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Einen Streifzug durch unterschiedlichste Themen bieten die 16 Geschichten und Episoden in diesem Buch. Das Spektrum reicht von Erziehungsfragen, Nächstenliebe und Freundschaft, von Naturphänomenen, Verlustängsten, Betrug, Abenteuern und Leichtsinn, von Schicksalsschlägen und Glücksfällen bis hin zu Trauer und Tod. In Aktion sind Jung und Alt im zeitlichen Spannungsbogen von mehr als einhundert Jahren. Das Leben ist ein faszinierender Tanz, der dir manchmal den Atem nimmt, aber dessen wechselnde Rhythmen dich wachsen lassen und stählen.
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Seitenzahl: 177
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Rebellion im Klassenzimmer
Eine unerhörte Begebenheit
Ein offenes Fenster
Ein rätselhaftes Geschenk
Omas neue Kinder
Erster Besuch
Der lange Weg zurück ins Leben
Ohne Worte
Die Ohrfeige
Eine seltsame Krankheit
Das Zeitgeschenk
Ein Notfall
Katastrophenalarm
Der perfekte Gentleman
Schock am Morgen
Hochzeit mit Hindernissen
Ein Spruch von Friedrich Max Müller (1823 – 1900), deutscher Sprach- und Religionswissenschaftler
Wenn wir es selbst versuchen, Begebenheiten und Gespräche, deren Zeugen wir vor vielen Jahren waren, ohne Hilfe von Büchern oder Aufzeichnungen niederzuschreiben, so werden wir sehen, wie schwer es ist und wie unzuverlässig unsere Erinnerungen sind.
Wir können dabei ganz wahrhaft sein, aber es folgt durchaus nicht, dass wir auch wahr und zuverlässig sind.
***
Bei den Texten handelt es sich teilweise um eigene Erinnerungen oder Erlebnisse. Ich bemühte mich und fügte meinen Wahrnehmungen eine große Portion Fantasie hinzu. So entstanden Geschichten, von denen viele Details frei erfunden sind.
Aus dem Leben meines Großvaters
Im Familien- und Verwandtenkreis wurde die Story, die inzwischen über einhundert Jahre zurückliegt, von Generation zu Generation mündlich weitergegeben. Als Kind kannte ich sie vom Hörensagen. Jedes Mal war ich aufs Neue beeindruckt, wenn die Erwachsenen sie erzählten.
Pauls Wissbegierde und Neugier und sein stark ausgeprägter Ehrgeiz hatten ihn von Kindheit an zu außergewöhnlichem Tun angeregt, das seinesgleichen suchte. Etwas Schuld daran trugen seine Eltern, überaus arme, aber ehrbare Leute, die immer versuchten, mit ihren bescheidenen Mitteln jedes ihrer acht Kinder bestmöglich zu fördern.
Bereits vor seiner Einschulung 1898 konnte Paul lesen und schreiben, weil er ständig seine Nase in die Schulhefte der älteren Geschwister steckte und sie mit Fragen überhäufte. Ein bisschen wurmte es ihn, dass er der Jüngste war und die anderen ihn „Kleiner“ nannten. Dabei war er von kräftiger Statur und für sein Alter keineswegs klein.
In der Schule fiel er durch seine Zielstrebigkeit auf. Zweimal durfte er aufgrund seines Wissens und seiner schnellen Auffassungsgabe eine Schulklasse überspringen. Rein äußerlich fiel er nicht unter seinen älteren Mitschülern auf. Dass sie zu ihm aufschauten, war ihm gar nicht recht. Vom Wesen her war er bescheiden und zurückhaltend.
Paul wusste, dass der Pflichtbesuch in den Volksschulen der Umgebung nach der sechsten Klasse endete.
Die Schulzeit im Heimatort währte jedoch versuchsweise acht Jahre. Aber was hatte ihm das Überspringen der Klassen genutzt? Nichts, rein gar nichts! Es bedeutete, dass er in der letzten Klasse, der achten, drei Jahre absitzen musste, bis er vierzehn war. Eher war seine Schulentlassung nicht möglich.
Nach dem Unterricht half Paul der Mutter, wo er nur konnte und immer noch etwas mehr, als sie von ihm erwartete oder verlangte. Bis in die späten Abende hinein war er mit irgendeiner Arbeit beschäftigt, um mitzuhelfen, dass die Familie über die Runden kam. Zusätzlich half er an einigen Wochentagen dem Pfarrer der Gemeinde, seinen großen Garten in Schuss zu halten.
Der Pastor, mochte diesen Jungen, weil er sehr geschickt war und alle Arbeiten schnell und gründlich ausführte. Außerdem unterhielt er sich nach getaner Arbeit gern mit ihm. Paul war ein bisschen „Sohnersatz“ für ihn, denn seine eigenen drei Jungen besuchten die höhere Schule in einer sechzig km entfernten Stadt. Sie lebten in einem streng geführten Internat. Natürlich hätten sie auch am Heimatort die höhere Schule besuchen können, aber diese hatte keinen guten Ruf. Deshalb nahmen sie die Trennung in Kauf und kamen nur alle vierzehn Tage einmal an den Wochenenden nach Hause. Sie fehlten Vater und Mutter sehr, auch bei der Bewirtschaftung ihres großen Gartens und eines schmalen kleinen Feldes sowie bei der Versorgung der Tiere. Drei Schweine, zwei Ziegen, eine Kuh, ein Pferd, Gänse, Hühner und Kaninchen wollten versorgt sein.
Der Pastor entlohnte Paul für seine Hilfe immer großzügig mit Naturalien aus seinem Garten oder vom Feld, einer Kanne Milch, einem Stück Speck oder ein paar Eiern.
Zu Hause lieferte Paul alles ab. Die Mutter verwandelte diese Mitbringsel zu köstlichen Gerichten, ohne dass auch nur ein Kräutlein oder Produkt davon nicht genutzt worden oder verdorben wäre. Es war für sie nicht so einfach, jeden Tag acht Kinder satt zu bekommen.
Eines Tages wollte der Pfarrer Paul eine besondere Freude machen und gab ihm zu den Naturalien noch etwas Geld dazu. Aber Paul wollte das Geld nicht annehmen. Etwas zaghaft, schüchtern fragte er: „Darf ich mir statt des Geldes etwas anderes wünschen?“
Der Pfarrer war sehr verwundert, weil Paul bisher nie etwas für seine Arbeit verlangt hatte und weil er statt des Geldes, das in seiner Familie an allen Ecken und Enden fehlte, einem anderen Lohn den Vorzug geben wollte.
„Was wünschst du dir denn?“, fragte er neugierig und war gespannt auf die Antwort.
„Sie würden mir eine sehr große Freude machen, wenn ich jedes Jahr die Schulbücher Ihrer Söhne bekäme, die sie nicht mehr brauchen.“ – „Wenn du weiter keine Wünsche hast?“
„Vielleicht … noch ein wenig Petroleum oder eine Kerze.“ Mit diesen Dingen wurde zu Hause gespart. Nach dem Einsetzen der Dunkelheit konnte Paul nicht mehr lesen, obwohl er es so gern getan hätte.
„Ja, das lässt sich machen“, meinte der Pfarrer.
Überglücklich rannte Paul nach Hause, unter einem Arm einen Packen alter Schulbücher der höheren Schule, in der anderen Hand eine Flasche Petroleum, in der Hosentasche zwei Bienenwachskerzen und ein paar Heller. Der Pfarrer hatte darauf bestanden, dass er auch diese mitnahm.
Stolz breitete Paul die Schätze vor seinen Eltern und Geschwistern aus. „Wenn wir dich nicht hätten!“, sagte die Mutter und strich ihrem Jüngsten zärtlich über den Kopf.
Der Vater, der sich als Weber in einer Fabrik täglich zwölf Stunden beim Rattern der Webstühle krumm machte, wog die Bücher in seinen Händen. Dann sagte er leise und mit Nachdruck:
„Paul, wenn du eines Tages der Armut entkommen willst, ist Bildung deine erste Pflicht, sonst bleibst du ewig ein armer Schlucker wie ich. Lerne in jeder freien Minute, die du hast!“
Aber dieser Worte bedurfte es gar nicht, denn Paul verspürte von sich aus diesen starken Wissensdrang. Egal, woher er etwas bekam oder erfuhr, er nahm alles begierig in sich auf. Eine reine Quälerei, diese drei Jahre in der Achten! Paul konnte sie nur ertragen, weil er sich zu helfen wusste. Fast immer hatte er ein Buch unter seinem Schulheft oder auf seinen Knien liegen, in welchem er nebenbei las, doch mit einem Ohr nahm er den Unterricht wahr. Er musste sich sehr konzentrieren, diese zwei Sachen gleichzeitig zu tun und höllisch aufpassen. Wehe ihm, wenn er erwischt worden wäre, dass er sich mit anderen Dingen beschäftigte.
Was er außerdem gern machte, um nicht vor Langeweile einzuschlafen: Er beobachtete den Lehrer sehr genau. Was dieser lehrte, war für ihn nicht von Bedeutung, denn er konnte ja schon alles, es war ohnehin nichts Besonderes. Aber wie er versuchte, es den Schülern beizubringen oder einzutrichtern, das fand er sehr interessant. Oft ertappte er sich dabei, das er es ganz anders, viel einfacher, eindringlicher und leichter begreifbar erklärt hätte, wenn er an Stelle des Lehrers da vorn gestanden hätte.
Lehrer Obermeier gab ihm manchmal sogar Gelegenheit dazu und zwar meist dann, wenn er sich häusliche Nachbereitungsarbeit ersparen wollte. Er stellte Paul vor die Klasse, der etwas erläutern oder Übungen mit seinen Mitschülern durchführen sollte, während er an der Seite saß und Hefte durchsah oder er lehnte sich zurück und machte gar nichts. Paul mochte diesen hageren, stets unfreundlichen, strengen, pedantischen Mann nicht, der allzu oft seine Macht mit dem Rohrstock ausspielte, bei jedem kleinen Vergehen die Kinder verprügelte und drangsalierte. Ein Lob kam so gut wie nie über seine Lippen. Keiner wagte aufzumucken. Zucht und Ordnung und unbedingter Gehorsam wurden von jedem Jungen erwartet und keiner wagte auch nur den geringsten Widerspruch. Die Angst dominierte.
Pauls Banknachbar befand sich in ähnlicher Lage wie er. Johann Schulz war ebenfalls der Sohn eines Webers, dessen Familie mit neun Kindern reich gesegnet war. Allerdings waren seine zwei ältesten Brüder und eine Schwester schon aus dem Haus und hatten eigene Familien gegründet. Johann war wie Paul der Jüngste in der Geschwisterreihe und als Nachkömmling etwas schwächlich geraten. Nie war eigens für ihn ein Kleidungsstück besorgt oder von der Mutter genäht worden. Er hatte die Kleidung seiner Brüder aufzutragen, die häufig mehrfach gewendet und geflickt, aber immer sauber war. Oft geschah es, dass er ohne Pausenbrot in die Schule kam. Dann teilte Paul mit ihm das, was ihm die Mutter eingepackt hatte.
Auch Johann musste zu Hause jeden Tag nach der Schule in Garten, Feld und Haushalt mithelfen, damit die Großfamilie ihr Auskommen hatte.
Zum Glück blieb er aufgrund dessen, dass er der Jüngste war, von den schweren Arbeiten, wie Holzhacken oder Wasser von der Pumpe holen, verschont. Aber selbst die vielen leichteren Arbeiten, die ihm täglich zugedacht waren, verlangten von ihm oft seine letzten Kräfte. Erst am späten Abend konnte er sich seinen Schulaufgaben widmen. Wenn er etwas nicht konnte oder verstand, war Paul seine letzte Rettung. Er wusste, dass er auch noch spätabends zu ihm kommen durfte.
Eines Tages im Herbst zog Johanns Familie mit drei großen Handkarren auf den Futterrübenacker zur Ernte. Die Rüben mussten von Hand und mit Hilfe einer Grabegabel aus der Erde gezogen werden. Für einen Teil davon wurde eine Erdmiete angelegt. Die Eltern vermuteten, dass es bald den ersten Frost geben würde. Eile war geboten. Aber es war einfach nicht vor dem Einbrechen der Dunkelheit zu schaffen. Deshalb steckte Johanns Vater einige Pechfackeln in die Erde und zündete sie an. Außerdem schichtete er ein kleines Feuer auf, damit die Arbeiten noch zum Abschluss kommen konnten.
Johann spürte am Abend nach der ungewohnten Arbeit Schmerzen im Rücken und in seinen Armen. Seine Hände waren grün und rau vom Saft der Rübenblätter und die Haut stellenweise eingerissen. Eine bleierne Müdigkeit überkam ihn. Trotzdem blieb ihm keine Wahl. Er saß in der Küche und beugte sich über seine Hausaufgaben. Die Mutter hatte im Herd etwas Feuer gemacht. Die Petroleumlampe verbreitete angenehm gedämpftes Licht. Es dauerte nur wenige Minuten und Johann schlief ein. Die Mutter zog das Heft vorsichtig unter Johanns Kopf hervor und steckte es in den abgewetzten, ledernen Ranzen.
Danach trug sie ihn auf seinen Strohsack, sorgsam darauf bedacht, ihn nicht aufzuwecken. Lediglich die Schuhe zog sie ihm aus, obwohl an seiner Kleidung die Spuren der Feldarbeit nicht zu übersehen waren. Am Morgen würde er sich ohnehin vor dem Schulgang andere Kleidung anziehen müssen.
Mit einem sehr unguten Gefühl im Magen trat Johann am nächsten Morgen den Schulweg an. Paul wollte ihm noch helfen, die Hausaufgabe zum Abschluss zu bringen, aber es war zu spät dafür. Schon betrat Lehrer Obermeier die Klasse.
„Bitte, bitte, bitte, lass ihn heute die Kontrolle vergessen oder ihn übersehen, dass ich nur die Hälfte habe!“, betete Johann in Gedanken. Aber es entging dem Lehrer nicht. Er begann seinen Unterricht immer mit der Kontrolle der häuslichen Arbeiten. Nie vergaß oder übersah er etwas.
Schon wurde Johann nach vorn zitiert, nachdem der Lehrer ihn vor allen bloßstellte, ihn der Faulheit bezichtigte, die der Anfang von Müßiggang und Verderb sei. Die gerechte Strafe: Fünf Hiebe mit dem Rohrstock!
Johann schlich nach vorn mit gesenktem Kopf und kleinen Schritten, als hätte er Blei an den Füßen. Irgendwie hingen seine Arme an ihm herab, als gehörten sie ihm nicht oder als trüge er eine schwere Last auf seinen Schultern. Aus der knielangen, geflickten Hose schauten seine Beine hervor wie dünne Stelzen, die in übergroßen, ausgebeulten hohen Schuhen steckten. Ein Bild des Jammers. Die Klasse hielt den Atem an.
Schon beugte Johann den Oberkörper nach vorn und legte ihn auf die Prügelbank. Noch immer schmerzten ihm Hände und Arme sowie sein Rücken von der Feldarbeit des Vortages und nun dazu noch Prügel! Er verfluchte insgeheim den Moment, wo er über seinem Schulheft eingeschlafen war. „Warum war Mutter bloß nicht aufgefallen, dass meine Hausaufgaben nicht fertig waren?“, dachte er vorwurfsvoll.
„Lieber Gott, steh mir bei und lass es schnell vorbei sein!“, flehte er stumm in Erwartung der Hiebe.
Schon griff der Lehrer zum Rohrstock, der ihm Macht, Autorität und den bedingungslosen Gehorsam der Halbwüchsigen sicherte.
Die Wut kroch in Paul hoch, das mit ansehen zu müssen. Wie von einer unsichtbaren Kraft getrieben, schnellte er nach vorn und stellte sich zwischen Prügelbank und Lehrer. Mit fester Stimme sagte er: „Sie werden Johann nicht schlagen!“ Er schaute dem Lehrer dabei ins Gesicht. „Schlagen Sie stattdessen mich, wenn Sie unbedingt schlagen müssen!“
Totenstille in der Klasse. Ungeheuerlich, noch nie dagewesen! Ein Schüler stellte das Tun des Lehrers in Frage und wollte für seinen Freund die Prügel empfangen.
Dem Lehrer schwollen die Zornesadern an seiner Stirn und er sagte:
„Ihr bekommt jetzt beide eure verdiente Strafe! Johann für die fehlende Hausaufgabe und du für deine Rebellion! Paul, ich wundere mich sehr über deinen Ungehorsam.“ Der Klasse zugewandt fügte er zornig und überlaut hinzu: „Wo kommen wir denn hin, wenn die Schüler dem Lehrer vorschreiben wollen, was er tun soll!“
Schon schritt er mit dem Rohrstock auf die Prügelbank zu, auf der immer noch Johann kauerte.
Plötzlich entriss Paul dem Lehrer den Rohrstock und stellte sich drohend vor ihm auf: „Ich möchte Ihnen nur einen einzigen Schlag versetzen, damit Sie spüren, wie weh es tut.“
Paul war über das eigene Tun erschrocken. Es war ihm, als würde sein zweites Ich aus ihm herausgefahren sein, für ihn sprechen und agieren. Er stand quasi neben sich selbst. Etwas in ihm hatte sich verselbständigt, losgelöst, war nicht mehr gesteuert vom eigenen Verstand oder Willen. Selbst seine Stimme kam ihm ungewöhnlich seltsam und fremd vor, als er den Stock gegen den Lehrer erhob.
Obermeier wich entsetzt ein paar Schritte zurück. Fassungslos. Wortlos. Eilig verließ er den Raum und schlug die Tür hinter sich zu.
Jeder ahnte, was jetzt folgen würde: Sicher würde er Verstärkung holen und mit dem Rektor zurückkommen. Johann bekam noch mehr Angst als er ohnehin schon hatte: „Paul, warum hast du das getan?“ – „Ach Johann, lass es gut sein! Geh auf deinen Platz zurück!“ Und zur Klasse: „Setzt euch ordentlich hin und verhaltet euch still!“ Alle machten, was er sagte. Paul legte den Rohrstock auf das Lehrerpult und ging ebenfalls zu seinem Platz zurück. Die Erregung stand allen in den Gesichtern geschrieben. Niemand sprach ein Wort. Totenstille. Es erschien ihnen eine Ewigkeit, bis sich endlich die Tür zum Klassenraum öffnete und wie schon vermutet, betraten Lehrer und Rektor gemeinsam mit gewichtigen, ernsten Gesichtern den Klassenraum.
Der Rektor musterte schweigend einen Schüler nach dem anderen. Er ließ sich wahnsinnig lange Zeit dafür, bis er seine Augen schließlich auf Paul und Johann richtete.
Er durchbohrte sie fast mit seinen Blicken und kostete die Wirkung seines Auftritts aus.
Spannung knisterte über den Köpfen der Schüler. Aber das große erwartete Donnerwetter folgte nicht. Auch die von Obermeier ausgesprochene Prügelstrafe wurde nicht nachträglich verabreicht.
Unmissverständlich und mit Nachdruck machte der Rektor klar, dass bei derartiger Wiederholung von Pflichtverletzung, Disziplinlosigkeit, Ungehorsam und aufrührerischer Revolte gegen den Lehrer und die Schulordnung jeder zukünftig mit dem Verweis von der Schule rechnen müsse. Und selbstverständlich werde er die Eltern von Paul und Johann über deren Regelverstöße und diesen Vorfall unterrichten.
Innerlich triumphierte Paul: „Keine Schläge für Johann, keine Schläge auf mein Hinterteil!“ Sein zweites Ich kehrte in sein Inneres zurück und er hoffte: „Mit Vater und Mutter werde ich schon klarkommen.“
Dieses Ereignis beschäftigte die Gemüter noch eine Weile und ging wie ein Lauffeuer im Ort herum. In dieser Kleinstadt kannte jeder jeden. Ja, man konnte auch sagen: Diese kleine Stadt war weiter nichts als ein großes Dorf. Besonders die Frauen tauschten sich darüber aus, egal, wo sie sich zufällig trafen, ob beim Metzger, Bäcker, Schuster, beim Mangeln der Wäsche oder auf der Bleiche.
Schon immer hatte es die meisten gestört, dass ihre Kinder oft für nichts und wieder nichts verprügelt wurden.
Aber hatten sie eine Wahl? Keiner traute sich, gegen den Lehrer Beschwerde einzulegen aus Angst, dass es ihr Kind dann doppelt auszubaden hätte.
Und Paul konnte es später selbst nicht mehr verstehen oder erklären, was in ihm vorgegangen war, dass er an jenem Tag so und nicht anders gehandelt hatte.
Sein Ansehen im Ort war durch sein beherztes Eintreten für seinen Freund gewachsen. Er merkte es, wenn er den Leuten begegnete. Er glaubte, ihre Gedanken lesen zu können, wenn sie ihn anlächelten.
Die Eltern waren zunächst etwas erschrocken, als sie erfuhren, was sich in der Schule zugetragen hatte. Sie sprachen mit Paul und ließen sich alles berichten. Am Ende klopfte der Vater Paul auf die Schulter und sagte: „Es ist nicht einfach, sich einfach einmal in einen anderen hineinzuversetzen, aber es ist einfach hin und wieder nötig.“
Solche gewichtigen Sätze des Vaters waren typisch für ihn.
Immer hatte er irgendwelche weisen Sprüche parat.
Die Mutter konnte das Geschehene kaum fassen und fragte Paul: „Woher nahmst du nur den Mut, dich gegen deinen Lehrer aufzulehnen?“
Auch der Pastor fand keine Worte des Tadels, riet aber dem Jungen, in Zukunft solche spektakulären Auftritte zu vermeiden.
Seit diesem Ereignis war es bis zur Schulentlassung der Achtklässler nicht mehr vorgekommen, dass Lehrer Obermeier den Rohrstock benutzte. Es lag fortan so etwas wie ein magischer Zauber auf diesem von den Schülern so gefürchteten Utensil.
Auf dem Bahnsteig drängten sich die Reisenden. Sie warteten auf den Zug nach Berlin.
„Das wird eng“, dachte ich, „sie werden nicht alle einen Sitzplatz bekommen.“
Als der Zug einfuhr, wurde er förmlich gestürmt. Die Leute schoben und schubsten. Ich bewahrte die Ruhe, denn ich besaß zum Glück eine Platzkarte.
Es war schwierig, bis zu meinem gebuchten Platz vorzudringen. Die Gänge waren vollgestopft mit den vielen Menschen und ihrem Gepäck. Alle Notsitze waren heruntergeklappt und besetzt. Wenn im Gang jemand vorbei wollte, machten einige etwas Platz und wichen in die Abteile aus, deren Türen offen standen.
Endlich erreichte ich mein Abteil. Auf meinem Platz saß eine junge Frau. Sie stand bereitwillig auf, als ich ihr meine Platzkarte zeigte. Sie blieb im Abteil vor meinen Füßen stehen. Das war nicht gerade gemütlich oder bequem. Aber was sollte sie machen? Draußen im Gang war noch weniger Platz. Ehe ich meine Reisetasche im Gepäcknetz verstaute, holte ich meinen Schnellhefter heraus. Die vier Stunden Zugfahrt wollte ich gut nutzen. Ich befand mich auf Dienstreise und hatte am nächsten Tag an der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften vor Doktoren und Professoren einen Vortrag zu halten über meine Erfahrungen bei der Nutzung neuer Unterrichtsmittel in der Praxis. „Nur keine Angst vor großen Tieren!“, sagte ich mir. Aber natürlich wollte ich meine Sache gut machen und blätterte im Schnellhefter, um mir meine Ausarbeitungen noch einmal anzusehen.
Ich merkte bald, dass ich mich nicht richtig konzentrieren konnte. Zum einen, weil links von mir ein Kind auf dem Fensterplatz saß, das mich ablenkte, zum anderen war es sehr warm und stickig im Abteil. Eine Klimaanlage gab es nicht. Obwohl das obere Kippfenster geöffnet war, stand die Luft still. Ich legte den Schnellhefter zurück in meine Tasche.
Der Junge neben mir schien sich zu langweilen. Er klopfte unablässig mit einer leeren Plastikflasche auf die Ablage vor dem Zugfenster. Ich schätzte sein Alter auf sechs Jahre. Seine Mutter war sicher jene Frau, die für mich den Platz räumen musste und nun mitten im Abteil stand. Sie hätte sich doch auf den Fensterplatz setzen und das Kind auf den Schoß nehmen können. Draußen gab es viel zu sehen. Man hätte das Interesse des Kindes an den ständig wechselnden Bildern wecken und sich mit ihm unterhalten können. Die Mutter kümmerte sich nicht um den Jungen. Sie bot ihm nichts zur Beschäftigung an, vielleicht ein Buch oder ein kleines Spielzeug. Nichts!
Plötzlich begann das Kind, mit den Beinen zu wippen. Füße und Unterschenkel schnellten nach oben. Ein pausenloses Auf und Ab. Dabei trafen seine Schuhe jedes Mal die Knie einer alten Dame, die ihm gegenüber saß. Sie sagte eine Weile nichts, aber schließlich wurde ihr dieses Spiel zu bunt.
„Lass das!“, bat sie den Jungen. Von ihren Worten unbeeindruckt, hörte dieser nicht auf zu treten.
Ärgerlich fügte sie hinzu: „Du tust mir weh!“ Das schien ihr Gegenüber ebenfalls zu überhören.
„Jetzt reicht es aber! Hör bitte auf damit! Es ist genug!“, sagte sie mit Nachdruck und keineswegs freundlich. Aber der Junge ließ nicht ab von seinem Tun.
„Hast du keine Ohren?“, fragte ich ihn barsch und stupste ihn von der Seite her an. Er reagierte nicht auf meine Worte. Auf den Gesichtern der Mitreisenden machten sich Empörung und Unzufriedenheit breit.
„Sind Sie die Mutter des Kindes?“, fragte ich die junge Frau, die vor mir stand.
„Ja“, war ihre knappe Antwort.
„Wollen Sie nicht endlich einschreiten, damit ihr Junge aufhört, die Frau zu belästigen und ihr weh zu tun?“, wandte ich mich an sie.
Sie überlegte nicht lange und antwortete: „Mein Junge darf immer das tun, was er möchte. Er soll seine Erfahrungen im Leben selbst sammeln und nicht von mir bevormundet und gegängelt werden!“
„Na prima“, dachte ich, „wo gibt es denn so etwas!“ Am liebsten hätte ich dem Jungen eine Ohrfeige gegeben, aber das war sicher nicht angebracht, um den Konflikt zu lösen. Und außerdem – ich als Pädagogin, das ginge doch gar nicht! Aber ich fühlte mich hilflos und grübelte, wie dieser unerträgliche Zustand zu beenden sei, währenddessen der Junge fröhlich weiterhin mit den Füßen wippte.
Ein junger Mann, der neben der Mutter im Abteilgang stand, nahm plötzlich seinen Kaugummi aus dem Mund.