Legacy of Stars 1: Gezeichnetes Schicksal - Dana Müller-Braun - E-Book

Legacy of Stars 1: Gezeichnetes Schicksal E-Book

Dana Müller-Braun

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Beschreibung

Die Legenden besagen, dass einst eine königliche Familie das Himmelszelt erhellte. Doch die Sterne fielen. Und die Familie wurde getrennt.  Shedir ist ein gefallener Stern. Sie besitzt die Gabe, Schicksale zu lesen und zu lenken. Doch weil ihresgleichen gejagt und verachtet wird, versucht sie, nicht aufzufallen. Bis sie dem Kronprinzen begegnet und sein Schicksal sieht. Shedir erkennt, dass sie ihn vor einem grausamen Tod retten kann. Dafür benötigt sie ausgerechnet die Hilfe von Lior. Lior, der Bruder des Kronprinzen, der Blutprinz. Der Mann, der im ganzen Reich dafür bekannt ist, Sterne zu jagen und zu töten. Und obwohl er ihren Untergang bedeuten könnte, bringt er ihr Herz ungewollt zum Brennen und offenbart ihr, was sie wirklich ist: ein Stern der königlichen Familie des Himmels. Nur wenn alle Familienmitglieder ihre Mächte vereinen, können sie das Schicksal des Kronprinzen und des Königreichs verändern. Doch sind sie bereit, ihr Erbe anzuerkennen und Shedir zu folgen?   »Gezeichnetes Schicksal« ist eine fesselnde High Fantasy mit knisternder Enemies to Lovers-Romance und Spice. //Alle Romane der royalen Sternen-Romantasy »Legacy of Stars«: -- Band 1: Gezeichnetes Schicksal -- Band 2: Gefallene Finsternis Diese Reihe ist abgeschlossen.// 

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Dana Müller-Braun

Legacy of Stars. Gezeichnetes Schicksal

Shedir ist ein gefallener Stern. Sie besitzt die Gabe, Schicksale zu lesen und zu lenken. Doch weil Ihresgleichen gejagt und verachtet werden, versucht sie, nicht aufzufallen. Bis sie dem Kronprinzen begegnet und sein Schicksal sieht. Shedir erkennt, dass sie ihn vor einem grausamen Tod retten kann. Dafür benötigt sie ausgerechnet die Hilfe von Lior. Lior, der Bruder des Kronprinzen, der Blutprinz. Der Mann, der im ganzen Reich dafür bekannt ist, Sterne zu jagen und zu töten. Und obwohl er ihren Untergang bedeuten könnte, bringt er ihr Herz ungewollt zum Brennen und offenbart ihr, was sie wirklich ist: ein Stern der königlichen Familie des Himmels. Nur wenn alle Familienmitglieder ihre Mächte vereinen, können sie das Schicksal des Kronprinzen und des Königreichs verändern. Doch sind sie bereit, ihr Erbe anzuerkennen und Shedir zu folgen?

»Gezeichnetes Schicksal« ist eine fesselnde High Fantasy mit knisternder Enemies to Lovers-Romance und Spice.

Wohin soll es gehen?

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Hinweis des Verlags

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Content Note

Vita

© privat

Dana Müller-Braun wurde Silvester '89 in Bad Soden im Taunus geboren. Geschichten erfunden hat sie schon immer – mit 14 Jahren fing sie schließlich an ihre Fantasie in Worte zu fassen. Als das Schreiben immer mehr zur Leidenschaft wurde, begann sie Germanistik, Geschichte und Philosophie zu studieren. Wenn sie mal nicht schreibt, baut sie Möbel aus alten Bohlen, spielt Gitarre oder verbringt Zeit mit Freunden und ihrem Hund.

Für Marvin

 

und die Sterne, die uns zueinanderführten.

Vorbemerkung für die Leser*innen

Liebe*r Leser*in,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Triggerwarnung. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler für den Roman enthält.

Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du während des Lesens auf Probleme stößt und/oder betroffen bist, bleib damit nicht allein. Wende dich an deine Familie, Freunde oder auch professionelle Hilfestellen.

Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.

Dana Müller-Braun und das Carlsen-Team

KAPITEL1

Mit leisen Schritten schleiche ich durch die Gassen von Asher. Ich habe keine Ahnung, warum ich mich wie eine Diebin oder ein Kind benehme, das hier zu später Stunde nicht draußen sein darf. Aber das Gefühl, beobachtet zu werden, lässt mich nicht los, also sehe ich mich nervös um. Normalerweise ist es bereits Mitternacht, wenn ich nach Ende meines Arbeitstages das übrig gebliebene Essen ins Waisenhaus gebracht habe. Heute war im Burgfried allerdings so wenig los, dass ich noch Zeit bis zur Nachtruhe habe. Und die werde ich in einer Schenke verbringen – in einer, in der nicht ich die Bedienung bin. Einfach nur, um mal etwas anderes zu sehen als das, was ich täglich zu Gesicht bekomme. Als ich allerdings nach einem weiteren prüfenden Blick die Straße hinunter in die Schenke eintrete, wird mir relativ schnell klar, dass das hier nichts anderes ist. Wie auch im Burgfried wird der niedrige Raum von Rauch und lauten Stimmen erfüllt. Die Luft ist stickig und der drückende Gestank nach Alkohol und Tabak beinahe vertraut.

In der Ecke sitzt ein Mann und spielt Lieder auf der Klampfe. Etwas, das es im Burgfried nicht gibt, weil Murra Musik nicht mag. Ansonsten ist auch die Einrichtung ziemlich ähnlich. Die Wände bestehen aus Lehm und Ziegelsteinen, so wie auch die Decke, von der metallene Kronleuchter herunterhängen, an denen Kerzen flackern. Immer wieder tropft etwas von dem Wachs auf die alten Holztische darunter, an denen Männer und Frauen sitzen und Krüge mit Soetbeer trinken. Sie sind nicht ganz so edel angezogen wie die Adeligen, die auf dem Weg in die Hauptstadt Nastras bei Murra einen Trunk nehmen wollen, und benehmen sich ausgelassener. Einige der Frauen sitzen auf dem Schoß der Männer. Ich steuere den Schanktisch an und warte, bis eine junge Frau zu mir tritt. Nachdem ich mir einen Met bestellt habe, steuere ich einen Tisch in der hintersten Ecke an. Als ich mich hingesetzt habe, prüfe ich noch einmal meine innere Barriere.

Viel hat mir Mutter nicht über mein Erbe und meine Mächte beigebracht. Nur das eine: Ich musste lernen, wie ich mein Licht vor anderen verberge. Es ist zwar nicht so, dass jeder das Licht von Asteria sehen kann, aber die Gefahr, auf einen Fengari zu treffen, ist allgegenwärtig. Innerlich fahre ich die Barriere entlang, prüfe, dass es keine Risse oder Schwachstellen gibt.

Als ein Mann an meinen Tisch tritt, werde ich so heftig aus meinen Gedanken gerissen, dass ich erschrocken mein Glas zurückziehe und etwas von dem dunkelroten Met auf mein altes, braunes Kleid tropft.

»Ich wollte Euch nicht erschrecken«, sagt er und hält mir eine Stoffserviette entgegen. Ohne ihn anzusehen, lehne ich ab, damit er nicht auf die Idee kommt, mir Gesellschaft zu leisten. »Ich habe lediglich bemerkt, dass Ihr allein hier seid.«

Genervt ziehe ich die ranzige Luft durch meine Nase ein und hebe dann doch den Blick. Er ist recht stattlich, seine Augen sind allerdings bereits rot unterlaufen. Auch seine Haltung deutet darauf hin, dass er längst einige Mets zu viel hatte.

»Ich warte hier auf jemanden«, lüge ich.

»Ich könnte Euch Gesellschaft leisten, bis Eure angebliche Begleitung erscheint.« Demonstrativ suchend sieht er sich um. »Allerdings sehe ich niemanden.«

Kurz schließe ich die Lider und balle meine Hand unter dem Tisch zur Faust. Ruhig bleiben, Shedir. »Danke, nein.«

Es ist nicht so, als wäre ich hergekommen, um allein zu sein. Im Gegenteil. Vermutlich habe ich gehofft, jemanden zu treffen, mit dem ich Spaß haben kann. Jemanden, der mich diese Welt und all die Bilder, die ich tagein, tagaus zu sehen bekomme, vergessen lässt. Auch wenn das damit verbunden ist, dass ich mich konzentrieren muss, um meine Kraft zu unterdrücken. Aber ich weiß relativ schnell, wem ich nah kommen will und wem nicht. Und dieser Kerl hier passt nicht in mein Schema. Mila würde sagen, dass ich ihn nicht riechen kann. Vielleicht liegt es daran. Auch wenn er viel zu weit weg steht, als dass ich wirklich an ihm schnuppern könnte.

Trotz meiner Ablehnung zieht er den Stuhl nach hinten und will sich gerade setzen, als ich mich vorbeuge und ihn fest ansehe. »Ich sagte Nein.«

»Das hier ist ein freier Platz in einer freien Schenke.«

Wütend verdrehe ich die Augen und will mich erheben, um mich an den Tresen zu setzen, da erscheint ein anderer junger Mann hinter dem betrunkenen Kerl.

»Entschuldige, dass ich so spät bin«, sagt er und greift nach der Stuhllehne. Sofort lässt der andere Mann los und sieht seinen Gegenspieler mit erhobenen Brauen an.

»Man sollte eine Dirne nicht allein in einer Schenke warten lassen.«

»Nenn sie noch einmal Dirne und du wirst nie wieder auch nur irgendeine Schenke aufsuchen können«, knurrt er und funkelt ihn böse an. Seine Augen sind fast silbrig glänzend.

Zum Glück sieht der Kerl seine Niederlage ein und zieht sich zurück. Der junge Mann setzt sich mir gegenüber und ich mustere ihn, während er das Gleiche zu tun scheint. Seine schmalen Lippen, die gerade Nase und diese silbrigen Augen, die von dichten schwarzen Wimpern und dunklen Haaren umrahmt werden. Seine Statur ist groß und drahtig. Er passt in mein Schema.

Und wenn ich seinen Blick richtig deute, tue ich das ebenfalls.

»Danke«, sage ich und trinke von meinem Met.

»Willst du heute Abend Gesellschaft?«, fragt er geradeheraus.

Ich nicke.

»Gut, dann hole ich noch Getränke.« Er erhebt sich und geht zum Schanktisch, wo die Schankdame umgehend zwei andere Gäste stehen lässt, um ihn zu bedienen. Als er wiederkommt, stellt er mir einen weiteren Met hin, setzt sich und nippt an dem Whiskey, den er sich bestellt hat. »Wo kommst du her?«, fragt er und sieht sich kurz um, bevor mich sein silbriger Blick wieder trifft.

Ich kann es nicht abstreiten. Er sieht verdammt gut aus und besitzt diese mächtige, fast düstere Aura, die ich schlichtweg ansprechend finde. Mila sagt immer, dass man sich für das, was man anziehend findet, nicht schämen muss. Und vor allem nicht rechtfertigen. Also versuche ich das gar nicht erst.

»Hier aus Asher«, antworte ich, auch wenn ich jetzt nicht mehr hier lebe. Genau genommen gibt es für das, wo ich lebe, keine Bezeichnung außer Burgfried. Und das klingt ziemlich erbärmlich. »Woher stammst du?«

»Aus Nastras. Aber da bin ich nicht oft. Nastras ist langweilig.«

Ich verziehe den Mund. Vielleicht mag es für diejenigen, die dort leben, langweilig sein. Ich hingegen wünsche mir bereits mein ganzes Leben, auch nur ein einziges Mal durch die Gassen unserer Hauptstadt gehen zu dürfen.

»Spielst du gerne?«, wechselt er das Thema und beugt sich ein wenig vor. Sein Mundwinkel zuckt anzüglich. Mein Puls beschleunigt sich.

»Das tue ich, ja«, sage ich langsam und verenge meinen Blick auf diese anrüchige Art. Ich kenne meinen Körper und ich weiß genau, was ich tun muss, um Männern zu zeigen, was ich will.

»Dann spielen wir ein Spiel«, raunt er und leckt sich über seine Lippen. »Ich weiß, warum du hier bist. Du hast es bereits ausgestrahlt, als du diesen Raum betreten hast. Fast als würdest du etwas Verbotenes tun.« Es ist wirklich etwas Verbotenes oder eher etwas Gefährliches, denn immerhin besteht jederzeit die Möglichkeit, dass ich meine Barriere nicht aufrecht halte und enttarnt werde. Aber das kann er nicht wissen.

»Und warum bin ich hier?«, will ich herausfordernd wissen und frage mich, ob das bereits das Spiel ist.

»Du bist hier, um mit jemandem zu schlafen. Und du hast mich auserwählt.«

»Ach, habe ich das?« Ich setze ein liebliches Lächeln auf und funkle ihn herausfordernd an. Seine Augen leuchten.

»Hast du. Ich weiß, wie mich Frauen ansehen, wenn sie mich vögeln wollen. Abgesehen davon sieht mich fast jede Frau so an.«

»Ist das noch Selbstbewusstsein oder pure Arroganz?«, hake ich lächelnd nach.

»Eine Mischung aus beidem und Erfahrung, würde ich sagen.«

Ich zucke mit den Schultern. »Was für ein Spiel spielen wir also?«

»Meine Wenigkeit schläft nur mit Frauen, die ich auch kenne. Also lernen wir uns kennen. Wir stellen uns Fragen und müssen ehrlich antworten. Aber die Fragen müssen besonderer Art sein.«

»Nenn mir ein Beispiel«, entgegne ich, lehne mich nach hinten und lasse das Glas in meiner Hand kreisen, nachdem ich einen großen Schluck genommen habe. Die Wahrheit kann für jemanden wie mich den Tod bedeuten.

»Warum ich und nicht er?«, fragt er und deutet auf den Kerl, der es zuvor bei mir versucht hat.

»Ich konnte ihn nicht riechen«, antworte ich mit einem Grinsen.

»Die Antworten müssen ein wenig ausführlicher sein«, tadelt er mich mit einem schelmischen Lächeln.

»Er ist nicht die Art Mann, die ich anziehend finde. Sein Bart ist zu lang und seine Augen sahen nicht ehrlich aus. Vielleicht, weil er betrunken war, aber sie sind nicht ansatzweise so besonders wie deine. Außerdem hat er nicht diese anziehende Arroganz ausgestrahlt, die du an den Tag legst. Und das gefällt mir.«

»Das nenne ich mal ehrlich.« Anerkennend verzieht er den Mund.

»Ich bin an der Reihe. Warum hast du dich eingemischt?«

»Weil ich bereits, als du die Schenke betreten hast, entschieden habe, dass ich es sein werde, den du dir krallst. Leider hast du nicht einmal einen Seitenblick auf mich geworfen.« Er deutet auf den Tisch schräg hinter mir. »Dort habe ich gesessen.«

»Und warum …«

»Ich bin dran«, unterbricht er mich und hebt einen Mundwinkel. »Hast du Geschwister?«

Die Frage ist seltsam und meiner Meinung nach nicht wirklich besonders, dennoch schüttele ich den Kopf. »Keine leiblichen Geschwister. Aber da ich hier in Asher in dem Waisenhaus gelebt habe, gibt es den ein oder anderen, der mir ähnlich nahesteht.«

Er nickt, also stelle ich die Frage, die ich gerade schon stellen wollte. »Warum wolltest du, dass ich dich wähle?« Obwohl er unsere Nacht durch dieses Spiel nach hinten schiebt, gefällt es mir, dass er Interesse hat. Es ist schön, begehrt zu werden. Nicht auf die Art, wie es die Männer in der Schenke tun, wenn ich sie bediene. Sondern eine echte, wertschätzende Anziehung.

»Ehrlich gesagt, weil du aussiehst, als könnte man ziemlich viel Spaß mit dir haben. Außerdem bist du wirklich verdammt attraktiv.«

Ich presse die Lippen aufeinander, als sein Blick über die mit Metflecken besudelten Leinen gleitet, als hätte er nie etwas Betörenderes gesehen.

»Hast du Geschwister?«, frage ich, weil es ihm wichtig zu sein schien.

»Ja, ich habe einen Bruder. Und einen Cousin und eine Cousine, mit denen ich aufgewachsen bin. Sie sind wahrscheinlich so etwas wie deine Freunde aus dem Waisenhaus für dich.« Er räuspert sich. »Wann hast du das letzte Mal mit jemandem geschlafen?«, fragt er und erwischt mich damit kalt. Auf der einen Seite würde ich gerne weiterhin die Frau sein, die er in mir zu sehen scheint. Die wilde Dirne, die mit vielen Männern vögelt. Auf der anderen Seite ist dies hier ein Spiel, das auf Ehrlichkeit beruhen sollte. Doch ehrlich kann ich nur bis zu einem bestimmten Punkt sein. Warum ich so lange niemandem nah war, muss ich für mich behalten. Es hat mich viel Kraft gekostet, heute herzukommen. Immer wieder meine Barriere zu kon­trollieren ist anstrengend.

»Es ist lange her«, gebe ich also zu.

»Etwas genauer?«, hakt er nach und reckt seinen Kopf.

»Ich bin dran«, wiederhole ich seine Ermahnung. Er nickt und deutet auf mich, damit ich weitermache. Also wage ich den Sprung nach vorne. »Wie viele Fragen noch, bis du mich zu dir einlädst?«

Ihm entfährt ein heiseres Lachen und er nimmt einen Schluck seines Whiskeys. »Ich habe doch gesagt, dass ich in Nastras lebe, also werde ich dich nicht zu mir einladen. Allerdings habe ich ein Zimmer hier. Wir könnten das Spiel also nach oben verlagern, wenn du das bevorzugst.«

Ich stocke und meine Brust beginnt zu brennen. Nur weiß ich nicht, ob es Verlangen oder Angst ist. Was, wenn ich auf seinem Zimmer bin und meine Entscheidung dann bereue? Wenn ich seinen Tod doch sehe. Ihn spüre. Und einfach nur wegrennen will.

»Bevor du dich entscheidest, hier meine Frage. Warum heute? Warum hast du dich heute entschieden vögeln zu wollen, wenn du so lang darauf verzichtet hast?«

Ich mustere ihn. Eine wirklich gute Frage und genau die, vor der ich Angst hatte, denn die ganze Wahrheit könnte ich ihm niemals sagen. »Es war eine Mischung aus vielem. Ich hatte früh Feierabend und ehrlich gesagt bin ich es leid allein einzuschlafen.«

»Also willst du jemanden, der bei dir liegt, und nicht jemanden, der dich durchnimmt?«

Bei der Ausdrucksweise verziehe ich das Gesicht und ignoriere, dass es bereits seine zweite Frage war.

»Beides. Ich will jemandem wieder auf diese Art nah sein und neben ihm schlafen. Ergibt das irgendeinen Sinn?«

»Ja«, antwortet er ehrlich und sieht mich an, als wäre er aus genau demselben Grund hier. Nur, dass er sich nicht vor grausamen Bildern fürchten muss. »Würdest du mich in mein Zimmer begleiten?« Aus seinen silbernen Augen sieht er mich so intensiv an, als könne er mir bis tief in die Seele schauen. Instinktiv überprüfe ich noch einmal meine Barriere, auch wenn ich weiß, dass sie intakt ist. Wäre er ein Fengari, würde er als Mond mein Sternenlicht reflektieren und mich sofort als Asteri enttarnen, was meinen sicheren Tod bedeuten würde. Innerlich schüttele ich den Kopf über mich. Genau um mal einen Abend diesen Gedanken zu entfliehen, bin ich doch hier. Zudem wissen wir beide, dass das hier nur eine einmalige Sache zwischen zwei Fremden sein wird. Da ändert ein Spiel auch nichts dran. Dennoch fühle ich mich ihm seltsamerweise verbunden.

»Gerne«, sage ich und atme tief durch, bevor ich meinen Met in einem Zug leere. Er lacht, erhebt sich und hält mir seine Hand hin. Kurz zögere ich und konzentriere mich, meine Macht auszuschalten. Als ich seine Finger dann ergreife, geht er mit mir zum Schanktisch und bestellt eine Flasche Met, die er mitnimmt. Ich atme erleichtert aus, als ich keine Bilder zu sehen bekomme. Wir gehen eine schmale Treppe hinauf und doch lässt er meine Hand nicht los. Erst als er eine Holztür aufschließt und mir die Tür öffnet, lösen sich unsere Finger. Ich trete ein und sehe mich in dem spärlich beleuchteten Zimmer um. Es gibt nicht viel hier. Ein Holzbett, einen Schrank und einen Waschtisch.

»Ich hoffe, das ist ein ausreichender Standard für Mylady.«

Schnaubend drehe ich mich zu ihm um- »Wir wissen beide, dass ich eine Dirne bin, genau wie der Kerl da unten es gesagt hat.«

Lachend schließt er die Tür hinter sich. »Eine Dirne schläft für Geld mit Männern. Und die wäre sicher bereits verhungert, wenn sie lange nicht ihrer Arbeit nachgegangen wäre.«

Er öffnet die Flasche, reicht sie mir und setzt sich dann auf das alte klapprige Bett. Ich trinke einen Schluck und tue es ihm dann nach.

»Wie heißt du?«, fragt er, lehnt sich nach hinten und stützt sich mit seinen Ellbogen ab.

»Ich bevorzuge es, wenn wir anonym bleiben.«

Er lacht. »Warum? Weil dich deine anderen Verehrer sonst immer ausfindig und dir Anträge gemacht haben?«

Ich stimme in sein Lachen ein und nehme einen weiteren Schluck, bevor ich ihm die Flasche reiche.

»Ich finde es einfach spannender«, sage ich halb ehrlich. Seinen Namen zu wissen und meinen Namen aus seinem Mund zu hören würde das hier auf eine andere Stufe heben. Und das ist das Letzte, was ich will. Eigentlich will ich nicht einmal dieses Kennenlernspiel. »Außerdem möchte ich hiernach einfach weiterleben wie zuvor und nicht immer an diesen Hans denken, mit dem ich eine unvergessliche Nacht hatte.«

»Hans?«, fragt er belustigt.

Ich nicke. Hans ist hier kein gängiger Name, aber ich habe als Kind einmal einen Mann kennengelernt, der so hieß. Er war einer der vielen Geliebten meiner Mutter und sie sprach ständig über Hans, der sie verlassen hatte. So etwas will ich nicht.

»Meinst du wirklich, dass dich ein Name davor schützt, sollte klar werden, dass wir unglaublich guten Sex und eine tolle Nacht miteinander haben?«

Ich zucke mit den Schultern. »Einen Versuch ist es wert.« Dann drehe ich mich zu ihm und sehe ihn ernst an. »Was willst du noch wissen, bevor du mich ausziehst und …«

Er hebt die Hand und steht auf. »Langsam«, raunt er beschwichtigend und fährt sich dann durch sein Haar. Ist jetzt etwa er derjenige, der kalte Füße bekommt?

»Was ist los?«

»Ich …« Er zögert.

Auffordernd hebe ich meine Brauen. »Du?«

Er hebt seine Hände und umschließt meine, ohne zu antworten. Wärme zuckt durch meinen Körper. Da sind keine Bilder. Es ist verrückt, wie diese winzige Berührung so viel in mir auslösen kann. Aber wahrscheinlich ist es nur der Tatsache geschuldet, dass ich so lange niemanden berührt habe. Zumindest keinen Menschen, den ich anziehend finde.

»Möchtest du noch ein letztes Spiel mit mir spielen?«, fragt er mit kratziger, düsterer Stimme.

Ich nicke, ohne zu fragen, worum es geht. Aber die Art, wie er spricht, lässt meinen Körper beben.

Siegessicher und auch ein wenig gefährlich grinst er, als er die Flasche abstellt, mich nach hinten schubst und sich über mich kniet.

»Keine Küsse. Keine Berührungen.«

»Was?«, stoße ich irritiert hervor. Natürlich macht es das für mich leichter. Aber deshalb bin ich nicht hier.

Er hebt einen Mundwinkel. »Es wird dir gefallen, ich verspreche es dir.«

Das bezweifle ich. Das einzige Königreich, in dem die Menschen laut Volksmund prüder sind, ist Karrak. In Lishan, Manswek und Nimue ist Sex etwas vollkommen Natürliches. Auch ich bin kein prüder Mensch, aber es hat mich Überwindung gekostet, heute herzukommen. Und ehrlich gesagt auch einiges an Überzeugungsarbeit von Mila. Ich kenne mich ziemlich genau und wenn ich auf dieses Spiel eingehe, werde ich das nächste Jahr ebenfalls ohne jegliche Berührung und Vergnügen verbringen.

»Ich bin wegen etwas anderem hergekommen und mit dir aufs Zimmer gegangen«, sage ich ehrlich, komme mir aber fast vor, als würde ich betteln. Und das fühlt sich beschissen an. Er lehnt sich ein wenig zu mir hinab und fast ist es, als könne ich seine Berührung spüren. Aber das ist nur sein Atem, der meinen Nacken und mein Ohr streift. Ich erschaudere.

»Was würdest du denn lieber machen?«, fragt er leise. Seine Stimme an meinem Ohr ist wie eine zarte, vielversprechende Berührung. Ich schlucke hart.

»Ich würde dich gerne küssen.« Sein Gesicht taucht dicht vor meinem auf, aber kurz bevor sich unsere Lippen berühren, stoppt er und pustet leicht gegen sie. Alles in mir prickelt. Meine Kehle schnürt sich zu.

»Und dann? Lass mich raten … dann soll ich deinen Hals küssen.« Mit den Worten wandert er hinab und pustet sanft gegen meinen Hals und mein Dekolleté. »Dann deine Brüste …«

Mir entfährt ein Seufzen, obwohl er mich nicht berührt. Er achtet sogar peinlich genau darauf, dass sein Unterleib und seine Arme, die neben meinem Körper abgestützt sind, mich nicht einmal touchieren. »Wahrscheinlich soll ich dich dann ausziehen.« Jetzt hebt er doch eine Hand und öffnet die Knöpfe meines Kleides an der Brust, bevor er mein Mieder abstreift und mein Oberkörper entblößt ist.

»Das würde ich als Berührung werten. Und damit gibt es Punktabzug für dich«, sage ich siegessicher.

»Berührungen zählen nur auf der nackten Haut«, kontert er.

»So?«, frage ich und fahre mit meinem Finger seinen inneren Oberschenkel hinauf. »Das zählt also auch nicht?« Sein Gesicht verkrampft sich und die Kraft, die er aufbringen muss, steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er wandert weiter hinab.

»Dann würde ich deinen Bauch küssen«, haucht er und pustet einen Kreis um meinen Bauchnabel. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, es wären seine Finger, die mich zart berühren und mir so viel mehr versprechen. Plötzlich senkt er seinen Schritt auf meinen und ich spüre seine Härte zwischen meinen Beinen.

Sein Blick senkt sich auf meine Brüste, bis er mir wieder in die Augen schaut. Obwohl in seinen Augen pure Lust, beinahe schon Gier, steht, weiß ich, dass er nicht weitergehen wird. Ich sehe es. Spüre es. Und ein Teil von mir ist froh darüber. Vor allem, weil ich da noch etwas in seinen Augen erkenne. Ehrfurcht, Respekt, Wertschätzung und Bewunderung. Ob und wann ich je zuvor so angeschaut wurde, weiß ich nicht. Aber das ist mehr wert als eine schnelle Nummer zweier Fremder. Vielleicht wäre es besser gewesen, heute Nacht mal loszulassen und Spaß zu haben. Aber ich bin nicht irgendjemandem begegnet, sondern ihm. Ich mag ihn und er scheint auch mich zu mögen. Und genau das würde diese ganze Sache verkomplizieren und am Ende würde ich genauso leiden wie meine Mutter. Wegen irgendeinem Kerl, mit dem ich gerade einmal ein paar Stunden verbracht habe.

Er hebt seinen Körper von meinem und legt sich neben mich. Als ich mich erhebe, setzt er sich ebenfalls auf und sieht mich fragend an. Seinen Blick ignorierend knöpfe ich die Bluse meines Kleides zu und binde dann das Mieder wieder fest.

»Du bleibst doch hier, oder?«, fragt er fast unsicher. Dennoch schwingt da noch diese düstere Arroganz in seiner Stimme mit – als hätte ich ihn durch meine Zurückweisung beleidigt.

»Es ist besser, wenn ich zu Hause schlafe.« Zuhause. Dieses Wort klingt seltsam im Zusammenhang mit dem winzigen, schäbigen Zimmer, in dem ich lebe.

»Bitte bleib.« Er legt seine Finger auf meinen Unterarm. »Du bist doch auch hergekommen, um neben jemandem zu schlafen, oder?«

Ich verziehe den Mund. Das war nicht genau das, was ich wollte, weil es wieder etwas wäre, das mich an ihn bindet. Schon jetzt spüre ich in mir das Verlangen nicht nur seinem Körper nah zu kommen, sondern auch seiner Seele. Es ist, als würden mir die Sterne zuflüstern, dass unsere Schicksale miteinander verwoben sind.

»Ich …« Unsicher stehe ich auf.

»Bitte.« Sein Blick trifft meinen und das ist der Moment, in dem ich entscheide, mich zurück in das Bett zu legen, mir von ihm die Decke überlegen zu lassen und meinen Kopf auf seine Brust zu legen.

»Aus irgendeinem Grund bist du besonders. Und ich werde herausfinden, warum«, raunt er dicht neben meinem Ohr.

Angst, dass er durchschaut, wer ich bin, klettert meine Kehle hinauf. Aber da ist auch ein warmes Gefühl, weil ich mich durch ihn genauso besonders fühle.

KAPITEL2

»Shedir! Achtung!« Milas Warnung kommt gerade noch rechtzeitig. Völlig abgelenkt von den Reitern des Prinzen, die gerade den Burgfried unten im Hof betreten, habe ich das Tablett in meiner Hand so schief gehalten, dass ich beinahe meinem Gast den Met über den Schoß gegossen hätte. Ehrlich gesagt waren es nicht wirklich die Reiter, die mich unachtsam haben werden lassen, sondern die Erinnerung an ihn. Wohl eher die Hoffnung, dass er dabei sein könnte. Ein naiver Optimismus, schließlich ist er nicht ein einziges Mal hier aufgetaucht, seit ich mich bei Morgengrauen aus seinem Zimmer geschlichen habe. Vor genau einem Jahr und zwei Monaten habe ich auf seinen schlafenden Körper hinabgeblickt und mich entschieden, ihm eine Nachricht dazulassen, wo er mich finden kann. Wie töricht von mir zu glauben, dass er wirklich eines Tages nach mir suchen würde. Und noch einfältiger, nach all der Zeit immer noch darauf zu hoffen.

Rasch stelle ich den Met vor dem alten bärtigen Mann ab, der jeden Tag in der Schenke seine Abende bis tief in die Nacht fristet. Mila und ich fragen uns schon eine ganze Weile, was er hier eigentlich tut, ob er irgendeine Aufgabe im Fried hat. Aber da wir uns außer hier in der Schenke nicht frei bewegen dürfen, habe ich keine Ahnung, was genau er arbeitet.

Schnell werfe ich einen letzten Blick durch das Fenster und sehe, wie weitere Reiter und Königswachen den Innenhof betreten. Doch sie passieren nicht einfach das Tor, das hinein in das Innere der Burg weiter nach Nastras führt, sondern scheinen in der Schenke verweilen zu wollen. Also bei uns.

»Komm schon, hop hop, Shee«, brummt Murra, der Gastwirt.

Ich winke ab und verdrehe die Augen, als ich bei Mila ankomme, die bereits zwei Krüge in den Händen hält und noch einen dritten aufladen will. Ihr blaues Kleid wirkt sauber und gepflegt. Ganz im Gegensatz zu dem braunen, abgewetzten Ding, das ich trage. Selbst die Schnüre, die es an der Brust zusammenhalten, sind so alt, dass sie bald reißen werden. Erst dann mache ich mir Gedanken über Ersatz. Mila hingegen scheint ihren Hungerlohn für bessere Stoffe zu verwenden. Und wahrscheinlich pflegt sie ihre Kleider häufiger als ich. Meines hat seit Wochen keine Seife und Wasser gesehen.

»Lass dich von dem Vollidioten nicht hetzen«, flüstere ich und lege meine Hand auf ihre Schulter.

»Ich bin auf die Anstellung angewiesen, Shee. Das weißt du genau.« Ihre Stimme ist gedämpft und dennoch laut genug, damit ich sie in dem brummenden Lärm hier hören kann. Wir haben das vermeintliche Flüstern über die Jahre zwischen Kriegern, Handelsmännern und einfachen Säufern, die alle gleichermaßen in lautem, tiefem Ton ihre heroischen Geschichten in Form von Monologen von sich geben, perfektioniert. Wird dieses Soliloquium allerdings durch einen Sitznachbarn unterbrochen und somit zu einem Streitgespräch, könnten wir uns die Geheimnisse auch zuschreien, ohne dass uns jemand hört.

»Ich ebenfalls«, gebe ich kleinlaut zurück.

Sie nickt und setzt diesen »Dann solltest du deinen Arsch bewegen«-Blick auf. Wie ich das hasse.

»Ich bin nun mal ein Freigeist.«

»Auch Freigeister brauchen Nahrung und einen Platz zum Schlafen. Außerdem redest du dir das nur ein. In Wahrheit wartest du nur auf ein Abenteuer, das dich mitreißt. Und dann wirst du tun, was das Leben von dir verlangt.«

Ich lächle sie an. Wahrscheinlich ist es genau so. Aber Abenteuer platzen nicht einfach so in ein Leben. Zumindest nicht in meines. Und das, obwohl ich als Asteri geboren wurde. Als Stern. Mit der Macht, Sternenwind zu erzeugen und das Schicksal der Menschen, das in den Sternen steht, zu lesen. Aber seit der Kronprinz weiß, dass er sterben wird und keiner etwas in den Sternen findet, was ihn retten kann, werden wir gejagt. Also halte ich mich von Abenteuern fern. Lediglich ein Mal im Jahr erlaube ich mir eine Ausnahme, damit ich in diesem tristen Wirtshaus nicht den Verstand verliere. Mila ist die Einzige noch lebende Person, die mein Geheimnis kennt.

»Für ein Abenteuer würde es sich lohnen, zu tun, was verlangt wird. Für irgendwelche alten Männer, die denken, sie wüssten mehr als ich, nicht.«

»Genau dieses Verhalten hat dich deine Lehre in der Sternengelehrten-Gilde gekostet, Shee. Irgendwann musst du lernen, dass es so nicht geht.«

Weil sie bereits die zweite Runde verteilen will, nehme ich mir ebenfalls einen Krug Met und schnaufe. »Ich sehe nun mal mehr, als sich die Idioten erklären können. Soll ich lieber so tun, als wäre ich blind?«, flüstere ich so leise, dass nur sie es hören kann. Heute gibt es keine Streithähne unter unseren Gästen.

Mit Absicht wähle ich die Worte, als wäre ich genervt und würde gleichzeitig über allem stehen. In mir sieht es jedoch ganz anders aus. Eine Urkunde und das gusseiserne Abzeichen der Gilde der Sternengelehrten hätten bedeutet, dass ich wenigstens Menschen ihr Schicksal hätte lesen dürfen. Aber ohne dieses Siegel darf ich gar nichts tun. Und es tut weh. Wirklich körperlich und mental.

Ich bin keine Sternengelehrte, die als Mensch einfach nur lernt, die Gestirne zu deuten. Ich bin ein Asteri und spüre sie. Die Sterne im Himmel rufen nach mir, lassen mich nachts nicht schlafen und zeigen mir immer wieder schreckliche Schicksale. Vor allem wenn Krieger auf ihrem Weg hinaus aus der Burg ins Umland des Königreichs hier ihre letzte Stärkung zu sich nehmen und mich berühren. Am Anfang habe ich mich gefreut, dass den Bastarden, die Mila und mich wie Ware behandeln, der man einfach auf den Hintern hauen oder den Rock lüften kann, solch bittere Schicksale bevorstehen. Mittlerweile bin ich müde der Bilder. Müde und hilflos, weil ich nichts dagegen unternehmen darf. Und die Kraft, diese Vorsehungen bei Berührungen nicht zu sehen, kann ich nur mit sehr viel Anstrengung aufbringen. So wie damals, auch wenn mir das Spiel dieses Fremden zugutekam. Ich war vorbereitet. Sonst bin ich das fast nie.

Erst vor zwei Tagen habe ich unabsichtlich den Arm eines jungen Mannes gestreift, dessen Tod ich sofort sehen konnte. Gleichzeitig konnte ich aber auch erkennen, wie leicht er es verhindern könnte. Er hätte sich nur krankmelden müssen. Denn das Gehuste, das er auf die trockene Luft in der Schankstube geschoben hat, ist eine Lungenentzündung, die er auskurieren müsste. Ich weiß, dass er das nicht tut und in ein paar Tagen daran sterben wird. Weil ich nichts machen darf. Weil der Bruder des Kronprinzen eine Hetzjagd gegen uns Asteria heraufbeschworen hat. Weil …

Seufzend schiebe ich die Gedanken beiseite und setze wieder meine kühle Maske auf, um mit ihr zu einem Menschen zu werden, der stark, selbstbewusst, erhaben und abgeklärt zu sein scheint.

Mila stößt mich leicht mit der Hüfte an und deutet mit einem Nicken zur Tür. »Sieh an. Vielleicht stolpert dort gerade dein Abenteuer herein.«

Ich sehe zu dem jungen Mann, der gerade durch die Tür tritt. Sofort spüre ich die Enttäuschung, weil es nicht er ist. Gerade will ich Mila fragen, was das mit einem Abenteuer zu tun haben soll, bis mir das Tier in seinem Arm auffällt. Ein junger Silberluchs. Ich stelle den Met ab und gehe auf ihn zu.

»Er ist verletzt«, erklärt der Fremde und wirft mir einen skeptischen Blick zu. So, als wäre ich nicht die Person, nach der er hier gesucht hat. Er kann nicht wissen, dass ich auch die Lehre in der Heilkunde-Gilde angefangen habe. Bis ich rausgeflogen bin.

»Komm mit«, weise ich an und ziehe ihn mit mir in den kleinen Nebenraum, in dem Murra immer seinen Stammtisch abhält. Hier drin stinkt es nach Pfeifentabak und Cognac, aber es muss reichen. »Leg ihn auf den Tisch.«

Der junge Mann gehorcht und ich untersuche das kleine Wesen. Es wehrt sich kaum. Kein gutes Zeichen.

Sein Nacken ist nass und am Rücken kurz darunter hat er eine Bisswunde, die allerdings nicht so tief ist, dass sie tödlich wäre. Dennoch blutet sie, genau wie einige Kratzer in seinem Gesicht.

»Er wird wieder«, sage ich und deute auf das kleine lederne Täschchen an seiner Hüfte. »Ist das dein Heilkräuterbeutel?«

Jede Königswache ist verpflichtet, einen mit sich zu tragen. Die Gilde der Heilkunde hat es zusammengestellt, damit jeder Krieger sich zumindest im ersten Moment selbst versorgen kann. Der Fremde ist eindeutig ein Wachmann des Königshauses. Seine dunkle Kleidung, die lederbesetzte Brust und der schwarze Umhang, unter dem ich das Emblem von Nimue erkennen kann, verraten es.

»Ja«, gibt er ruhig von sich. Generell hat seine ganze Aura eine entspannende Wirkung auf mich. Sogar so sehr, dass ich keinerlei Unwohlsein verspüre oder Bedenken habe, mit ihm allein in diesem Raum zu sein.

Als er die Tasche abnimmt und mir reicht, achte ich genau darauf, seine Finger nicht zu berühren. Er ist hübsch, in meinem Alter und kümmert sich um verletzte Tiere. So jemand stolpert hier selten herein. Das will ich mir nicht durch die Bilder seines Tods zerstören. Krieger sterben oft sehr grausam. Dadurch, dass ich nicht nur als Zuschauer beiwohne, sondern all die Empfindungen der Sterbenden spüren kann, ist es fast, als würde ich den Tod am eigenen Leib erfahren.

Ich gehe zur alten Vitrine, hole einen klaren Schnaps heraus und beginne die Wunden zu reinigen. Der kleine Luchs faucht und fährt die Krallen aus. Sofort beugt sich der junge Mann vor und streichelt sein kleines Köpfchen.

»Alles wird gut«, raunt er und nickt mir zu.

Blinzelnd wende ich meinen Blick ab und mache weiter. Nehme die Kräuter, die ich brauche, und drücke sie vorsichtig auf die gereinigte Wunde, bevor ich sie verbinde. Die Kratzer im Gesicht tupfe ich nur ganz sanft mit einem in den Schnaps getränkten Tuch ab.

»Er braucht Wärme«, sage ich und deute auf den Kamin. »Wenn du ihn entzündest, kannst du ihn sicher hierlassen und ich kümmere mich morgen um ihn.«

»Ich würde lieber ein Zimmer für die Nacht nehmen. Habt ihr eines mit Kamin?«

Nachdenklich verenge ich die Augen. Hat er keine Pflichten am Hof? Kann er sich wirklich eine Nacht Zeit nehmen, um einen Silberluchs zu retten? Sie sind nicht gerade selten und werden viel gejagt. Dieser Biss stammt bestimmt von dem Hund oder Schakal eines Jägers.

»Ja, aber es ist nicht günstig«, gebe ich zurück und mustere seine Kleidung, die allerdings keinen Aufschluss über sein Vermögen gibt. Die Wachen tragen alle die gleiche schwarze Lederhose mit passender lederner Brustrüstung und einen dunklen Umhang darüber.

»Das geht in Ordnung.«

Ich fixiere ihn. »Wie ist dein Name?«

»Was hat das mit dem Zimmer zu tun?«

»Ich muss ihn eintragen«, antworte ich ruhig und gelassen. Dabei wissen wir beide, dass es eine Lüge ist. Golden reichen aus und das Zimmer gehört für eine Nacht ihm.

Das scheint auch er zu wissen, denn er holt Taler aus seiner Tasche und reicht sie mir. »Das sollte genügen.«

Ich zähle das Geld, nicke dann und reiche ihm eine Decke, die hier für Murras seltsamen Freund liegt, der immer friert. Der Fremde wickelt das Tier darin ein, nimmt es hoch und folgt mir dann.

»Der Gast nimmt das Königszimmer. Ich bringe ihn hin«, rufe ich Murra zu, der nur abwinkt und mir ein »Beeil dich gefälligst« zuwirft.

Ich brumme, stoße dann die Tür zum Gästebereich auf und gehe eine kleine Holztreppe hinauf. Ganz am Ende vom Gang öffne ich die Tür und strecke meinen Arm aus. »Kannst du selbst Feuer machen oder soll …«

»Das kriege ich gerade noch hin«, sagt er und schenkt mir ein überhebliches und doch freundliches Lächeln. Er geht an mir vorbei, legt den Luchs auf dem Bett ab und beginnt dann, Holz im Kamin zu stapeln.

Ich hole eine Kerze aus dem Flur, entzünde ihm das Nachtlicht und ein paar weitere Kerzen, bevor ich sie ihm reiche, damit er den Kamin leichter anfeuern kann.

»Ich bitte dich nur ungern, aber könntest du mir etwas zu essen bringen? Und auch etwas für ihn.« Er deutet auf den Luchs. »Vielleicht verrate ich dir dann auch meinen Namen.« Schelmisch hebt er einen Mundwinkel, was ihn noch attraktiver aussehen lässt.

»Du musst mich nicht mit fragwürdigen Gegenleistungen dazu bringen, meinen Job zu machen. Es ist meine Pflicht, dir Essen zu bringen, wenn du etwas bestellst. Also, was möchtest du haben?«

Als das Holz Feuer fängt und zu brennen beginnt, steht er auf und kommt auf mich zu. Automatisch weiche ich einen Schritt zurück, damit er mir nicht zu nah kommt.

»Eine Suppe vielleicht? Gerne ohne Fleisch.«

Ich nicke, drehe mich um und gehe. Etwas an ihm zieht mich an, jedoch anders als bei dem Fremden vor einem Jahr. Es ist keine körperliche Begierde, viel mehr flehen mich die Sterne an, sein Schicksal zu lesen. Dass uns etwas verbindet. Aber ich will seine Zukunft nicht sehen. Dieses eine Mal will ich so blind dafür sein wie all die anderen auch. Meine Gabe ist vielmehr ein Fluch. Schließlich war es auch ein Asteri, der vor Jahren den Tod des Kronprinzen vorhersah und so den Hass gegen uns alle schürte. Als wären wir schuld an dem, was für jeden Menschen in den Sternen steht, nur weil wir sie lesen und verstehen können.

Als ich mit einer würzigen Kartoffelsuppe, einer Schüssel Milch und einem Met zurückkomme, sitzt er vor dem Kamin auf dem Boden. Neben ihm liegt der kleine Luchs und schläft.

Vorsichtig, um das Tier nicht zu wecken, stelle ich das Tablett neben ihm ab und hocke mich dann zu ihm. »Warum tust du das?«

»Was? Den Luchs retten? Warum nicht?«

»Es ist nur ein Tier. Und nicht einmal ein seltenes.«

»Also muss etwas selten sein, damit es wert ist, gerettet zu werden? Zu leben?«

»Nein, ich …« Unter seinem eindringlichen Blick suche ich nach den richtigen Worten. »Ich kenne nur niemanden, der das getan hätte.«

»Jetzt kennst du jemanden.« Liebevoll streichelt er das silbrige Fell und nimmt dann einen Schluck Met.

»Shee!«, schreit Murra von unten.

Ich schrecke zusammen und erhebe mich augenblicklich. »Nach mir wird verlangt.«

»Kommst du wieder?«

Ich schaue dem Fremden ins Gesicht und suche in seinen Zügen nach einem Grund. Warum will er, dass ich wiederkomme? Spürt er auch, dass unsere Schicksale irgendwie verbunden sind? Nein, das kann nicht sein. Er kann kein Asteri sein. Nicht, wenn er so nah am Kronprinzen und dessen Bruder, dem Sternenschlächter, lebt. Wahrscheinlich hat er es einfach nur auf eine nette Nacht abgesehen. Es gibt viele Wachmänner des Königs, viele Krieger, die es bei Mila und mir versuchen. Einige haben uns sogar schon Geld geboten, als wären wir Dirnen und das hier ein Bordell. Aber wie einer von diesen Männern wirkt er nicht. Im Gegenteil. Seine Haare sind gewaschen und gepflegt. Genauso wie sein Gesicht und der gestutzte Bart. Seine Finger und Kleidung sind trotz seiner Anstellung sauber. Er scheint also aus gutem Hause zu stammen und dementsprechend auch gute Manieren zu haben. Allein dass er den kleinen Luchs gerettet hat und mir gegenüber höflich war, spricht dafür. Letzteres ist ziemlich rar gesät in dieser Schenke.

»Weil du später noch etwas zu trinken willst?«, frage ich, bevor ich die Tür schließe.

»Genau. Wenn du zwei Getränke mitbringst, könntest du dann sogar zusammen mit mir trinken.«

Zu perplex, um darauf zu antworten, trete ich die Flucht an und verschließe eilig die Tür hinter mir. Völlig abwesend bediene ich den Rest des Abends und antworte nicht einmal Mila, als sie mich fragt, was los ist. Immer wieder gleitet mein Blick zu den Damen, die mit ihren Männern hier sind. Reiche Adelige auf Reisen in die Burg oder von einem Besuch in der Stadt nach Hause. Ihre Kleider sind ausladend und prunkvoll. Seidener, sauberer Stoff mit aufgestickten Ornamenten und Perlen. Trotz des gedämpften Lichts schimmern sie und ich beginne, mich unwohl in meinem Kartoffelsack zu fühlen. Aber warum? Weshalb ist mir das plötzlich wichtig? Will ich diesem Kerl wirklich so sehr gefallen? Auch mein Unbekannter aus der Schenke in Asher damals war edler angezogen als ich und es hat mich keine Sekunde gestört. Aber vielleicht hat mich seine anschließende Ablehnung dazu gebracht, meine Kleidung und meine Stellung in der Gesellschaft dafür verantwortlich zu machen.

Seufzend räume ich einen Tisch ab. Wem will ich etwas vormachen? Ich bin genau das hier. Ein gescheitertes Mädchen, das im Körper einer Frau mit schmutzigem Gesicht, klebrigen Händen von all dem Met und in ranzigen Kleidern gefangen ist und Menschen mit wunderschöner teurer Kleidung bedient. In einer anderen Welt, in der der Bruder des Prinzen nicht entschieden hätte, Asteria zu jagen, hätte ich eine bekannte Schicksalsleserin werden können. Eine, die hoch angesehen und vielleicht sogar zu Festen ins Schloss eingeladen werden würde. So, wie es als Kind mein Traum war: nur ein einziges Mal im Schloss des Prinzen speisen und die Nacht in edlen Kleidern durchtanzen. Doch von diesem Traum weiß niemand etwas. Niemand außer Arvo, meinem besten Freund aus Jugendtagen. Wie jeder andere auf dieser Welt hat er mich eines Tages verlassen und ich stand allein da. Mit all meinen unerfüllbaren Träumen und gebrochenem Herzen.

Erst, als auch der letzte Gast verschwunden ist und Murra zu Bett geht, wende ich mich Mila zu. »Dieser Kerl von vorhin will, dass ich noch mal zu ihm aufs Zimmer komme.«

Sie hebt ihre Brauen und wirft mir einen lasziven Blick zu. »Und, gehst du?«

Ich zucke mit den Schultern und laufe in die Küche, um die Essensreste zu prüfen. Heute gibt es kaum Abfälle. Also werde ich erst morgen Abend zum Waisenhaus gehen, um Essen vorbeizubringen, in der Hoffnung, dass dann mehr übrig geblieben ist. Oder ich verstecke den Tag über Speisen, die ich mitnehmen kann. Heute war ich dafür zu sehr woanders mit meinen Gedanken.

»Warum denn nicht? Er sieht wirklich gut aus und wirkte freundlich. Es ist doch nur eine Nacht, Shee. Und das letzte Mal, wenn man es überhaupt so nennen kann, ist schon wieder ein Jahr her«, pflichtet Mila mir bei.

Meine Kehle gibt einen unschlüssigen Laut von sich. »Ich bin nicht wie du, Mila. Du kannst einfach einen Jungen küssen, mit ihm schlafen und am nächsten Tag deiner Wege gehen.«

»Einen Mann«, verbessert sie mich.

»Wie auch immer. Ich hingegen sehe immer wieder seinen Tod, wenn ich jemandem nahekomme.«

»Du hast es auch schon geschafft, das auszustellen. Außerdem wissen wir beide, dass es viel eher daran liegt, dass du immer noch diesem Kerl nachtrauerst.« Verständnislos schüttelt sie den Kopf.

Mit Ersterem hat sie recht. Aber ich bin mir sicher, dass es bei ihm nicht funktionieren wird. Allein seine Nähe lässt die Sterne auf mich einreden, dass ich seine Zukunft sehen soll. Als hätte ich keine andere Wahl.

»Ich weiß nicht. Und an dem Kerl aus Asher liegt es bestimmt nicht.«

»Na dann, geh hin und rede einfach nur mit ihm. Flirte ein wenig. Auch das ist besser, als jede Nacht allein in unseren Kammern zu hocken.« Sie verzieht den Mund und versteckt ein paar Äpfel ganz oben auf einem Schrank. »Und morgen bringst du dann alles, was übrig ist, und die Äpfel zum Waisenhaus.«

»Mh«, mache ich und sehe zum Krug mit dem restlichen Met.

»Wenn du nicht gehst, gehe ich. Ich bräuchte wirklich mal wieder …« Grinsend stößt Mila mich mit ihrer Hüfte an.

»Ist ja gut, ich gehe«, brumme ich, nehme den Krug und ein weiteres Glas in die Hand und nicke mir und ihr zu.

»Du schaffst das«, flüstert sie belustigt und hebt feierlich ihre Faust vor die Brust.

Lächelnd verdrehe ich die Augen und gehe die schmale Treppe hinauf. Als ich an seine Tür klopfe und nichts höre, bin ich fast dankbar und drehe mich sofort um. Doch bevor ich einen Schritt machen kann, springt die Tür hinter mir auf.

»Hast du plötzlich gelernt, wie anklopfen funktioniert?«, fragt er und lehnt sich lässig an die Tür.

»Keine Hand frei«, erkläre ich und hebe das Glas und den Krug, mit dem ich angeklopft habe.

Er grinst. »Komm rein.«

Als ich eintrete und erkenne, dass er immer noch sein Lager vor dem Kamin aufgeschlagen hat, setze ich mich und stelle alles ab. Mir wird schwindelig von der Wärme und vor allem von dieser Anziehung. Aber es ist keine körperliche, eher, als würden die Sterne mich zu ihm ziehen. Gleichzeitig würde ich am liebsten wegrennen. Was habe ich mir nur dabei gedacht?

Nachdem er die Tür geschlossen hat, setzt er sich zu mir und streift für den Bruchteil einer Sekunde meine Hand mit seinen Fingern. Unwillkürlich halte ich die Luft an, doch da ist nichts. Keine Bilder. Kein Schmerz. Einfach nichts. Ich verenge den Blick und berühre ihn absichtlich erneut, als ich über ihn greife, um sein Glas zu nehmen. Wieder nichts.

Könnte es wirklich sein, dass auch er ein Asteri ist? Das würde erklären, warum ich sein Schicksal nicht lesen kann. Oder ist es wie damals bei dem Kerl, bei dem ich ebenfalls nichts sehen konnte, weil ich all meine Kraft darauf verwendet habe, genau diese Bilder auszublenden? Bisher ist mir das allerdings nur einmal gelungen und wir haben uns kaum berührt.

Dadurch, dass meine Mutter der Meinung war, dass ich mein wahres Wesen verstecken muss, weil unser Ansehen sonst in Verruf geraten könnte, weiß ich fast nichts über meine Kräfte, außer wie ich sie verborgen halte. Nicht einmal Sternenwind kann ich absichtlich heraufbeschwören, geschweige denn, dass ich weiß, was er überhaupt wirklich bewirkt. Meine Mutter konnte es mir nicht erklären, weil sie kein Asteri war. Wir Sterne werden einfach geboren, wenn das Schicksal es so entscheidet.

Als ich uns beiden eingeschenkt habe und einen großen Schluck getrunken habe, sehe ich ihn an. »Warum sollte ich noch einmal wiederkommen?«, frage ich geradeheraus.

Sein Blick streift meinen nur kurz. Als hätte er Angst, mir zu lange in die Augen zu sehen. »Ich begrüße Gesellschaft.«

»Gesellschaft von jungen Frauen?«

Sein helles Lachen hallt durch den Raum. »Keine Sorge, deshalb habe ich dich nicht eingeladen herzukommen. Ich werde dich nicht berühren.«

Beinahe rutscht mir ein »Hast du bereits« heraus. Aber niemand achtet so genau auf flüchtige Berührungen wie ich.

»Also willst du was? Reden?«, hake ich stattdessen nach.

»Ja. Es ist nicht immer so einfach, jemanden am Hof zu finden, der einfach ganz normal mit mir redet.«

»Und warum? Bist du etwa der Kronprinz höchstpersönlich?« Ich lache, er allerdings sieht mich ernst an. Und so wirklich witzig finde auch ich es nicht, dass ich erneut an einen Kerl gerate, der nur reden und vor allem mich bloß nicht berühren will. Wirke ich so abstoßend?

»Nein, aber seine erste Wache.« Geräuschvoll atmet er aus. »Für die Menschen, denen wir begegnen, gibt es nur dieses eine Thema. Nur seinen Tod.«

Ich verziehe den Mund, weil ich offenbar wie immer viel zu unsensibel war. »Magst du ihn?«

»Den Kronprinzen?«, hakt er nach, nickt aber bereits. »Er ist mein bester Freund. Auch ich will nicht ständig die mitleidigen Blicke sehen und dabei zuhören, wie jedes Gespräch spätestens nach ein paar Sekunden auf seine Nachfolge gelenkt wird.« Wie von allein findet seine Hand das Fell des Silberluchs und streicht leicht darüber.

»Wie geht es ihm damit?«, frage ich und denke darüber nach, wie es für mich wäre, zu wissen, dass ich jung sterben würde und nichts dagegen tun könnte. Wäre es dann nicht vielleicht sogar besser, es nicht zu wissen und unbeschwert zu leben, bis es einfach aus dem Nichts passiert?

»Ich denke, nicht sonderlich gut. Sicherlich würde er sich auch gerne mit einem Menschen unterhalten, der ihn nicht bereits mental begraben hat.« Freudlos lacht er auf.

»Wo ist er jetzt?«, frage ich, um das Thema vom bevorstehenden Tod des Prinzen abzulenken. »Solltest du als seine erste Wache nicht immer bei ihm sein?«

»Er hat mich abgehängt. Dann habe ich den Luchs gefunden und bin hierher.«

»Wäre es da nicht deine Pflicht, nach ihm zu suchen, statt den Luchs zu pflegen?«

Er wiegt den Kopf hin und her und nippt an seinem Met. »Nein, Lunas braucht manchmal Zeit für sich allein. Die sollte ich ihm dann auch gewähren. Aber morgen kann er sich etwas anhören.« Der letzte Satz klingt fast ein wenig bitter, als wäre das eher für ihn statt für den Prinzen unangenehm. Aber ich kann auch die Zuneigung spüren, mit der er seinen Namen sagt. Generell scheint er ein fürsorglicher, empathischer Mensch zu sein. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass ich mich derart wohl in seiner Gegenwart fühle. Als würde ich das erste Mal jemandem begegnen, der mich nicht verurteilt. Der mehr von mir und meinem Wesen erfahren will und von dem auch ich alles wissen will. Innerlich strafe ich mich Lügen. Es gab bereits jemanden, der mir dieses Gefühl gegeben hat. Aber mit der Zeit des Wartens hat es sich in Verbitterung gewandelt. Nichts davon kann echt gewesen sein.

Wir reden die halbe Nacht und er hält sein Versprechen, mich nicht zu berühren. Vor allem frage ich ihn über die Burg aus und wie es im Palast aussieht. Das Schloss befindet sich inmitten Nastras, der Hauptstadt im Inneren der kilometerlangen Burgmauer. Der Fried dient als Schleusentor zwischen dem Umland und der Burg, weshalb ich leider die Stadt noch nie besucht habe.

Als mir immer wieder vor Müdigkeit die Augen zufallen, rapple ich mich auf, um mich zu verabschieden. Nachdem er mich zur Tür begleitet hat, berührt er mich doch. Ganz sanft streicht er über eine lange Narbe an meinem Unterarm. Ich habe sie mir zugezogen, nachdem meine Mutter starb und ich allein auf den Marktplatz gegangen war, um Essen zu klauen. Die Bilder vom Tod der Menschen haben mich so verängstigt, dass ich vom Marktplatz weggerannt bin und mich am Hafen von Asher in einem Fischernetz verfangen habe, das der Bootsmann gerade zum Flicken ausgelegt hat. Er war es auch, der dann meinen Arm nähte. Dass ich keine Sepsis bekam und da­ran gestorben bin, ist ein Wunder.

Der Fremde, der nach dieser Nacht kein Fremder mehr ist, dessen Namen ich aber noch immer nicht kenne, sieht mich an, als wäre er bei meiner Erinnerung gerade dabei gewesen.

»Wie war das mit den Berührungen?«, frage ich herausfordernd.

»Ich habe von ganz anderen Berührungen geredet«, sagt er leise und hebt einen Mundwinkel.

Mir wird schwindelig und ich spüre, wie mich Bilder erreichen wollen. Die Sterne schreien nach mir, meine Gabe zu nutzen und sein Schicksal zu lesen. Aber ich wehre mich. Ich will seinen Tod nicht sehen.

»Du hast etwas Besonderes an dir.«

Mir wird eiskalt, weil ich das schon einmal gehört habe. Um den Gedanken wegzuschieben, schnaube ich belustigt. »Sagst du das zu allen Frauen?«

Er schüttelt den Kopf. »Du kennst meinen Beruf. Ich lerne eher selten Damen kennen.«

»Dabei wäre es vielleicht sinnvoll, wenn der Prinz sich nach Damen umsieht. Er könnte eine heiraten und ein Kind mit ihr zeugen, um Nimue einen Nachfolger zu schenken. Eine Zukunft. Die Menschen reden nicht ständig über dieses Thema, weil sie ihm wehtun wollen. Sie haben Angst. Angst, dass die Feuerlande in den Krieg gegen uns ziehen, wenn Lunas stirbt und wir keinen König mehr haben.«

»Und ein kleines Kind könnte das ändern?«

Ich zucke mit den Schultern. »Dieses Kind wäre die Zukunft, für die es sich zu kämpfen lohnt. Also ja.«

»Und wie soll ich Lunas dazu bringen, sich innerhalb der nächsten Wochen zu verlieben?«

»Vielleicht reicht Sympathie für den Anfang. Liebe kann sich entwickeln und ich sage es nur ungern … aber er wird früh sterben. Die unsterbliche Liebe würde sie also beide nur zerstören, weil sie nicht unsterblich sind.«

Sein Gesichtsausdruck verdunkelt sich, wird ernst. Nachdenklich. Er brennt sich in meine Brust und damit meine Seele. Ich sehe so viel in seinen Augen. Angst. Tiefes Bedauern und doch einen Funken Hoffnung, nach dem er so gerne greifen würde.

»Danke«, sagt er schließlich und haucht mir einen Kuss auf die Wange. Warm und liebevoll. Obwohl sich mein Körper nicht bewegen will, zwinge ich meine Beine, gehe und fühle mich seit Langem befreit und wie eine ganz normale Frau. Wie jemand, der sich nicht immer selbst im Weg steht.

. . . . . .

Nachdem ich wenige Stunden Schlaf in meiner Kammer nachgeholt habe, eile ich wieder die schmale Treppe zum Königszimmer hinauf, um nach ihm und dem Luchs zu sehen. Doch er ist verschwunden. Den ganzen Tag über und auch den nächsten und übernächsten rede ich mir ein, dass es mir nichts ausmacht. Dass ich nicht einmal wollte, dass er sich verabschiedet oder ich ihn noch einmal sehe. Doch das enttäuschte Stechen in meiner Brust verrät mir etwas anderes. Schon wieder wurde ich wortlos stehen gelassen.

Nachdenklich falte ich die frisch gewaschene Decke und lege sie zurück auf das Sofa im Nebenzimmer, da höre ich Schreie von draußen.

»Der Prinz ist verletzt!«, ruft eine männliche Stimme.

Sofort erstarre ich. Wenn der Prinz hier ist, dann sicher auch er.

»Ist hier jemand, der helfen kann?« Es ist nicht seine Stimme. Das würde auch keinen Sinn ergeben, da er ja weiß, dass ich zumindest ein bisschen Heilkunst beherrsche.

Ich löse mich aus meiner Starre und laufe in den Schankraum.

Mein Herz beginnt zu rasen, als ich erkenne, wer da blutend, Arm in Arm mit zwei Königswachen, mitten in der Schenke steht. Er ist es, trägt aber andere Kleidung. Ein anderes Emblem auf seiner Brust und einen goldenen Kranz auf seinem Kopf.

Ich muss mich an der Theke abstützen, da ich befürchte, dass meine Beine versagen. Er ist keine Wache. Kein Fremder, der einfach nur einem verwundeten Tier geholfen hat. Kein normaler Kerl, der mich mochte. Er ist der Kronprinz von Nimue. Der zukünftige König unseres Königreichs. Und er ist verwundet.

KAPITEL3

Unbedacht eile ich auf ihn zu, remple einen Tisch an, an dem zwei Männer sitzen, und bleibe erst vor dem Prinzen stehen. Mein Blick huscht über seinen Körper und analysiert seine Wunden. Er blutet an der Stirn und der Hüfte. Stark. Sehr stark.

»Die Milz könnte getroffen worden sein«, stelle ich fest, als würde ich eher mit mir selbst reden.

Irritiert sieht mich die Wache an, weil er nicht mal die Chance hatte zu fragen, wer ich eigentlich bin. Dennoch schaut er fragend zum Gastwirt, der hinter seiner Theke stehen geblieben ist.