Leberecht Hühnchen - Heinrich Seidel - E-Book
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Heinrich Seidel

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Beschreibung

Heinrich Seidels Buch "Leberecht Hühnchen" beschreibt die ungewöhnliche Geschichte eines kleinen Hühnchens, das davon träumt, die Welt zu entdecken. Der Autor verwendet dabei einen leichten und humorvollen Schreibstil, der Kindern und Erwachsenen gleichermaßen gefallen wird. Das Buch ist eine Mischung aus unbekümmertem Abenteuer und tieferer Botschaft, die subtil vermittelt wird. Als ein bekannter deutscher Dichter und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, fügt Seidel seinem Werk eine zeitlose Qualität hinzu, die auch heute noch Leser aller Altersgruppen anspricht.

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Heinrich Seidel

Leberecht Hühnchen

Humoristische Erzählungen um den Berliner Lebenskünstler

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-7583-124-8

Inhaltsverzeichnis

Leberecht Hühnchen
Die silberne Verlobung
Die Weinlese
Das Weihnachtsfest
Die Landpartie
Das Hochzeitsfest
Die Hochzeitsreise
Leberecht Hühnchen als Großvater

Leberecht Hühnchen

Inhaltsverzeichnis

Ich hatte zufällig erfahren, daß mein guter Freund und Studiengenosse Leberecht Hühnchen schon seit einiger Zeit in Berlin ansässig sei und in einer der großen Maschinenfabriken vor dem Oranienburger Tor eine Stellung einnehme. Wie das wohl zu geschehen pflegt, ein anfangs lebhafter Briefwechsel war allmählich eingeschlafen, und schließlich hatten wir uns ganz aus den Augen verloren; das letzte Lebenszeichen war die Anzeige seiner Verheiratung gewesen, die vor etwa sieben Jahren in einer kleinen westfälischen Stadt erfolgt war. Mit dem Namen dieses Freundes war die Erinnerung an eine heitere Studienzeit auf das engste verknüpft, und ich beschloß sofort, ihn aufzusuchen, um den vortrefflichen Menschen wiederzusehen und die Erinnerung an die gute alte Zeit aufzufrischen.

Leberecht Hühnchen gehörte zu den Bevorzugten, denen eine gütige Fee das beste Geschenk, die Kunst glücklich zu sein, auf die Wiege legte; er besaß die Gabe, aus allen Blumen, selbst aus den giftigen, Honig zu saugen. Ich erinnere mich nicht, daß ich ihn länger als fünf Minuten lang verstimmt gesehen hätte, dann brach der unverwüstliche Sonnenschein seines Innern siegreich wieder hervor, und er wußte auch die schlimmste Sache so zu drehen und zu wenden, daß ein Rosenschimmer von ihr ausging. Er hatte in Hannover, wo wir zusammen das Polytechnikum besuchten, eine ganz geringe Unterstützung von Hause und erwarb sich das Notdürftige durch schlecht bezahlte Privatstunden; dabei schloß er sich aber von keiner studentischen Zusammenkunft aus und, was für mich das Rätselhafteste war, er hatte fast immer Geld, so daß er anderen etwas zu borgen vermochte. Eines Winterabends befand ich mich in der, ich muß es gestehen, nicht allzu seltenen Lage, daß meine sämtlichen Hilfsquellen versiegt waren, während mein Wechsel erst in einigen Tagen eintreffen konnte. Nach sorgfältigem Umdrehen aller Taschen und Aufziehen sämtlicher Schubladen hatte ich noch dreißig Pfennig zusammengebracht und mit diesem Besitztum; das einsam in meiner Tasche klimperte, schlenderte ich durch die Straßen, in eifriges Nachdenken über die vorteilhafteste Anlage dieses Kapitals versunken. In dieser Gedankenarbeit unterbrach mich Hühnchen, der plötzlich mit dem fröhlichsten Gesicht von der Welt vor mir stand und mich fragte, ob ich ihm nicht drei Taler leihen könnte. Da ich mich nun mit der Absicht getragen hatte, ein ähnliches Ansinnen an ihn zu stellen, so konnte ich mich des Lachens nicht enthalten und machte ihm die Sache klar. »Famos«, sagte er, »also dreißig Pfennig hast du noch? Wenn wir beide zusammenlegen, haben wir auch nicht mehr. Ich habe soeben alles fortgegeben an unseren Landsmann Braun, der einen großen Stiftungskommers mitmachen muß und das Geld natürlich notwendig braucht. Also dreißig Pfennig hast du noch? Dafür wollen wir uns einen fidelen Abend machen!«

Ich sah ihn verwundert an.

»Gib mir nur das Geld«, sagte er, »ich will einkaufen – zu Hause habe ich auch noch allerlei – wir wollen lukullisch leben heute abend – lukullisch, sage ich.«

Wir gingen durch einige enge Gassen der Ägidienvorstadt zu seiner Wohnung. Unterwegs verschwand er in einem kleinen, kümmerlichen Laden, der sich durch ein paar gekreuzte Kalkpfeifen, einige verstaubte Zichorien- und Tabakspakete, Wichskruken und Senftöpfe kennzeichnete, und kam nach kurzer Zeit mit zwei Tüten wieder zum Vorschein.

Leberecht Hühnchen wohnte in dem Giebel eines lächerlich kleinen und niedrigen Häuschens, das in einem ebenso winzigen Garten gelegen war. In seinem Wohnzimmer war eben so viel Platz, daß zwei anspruchslose Menschen die Beine darin ausstrecken konnten, und nebenan befand sich eine Dachkammer, die fast vollständig von seinem Bette ausgefüllt wurde, so daß Hühnchen, wenn er auf dem Bette sitzend die Stiefel anziehen wollte, zuvor die Tür öffnen mußte. Dieser kleine Vogelkäfig hatte aber etwas eigentümlich Behagliches; etwas von dem sonnigen Wesen seines Bewohners war auf ihn übergegangen.

»Nun vor allen Dingen einheizen«, sagte Hühnchen, »setze dich nur auf das Sofa, aber suche dir ein Tal aus. Das Sofa ist etwas gebirgig; man muß sehen, daß man in ein Tal zu sitzen kommt.«

Das Feuer in dem kleinen eisernen Kanonenofen, der sich der Größe nach zu anderen gewöhnlichen Öfen etwa verhielt wie der Teckel zum Neufundländer, geriet bei dem angestrengten Blasen meines Freundes bald in Brand, und er betrachtete wohlgefällig die züngelnde Flamme. Dieser Ofen war für ihn ein steter Gegenstand des Entzückens.

»Ich begreife nicht«, sagte er, »was die Menschen gegen eiserne Öfen haben. In einer Viertelstunde haben wir es nun warm. Und daß man nach dem Feuer sehen und es schüren muß, das ist die angenehmste Unterhaltung, die ich kenne. Und wenn es so recht Stein und Bein friert, da ist er herrlich, wenn er so rot und trotzig in seiner Ecke steht und gegen die Kälte anglüht.«

Hiernach holte er einen kleinen rostigen Blechtopf, füllte ihn mit Wasser und setzte ihn auf den Ofen. Dann bereitete er den Tisch für das Abendessen vor. In einem kleinen Holzschränkchen befanden sich seine Wirtschaftsgegenstände. Da waren zwei Tassen, eine schmale hohe, mit blauen Vergißmeinnicht und einem Untersatz, der nicht zu ihr paßte, und eine ganz breite flache, die den Henkel verloren hatte. Dann kam eine kleine schiefe Butterdose zum Vorschein, eine Blechbüchse mit Tee und eine runde Pappschachtel, die ehemals Hemdenkragen beherbergt hatte und jetzt zu dem Rang einer Zuckerdose aufgestiegen war. Das köstlichste Stück war aber eine kleine runde Teekanne von braunem Ton, die er stets mit besonderer Vorsicht und Schonung behandelte, denn sie war ein Familienerbstück und ein besonderes Heiligtum. Drei Teller und zwei Messer, die sich so unähnlich waren, wie das für zwei Tischmesser nur irgend erreichbar ist, eine Gabel mit nur noch zwei Zinken und einer fatalen Neigung, ihren Stiel zu verlassen, sowie zwei verbogene Neusilberteelöffel vollendeten den Vorrat.

Als er alle diese Dinge mit einem gewissen Geschick aufgebaut hatte, ließ er einen zärtlichen Blick der Befriedigung über das Ganze schweifen und sagte: »Alles mein Eigentum. Es ist doch schon ein kleiner Anfang zu einer Häuslichkeit.«

Unterdes war das Wasser ins Sieden geraten, und Hühnchen brachte aus der größeren Tüte fünf Eier zum Vorschein, die zu kochen er nun mit großem Geschick unter Beihilfe seiner Taschenuhr unternahm. Nachdem er sodann frisches Wasser für den Tee aufgesetzt und ein mächtiges Brot herbeigeholt hatte, setzte er sich mit dem Ausdruck der höchsten Befriedigung zu mir in ein benachbartes Tal des Sofas und die Abendmahlzeit begann.

Als mein Freund das erste Ei verzehrt hatte, nahm er ein zweites und betrachtete es nachdenklich. »Sieh mal, so ein Ei«, sagte er, »es enthält ein ganzes Huhn, es braucht nur ausgebrütet zu werden. Und wenn dies groß ist, da legt es wieder Eier, aus denen nochmals Hühner werden und so fort, Generationen über Generationen. Ich sehe sie vor mir, zahllose Scharen, die den Erdball bevölkern. Nun nehme ich dies Ei und mit einem Schluck sind sie vernichtet! Sieh mal, das nenne ich schlampampen!«

Und so schlampampten wir und tranken Tee dazu. Ein kleines, sonderbares, gelbes Ei blieb übrig, denn zwei in fünf geht nicht auf, und wir beschlossen, es zu teilen. »Es kommt vor«, sagte mein Freund, indem er das Ei geschickt mit der Messerschneide ringsum anklopfte, um es durchzuschneiden, »es kommt vor, daß zuweilen ganz seltene Exemplare unter die gewöhnlichen Eier geraten. Die Fasanen legen so kleine gelbe; ich glaube wahrhaftig, dies ist ein Fasanenei, ich hatte früher eins in meiner Sammlung, das sah gerade so aus.«

Er löste seine Hälfte sorgfältig aus der Schale und schlurfte sie bedächtig hinunter. Dann lehnte er sich zurück und mit halb geschlossenen Augen flüsterte er unter gastronomischem Schmunzeln: »Fasan! Lukullisch!«

Nach dem Essen stellte sich eine Fatalität heraus. Es war zwar Tabak vorhanden, denn die spitze blaue Tüte, die Hühnchen vorhin eingekauft hatte, enthielt für zehn Pfennig dieses köstlichen Krautes, aber mein guter Freund besaß nur eine einzige invalide Pfeife, deren Mundstück bereits bis auf den letzten Knopf weggebraucht war, und deren Kopf, weil er sich viel zu klein für die Schwammdose erwies, die unverbesserliche Unart besaß, plötzlich herumzuschießen und die Beinkleider mit einem Funkenregen zu bestreuen.

»Diese Schwierigkeit ist leicht zu lösen«, sagte Hühnchen, »hier habe ich den Don Quijote«, der, nebenbei gesagt, außer einer Bibel und einigen fachwissenschaftlichen Werken, seine ganze Bibliothek ausmachte und den er unermüdlich immer wieder las, »der eine raucht, der andere liest vor, ein Kapitel ums andere. Du als Gast bekommst die Pfeife zuerst, so ist alles in Ordnung.«

Dann, während ich die Pfeife stopfte und er nachdenklich den Rest seines Tees schlürfte, kam ihm ein neuer Gedanke.

»Es ist etwas Großes«, sagte er, »wenn man bedenkt, daß, damit ich hier in aller Ruhe meinen Tee schlürfen und du deine Pfeife rauchen kannst, der fleißige Chinese in jenem fernen Lande für uns pflanzt und der Neger für uns unter der Tropensonne arbeitet. Ja, das nicht allein, die großen Dampfer durchbrausen für uns in Sturm und Wogenschwall den mächtigen Ozean und die Karawanen ziehen durch die brennende Wüste. Der stolze millionenreiche Handelskönig, der in Hamburg in einem Palast wohnt und am Ufer der Elbe einen fürstlichen Landsitz sein nennt, muß uns einen Teil seiner Sorge zuwenden, und wenn ihm Handelskonjunkturen schlaflose Nächte machen, so liegen wir behaglich hingestreckt und träumen von schönen Dingen, und lassen ihn sich quälen, damit wir zu unserem Tee und unserem Tabak gelangen. Es schmeckt mir noch einmal so gut, wenn ich daran denke.«

Ach, er bedachte nicht, daß wohl der größere Teil dieses Tees an dem Ufer eines träge dahinfließenden Baches auf einem heimatlichen Weidenbaum gewachsen war, und daß dieser Tabak im besten Falle die Uckermark sein Vaterland nannte, wenn er nicht gar in Magdeburgs fruchtbaren Gefilden von derselben Rübe seinen Ursprung nahm, die die Mutter des Zuckers war, mit dem wir uns den Tee versüßt hatten.

Danach vertieften wir uns in den alten, ewigen Don Quijote und so ging dieser Abend heiter und friedlich zu Ende.

Auf dem Heimweg zu der jetzigen Wohnung meines Freundes hatte ich mir diese und ähnliche harmlose Erlebnisse aus jener fröhlichen Zeit wieder ins Gedächtnis gerufen, und eine Sehnsucht hatte mich befallen nach jenen Tagen, die nicht wiederkehren. Wohin war er entschwunden, der goldene Schimmer, der damals die Welt verklärte? Und wie würde ich meinen Freund wiederfinden? Vielleicht hatte die rauhe Welt auch von seinem Gemüt den sonnigen Duft abgestreift, und es war nichts übriggeblieben als eine spekulierende, rechnende Maschine, wie ich das schon an so manchen erlebt hatte.

Er sollte in der Gartenstraße wohnen, allein über die Hausnummer war ich nicht im klaren. Schon wollte ich in ein Haus gehen, das ich für das richtige hielt, und mich erkundigen, als ich auf zwei nette, reinliche Kinder von etwa fünf und sechs Jahren aufmerksam wurde, die sich vor der benachbarten Haustür auf eine für sie scheinbar köstliche Art vergnügten. Es war ein trüber Sommertag gewesen und nun gegen Abend fing es ganz sanft an zu regnen. Da hatte der Knabe als der ältere den herrlichen Spaß entdeckt, das Gesicht gegen den Himmel zu richten und es sich in den offenen Mund regnen zu lassen. Mit jener Begeisterung, die Kinder solchen neuen Erfindungen entgegenbringen, hatte das Mädchen dies sofort nachgeahmt, und nun standen sie beide dort, von Zeit zu Zeit mit ihren fröhlichen Kinderstimmen in hellen Jubel ausbrechend über dieses unbekannte und kostenlose Vergnügen. Mich durchzuckte es wie ein Blitz: »Das sind Hühnchens Kinder!« Dies war ganz in seinem Geiste gehandelt.

Ich fragte den Jungen: »Wie heißt dein Vater?«

»Unser Vater heißt Hühnchen«, war die Antwort.

»Wo wohnt er?«

»Er wohnt in diesem Haus drei Treppen hoch.« –

»Ich möchte ihn besuchen«, sagte ich, indem ich dem Knaben den reinlichen Blondkopf streichelte.

»Ja, er ist zu Hause«, war die Antwort, und nun liefen beide Kinder eilfertig mir voran und klasperten mit ihren kleinen Beinchen hastig die Treppen hinauf, um meine Ankunft zu vermelden. Ich folgte langsam, und als ich oben ankam, fand ich die Tür bereits geöffnet und Hühnchen meiner wartend. Es war dunkel auf dem Flur und er erkannte mich nicht. »Bitte, treten Sie ein«, sagte er, indem er eine zweite Tür aufstieß, »mit wem habe ich die Ehre?«

Ich antwortete nicht, sondern trat in das Zimmer und sah ihn an. Er war noch ganz derselbe, nur der Bart war größer geworden und die Haare etwas von der Stirn zurückgewichen. In den Augen lag noch der alte unverwüstliche Sonnenschein. Im helleren Licht erkannte er mich sofort. Seine Freude war unbeschreiblich. Wir umarmten uns und dann schob er mich zurück und betrachtete mich.

»Weißt du, was ich tun möchte?« sagte er dann, »was wir früher taten, wenn unsere Freude anderweitig nicht zu bändigen war; einen Indianertanz möchte ich tanzen, weißt du wohl noch wie damals, als deine Schwester sich mit deinem Lieblingslehrer verlobt hatte, und du vor lauter Wonne diesen Tanz erfandest und ich immer mithopste, aus Mitgefühl.« Und er schwenkte seine Beine und machte einige Sprünge, deren er sich in seinen jüngsten Jahren nicht hätte zu schämen brauchen. Dann umarmte er mich noch einmal und wurde plötzlich ernsthaft.

»Meine Frau wird sich freuen«, sagte er, »sie kennt dich und liebt dich durch meine Erzählungen, aber eins muß ich dir sagen; ich glaube, du weißt es nicht: Meine Frau ist nämlich« – hierbei klopfte er sich mit der rechten Hand auf die linke Schulter – »sie ist nämlich nicht ganz gerade. Ich sehe das nicht mehr und habe es eigentlich nie gesehen, denn ich habe mich in ihre Augen verliebt – und in ihr Herz – und in ihre Güte – und in ihre Sanftmut – kurz, ich liebe sie, weil sie ein Engel ist. Und warum ich dir das jetzt sage? Sieh mal, wenn du es nicht weißt, so möchtest du befremdet sein, wenn du meine Frau siehst, und sie möchte das in deinen Augen lesen. Nicht wahr, du wirst nichts sehen?«

Ich drückte ihm gerührt die Hand und er lief an eine andere Tür, öffnete sie und rief: »Lore, hier ist ein lieber Besuch, mein alter Freund aus Hannover, du kennst ihn schon!«

Sie trat ein und hinter ihr wieder die beiden freundlichen Kinder mit den rosigen Apfelgesichtern. Meines Freundes Warnung war nicht umsonst gewesen, und ich weiß nicht, ob ich in der Überraschung des ersten Augenblicks mein Befremden hätte verbergen können. Allein in den dunklen Augen dieser Frau schimmerte es wie ein unversieglicher Born von Liebe und Sanftmut, und schweres gewelltes Haar von seltener Fülle umgab das blasse Antlitz, das nicht schön, aber von dem Widerschein innerer Güte anmutig durchleuchtet war.

Nach der ersten Begrüßung meinte Hühnchen: »Heute abend bleibst du hier, das ist selbstverständlich. Lore, du wirst für eine fürstliche Bewirtung sorgen müssen. Tische auf, was das Haus vermag. Das Haus vermag freilich gar nichts!« sagte er dann zu mir gewendet, »Berliner Wirtschaft kennt keine Vorräte. Aber es ist doch eine wunderbare Einrichtung. Die Frau nimmt sich ein Tuch um und ein Körbchen in die Hand und läuft quer über die Straße. Dort wohnt ein Mann hinter Spiegelscheiben, ein rosiger, behäbiger Mann, der in einer weißen Schürze hinter einem Marmortisch steht. Und neben ihm befindet sich eine rosige, behäbige Frau und ein rosiges, behäbiges Ladenmädchen, ebenfalls mit weißen Schürzen angetan. Meine kleine Frau tritt nun in den Laden und in der Hand trägt sie ein Zaubertäschchen – gewöhnliche Menschen nennen es Portemonnaie. Auf den Zauber dieses Täschchens setzen sich nun die fleißigen Messer in Bewegung und säbeln von den köstlichen Vorräten, die der Marmortisch beherbergt, herab, was das Herz begehrt und der Säckel bezahlen kann. Meine kleine Frau läuft wieder über die Straße, und nach zehn Minuten ist der Tisch fertig und bedeckt mit allem, was man nur verlangen kann – wie durch Zauber.«

Seine Frau war unterdes mit den Kindern lächelnd hinausgegangen, und da Hühnchen bemerkte, daß ich die ärmliche, aber freundliche Einrichtung des Zimmers gemustert hatte, so fuhr er fort: »Purpur und köstliche Leinwand findest du nicht bei mir, und die Schätze Indiens sind mir noch immer fern geblieben, aber das sage ich dir, wer gesund ist« – hierbei reckte er seine Arme in der Manier eines Zirkusathleten, »wer gesund ist und eine so herrliche Frau hat, wie ich, und zwei so prächtige Kinder – ich bin stolz darauf, dies sagen zu dürfen, obgleich ich der Vater bin – wer alles dieses besitzt und doch nicht glücklich ist, dem wäre es besser, daß ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt und er versenkt würde in das Meer, da es am tiefsten ist!« Er schwieg eine Weile, schaute mich mit glücklichen Augen an und fuhr dann fort: »In der Zeit, da der Knabe erwartet wurde, ward meine Frau oft von bösen Gedanken gequält, denn die Furcht verließ sie nicht, ihr – nun daß sie nicht ganz gerade ist – möchte sich auf das Kind vererben und des Nachts, wenn sie dachte, ich schliefe, hörte ich sie manchmal leise weinen. Als dann aber der große Augenblick gekommen war und die weise Frau ihr das Kind zum erstenmal in die Arme geben wollte, da glitten ihre Augen mit einer ängstlichen Hast darüber hin und ein plötzlicher Freudenblitz zuckte über ihr Gesicht und sie rief: ›Er ist gerade! Nicht wahr, er ist gerade! O Gott, ich danke dir – ich bin so glücklich!‹ Damit sank sie zurück in die Kissen und schloß die Augen, aber auf ihren Zügen lag es wie stiller Sonnenschein. Ja, und was habe ich gemacht? Ich bin leise hinausgegangen in das andere Zimmer und habe die Tür abgeriegelt und habe mir die Stiefel ausgezogen, daß es keinen Lärm machen sollte und habe einen Indianertanz losgelassen, wie noch nie. Ein besonderes Glück ist, daß es niemand gesehen hat, man hätte mich ohne Zweifel direkt ins Irrenhaus gesperrt.«

Frau Lore war unterdes von ihrem Ausgang zurückgekehrt und bereitete nun in hausmütterlicher Geschäftigkeit den Tisch, während die beiden Kinder mit großer Wichtigkeit ihr dabei zur Hand gingen. Plötzlich sah Hühnchen seine Frau leuchtend an, hob den Finger empor und sagte: »Lore, ich glaube, heute abend ist es Zeit!« Die kleine Frau lächelte veständnisinnig und brachte dann eine Weinflasche herein und Gläser, die sie auf dem Tische ordnete. Hühnchen nickte mir zu: »Es ist Tokaier«, sagte er, »kürzlich, als ich das Geld für eine Privatarbeit erhalten hatte und es so wohlhabend in meiner Tasche klimperte, da bekam ich opulente Gelüste und ging hin und kaufte mir eine Flasche Tokaier, aber vom besten. Abends jedoch, als ich sie öffnen wollte, da tat es mir leid und ich sagte: ›Lore, stelle sie weg, vielleicht kommt bald eine bessere Gelegenheit.‹ Ich glaube, es gibt Ahnungen, denn eine plötzliche Erinnerung an dich ging mir dabei durch den Sinn.«

Wie heiter und fröhlich verlief dies kleine Abendessen. Es war, als sei der Sonnenschein, der einst in Ungarns Bergen diesen feurigen Wein gereift hatte, wieder lebendig geworden und fülle das ganze Zimmer mit seinem heiteren Schimmer. Die beiden Kinder bekamen von dem ungewohnten Getränk einen kleinen Spitz und konnten, als sie zu Bett gebracht waren, vor Lachen nicht einschlafen, bis sie plötzlich mit einem Ruck weg waren. Auf die blassen Wangen der kleinen Frau zauberte der ungarische Sonnenschein einen sanften Rosenschimmer. Sie setzte sich nachher an ein kleines dünnstimmiges, heiseres Klavier und sang mit anmutigem Ausdruck Volkslieder, wie zum Beispiel: »Verstohlen geht der Mond auf...« oder »Wär' ich ein wilder Falke...« Nachher saßen wir behaglich um den Tisch und plauderten bei einer Zigarre. Ich fragte Hühnchen nach seinen geschäftlichen Verhältnissen. Ich erfuhr, daß sein Gehalt bewunderungswürdig klein war, und daß er dafür ebenso bewunderungswürdig viel zu tun hatte. »Ja, früher, in der sogenannten Gründerzeit«, sagte er, »da war's besser, da gab's auch mancherlei Nebenverdienst. Wir gehen alle Jahre zweimal ins Opernhaus in eine recht schöne Oper, und damals haben wir uns gar bis in den zweiten Rang verstiegen, wo wir ganz stolz und preislich saßen und vornehme Gesichter machten und dachten, es käme wohl noch mal eine Zeit, da wir noch tiefer sinken würden, bis unten ins Parkett, von wo die glänzenden Vollmonde wohlsituierter, behäbiger Rentiers zu uns emporleuchteten. Es kamen aber die sogenannten schlechten Zeiten und endlich ereignete es sich, daß unser Chef einen Teil seiner Beamten entlassen und das Gehalt der anderen sehr bedeutend reduzieren mußte. Ja, da sind wir wieder ins Amphitheater emporgestiegen. Im Grunde ist es ja auch ganz gleich, ich finde sogar, die Illusion wird gefördert durch die weitere Entfernung von der Bühne. Und glaube nur nicht, daß dort oben keine gute Gesellschaft vorhanden ist. Dort habe ich schon Professoren und tüchtige Künstler gesehen. Dort sitzen oft Leute, die mehr von Musik verstehen, als die ganze übrige Zuhörerschaft zusammengenommen, dort sitzen Leute mit Partituren in der Hand, die dem Kapellmeister Note für Note auf die Finger gucken und ihm nichts schenken.«

Es war elf Uhr, als ich mich verabschiedete. Zuvor wurde ich in die Schlafkammer geführt, um die Kinder zu sehen, die in einem Bettchen lagen in gesundem, rosigem Kinderschlaf. Hühnchen strich leise mit der Hand über den Rand der Bettstelle: »Dies ist meine Schatzkiste«, sagte er mit leuchtenden Augen, »hier bewahre ich meine Kostbarkeiten – alle Reichtümer Indiens können das nicht erkaufen!«

Als ich einsam durch die warme Sommernacht nach Hause zurückkehrte, war mein Herz gerührt, und in meinem Gemüt bewegte ich mancherlei herzliche Wünsche für die Zukunft dieser guten und glücklichen Menschen. Aber was sollte ich ihnen wünschen? Würde Reichtum ihr Glück befördern? Würde Ruhm und Ehre ihnen gedeihlich sein, wonach sie gar nicht trachteten? »Gütige Vorsehung«, dachte ich zuletzt, »gib ihnen Brot und gib ihnen Gesundheit bis ans Ende – für das übrige werden sie schon selber sorgen. Denn wer das Glück in sich trägt in still zufriedener Brust, der wandelt sonnigen Herzens dahin durch die Welt, und der goldige Schimmer verlockt ihn nicht, dem die anderen gierig nachjagen, denn das Köstlichste nennt er bereits sein eigen.«

Die silberne Verlobung

Inhaltsverzeichnis

Vor einigen zwanzig Jahren sah die Chausseestraße in Berlin anders aus als jetzt. Vom Oranienburger Tore aus reihte sich an ihrer rechten Seite eine große Maschinenfabrik an die andere in fast ununterbrochener Reihenfolge. Den Reigen eröffnete die weltberühmte Lokomotivenfabrik von Borsig mit den von Strack erbauten schönen Säulengängen, dann folgten Egells, Pflug, Schwartzkopff, Wöhlert und viele andere von geringerem Umfang. In den Straßenlärm hinein tönte überall schallendes Geräusch und das dumpfe Pochen mächtiger Dampfhämmer erschütterte weithin den Boden, daß in den Wohnhäusern gegenüber die Fußböden zitterten, die Gläser klirrten und die Lampenkuppeln klapperten. Zu gewissen Stunden war die Straße ein Flußbett mächtiger Ströme von schwärzlichen Arbeitern, die aus all den Fabriktoren in sie einmündeten, und es gab eine Zeit, da in ihr jährlich mehr Lokomotiven gebaut wurden, als im ganzen übrigen Deutschland zusammengenommen. Diese Zeit ist längst vorüber und fast alle diese mächtigen Fabriken sind verschwunden; das ungeheure Steigen des Bodenwertes und die notwendig hohen Arbeitslöhne in einer Stadt, in der das Leben immer teurer wurde, haben ihnen den Garaus gemacht. Teils wurden sie nach auswärts verlegt in billigere Gegenden, wo der große Raum, den solche Fabriken beanspruchen, nicht Millionen, sondern nur Hunderte wert war, teils gingen sie auch zugrunde. Die Gebäude wurden abgebrochen, und die großen Plätze, auf denen sich damals eine mächtige Tätigkeit regte, sind jetzt bedeckt mit Straßen und jenen zellenreichen, himmelhohen Bienenstöcken, die man Mietskasernen nennt.

Ich lernte diese Gegend in jener früheren Zeit gut kennen, denn ich wohnte dort und habe auf dem technischen Büro einer jener großen Fabriken einundeinhalbes Jahr gearbeitet. Es war meine erste Stellung in Berlin. Der große Zeichensaal, in dem ich mit vielen anderen damals hauste, ist nun auch schon längst verschwunden, aber wie deutlich steht er mir noch vor Augen. Er lag an der Straße und erhielt seine Beleuchtung an beiden Langseiten durch eine stattliche Reihe von Fenstern, die ihr Licht auf viele große Zeichentische warfen. An jedem dieser Tische klapperte ein etwas stubenfarbiger Jüngling gar eifrig mit Reißschiene und Dreieck, und unablässig vernahm man das leise scharrende Geräusch der Bleistifte und Reißfedern. Von einem dieser Tische zu dem anderen begaben sich die Vorstände der verschiedenen Abteilungen, des Maschinenbaues, des Brückenbaues und des Lokomotivenbaues, und führten weise und erläuternde Gespräche mit ihren Untergebenen, tadelten gern und lobten selten. Fast nie ließ sich der Fabrikbesitzer in dem Zeichensaal sehen, denn diese ganze Art von Arbeit war dem rein praktischen Mann, der sich vom Schlossergesellen emporgearbeitet hatte, unsympathisch und erschien ihm, da es ja ohne das leider nicht ging, mehr als ein notwendiges Übel. Nur zuweilen, wenn er einen guten Bekannten oder einen großen Kunden persönlich in der Fabrik herumführte, tauchte der kleine, rundliche, stets grau gekleidete Mann mit diesem in der Tür des Saales auf und sagte mit einer zusammenfassenden Armbewegung: »Det sind nu meine Malersch.« Dann verschwand er wieder.

Die ganze Mitte dieses Saales wurde durch einen ungeheuren Tisch eingenommen, der zugleich als Schrank für die vielen Zeichnungen diente, die sich in einer großen Fabrik ansammeln. Aus seinen Seiten konnte man bis zum Boden herunter unzählige Fächer herausziehen, die angefüllt waren mit ölfleckigen und von Arbeiterfingern schwarz betupften Blättern aller Art und Größe, und auf der mächtigen Fläche dieses Tisches konnte man sie ausbreiten und besichtigen. Zuweilen hockte auch auf ihm ein besonders langbeiniger Zeichner, dem die Aufgabe zugefallen war, das Triebrad einer Schnellzugmaschine oder ein Schwungrad in natürlicher Größe zu entwerfen, für welches Zeichnungsmonstrum natürlich ein gewöhnlicher Tisch zu klein war. Er arbeitete daran mit einem Stangenzirkel von unabsehbarer Länge, einer überlebensgroßen Reißschiene und entsprechendem Dreieck. Bald kniete er auf dem Blatte, daß sein spitzes Hinterteil wie ein Gebirgsgipfel in die Luft ragte, bald lag er mit dem Bauch darauf wie ein Krokodil, das sich sonnt, bald auf der Seite gleich einem Seehund und schien sich bei dieser Art von Arbeit ganz besonders wohl zu fühlen.

Die drei Abteilungsvorstände nebst dem über dem Ganzen schwebenden Oberingenieur hausten für gewöhnlich in zwei seitwärts gelegenen, ineinandergehenden Zimmern und bildeten dort den Generalstab. Außerdem aber war in einem dieser Zimmer noch ein Mann untergebracht, der weder zu den gewöhnlichen Zeichnern und Konstrukteuren noch zu den befehlenden Geistern gehörte, sondern gleichsam eine Mittelstellung zwischen beiden einnahm. Er hieß Johannes Gram, und obwohl er eben siebenundvierzig Jahre alt war, so sprach von ihm jedermann doch nie anders als von dem »alten Gram«. Es gibt eben Menschen, die als alte Männer geboren werden. Ruchlose Spötter nannten ihn auch wohl, wenn er nicht dabei war, »das Neunauge«, denn es ging ein Gerücht, daß er außer seinen zwei gewöhnlichen noch sieben Hühneraugen besitze. Dieser Meinung entsprach auch der vorsichtig schleichende Gang, mit dem er den ganzen Tag in dem großen Büro herumschurrte und bald an diesem, bald an jenem Tisch weise und lehrreiche Gespräche führte, die sich nicht immer auf die vorliegende Arbeit, sondern auf alle möglichen Gegenstände bezogen, denn Herr Johannes Gram war ein Mann von allerlei Interessen. Nur für die Arbeit war er nicht allzusehr eingenommen, und sehr selten kam ein Blatt von seinem Zeichentisch hinaus in die Werkstatt. Jedoch, hatte er bald hier bald dort den ganzen Tag mit angenehmen Gesprächen zugebracht, auch bisweilen wohl einen Gang in das Kontor oder in die Werkstatt unternommen, so war es ganz sicher, daß sich so gegen dreiviertel sieben Uhr mit einemmal sein Gewissen regte. Dann unterbrach er sich plötzlich in der anregendsten Unterhaltung, sah nach der Uhr, schwenkte einigemal wie in großer Verwunderung über die eilige Flucht der Zeit seine Hand auf und nieder und ging so eilig wie er konnte in sein Zimmer an den Zeichentisch. Dann flog die Reißschiene, dann klapperte das Dreieck, dann fuhren in verspätetem Eifer die Linien über das Blatt, und wenn ihn dann um sieben Uhr jemand aufforderte, mit nach Hause zu gehen, hatte er nur eine abwehrende Handbewegung für ihn. So wütete er noch zehn bis fünfzehn Minuten weiter, bis sich das ganze Büro geleert hatte, und schlich dann ebenfalls in sein einsames Junggesellenheim.

Man wird sich fragen, wie bei der straffen Einrichtung eines solchen technischen Büros, wo von jedem einzelnen eine angestrengte Tätigkeit gefordert wird, eine solche Erscheinung möglich war. Ja, der alte Gram bildete eben eine Ausnahme. Er gehörte sozusagen zum Inventar des Büros und war von Anfang an dort gewesen, länger als irgendein anderer. Er hatte manche Herrscher und viele Beherrschte kommen und gehen sehen, er aber war geblieben, und ohne den alten Gram konnte man sich das Büro gar nicht vorstellen. Der Oberingenieur schalt zuweilen halb scherzhaft auf das »alte Fossil«, allein ihn wegen seiner Bummelei zur Rede zu stellen oder ihn gar zu entlassen, fiel ihm nicht ein. Er wußte wohl, daß dieser Mann in seiner Art unentbehrlich war. Denn in ihm vereinigte sich die ganze Geschichte der Fabrik, und von allem, was die Vergangenheit betraf, wußte er Bescheid zu geben. Fragte man nach irgendeiner Zeichnung, der alte Gram hatte sie auf den ersten Griff. Wollte man von einem Laufkran, einer Wasserhaltungsmaschine, einer Ölpresse etwas wissen, die vor Jahren gebaut waren, so kannte er alle ihre Eigentümlichkeiten und wußte, wie sie sich bewährt und welche Fehler und Vorzüge sie gezeigt hatten. Er nahm teil an den Beratungen des Generalstabs und sprach öfter dabei ein entscheidendes Wort, er war stets bereit, jedem der jüngeren Leute bei seiner Arbeit mit Rat und Tat beizustehen, und so verzieh man ihm, daß er in das Alter gekommen war, wo man nicht gern mehr den ganzen Tag mit dem Bauch auf dem Zeichentisch liegt.

Johannes Gram war mein Landsmann. Ich hatte ihn schon vor Jahren in Güstrow kennengelernt, wo er auf einer Reise kurze Zeit verweilte und das technische Büro, in dem ich beschäftigt war, besuchte. Er imponierte mir damals sehr. Denn er kam doch aus einer großen berühmten Fabrik der großen Stadt Berlin und war, was ich einst werden wollte, ein alter, erfahrener Ingenieur. Zudem zeichnete er sich dadurch aus, daß um seinen Mund fast stets ein ironisch-sarkastisches Lächeln spielte. Ich hielt ihn deshalb für einen weltüberlegenen Geist, vor dessen Augen die Menschheit nur ein Mückenschwarm ist, der im Sonnenschein spielt. Ich dachte es mir köstlich, seines Umganges gewürdigt zu werden und von seiner Weisheit Vorteil zu ziehen. Wenn er mit seinen wasserblauen Augen über die Brille hinweg mich mit diesem vernichtenden Lächeln anblickte, so kam ich mir außerordentlich gering und kleinstädtisch vor und sagte mir, daß ich noch viel an mir zu arbeiten hätte, um auf eine solche Höhe zu gelangen. Ach, ich wußte damals nicht, daß dies überlegene Lächeln weiter nichts war als eine leere Maske, hinter der sich eine abgrundtiefe, wehrlose Gutmütigkeit zu verbergen trachtete, und daß der Inhaber dieser künstlichen Grimasse kaum eine Ahnung von Ironie und Sarkasmus besaß. Ich dachte mir damals, dieser Mann müsse ungemein witzig sein, wenn er nur wolle, allein auch dies war eine gewaltige Täuschung, denn ich habe nie mehr als einen einzigen Witz von ihm gehört, den er noch dazu alljährlich an einem bestimmten Tag wiederholte. Am 22. Dezember nämlich, wenn eben der kürzeste Tag gewesen war, ging er in der Abenddämmerung im Büro herum und knüpfte überall ein kleines Gespräch an. Am Schluß dieses begann er sanft die Hände umeinander zu reiben, sah mit listigem Blick in den Abendhimmel und sagte mit einem Ausdruck unendlicher Schlauheit:

»Ja, ja, man merkt doch schon, wie die Tage länger werden.«

Dem Umstand der Landsmannschaft verdankte ich es, daß mein alter Wunsch in Erfüllung ging und ich seines Umganges besonders gewürdigt wurde, allerdings, ohne daß ich die geträumten Vorteile daraus zog. Er unterhielt sich mit mir gern über Mecklenburg, ein Land, das nach seiner Meinung ein Eldorado war, ein Ort, wo Milch und Honig fließt, wo es die größten Beefsteaks, die köstlichsten Schinken, die dicksten Mettwürste, die längsten Spickaale, die fettesten Gänse und die besten Äpfel gab, welche letzte Tatsache allerdings auf Wahrheit beruht. Eine Lieblingsgeschichte von dem übrigens gänzlich bedürfnislosen und für die eigene Person mit dem magersten Futter zufriedenen Mann war, wie er auf der vorhin erwähnten Reise in eine kleine Stadt gekommen sei und sich in seinem Gasthause ein kaltes Abendbrot bestellt habe. »Ich dachte mir natürlich«, sagte er, »es würde so 'n Teller voll Aufschnitt geben wie in Berlin, aber als ich in das Speisezimmer kam, da war da ein Tisch gedeckt wie für ein Dutzend ausgehungerte Kürassiere. Da lag ein Spickaal drauf, so lang wie mein Arm und auch so dick, und kalte junge Brathühner und 'n Tönnchen mit Neunaugen und eins mit Anchovis und kalter Hammelbraten und Koteletts und Ölsardinen und marinierte Heringe und Schinken und Wurst und Rauchfleisch und vier Sorten Käse, darunter Schafskäse, wofür ich mein Leben lasse, und noch mehr Sachen – ich konnte nicht alles auswendig lernen. Und das alles für mich allein, weil ich zufällig an dem Tag der einzige Gast in dem Hotel war. Es überwältigte mich ordentlich, als ich mich an den Tisch setzte, und ich hätte beinah weinen mögen, daß ich kein Esser bin. Ja, Mecklenburg ist ein schönes Land.«

Als er mir diese Geschichte zum drittenmal erzählt hatte, denn er gehörte zu den Leuten, die sparsam mit ihren Geschichten sind und möglichst oft von ihnen Gebrauch machen, da sah er eine Weile ganz verklärt vor sich hin und dann schien sich allmählich ein Gedanke in ihm auszubilden. Er begann nach seiner Gewohnheit die Hände umeinander zu reiben, sah mich über die Brille hinweg an, wozu er unbeschreiblich ironisch lächelte, und sagte mit einer gewissen vorsichtigen Schüchternheit:

»Möchten Sie wohl heute einmal bei mir echt mecklenburgisch zu Abend essen?«

Ich muß gestehen, daß ich erschrak, wie man immer erschrickt, wenn etwas ganz Unerwartetes geschieht. Sollten diese üppigen mecklenburgischen Tage schlemmerische Gewohnheiten in ihm erzeugt haben? Doch das stimmte ja gar nicht zu seiner sonstigen mehr als einfachen Lebensweise, zu seinem Frühstück, bestehend aus zwei trockenen Semmeln und einem Scheibchen Wurst und seinem Mittagstisch zu sechs Silbergroschen mit Schwarzbrot nach Belieben. Außerdem war es, soviel ich wußte, noch niemals vorgekommen, daß er jemanden eingeladen hatte; er galt allgemein für sehr knauserig und wurde gern mit seinen ersparten Schätzen geneckt, was er übrigens durchaus nicht mochte. Doch zerstreute er bald meine Besorgnisse, indem er fortfuhr:

»Natürlich so üppig geht es bei mir nicht her, ›so fett fiedelt Lux nich‹, nein, bei mir gibt es Pellkartoffeln mit Hering und Speckstippe, was für jeden guten Mecklenburger ein feines Gericht ist, und wo auch andere Nationen was für über haben. Wollen Sie?«

Ich fühlte mich natürlich sehr geehrt und sagte selbstverständlich zu. In diesem Augenblick sah der alte Gram nach der Uhr und bemerkte, daß es halb sieben war. Da er nun wegen dieser Einladung nicht wie gewöhnlich seine zehn bis fünfzehn Minuten nachsitzen konnte, so erwachte sein Gewissen heute ein wenig früher als sonst, er eilte unter den gewöhnlichen Ausdrücken hoher Verwunderung über die Flüchtigkeit der Zeit in sein Zimmer, und bald hörte ich an einem starken Schurren seiner Reißschiene und dem Klappern des Dreiecks, daß er mächtig an der Arbeit war.

Als ich um sieben Uhr kam, ihn abzuholen, hatte er sich bereits fertiggemacht, und wir begaben uns gemeinschaftlich zu seiner Wohnung, die in der Gartenstraße gelegen war. Unterwegs machte er einige Einkäufe, erstand in einem Keller nach sorgfältiger Auswahl zwei silberblanke Heringe und holte sich aus einem Gemüseladen eine Handvoll Zwiebeln. Er zeigte sie mir und sagte: »Als ich das erstemal in Berlin Zwiebeln kaufte, bekam ich nicht so viele. Ich war damals noch nicht lange hier und ging in den Keller und forderte etwas zaghaft für sechs Pfennige Zwiebeln. Die Frau sah eine Weile nachdenklich aus, dann nickte sie, weil sie wohl dahinterkam, was ich eigentlich wollte, und hatte unterdes auch wohl festgestellt, daß ich nicht von hier wäre. Ich bekam zwei kleine Dingerchen, die kaum zu sehen waren. Im Lauf der Zeit bin ich nun dahinter gekommen, wie man Zwiebeln kaufen muß. Jetzt gehe ich kühn und zuversichtlich in den Keller und fordere mit starker Stimme: ›Forn Sechser Bollen!‹ Sehen Sie, dann gibt's so viele!« schloß er und schaute mit wahrhaft mephistophelischem Grinsen auf seine gefüllte Hand.

Er wohnte in der Gartenstraße in einem häßlichen Haus. Die schmutzige Treppe und der Geruch nach aufgewärmtem Kohl, der dort herrschte, erweckten keine besonderen Erwartungen, um desto größer war meine Überraschung, als ich in sein sauberes und freundliches Wohnzimmer trat, das zwar einfach, aber nett und sehr reichlich mit Möbeln ausgestattet war. An den Fenstern standen schöne Blumen; es sah bei ihm so ordentlich und sauber aus wie bei einer alten Jungfer. Die Wohnung bestand aus zwei Zimmern, einem Kämmerchen und einer vollständig eingerichteten Küche, in die wir uns jetzt begaben. Meine Überraschung wuchs, denn ich hatte ihm nie mehr als das gewohnte etwas unwirtliche Chambregarniezimmer zugetraut. Und in dieser Küche fehlte nichts, was in eine zwar einfach, aber ordentlich eingerichtete Küche gehört. Das nötige Geschirr hing an den Wänden oder blinkte durch die Glasfenster des Küchenschrankes, und alles war sauber und ordentlich gehalten.

Der alte Gram zog sich seinen Hausrock an und band eine mächtige Küchenschürze vor. Sodann machte er sehr geschickt Feuer auf dem Herd, und ehe er begann die Kartoffeln zu waschen, von denen ein kleiner Vorrat vorhanden war, holte er ein weißgescheuertes Brett von der Wand, aus dem Küchenschrank ein Messer und aus der Speisekammer ein Stück Speck, legte alles auf den Küchentisch zu den Zwiebeln und fragte: »Würden Sie sich wohl getrauen, diesen Speck in viertelzöllige Würfel und diese Zwiebeln in feine Löckchen zu zerschneiden?«

»O natürlich«, sagte ich sehr zuversichtlich, »ich koche selbst und mache mir fast jeden Abend meine Karbonade oder mein Beefsteak.«

»Ei, ei, sehr interessant«, sagte er, »wie machen Sie denn das Beefsteak? Vielleicht kann man da noch etwas lernen. Es gibt verschiedene Methoden.«

»Zunächst«, antwortete ich, »kaufe ich mir ein halbes Pfund Schabefleisch.«

»Üppig, üppig!«, meinte er, »anderthalb Viertel ist schon sehr reichlich.«

»Sodann lege ich dies Fleisch zu Hause auf ein Blatt weißes, starkes Papier und halte es gegen den Ofen.«

»Warum gegen den Ofen?« fragte er höchst verwundert.

»Nun, auf dem Tische bauzt es so, daß man es im ganzen Hause hören kann, denn nun nehme ich meinen Stiefelknecht und wamse das Fleisch so furchtbar durch, daß es nur noch in den Fetzen zusammenhängt. Das schadet nichts, denn in der Pfanne zieht sich alles wieder zusammen.«

»Das stimmt«, sagte er befriedigt, »aber was den Stiefelknecht betrifft – Stiefelknecht ist gut!« Und er grinste vor Vergnügen wahrhaft teuflisch.

»Ich benutze ihn nur zu diesem Zwecke«, sagte ich entschuldigend; »zum Stiefelausziehen habe ich einen anderen. Sodann salze ich das Fleisch und mache auf meinem Spiritusschnellkocher in einer kleinen Weißblechpfanne wenig Butter braun, so braun, daß sie nicht im geringsten mehr schreit, sondern ganz mausestill ist. Denn das Beefsteak soll nicht schmoren, sondern braten, und so muß erst alles Wasser heraus aus der Butter. Dann bekommt nämlich das Fleisch einen so mordsmäßigen Schreck, wenn ich es nun plötzlich in das heiße Fett lege, daß es sich sofort mit einer Haut überzieht, die den Saft nicht auslaufen läßt.«

Der alte Gram nickte sehr wohlwollend zu der Fülle meiner Kenntnisse.

Ich aber fuhr fort: »Ist es nun auf der einen Seite gut, dann hebe ich es eine Weile heraus, bis die Butter zum zweitenmal still wird, und nun kommt die andere Seite dran. Ist auch diese gut, lege ich das Beefsteak auf einen Teller, und nun mache ich etwas mehr Butter braun als das erstemal. Da hinein kommen die Zwiebeln, die ich schön braun brate. Diese Sauce muß so heiß werden, daß das Beefsteak schreit, wenn sie drüber gegossen wird. Dieses sieht dann, mit krausen Zwiebellöckchen bedeckt, schön dunkel, glänzend und appetitlich aus und nicht blaß und hellgrau, in ausgetretenem Safte schwimmend, wie Dilettanten es zurechtzuschmoren pflegen.«

»Alle Achtung«, sagte der alte Gram und legte die Hand militärisch an seine Schläfe, »Sie dürfen heute Speckstippe machen.«

Unterdes war er nicht müßig gewesen, hatte seine Kartoffeln gewaschen und aufgesetzt, und nun machte er sich im Wohnzimmer zu schaffen, während ich mich meiner angewiesenen Arbeit mit großer Hingebung widmete und wahrhaft ideale Speckwürfel und Zwiebellöckchen zustande brachte. Als er nun seine Kartoffeln gekocht, das Wasser abgegossen und sie zum Abdampfen auf den warmen Herd gestellt hatte, brachte ich dann auch eine Speckstippe zustande, die die Küche mit einem wahrhaft bezaubernden Duft erfüllte und den alten Gram, der gerade wieder aus dem Wohnzimmer kam, zu lüsternem Schnuppern verführte.

Wir trugen auf. Der alte Gram hatte sauber den Tisch gedeckt und es sah wirklich nicht aus wie in einer Junggesellenwirtschaft. Als nun von den Kartoffeln nur noch ein Haufen Pellen, von den Heringen ein paar traurige Gräten und von der bewundernswürdigen Speckstippe gar nichts mehr da war, sagte der Gastgeber: »Ich könnte nun wohl von der Tochter meiner Aufwärterin, die hier auf demselben Flur wohnt, ein paar Flaschen Bier herumholen lassen, aber es war heut' ein kühler Tag und der Regen klatscht schon wieder an die Fenster. Ich denke, wir machen uns ein Grögchen!«

Ich hatte nichts dagegen, obwohl wir Anfang Juli hatten, denn ich stammte aus einer Gegend in der Nähe des Seestrandes, wo man den »ostpreußischen Maitrank« auch im Sommer fleißig genießt, und wo man die Geschichte erzählt, daß ein bei solchem Anblick erstaunter Fremdling auf seine Frage: »Aber Leute, was trinkt ihr denn im Winter?« die Antwort erhalten habe: »Viel Grog!«

Das erwärmende und belebende Getränk machte meinen Wirt noch mitteilsamer, als er heute schon war. Beim zweiten Glas merkte ich, daß er sich mit dem Gedanken trug, mir etwas anzuvertrauen, allein er kam nicht hinaus über die Anfänge und Andeutungen, die ich nicht verstand. Endlich schien er Mut zu fassen, sah mich eine Weile forschend an und sagte dann: »Ist es Ihnen nicht aufgefallen, wie vollständig eingerichtet ich bin?«

»Jawohl«, antwortete ich, »eine förmliche kleine Aussteuer«.

»Ja, Aussteuer, das ist das richtige Wort, und Sie haben noch nicht alles gesehen.« Damit öffnete er die Tür zu seinem geräumigen Schlafzimmer und ließ mich hineinschauen. Ich sah dort in der beginnenden Abenddämmerung eine gute und vollständige Einrichtung für zwei Personen. Das andere Bett stand an der Wand dem seinen gegenüber, war hoch mit überzähligen Kissen bepackt und mit einem Laken zugedeckt, das sorgfältig an den Seiten eingestopft war.

»Wohl für Logierbesuch«, sagte ich, indem ich auf das zweite Bett deutete.

»Logierbesuch?« fragte er verwundert. »Ich habe nie Logierbesuch. Sie wissen übrigens doch, daß ich verlobt bin?«

Ich hatte allerdings gehört, daß er damit geneckt wurde. Es gab öde Spötter, die behaupteten, er heirate nur nicht, weil es zu teuer sei, nach dem Muster jenes Geizhalses, der aus Angst vor den Begräbniskosten nicht sterben konnte und uralt wurde.

»Ah so«, sagte ich, »dann steht die Hochzeit wohl bald bevor und dies ist die Aussteuer Ihrer Braut?«

»Es ist meine Aussteuer«, sagte er fast mit etwas stolzer Betonung, »und wann die Hochzeit sein wird, das weiß Gott. Es ist ein Hindernis da. – Der Alte will nicht. – Wir warten –«, schloß er resigniert.

»Ihre Braut ist doch mündig?« fragte ich.

Er mußte unwillkürlich lächeln. »Ja mündig ist sie wohl, aber wo denken Sie hin. Ohne den Willen des Vaters? Dabei ist kein Segen.«

Wir waren in das Wohnzimmer zurückgekehrt und setzten uns wieder. Es dunkelte, der Regen prickelte ans Fenster und auf dem Tisch sang leise der Wasserkessel über einer kleinen Spiritusflamme. Die Dämmerung schien ihm Mut zu machen, er rückte ein paarmal auf seinem Stuhl hin und her und begann dann: