amt‘ zu gehen, sagt sie. Da sie gehbehindert ist, braucht sie Hilfe, um im Tafelladen einzukaufen.
Tanja (32) ist wissenschaftliche Hilfskraft und Doktorandin mit einem Zeitvertrag an einem geisteswissenschaftlichen Lehrstuhl in einer süddeutschen Universitätsstadt. Sie hat kürzlich geheiratet und denkt über die Familienplanung nach. Ihr Mann Klaus (37) ist Controller bei einem mittelständischen Industrieunternehmen. Tanja fühlt sich im Dilemma zwischen dem Druck zur Abgabe einer Doktorarbeit und der privaten Lebensplanung und nimmt an einer Demo gegen das Wissenschaftszeitvertragsgesetz teil. Ihre eigene Situation empfindet sie als prekär.
Dieter (39) ist obdachlos und hat von der Stadt eine Obdachlosenwohnung zugewiesen erhalten. Die Nachbarn haben Unterschriften gesammelt, um ihn loszuwerden. Denn wenn er Stimmen hört und einen schizophrenen Anfall bekommt, fängt er an zu schreien und zu toben. Er ist arbeitsunfähig und in den psychiatrischen Einrichtungen seiner Gegend als Drehtürpatient bekannt, weil er immer wieder eingewiesen und nach einiger Zeit entlassen wird.
Martin (59) ist Diakon und arbeitete als katholischer Religionslehrer. Seine Frau ist vor kurzem verstorben, er ist kinderlos. Nach längerem Gewissenskampf ist er noch vor der Reform des kirchlichen Arbeitsrechts 2022 aus der katholischen Kirche ausgetreten und wurde unmittelbar danach gekündigt. Er weiß nicht weiter und hat sich bei der Agentur für Arbeit für eine Umschulung angemeldet.
Antonia (28) ist das dritte Kind einer alkoholkranken Mutter. Ihr Vater hat sich vor Jahren an ihrer Schwester (34) sexuell vergangen. Antonia will keine Beziehung zu Männern. Sie hat über die örtliche Lebenshilfe eine kleine Wohnung zugewiesen bekommen, die sie selten verlässt: „Ich bin so depressiv und ich habe Angst, unter Leute zu gehen.“
Winfried (34) hat ein Kind mit seiner Freundin, aber die Beziehung ist schwierig. Er arbeitet als Kurierfahrer. Die Schichten sind unregelmäßig, seinen Lohn steckt er fast komplett in die gemeinsame Wohnung. Seine Freundin hilft im Supermarkt aus, um über die Runden zu kommen. Zufrieden ist er nicht: „Es ist total knapp und wir haben nie Zeit!“
Sara (19) kam vor drei Jahren mit ihrer katalanischen Mutter aus Spanien nach Deutschland. Sie leidet unter einer Leseschwäche. Sie lebt bei ihrer Mutter und ihrem Partner, will aber gerne ausziehen. Wegen mangelnder Deutschkenntnisse kann sie keine Ausbildung beginnen. Aber sie hat den festen Willen, sich durchzuschlagen.
Wie lassen sich diese so unterschiedlichen Beispiele für mögliche Formen prekären Lebens auf einen Nenner bringen? Welche ist subjektiv, welche ist objektiv ‚prekär‘?
Die Zahl solcher Beispiele lässt sich vermehren. Gemeinsam ist ihnen das Thema der subjektiven und/oder objektiven Unsicherheit. Alina (41) lebt monetär betrachtet in sicheren Verhältnissen, empfindet ihre Lage aber als prekär. Marek (52) fällt als ausländischer Subunternehmer nicht in die Mindestlohnbindung, fühlt sich aber subjektiv nicht als prekär. Tanja (32) lebt vergleichsweise privilegiert, stößt sich aber an der zeitlichen Begrenzung ihres Arbeitsvertrags, der sie nach eigenem Empfinden in prekärer Weise unter Druck setzt. Karoline (62) und Dieter (39) können mit der Kategorie des Prekären nichts anfangen und antworten beide auf Befragen ganz ähnlich: „Ich habe genug zu tun mit meinem eigenen Leben!“
In der christlichen Sozialethik geht es um die Frage nach einem menschenwürdigen Leben für alle. Sie blickt über das Stichwort der Personalität auf den einzelnen Menschen, über die Forderung nach Solidarität auf die Gesellschaft. Letztlich wird eine Balance aus politischen, aber auch pastoralen und diakonischen Handlungsperspektiven gesucht. Grundsätzlich geht es um die Absicherung sozialer Mindeststandards im Sinn von Essen, Wohnen und Leben. Wie genau dies geschieht, geschehen soll und geschehen kann, ist Gegenstand von Aushandlungsprozessen über verfügbare zeitliche, personelle und finanzielle Ressourcen im Kontext einer Zeit und eines bestimmten Landes (vgl. Wimbauer/Motakef 2020).
Beim prekären Leben sind Mindeststandards jedoch schwer zu verallgemeinern. Wenn prekäres Leben mit einem Bündel an Merkmalen beschrieben wird, fällt immer wieder auf, dass es um emotionale und soziale Formen von Stress geht. Gemeint ist Stress durch mangelnde Anerkennung und Sichtbarkeit (zum Beispiel bei Alleinerziehenden), Stress durch Armut und Krankheit (zum Beispiel bei psychisch Kranken), Stress durch Ausbeutung und soziale Unsicherheit (zum Beispiel bei unsicheren Arbeitsverhältnissen) oder Stress durch die Angst vor dem Zusammenbruch der Existenz (zum Beispiel bei Arbeitslosigkeit). Prekäres Leben zeigt sich häufig als ein Ort sozialer Ängste, gleich ob es um ein Leben in der Schuldenfalle, um fehlende Perspektiven, Hoffnungslosigkeit oder um soziale Isolation geht.
Sozialethisch spricht eine nicht gut greifbare Situation zuallererst für das genaue Hinsehen und Zuhören. Während eine pastorale Sichtweise die einzelne Person in den Mittelpunkt rückt, steht für die sozialethische Reflexion der gesellschaftliche und politische Gestaltungsauftrag im Vordergrund, der sich aus einer bestimmten Notlage ergibt.
Dabei können gerade einige ungewöhnliche Blickwinkel zu neuen Einsichten verhelfen. Zum einen liegen ja prekäre Lebenssituationen manchmal quer zu gesellschaftlichen Erwartungen, so etwa bei Unternehmerinnen und Unternehmern in persönlichen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die das nach außen hin zu verbergen suchen. Darüber hinaus sind wirtschaftlich prekäre Lebenslagen in Deutschland im Vergleich mit existenziellen Notlagen in Ländern des globalen Südens nicht prekär, sondern relativ gut abgesichert. Das berichten zumindest Menschen aus Ländern in Lateinamerika mit hoher Landflucht, Vertreibung und bis zu 70 Prozent informellem Wirtschaftsleben. Die Betrachtung prekären Lebens muss folglich, sozialethisch gesehen, auf die weltweite Lage und die mannigfaltigen Formen menschenunwürdiger Globalisierung geweitet werden.
Das freilich darf niemals von den Pflichten aus dem Nahbereich ablenken. Es ist längst bekannt: Die Förderung von Frauen, die Förderung ländlicher Gebiete und der Zugang zu elementaren Dienstleistungen in den Bereichen Bildung und Gesundheit sind die stärksten Entwicklungstreiber, in Deutschland wie im globalen Süden. Hierzulande gehören insbesondere die Sorge für alleinerziehende Mütter, die Sorge für Obdachlose und die Sorge für eine Wiederbelebung des sozialen Wohnungsbaus zu den Maßnahmen, die die besten Treiber zur Überwindung und Vermeidung prekärer Lebenslagen sind. Aber wer hört zu, wenn solche Forderungen aufgestellt werden? Und wer setzt sie politisch um?
Was ergibt sich aus dem Gesagten für die katholische Kirche in Deutschland und ihre Seelsorgepraxis? Wer über diese Frage nachdenkt, wird bald zum Schluss kommen: Menschen in prekären Lebenslagen kommen in der kirchlichen Seelsorgepraxis zu selten vor. Die (Kern-)Gemeinden wirken so, als seien sie sich selbst genug. Viele engagierte Menschen haben eigene, teilweise sehr heftige Frustrationserfahrungen. Wenige leben den Glauben mit Schwung und Lebensfreude.
Es gibt natürlich auch großartige Ausnahmen. Gerade Ordensgemeinschaften gehen immer häufiger neue Wege, spirituell und in der Praxis der vorbehaltlosen Begegnung. Beeindruckend ist beispielsweise die Initiative der Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung, bei der Menschen am Rande oder außerhalb eines legalen Aufenthalts in einer mobilen Arztpraxis auch ohne Krankenschein behandelt werden. Eine andere ist Solwodi e. V., eine internationale Menschenrechts- und Frauenhilfsorganisation zur Beratung und Betreuung von Opfern von Menschenhandel, Zwangsprostitution und Beziehungsgewalt.
Dass Kirche oft genug nicht zuhörend und einladend wirkt, ist das eine. Eine neue Rolle der Kirche könnte ja schon dort beginnen, wo diese selbst nicht mehr aktiv ausgrenzt und zu prekären Lebenssituationen beiträgt. „Wenn Du Lieblosigkeit lernen willst, gehe zur katholischen Kirche“, das ist eine eher harte Beschreibung von Erfahrungen, die auch im Jahr 2023 berichtet werden (vgl. Hanstein/Schönheit/Schönheit 2023). Ein erster Schritt zum kirchlichen Umgang mit prekären Lebenssituationen wäre daher das Einüben einer Praxis des Zuhörens. Eine solche Praxis umfasst strukturelle und übergreifende Initiativen wie ‚Runde Tische‘ und Dialogrunden ebenso wie die pastorale Praxis im engeren Sinn.
Politische Forderungen aus solchen Runden können eine sinnvolle Folge sein. Schließlich folgt aus der Selbstdefinition des deutschen Staates als Sozialstaat auch eine Handlungspflicht. Wie diese auszugestalten ist, hängt von politischen Einstellungen, aber auch von öffentlichen Kassen und dem Streit um die immer knappen Mittel ab. Mindestens ebenso wichtig wie politische Maßnahmen aber ist die Praxis des Dialogs, der eben nur im Zuhören gelingt. Gute pastorale Praxis gestaltet dann Resonanzräume des Zuhörens und des Mitfühlens, in größeren Runden ebenso wie im Einzelgespräch. Empathie setzt ja die Wahrnehmung des und der anderen voraus. Sie will aber auch gelernt und eingeübt werden. Prekäres Leben lädt genau dazu ein: den Mut zu haben, eine neue Praxis empathischer Seelsorge überhaupt erst zu lernen, in Bescheidenheit und in kleinen Schritten. Das wäre dann auch ein Schritt hin zu einer erneuerten Kirche der Zukunft.
Butterwegge, Christoph, Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland, Weinheim 2020.
Castel, Robert/Dörre, Klaus (Hg.),