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ALT WERDEN IST NICHTS FÜR FEIGLINGE! - UNGESCHMINKT UND LIEBEVOLL ZUGLEICH ERZÄHLT DAVID FUCHS VOM SCHMALEN GRAT, DER DEN WUNSCH ZU HELFEN UND AUTONOMIE IM ALTER VERBINDET. BESUCH IN DER ALTERS-WG Schon vor Jahren hat Daniel sein LEBEN AUF DEM LAND hinter sich gelassen. Nun kehrt er für einen BESUCH BEI SEINEN VERWANDTEN zurück. Eigentlich will er nur kurz bleiben, um sein dort untergestelltes Auto abzuholen und sein Sabbatical anzutreten. Doch schon kurz nach der Ankunft tritt sein Vorhaben in den Hintergrund: ONKEL ALFRED IST DEMENT und ohne Unterstützung seiner Frau Klara zu kaum einem Schritt mehr fähig. Nachbar und Witwer Heinz ist mittlerweile bei den beiden eingezogen. Er kann nach einer Krebserkrankung NUR NOCH MIT HILFE EINES SPRACHCOMPUTERS KOMMUNIZIEREN. Der Alltag ist eine Bürde, nur am Laufen gehalten von DER RÜSTIGEN, ABER ÜBERFORDERTEN KLARA. Daniel ist erschüttert von den Verhältnissen in der Alters-WG. Anstatt sich ganz der AUFKEIMENDEN LIEBE zu seiner Kindheitsfreundin Maria zu widmen, versucht er ehrgeizig, seinen betagten Angehörigen das Leben zu erleichtern. Wie soll das bloß gutgehen? ALLTAG ZWISCHEN VERANTWORTUNG UND ÜBERFORDERUNG Daniel bricht in einen SENSIBLEN KOSMOS ein, in dem man sich daran gewöhnt hat KLARZUKOMMEN: MITEINANDER, MIT DEN TÄGLICHEN HERAUSFORDERUNGEN. Unterstützung nehmen die drei nur von Heinz' Tochter Maria an. Ratschläge, die nach Vorwürfen klingen, ungeschickte Hilfestellung, die sich als Eingriff in die Selbstbestimmung entpuppt – WAS VON DANIEL GUT GEMEINT WAR, GEHT NACH HINTEN LOS. Der KONFLIKT spitzt sich zu, als Daniel erkennen muss, dass vieles von dem, was er als Kind als IDYLLE wahrgenommen hat, in Wahrheit alles andere als idyllisch ist. Denn auch Maria trägt ein GEHEIMNIS in sich … WAS PASSIERT MIT UNS, WENN WIR ALT WERDEN? Das Bedürfnis zu UNTERSTÜTZEN, SELBSTZWEIFEL, die Konfrontation mit körperlichem Verfall: David Fuchs nähert sich diesem emotionalen Drahtseilakt MUTIG IRONISCH, DABEI STETS BEHUTSAM an. In präziser Sprache und feinen Beobachtungen bringt er uns IN ABSURDEN MOMENTEN ZUM LACHEN, IN TRAGISCHEN ZUM INNEHALTEN, und fängt die belebende Magie einer jungen Liebe ein.
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Seitenzahl: 178
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David Fuchs
Leichte Böden
Roman
abwesenheit von hagebutten
im beschwerdebild einer landschaft
baumbestand, bausubstanz,
kaum bewuchs.
die groben poren eines dorfs,
seine leichten böden:
da hatten wir damals rhabarber gegessen.
Wer konnte auch ahnen, dass genau hier, genau jetzt, ein Polizeiauto vorbeikommen würde?
Es ist ja sonst nicht meine Art. Daniel Kobicek pinkelt nicht nachts an Bahnhofswände. Es sei denn, er muss.
Es ist nicht meine Schuld. Ich kann nichts dafür, dass die Toilette im Zug kaputt war, kann nichts dafür, dass der Bahnhof in diesem Nest nachmittags schließt und Maria mich nicht abholen kommt.
Maria, Mary, Maria, warum konntest du nicht früher kommen?
Um ein Haar hätte ich mir in die Hosen gemacht. Diesem Polizisten ist wirklich nichts zu dumm, sogar das Blaulicht hat er eingeschalten. Anstatt mich in Ruhe pinkeln zu lassen, zwingt er mich abzuschütteln und einzupacken, und ich spüre, wie meine Unterhose nass wird. Vielen Dank, liebe Polizei.
Man wird wohl an eine Wand urinieren dürfen, ohne Blaulicht. Wie ein Verbrecher fühlt man sich.
Bis vor ein paar Minuten ging es mir eigentlich gut. Bis vor ein paar Minuten war mein einziges Problem aber auch der Klapptisch im Zug.
Ich habe versucht, meinen Laptop darauf abzustellen. Aber der Tisch war zu klein, weil die Tische im Zug nicht zum Arbeiten gemacht sind.
Ich habe also den Laptop auf meinen Schoß gestellt, aufgeklappt und dann, erst dann, habe ich mich erinnert, dass ich nichts zu arbeiten habe. Ich habe gar nichts mehr zu arbeiten, und das ein ganzes Jahr lang. Ein ganzes Jahr habe ich frei. Es ist ein Sabbatical, das ich nicht wollte, und man hat es mir genehmigt, obwohl ich es nicht beantragt habe.
Es geht mir, wie gesagt, gut. Ich bin nicht todkrank, nicht einmal ein bisschen, nicht depressiv, und ich habe auch niemanden verloren. Ich habe keine Probleme, und das ist ein Problem. Das mag seltsam klingen, aber was macht man in einem Sabbatical, wenn man keine Probleme hat?
Ein Buch schreiben vielleicht, aber das liegt mir nicht, ich lese nicht einmal gerne, und ich glaube auch nicht, dass die Welt auf noch ein Buch eines gelangweilten Lehrers gewartet hat. Obwohl ich, strenggenommen, kein Lehrer bin, sondern Biologe. Doktor Daniel Kobicek, promovierter Biologe, der zufällig unterrichtet, aber kein Lehrer. Das macht einen himmelweiten Unterschied.
Also, das Sabbatical, der Zug und das Ziel: ein Besuch bei Tante Klara, die eigentlich meine Großtante ist, der Bahnhof, das Dorf, und Mary, Maria von früher, Maria mit dem seltsamen Vater, Maria, die mich abholen sollte und die nicht kommt, und jetzt das Polizeiauto hinter mir und das Blaulicht.
Ich drehe mich um. Der Polizist ist ausgestiegen, aber ich kann ihn wegen der Scheinwerfer kaum erkennen. Er kommt auf mich zu.
„Huhu“, sagt er mit hoher Stimme.
Jetzt wird er auch noch frech.
„Huhu“, sage ich.
Den Polizisten schüttelt es vor Lachen. „Kobi, du solltest dein Gesicht sehen“, sagt er. Sagt sie. Eine Frauenstimme.
Es ist kein Polizist, es ist eine Polizistin, es ist Maria, meine Nintendo-Mary, Maria von früher. Was soll ich jetzt sagen? Ich habe keine Ahnung.
„Hallo Mary“, sage ich.
Sie lacht noch einmal.
„Nicht lustig“, sage ich.
„Das ist eine Verwaltungsübertretung.“
„Das ist eine Frechheit.“
„Eine ziemlich lustige Verwaltungsübertretung. Bist du fertig?“
„Mit was?“
„Vergiss es, steig ein.“
Ich bin noch nie vorne in einem Polizeiauto gesessen. Ich bin überhaupt noch nie in einem Polizeiauto gesessen.
„Schnall dich an, sonst kommt die Polizei.“ Maria legt den Gang ein und wir fahren los.
Ich mag es nicht, wenn man sich Witze auf meine Kosten erlaubt, aber ich kann nichts sagen, immerhin holt Maria mich vom Bahnhof ab, und es wäre unhöflich, sie anzuschnauzen, auch wenn sie es verdient hätte.
Ich glaube, ich habe Maria zuletzt vor sechzehn Jahren gesehen, bei Opa Kobiceks Begräbnis, da war sie noch in Ausbildung. Und jetzt fährt sie schon alleine nachts herum und erschreckt Pinkler am Bahnhof.
Opa Kobicek war Tante Klaras Bruder. Als ich noch ein Kind war, waren wir oft zu Besuch bei ihr, weil sie ein Haus am Land hatte und nicht so eine kleine Stadtwohnung wie Opa. Ich habe damals fast jedes Wochenende und die Ferien mit Maria verbracht, aber wir haben uns aus den Augen verloren, weil mich als Teenager die viele Besuche bei Tante Klara nicht mehr interessiert haben.
„Entschuldige“, sagt Maria, „ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Holst du deine Freunde immer mit dem Polizeiauto ab?“
„Nur, wenn meine Freunde zu spät ankommen und meine Schicht schon begonnen hat.“
„Entschuldige.“
„Du hättest anrufen können.“
„Habe ich versucht, aber die Nummer war nicht mehr aktuell.“
Sie blinkt und biegt auf die Bundesstraße ab. „Warum besuchst du Klara?“
„Wegen dem Auto. Ich will den Porsche holen.“
„Das ist wirklich dein Porsche in der Garage?“
„Woher weißt du davon?“
„Ich wohne wieder neben Klara, im alten Haus. Aber wie kannst du dir einen Porsche leisten? Was arbeitest du?“
„Ich arbeite gerade nicht.“
Den Porsche habe ich mir gekauft, damals, in der Frankfurter Zeit. Ich habe ihn dann bei Tante Klara eingestellt, weil sie eine Garage hat, die sie nicht benutzt. Ich war seit Jahren nicht dort, weil ich zu viel Stress und keine Lust hatte. Tante Klara hat sich nicht beschwert.
„Wie, du arbeitest gar nicht?“
„Ich habe ein Jahr frei.“
„Aha. Und warum hast du so lange frei?“
„Einfach so, ein Sabbatical.“
„Ein was?“
„Sabbatical. Man bekommt fünf Jahre lang nur achtzig Prozent Gehalt und das fünfte Jahr ist frei.“
„Cool.“
„Na ja.“
„Und was willst du in deinem Sabbatical machen?“
„Erstmal den Porsche holen und dann irgendwo hinfahren.“
„Wohin?“
„Weiß nicht, Frankreich vielleicht oder Italien, aber ich weiß es eigentlich nicht.“
„Und was machst du, wenn du nicht gerade ein Jahr frei hast?“
„Ich bin Biologe.“
„Cool. So richtig, im Labor?“
„Ich unterrichte an einer Schule.“
Sie lacht. „Also Biolehrer?“
„Biologe.“
„Du solltest nicht unter dem Baum parken“, sage ich.
„Warum soll ich nicht unter dem Baum parken?“
„Wegen der Ringlotten.“
Seit mein Vater vor vielen Jahren, als er noch Auto fahren konnte, einmal im Sommer unter dem Baum geparkt hat und reife Ringlotten auf dem Autodach und der Windschutzscheibe eingetrocknet sind, weiß ich: bei Tante Klara immer an der Hauswand parken, möglichst nah an der Hauswand, so nah, dass man kaum mehr aussteigen kann.
„Im Oktober gibt es keine Ringlotten, Herr Professor.“ Maria stellt den Motor ab. „Ich bring dich rein.“
„Ist nicht nötig, danke.“
„Doch, mache ich gerne.“
„Bist du öfter hier?“
Maria steigt aus. „Ich wohne wieder nebenan.“
„Entschuldige, das sagtest du ja schon. Wohnst du bei deinem Vater?“
„Heinz ist ausgezogen“, sagt sie, „er wohnt jetzt bei Klara.“
Meine Augen tränen, weil mir beim Aussteigen der Wind ins Gesicht bläst. Maria fröstelt trotz ihrer Uniformjacke. Wir gehen zum Haus. Hoffentlich macht jemand auf. Es ist spät, es brennt kein Licht und es sind alte Leute, die gehen früh ins Bett. Ich versuche es trotzdem und drücke auf die Klingel. Im Haus hört man eine Melodie, ein paar Sekunden eines klassischen Musikstücks, von dem ich weiß, dass ich es kennen sollte, das ich aber nicht zuordnen kann. Niemand öffnet. Ich läute noch einmal, und wieder: nichts.
Ich läute noch ein drittes Mal. Nicht einmal Licht geht an, obwohl ich eigentlich schon jemanden aufgeweckt haben müsste.
„Können wir nicht über dein Haus rein?“ Die beiden Häuser sind über einen gemeinsamen Stall verbunden.
„Hab den Schlüssel auf der Wache gelassen“, sagt Maria. „Aber wir können auch durch die Garage rein.“
„Den Garagenschlüssel hast du mit?“
„Die Garage ist immer offen.“
„Immer offen?“
„Ja, und?“
„Na ja, mein Porsche steht da drin.“
„Hier stiehlt niemand etwas.“
„Dein Wort in Gottes Ohr. Aber du musst es ja wissen.“
Wir gehen rüber zum Garagentor. Es hat große Flügel, die sich leicht öffnen lassen.
Ich will nicht wie ein Einbrecher wirken. Obwohl, ein Einbrecher mit einer Polizistin als Begleitung, das hätte schon was.
„Hallo, ich bins, Daniel“, rufe ich ins Haus. Es kommt keine Antwort.
Rechts hinter dem Tor ist ein Drehschalter, der mit einem Klicken einrastet, als ich Licht mache.
Es hat sich nichts verändert: die Werkbank links an der Wand, das Gartenzeug rechts und Klaras Messer zum Schneckenjagen neben dem Kübel in der Ecke auf dem Holzschemel.
Der Porsche ist mit einer Plane zugedeckt. Ich klopfe beim Vorbeigehen auf das Dach. „Morgen“, sage ich, „morgen machen wir eine Ausfahrt.“
Ich gehe zur Türe, die ins Vorzimmer führt, und öffne sie. „Hallo“, rufe ich in den Gang, „hallo?“ Ich gehe zur Stiege in den ersten Stock.
Von oben höre ich Schritte.
„Tante Klara, ich bins, Daniel.“ Ich höre keine Antwort, aber die Schritte kommen näher.
Ich erkenne Heinz an seinem Atmen. Es macht ein schnarrendes Geräusch, wenn er einatmet, und aus seinem Hals ragt ein Hartplastikschlauch. Den Schlauch hat er schon lange, seit seiner Krebserkrankung. Heinz war mir aber auch vor dem Atemschlauch unheimlich. Er war immer schon ein alter Mann mit gebeugtem Gang, mit Bartstoppeln, die in alle Richtungen abstanden, und mit langen, gelben Fingernägeln, von denen er manche spitz zugefeilt hatte. Wirklich unheimlich für uns Kinder war aber, dass er irgendwo in seinem Haus einen echten Revolver versteckt gehalten hat.
„Hallo Heinz“, sage ich.
Heinz sagt nichts. Er hält ein Tablet in seiner rechten Hand, klappt die Schutzhülle auf und tippt.
Aus den Lautsprechern des Tablets kommt eine Stimme.
> Hallo.
„Ich wollte dich nicht erschrecken“, sage ich.
Maria sagt nichts. Heinz tippt.
> Hast du nicht. Hallo, liebe Tochter.
Maria antwortet nicht. Heinz tippt, sie winkt ab und öffnet die Haustüre.
„Ich muss dann.“
Heinz klappt das Tablet zu und klemmt es sich unter den Arm.
„Warte, mein Koffer ist noch im Auto“, sage ich und wir gehen hinaus zum Polizeiauto.
„Alles okay?“, frage ich.
„Alles okay.“
„Du bist schnell rausgelaufen.“
„Ich habe Dienst, ich muss weiter.“
Ich öffne die Autotür und nehme meinen Koffer. „Ist sicher alles okay?“
Sie seufzt. „Ja, alles gut.“
„Gut, dann danke fürs Abholen.“
„Ist gut.“
Ich will mich verabschieden, da dreht sich Maria um. „Warte“, sagt sie, „ich gebe dir meine Nummer.“ Sie holt ihr Smartphone aus der Tasche. „Sag mir deine Nummer.“
Ich sage ihr die Nummer und sie tippt.
Mein Handy vibriert, eine Nachricht.
– hallo
„So“, sagt sie, „jetzt hast du meine neue Nummer.“
Wir verabschieden uns und ich gehe zurück ins Haus. Ich ziehe die Schuhe aus, hänge meine Jacke an die Garderobe und folge Heinz in den ersten Stock. Der Linoleumboden auf den Stiegen ist derselbe wie früher, mit den gerillten Hartplastikkanten. Als Kind bin ich oft auf der obersten Stufe gesessen und habe meine Zehen über die Rillen geschoben, weil ich das Gefühl mochte. Ich kann es auch jetzt spüren, bei jedem Schritt, durch die Socken.
> Willst du noch was essen?
„Nein danke, nur schlafen.“
> Sie hat dir oben ein Bett gerichtet.
Im zweiten Stock ist das Mansardenzimmer. Es war als Kind mein Lieblingszimmer, weil es nur dort einen Teppichboden und ein großes Bett gab, auf dem man hüpfen durfte, soviel man wollte, und weil nur dort oben der Boden warm genug war, um darauf sitzend zu spielen. Tante Klara hat immer nur die nötigsten Räume beheizt.
> Mach es dir gemütlich.
„Danke.“
Heinz nickt und klappt das Tablet zu.
Das Mansardenzimmer sieht aus, wie ich es in Erinnerung habe: Teppichboden, unter der Dachschräge das Doppelbett und in einem Erker ein Schreibtisch, auf dem Tisch steht meine alte Playmobil-Ritterburg. Bei Tante Klara hatte ich eigenes Spielzeug, das ich auch nicht mit nach Hause nehmen durfte. Es war aber schön, eine zweite Spielwelt zu haben, und manchmal wollte ich nur wegen der Spielsachen zu Klara fahren. Ich stelle meine Tasche ab und setze mich auf das Bett und ziehe die Socken aus. Der Teppichboden ist kratzig und ich lege meine Füße hoch.
Ich habe Hunger. Ich wollte Heinz nicht nach Essen fragen, so spät am Abend, und missmutig, wie er war. Außerdem ist Klaras Schlafzimmer neben der Küche, und ich will sie nicht aufwecken.
Ich hoffe, dass ich schlafen kann. In fremden Zimmern schlafe ich grundsätzlich schlecht, und wenn ich hungrig bin, noch schlechter.
Und es ist stickig hier oben, die Luft so staubig, dass sogar ich ein Kratzen im Hals spüre, obwohl ich nicht, wie das halbe Konferenzzimmer, eine Feinstaubneurose habe.
Das ist neu. Tante Klara war Reinlichkeit immer wichtig, und Staub auf dem Boden, das hätte es früher bei ihr nie gegeben.
Ein Geräusch weckt mich. Ich kann es nicht einordnen, nicht orten, muss mir erst klar werden, dass ich wohl eingeschlafen sein muss, Hunger oder nicht, und ich liege auf dem Bett und horche.
Da ist es wieder. Es klingt, als ob jemand Möbel verrücken würde. Und reden. Oder war das ein Schrei?
Kurz kommt mir der Gedanke, Maria anzurufen. Wenn es Einbrecher sind, wäre sie ja zuständig. Aber ich kann nicht wegen irgendwelcher Geräusche die Polizei holen. Es ist ein altes Haus, und in einem alten Haus kann man schon mal Geräusche hören.
Vielleicht sollte ich doch nachsehen. Ich schlage die Decke zurück und setze mich auf, gehe hinüber zum Fenster, horche noch kurz hinaus, ob das Geräusch aus dem Garten kommt. Draußen hört man nichts, nur ein Auto, weit weg.
Ich gehe hinunter in den ersten Stock, bleibe am Fuß der Stiege stehen. Die Toilettentüre geradeaus steht offen, aber der Raum ist leer. Links neben mir ist eine gepolsterte Türe. Ich lege ein Ohr daran und horche. Der Bezug fühlt sich glatt an und riecht nach Leder.
Ich werfe noch einen Blick ins Erdgeschoß, aber auch hier ist alles ruhig. Kein Geräusch. Wenn es Einbrecher waren, sind die bestimmt schon weg. Aber wahrscheinlich war es nur Heinz oder Onkel Alfred, der auf der Toilette war, oder eine Maus auf dem Dachboden. Ich sollte mich wieder hinlegen.
Jetzt kann ich garantiert nicht mehr schlafen. Ich schließe die Zimmertüre und lege mich wieder auf das Bett. Zumindest der Hunger ist weg, aber ich bin trotzdem hellwach.
Ich hole mein Handy heraus. Auf dem Display ist noch Marias Nachricht von vorhin zu sehen.
– hallo
Ich speichere die Nummer ein und schreibe zurück.
– Hallo!
– ist was?
– Ich kann nicht schlafen.
– warum?
– Da war ein Geräusch.
– was für ein geräusch?
– Keine Ahnung, es ist schon wieder vorbei.
– na dann schlaf
– Ich kann nicht schlafen. Wie geht es bei dir?
– geht so. trinke grad kaffee. dann streife.
– Und sonst?
– nichts sonst
– Wann hast du morgen frei?
– um sieben. ich komm zu mittag vorbei. du, ich muss jetzt los.
– Na dann, schönen Dienst!
– danke
– Gute Nacht!
– gute nacht
Es ist noch recht früh, als ich aufwache. Ich versuche, die Stiege leise hinunterzugehen. Auf halber Höhe höre ich Stimmen aus der Küche und gehe schneller. Ich bin so hungrig, ich könnte Frühstück und Mittagessen auf einmal haben.
Schon im Vorzimmer riecht es herrlich. Tante Klara macht sicher schon Spiegeleier. Eine Männerstimme ist zu hören: „Ja genau.“ Und dann noch einmal lauter: „Ja genau.“
„Daniel“, sagt Klara, stellt einen Teller mit Wurst auf den Tisch. Es klappert, wenn sie geht, weil sie immer, auch in der Küche, beige Straßenschuhe mit Absätzen trägt. Müde sieht sie aus, aber ihre Bluse ist gebügelt und die Locken sitzen akkurat.
Tante Klara läuft zur Spüle, wäscht sich die Hände, trocknet sie ab. Sie kommt zu mir und umarmt mich.
„Daniel“, sagt sie, „wie lange ist das her?“
„Ein paar Jahre.“
„Zu lange, zu lange.“
„Ja genau“, sagt Alfred.
„Setz dich“, sagt Klara.
„Ja genau!“
Ich setze mich.
„Heinz“, ruft Klara, „Essen ist fertig.“
Aus dem Wohnzimmer kommt Heinz und setzt sich zu uns an den Tisch. Auf einem Infusionsständer neben ihm hängt ein Plastikbeutel mit einer Flüssigkeit, die wie Erdbeerjoghurt aussieht. Heinz zieht sein T-Shirt nach oben. Klara holt darunter einen Plastikschlauch hervor, schließt die Infusionsleitung an und startet den Tropf.
„Bitte, Daniel, greif zu.“
Ich nehme eine Scheibe Brot. Auf dem Tisch stehen der Wurstteller, zwei Gläser mit Erdbeer- und Marillenmarmelade und Butter. Das Brot ist ein wenig trocken. Klara nimmt sich eine Scheibe und drückt sie mit Daumen und Zeigefinger zusammen.
„Ich wäre zum Bäcker gefahren“, sagt sie, „aber Papa hatte ein kleines Problem, nicht wahr, Papa?“
Onkel Alfred grinst. „Ja genau.“
Seit ich denken kann, nennt sie ihn Papa, und das, obwohl sie keine Kinder haben. Ich frage mich, wann der Punkt kommt, an dem sich Ehepaare nur noch mit Papa und Mama ansprechen. Und ob das vor oder nach dem Punkt kommt, an dem sie nicht mehr miteinander schlafen.
> Gibt es heute Kakao?
Heinz sieht Tante Klara an.
„Kein Kakao am Mittwoch.“
Klara holt drei dunkle Glasfläschchen mit Sprühkopf aus einem Küchenkästchen und stellt sie auf Heinz’ Teller. Rindssuppe, Kaffee, Wurstwasser steht in einer rundlichen Schreibschrift auf den Fläschchen. Heinz nimmt das Fläschchen mit der Aufschrift Kaffee und sprüht sich zwei Stöße in den Mund.
„Er kann nichts schlucken, die Sprays sind für den Geschmack“, sagt Klara.
„Und kein Kakaospray am Mittwoch?“
„Ja genau“, sagt Alfred.
Klara nickt. „Kakao nur an Wochenenden.“
> Ich will aber Kakao.
„Es ist Mittwoch.“
> Aber wir haben Gäste.
„Du hast gar nichts“, sagt Klara. „Alfred und ich haben einen Gast, du hast gar nichts. Und kein Kakao am Mittwoch.“
Heinz verdreht die Augen.
> So geht es dir, wenn du hier wohnst.
Klara hat es nicht gehört, oder ihn ignoriert, sie reagiert jedenfalls nicht. Alfred schüttelt den Kopf, sagt „Ja genau, ja genau, ja genau“, immer wieder. Er schüttelt den Kopf, immer wilder, lässt sein Brot neben den Tisch auf den Boden fallen. Klara steht auf, sagt kein Wort, nimmt das Brot vom Boden, legt es auf ihren eigenen Teller und wischt mit einem Geschirrtuch auf. Sie legt Alfred die Hand auf die Schulter.
„Kein Kakao am Mittwoch.“
Ich streiche mir zwei Marmeladebrote, mit viel Butter, dann nehme ich einen Schluck Kaffee. Er schmeckt verbrannt und bitter, und ich schütte mir noch einen Schluck von der dicken Kaffeemilch dazu.
„Schön, dass du es noch geschafft hast“, sagt Klara. „Wie lange hast du Urlaub?“
„Ein ganzes Jahr. Und es ist kein Urlaub, sondern ein Sabbatical.“
„Ein was?“
„Ein Sabbatical. Man arbeitet vier Jahre lang für achtzig Prozent seines Gehalts und kriegt das fünfte Jahr frei.“
„Schön“, sagt Klara, „aber das geht auch nur bei euch Beamten.“
„Ich bin kein Beamter.“
„Du bist Lehrer, und alle Lehrer sind Beamte, da musst du mir gar nichts erzählen.“
Ich werde ihr das mit dem Lehrer und dem Biologen und dem Unterschied zwischen den beiden nicht auch noch erklären, das versteht sie nicht.
„Bei uns war immer was zu tun“, sagt Klara, „da hat es keinen Urlaub gegeben, und schon gar nicht ein ganzes Jahr.“
„Ja genau“, sagt Alfred.
„Schon okay“, sage ich.
> Das ist zu schnell.
„Was ist zu schnell?“, frage ich.
Heinz zeigt auf seine Infusion. Er sieht Klara an.
„Stell sie dir selber um“, sagt sie.
Heinz macht ein mürrisches Geräusch und legt sein Tablet auf den Tisch. Er dreht an dem Plastikdrehrädchen an dem Schlauch und die Erdbeerjoghurtflüssigkeit tropft langsamer.
Ich lege die Brotrinde auf den Teller.
> Brav aufessen, ha ha ha. Grinsendes Gesicht mit normalen Augen.
Hat gerade das Tablet gelacht?
> Ha ha. Zwinkerndes Gesicht.
Tante Klara sagt nichts, räumt die Teller ab und stellt sie samt den Mundsprays und dem Wurstteller in die Küche.
Mein Handy vibriert.
– guten morgen
– Guten Morgen.
– auch schon wach?
– Du?
– noch immer
– Wann kommst du? Gehst du noch schlafen?
– wenn ich mich jetzt hinlege, ist der tag im arsch. soll ich dir was mitnehmen?
– Mitnehmen?
– ich fahr einkaufen
– Nein, danke.
„Maria kommt übrigens heute“, sage ich.
Klara nickt. „Maria kommt jeden Mittwoch, mit den Einkäufen.“
„Ich wusste nicht, dass sie wirklich Polizistin geworden ist.“
„So lange habt ihr euch nicht gesehen?“
„Ich wusste auch nicht, dass ihr Vater bei dir wohnt.“
> Der Vater hat auch ein eigenes Haus.
„Wann warst du denn zum letzten Mal dort?“, fragt Klara.
Heinz klappt sein Tablet zu, steht auf und geht ins Wohnzimmer.
Ich helfe Klara beim Kartoffelschälen. Sie will Kartoffelpuffer machen, und ihre Finger schmerzen. Sie würde es nie zugeben, aber man konnte es deutlich sehen, weil sie nach jeder Kartoffel den Schäler weggelegt und sich die Fingergelenke massiert hat. Jetzt schäle ich, und sie beobachtet jeden meiner Handgriffe.
Ich würde lieber zum Porsche und eine Runde fahren, aber ich kann nicht in der Garage verschwinden, während sie sich abmüht.
Alfred schläft in einem Lehnsessel im Wohnzimmer. Heinz liegt daneben auf der Couch, sein Tablet hat er auf dem Esstisch liegenlassen. Er zappt zwischen den zwei Regionalsendern hin und her, in denen Hobbymoderatoren über Events aus der Umgebung berichten. „Eröffnung der sanierten Lagerhausfiliale“ konkurriert mit dem kommenden Adventmarkt des Altersheims, „16 bis 18 Uhr, mit Verkauf von Handarbeiten der Bewohner“. Jedes Mal, wenn er versucht, auf einen anderen Sender zu schalten, macht Alfred die Augen auf und sagt „Ja genau“.