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Sechs Nächte, vier Wände, zwei Unbekannte, eine Frage: Muss man einem Menschen die Hand halten, wenn sich alles dem Ende zuneigt – einem Menschen, der es nicht verdient? Die junge Bankangestellte Meta ist auf der Suche nach Sinn. Durch ihre ehrenamtliche Arbeit verschlägt es sie in ein Pflegeheim, das seine besten Tage hinter sich hat. Als Sitzwache soll sie dort ihre Nächte neben dem Patienten Herrn T. verbringen. Denn: Herr T. schreit, sobald es dunkel wird. Er schreit, wenn er allein ist. Meta ist bereit, sich Herrn T. zuzuwenden. Jede Nacht Wache zu halten, auch wenn sie nicht weiß, was hinter den Schreien steckt. Der Wohnbereich 1 ist geprägt von eigentümlichen Charakteren: Doktor Pomp, der stets auf der Suche nach seinem verschollenen Stethoskop ist, Frau Else – eine Patientin – deren wundersame Erdbeerenaffinität Meta zu denken gibt, und Moses, der Pfleger, der nicht zugeben kann, wie sehr er an dem allen hier hängt. Moses ist Metas Zufluchtsort, wenn es im Zimmer Nummer 9 zu laut wird. David Fuchs schreibt über die Komplexität der Fürsorge, bis dahin, wo Aufgabe zur Selbstaufgabe wird Ein paar Nächte vergehen, bis Moses Meta mehr über Herrn T. verrät. Mehr, als sie jemals über den Mann, neben dem sie Nacht für Nacht ausharrt, wissen wollte. Und plötzlich verschwindet die Selbstverständlichkeit, mit der sich Meta um ihn kümmert. Plötzlich ist es nicht mehr so leicht, an seiner Seite im Stuhl zu sitzen. Sich zu wünschen, dass er nicht leidet. Den gemeinsam verbrachten Mitternächten wird die Ruhe genommen und Meta kann die Geister, die spuken, am ganzen Körper spüren. Moses und Frau Else stehen ihr zur Seite, geben ihr Ratschläge, wie sie mit der neuen Situation umgehen kann. Doch die Mauern des Heims, die Mauern des Zimmers, werden immer enger … Über Entscheidungen, die wir uns selbst aufbürden Meta steht vor einer Wahl, die gegen alles geht, was sie bisher über sich selbst vermutet hat: Soll sie im Heim bleiben und helfen oder gehen und nicht mehr zurückkommen? Wie viel von sich selbst kann sie aufbringen, um einem anderen Menschen in seinen letzten Tagen beizustehen? Doch nicht nur Meta strauchelt, auch der Rest der Besatzung muss sich fragen: Braucht es Mitleid und Achtung für Pflege? Verdienen alle Menschen dieselbe Fürsorge, egal, was sie in ihrem Leben gemacht haben? Zwischen den bröckelnden Fassaden des kurz vor der Schließung stehenden Heims ist da immer noch: Hoffnung. Und Menschen, die bleiben.
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Seitenzahl: 155
David Fuchs
Roman
If you can bring nothing to this place but your carcass, keep out.
William Carlos Williams,Dedication for a Plot of Ground
Der Pfleger steht vor der Klomuschel, stellt den Drehschalter an der Wand auf fünf Minuten.
Das Dröhnen der Lüftung überdeckt das Schreien aus Zimmer 9. Herr T. ist heiser geworden, bald wird er aufhören.
Der Pfleger heißt Moses. Er setzt sich auf den geschlossenen Deckel, drückt beide Handballen links und rechts an die Schläfen. Zwölf Stunden noch, eine ganze Nacht. Er sitzt eine Weile so da, dann steht er auf und rückt die Hose zurecht.
Zwei Zimmer weiter macht derweil Frau E. ihren letzten Atemzug. Der Nachtdienst beginnt.
Wie man beginnen kann.
Die falsche Zeit an verschiedenen Orten.
Abends stehen die Baukräne still. Die Frau vor dem Haupteingang des Pflegeheims hat den Kopf in den Nacken gelegt. Sie verfolgt die Stahlstreben des Baukrans bis zur Fahrerkabine und stellt sich vor, dort sei ein Nest oder ein Käfig, jedenfalls aber Vögel, und die genössen die Aussicht und müssten dafür nicht einmal fliegen.
Die Frau heißt Margareta Blum, aber wir nennen sie Meta, weil ihr das besser gefällt. Was Meta mag, sind ihre Gedanken, die sie manchmal in Dialoge verstrickt, manchmal schweifen oder von Kränen fliegen lässt.
Meta senkt den Kopf und betrachtet ihre Finger. Sie zittern, alle lackierten Nägel, jeder in einer anderen Farbe.
Die Türe vor ihr öffnet sich, was sie nicht bemerkt. Ein Mann geht einen Schritt vor, räuspert sich. „Hallo?“
Meta blickt auf. Der Bauarbeiter kramt in seiner Hosentasche, holt eine Packung Zigaretten hervor. „Sorry, müssen Sie rein? Ich hätte Ihnen die Tür aufhalten sollen, da kommen Sie nur mit Mitarbeiterkarte hinein.“
„Ja“, sagt Meta, „ich bin – ich arbeite hier.“ Sie kramt in ihrer Tasche. Viel hat sie nicht mitgebracht: ein Ersatzshirt, einen Roman, die Schlüssel, Geld, das Telefon. Sie öffnet die Geldtasche und holt ihre Mitarbeiterkarte heraus. „Margareta Blum“, steht drauf, „Wohnbereich“, und darüber ihr Foto, ein überbelichtetes Foto, gleich nach dem Aufnahmegespräch mit der Stationsleitung aufgenommen, sie in einer Bluse, mit rotem Gesicht und einer nassen Haarsträhne quer über die Stirn, im Hintergrund ein Poster mit einem Wasserfall.
„Ehrenamtlich“, sagt sie noch, „ich mache das ehrenamtlich“, als der Bauarbeiter an ihr vorbeigeht. „Na dann“, sagt der Mann, „schönen Dienst“, und dreht sich nicht mehr um. Ein paar Schritte weiter bleibt er stehen und zündet sich eine Zigarette an.
Meta macht einen Schritt auf die Türe zu, zieht die Karte über den Sensor beim Eingang, richtet sich die Haare und tritt ein.
In fünfundzwanzig Jahren als Arzt hat Wendelin Pomp erst einmal geweint. Heute Abend tut er es wieder.
Pomp wirft einen Blick auf Frau E. Immer erstaunlich, wie lebendig die Toten aussehen. Als könnten sie jederzeit die Augen öffnen und sprechen. Er berührt E.s Hand. Sie ist warm und die Muskeln sind noch weich. Er legt seine Hand auf ihr Handgelenk, verharrt kurz, tastet den Puls.
Pomp wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel und greift nach dem Stethoskop, schiebt es unter E.s Nachthemd. Er hört eine Weile in die Stille des Brustkorbs, wo er nur das leise Sausen seines eigenen Pulses wahrnimmt. Früher hat es ihn irritiert, aber heute macht es ihm nichts und er weiß, dass er sich konzentrieren muss, durchatmen, warten, damit das Sausen zu einem Flüstern wird, das er ignorieren kann.
Pomp nimmt das Stethoskop aus den Ohren und legt es sich um den Hals. „Na gut“, sagt er und weiß nicht, warum. Das Fenster steht einen Spalt offen und aus dem Hof hört man die letzten Baustellengeräusche des Tages.
„Na gut“, sagt er noch einmal, drückt Frau E.s Hand, wischt sich über die Augen, geht aus dem Zimmer und schließt die Tür hinter sich.
Pfleger Moses schenkt Kaffee nach. „Mit Schuss?“, fragt er. Pomp sagt nichts, muss er auch nicht, weil Moses weiß, was sich gehört. Ein Schnaps für einen Toten, so hält er es schon lange. Moses holt die Flasche aus dem Kasten und schenkt Pomp ein.
„Heute kommt die Neue“, sagt Moses.
„Na super“, sagt Pomp, „gratuliere.“ Er kratzt sich im Nacken. Wenn er unsicher ist, kratzt er sich im Nacken und man könnte, wenn man genau hinsähe, erkennen, dass der Haaransatz auf der rechten Seite weiter oben beginnt. „Hätte nicht gedacht, dass hier noch jemand anfangen will.“ Er nimmt einen Schluck.
„Den Totenschein habe ich ausgefüllt.“
„Danke.“
„Sie war die Letzte.“
„Was meinst du?“
„Die letzte Bewohnerin von damals. Eine von den Leuten, die noch hierhergekommen sind, um zu leben, nicht nur zum Sterben.“
„Mit Sack und Pack und den eigenen Möbeln.“
„Ja“, sagt Pomp, „die Möbel. Weißt du noch, als sie eingezogen ist?“
„Hat den Garten im Hof in Beschlag genommen.“
„Und hat gleich ihre Walderdbeeren angebaut.“
„Ihre Erdbeeren, ja. Wie lange ist das her? Zehn Jahre?“„Eher fünfzehn.“
Pomp schüttelt den Kopf.
Die beiden sitzen eine Zeitlang schweigend da, bis Pomp sagt: „Und was soll die Neue hier machen?“ „Sitzwache“, sagt Moses.
„Sitzwache? Ist lange her, dass wir sowas hatten.“
„Für Herrn T.“
Pomp nimmt einen Schluck. „Für T. Großartig.“
„Was meinst du damit?“
„Ist nur seltsam.“ Pomp dreht den Kaffeebecher, bis er das Logo des Heimbetreibers nicht mehr sehen kann. „Einerseits sperren sie bald alles zu und andererseits dann sowas. Und für T. noch dazu. Außerdem dachte ich, dass er aufgehört hat zu schreien?“
„Er ist nur dann ruhig, wenn er nicht alleine ist.
Oder wenn er schläft.“
„Jetzt schreit er nicht.“
„Eben. Er schläft. Jetzt schon. Das heißt, er wird später die ganze Nacht wach sein.“
„Dir kann man auch nichts recht machen.“
„Haha.“
Pomp kratzt sich noch einmal. „Na ja. Und mit einer Sitzwache soll das funktionieren?“ „Hoffentlich.“
Meta nimmt den Weg, den sie vorgestern mit Herrn Gabriel vom Personalbüro genommen hat: immer der grünen Linie am Boden nach. Daneben muss es andere gegeben haben: blaue Linien, welche in Lila und eine in Gelb, aber außer der grünen hat man alle entfernt, sodass nur noch Reste der Farben zu erkennen sind und Streifen auf dem Plastikboden, die heller sind als die Umgebung, wie die weißen Stellen auf der Haut nach dem Urlaub.
Herr Gabriel ist gestern mit dem Auto aus der Stadt gekommen und hat Meta mitgenommen. Es zahle sich nicht aus, hier ein Büro zu betreiben, für die letzten zwei Stationen. Das Heim werde ohnehin bald geschlossen, deshalb die Baustelle: für die disruptiv‑innovative Zukunft. Künstliche Intelligenz, Co‑Working, alles schon geplant.
Der Weg zum Wohnbereich führt vorbei an Büros, an deren Türen die Namensschilder schon entfernt wurden. Meta liest die Türnummern, rechts die geraden Zahlen, links die ungeraden.
Als sie sich sicher ist, dass niemand sie sieht, balanciert sie auf der grünen Linie, die Arme ausgestreckt wie eine Zirkusartistin, aber weil sie keine Artistin ist, wird ihr schwindlig, sie schwankt, macht einen Ausfallschritt nach rechts und verliert fast ihre Tasche.
Der grüne Strich endet an der Tür des aufgelassenen Pflegebereichs, was Meta gestern schon irritiert hat, aber Herr Gabriel hat gesagt, es gebe nur diesen Weg, der Innenhof sei gesperrt wegen der Baufahrzeuge.
Meta drückt die Klinke nach unten.
Der Pflegebereich wirkt noch verlassener als gestern. Die Luft ist abgestanden und warm und es riecht leicht nach Desinfektionsmittel, aber das könnte auch Einbildung sein. Alle Zimmertüren sind geschlossen und außer den leiser werdenden Geräuschen der Baustelle ist es still. Meta passiert den Schwesternstützpunkt, an der Pinnwand hängen Zettel, als wäre nur Schichtwechsel und alle Schwestern wären mit der Übergabe beschäftigt. Doch die Schreibtische sind leergeräumt, die Sessel fehlen. Auf den Holztischen kann man erkennen, wo ein Bildschirm oder eine Lampe gestanden hat.
Meta geht schneller. Etwas an der leeren Station macht ihr fast Angst, und als sie hinter sich ein Geräusch hört, von dem sie nicht sicher ist, ob es von der Station kommt oder den Baufahrzeugen im Innenhof, läuft sie die letzten Schritte fast, bis sie vor einer Schiebetüre steht, hinter der Licht brennt. An der Türe steht in einer Schrift aus Klebebuchstaben: „Wohnbereich“ und darunter das Bild einer lachenden Kuh, wie aus einem Zeichentrickfilm. Die Türe öffnet sich, sehr langsam, und Meta betritt die Station.
Meta räuspert sich, aber der Pfleger reagiert nicht. Er sitzt auf einem durchgesessenen Polstermöbel und liest Zeitung, auf dem Couchtisch eine Schnapsflasche. Sie räuspert sich noch einmal. „Hallo“, sagt sie.
Moses erschrickt, faltet die Zeitung zusammen und legt sie auf den Tisch.
„Hallo“, sagt Meta, „ich soll mich hier melden.“ „Guten Abend“, sagt Moses und steht auf.
„Die Ehrenamtliche“, sagt Meta und lächelt, „ich bin die Neue.“ Sie hält ihm ihre Mitarbeiterkarte hin.
Moses mustert die Karte, dann Meta, die bunten Fingernägel, die Leinenhosen, die Tasche. Er steht auf und hält ihr die Hand hin. „Ich bin Moses. Der Pfleger. Bitte, setz dich.“
Meta schüttelt seine Hand und schiebt dann einen der Sessel ein Stück zur Seite. Wo der Lack abgeblättert ist, kann sie die Maserung des Holzes spüren. Sie lässt ihre Hand kurz liegen, um die Finger zu beruhigen. Unter ihren Achseln haben sich Schweißflecken gebildet und sie hält die Arme nah am Körper, um sie zu verbergen.
„Meta“, sagt sie, „freut mich.“
„Meta? Spannender Name.“
Meta setzt sich. „Kurzform von Margareta.“
„Na dann.“ Moses nimmt die Schnapsflasche, bemerkt Metas Blick und sagt: „Der Arzt, nach Dienstschluss trinkt er gerne ein Glas.“ Er steht auf, stellt die Flasche in einen Schrank an der Wand und setzt sich wieder in seinen Sessel. „Wir sind froh, dass du da bist.“
„Danke.“
„Möchtest du was trinken? Wir haben nicht nur Schnaps, keine Sorge.“ Meta schüttelt den Kopf.
„Und du kommst für Herrn T.?“
„Als Sitzwache“, sagt Meta, „wie der Bewohner heißt, weiß ich gar nicht.“
Moses lehnt sich zurück. „Hast du sowas schonmal gemacht?“ „Nein.“
Er kratzt sich am Kopf. „Darf ich dich was fragen?“
„Sicher.“
„Was machst du sonst? Also wenn du nicht hier die Nacht verbringst.“
„Ich arbeite in einer Bank“, sagt sie, „aber im Homeoffice.“
„Vielleicht sitze ich auch irgendwann mal zu Hause und steuere einen Pflegeroboter per Laptop.“
„Roboter?“
„Könnte ja sein. Aber, sag, musst du nicht morgen früh wieder in dein Homeoffice?“
„Ich habe Urlaub“, sagt Meta, „damit ich gleich ein paar Nächte machen kann. Ich dachte, das wäre für den Anfang nicht schlecht.“
„Stimmt schon.“
„Und wie lange bist du schon hier?“
„Lange genug. Bin hier der old guy, sozusagen. Kann aber nicht sagen, dass ich viele Ehrenamtliche gesehen hätte in den Jahren.“
„Nicht?“
„Na ja, die meisten gehen in ein Hospiz oder so, nicht unbedingt in ein Pflegeheim. Und gerade jetzt, zu uns? Das wundert mich, muss ich sagen.“
„Warum sollte man gerade jetzt nicht zu euch gehen?“
„Weil sie uns schließen werden“, sagt er, „und ich halte noch die Stellung.“
„Soll das heißen, du bist alleine im Dienst? Ist niemand sonst hier?“
„Nein.“ Moses schüttelt den Kopf. „In der Nacht sind wir immer alleine.“
„Für alle Stationen?“
„Sind ja nur noch zwei. Willst du es dir noch einmal überlegen?“
„Sollte ich?“
„Wie man es nimmt.“ Er grinst. „Aber im Ernst, das Team ist wirklich froh, dass du da bist. Am besten, ich zeige dir mal alles.“
„Das hier ist die Familienecke.“ Moses steht auf. „Oder der Pausenbereich, wie man es nimmt. Familien waren hier schon lange nicht mehr. Du kannst dich jederzeit an der Saftbar bedienen, die füllen wir trotzdem noch immer nach.“
Neben den Polstermöbeln steht eine Anrichte an der Wand, ein Wasserhahn, mehrere Plastikflaschen mit verschiedenfarbigem Sirup, Schnabelbechern und ein paar Gläsern. „Ist nichts Großartiges“, sagt Moses, „aber das, was wir haben.“ Er geht zu einer Glastüre, die neben der Anrichte in den Innenhof führt. Dort stehen ein Baucontainer, der Kran, ein Bagger und Baumaterial. Vor der Türe glitzern grüne Scherben in der Erde. „Und das ist unser Hof. Oder besser gesagt: unser ehemaliger Hof.“
„Ehemalig?“
„Wir dürfen nicht mehr hin“, sagt Moses, „seit der Umbau begonnen hat.“
„Warum das?“
„Sicherheitsbedenken, was weiß ich. Sie haben alle Türen versperrt.“
„Schade eigentlich.“
„Sehr schade. Na ja, sollen wir weiter?“ Er dreht sich um und geht den Gang hinunter, Meta ihm nach.
„Hier ist die Spüle“, sagt Moses, „und dort ist die Garderobe.“
„Danke“, sagt Meta, „aber ich habe gar kein Gewand bekommen.“
„Kein Gewand?“
Meta schüttelt den Kopf.
„Es wäre fast lustig“, sagt er, „wenn es nicht so traurig wäre.“
„Ist das schlimm? Also dass ich kein Gewand bekommen habe?“
„Dienstkleidung ist wichtig.“
„Mir macht es nichts aus.“
Auf einem Tischchen vor Frau E.s Zimmer leuchtet ein batteriebetriebenes Teelicht. Ein kleiner Motor im Inneren bewegt zwei Plastikplättchen, die eine Flamme simulieren sollen.
„Was ist mit der Kerze?“, fragt Meta.
„Wir dürfen keine echten Kerzen haben“, sagt Moses, „wegen der Brandgefahr.“
„Gut“, sagt Meta, „aber warum eine Kerze? Ist da jemand –“
„Gestorben? Ja. Frau E., vor ein paar Stunden erst. Sie hat lange hier gewohnt“, sagt er. „Ist gerne nachts durch die Gänge gewandert. Aber die letzten anderthalb Jahre nicht mehr.“
„Die Arme.“
„Sie hatte immer Obst dabei, weißt du? Im Sommer waren es meistens Erdbeeren, und damit ist sie in der Familienecke gesessen, hat uns in Gespräche verwickelt und so. Im Hof hatten wir sogar Walderdbeeren, bei den Büschen an der Wand, die hat sie immer gepflückt.“ „Klingt schön.“
„Eine der letzten Bewohnerinnen von früher.“
„Von früher?“
„Früher sind die Leute noch in ganz anderem Zustand gekommen, oft mit eigenen Möbeln und so. Heute sind alle nur noch bettlägerig.“
„Ist sicher für euch auch anstrengend, oder?“ „Klar. Die Personalschlüssel sind jedenfalls nicht besser geworden.“
„Und Frau E. ist noch da drin?“
„Ja. Wird erst morgen abgeholt.“
„Sie bleibt die ganze Nacht im Zimmer?“
„Wo sonst? Auf den Gang kann ich sie ja nicht stellen“, sagt Moses.
„Aber ...“
„Was?“
„Ist das nicht schlimm für die anderen Leute, wenn sie die Kerze sehen und wissen, dass jemand gestorben ist?“
„Hör mal“, sagt Moses, „du warst noch nie in einem Heim, oder?“
„Nur zu Besuch, bei meiner Oma.“
Moses schüttelt den Kopf. „Schau mal. Die meisten Bewohner können sich nicht mehr bewegen, geschweige denn aus ihren Zimmern gehen. Und außerdem: Die Hälfte der Leute, die hierherkommen, sterben im ersten Jahr. Macht also wenig Sinn, den Tod zu verstecken.“
„Arg.“
„Realität.“ „Hm.“ Meta berührt die flackernden Plastikflügelchen mit dem Zeigefinger. „So, wie du es sagst, macht es schon Sinn.“
„Ist sie das?“ Meta zeigt auf ein Foto an der Türe. Es zeigt eine Frau, braunhaarig, mit einem Blick, der nicht auf die Kamera, sondern einen unbestimmten Punkt gerichtet ist.
Die Trauerschleife mit den ausgefransten Rändern, die Moses um das Bild gebunden hat, verdeckt das halbe Gesicht. Moses rückt sie ein wenig zurecht. „Das Foto hat sie gehasst“, sagt er.
„Also“, sagt Moses, „dein Bewohner liegt vorne auf Zimmer 9. Er heißt Herr T., und der Job ist eine Sitzwache.“
„Das weiß ich.“
„Das heißt, du sollst ihm Gesellschaft leisten.“
„Aber warum in der Nacht?“
„Es fängt immer an, wenn die Sonne untergeht. Er schreit, schlägt um sich, versucht, aus dem Bett zu fallen.“
„Er versucht, aus dem Bett zu fallen?“
„Das ist so eine Redewendung. Er ist sturzgefährdet, rollt herum und so weiter. Aber vor allem schreit er, wenn er nicht schläft. Außer wenn jemand bei ihm ist, und da kommst du ins Spiel.“
Moses spricht weiter, aber Meta hört nicht zu. Sie stellt sich vor, wie die verstorbene Frau E. in der Familienecke sitzt, ihre Erdbeeren aus einer Dose pickt, eine nach der anderen, und die kühlen Früchte genießt.
„Ist er gefährlich?“
„Keine Gefahr. Er ist zu schwach. Aber trotzdem: Halte ein wenig Abstand. Manchmal entwickeln sie Kräfte, you never know.“
„Und ich soll nur dasitzen?“
„Sozusagen. Wobei, wenn er erstmal schläft, kannst du ruhig rausgehen und einen Kaffee trinken.
Normalerweise wacht er so schnell nicht auf.“ „Und du?“
„Ich bin da“, sagt Moses, „und nicht da. Habe zwei Stationen, zweiundfünfzig Leute. Heißt, ich bin viel unterwegs.“
„Okay.“
Moses klopft sich auf die Oberschenkel. „Dann sagen wir ihm mal Hallo.“
„Hier also“, sagt Moses, „wohnt er.“
Der Bilderrahmen an der Zimmertüre ist leer. „Bei den Neuen gibt es keine Bilder mehr“, sagt Moses, „wegen dem Datenschutz und so. Die Neuen dürfen wir nicht mehr fotografieren.“
Er klopft, aber so leise, dass man es drinnen wahrscheinlich kaum hören kann, und öffnet nach ein paar Sekunden die Türe.
Im Zimmer ist es noch wärmer als auf dem Stationsgang, stickig, und es riecht nach Urin.
„Shit“, sagt Moses. Am Boden, neben dem Bett, unter dem offenen Ventil des Harnkatheterbeutels, breitet sich ein See bis unter das Bett aus. Meta bleibt im Türrahmen stehen. „Oh Gott“, sagt sie leise, was Moses hört, aber ignoriert. Er steigt vorsichtig, um keine Spritzer zu machen, mit einem Fuß in den Urinsee und schließt das Katheterventil. Meta bedeckt Mund und Nase mit der flachen Hand. Uringeruch hält sie nicht aus, hat sie noch nie aushalten können. Sie denkt an die Baukräne, an die Vögel und plötzlich ist die Vorstellung da, wie die verstorbene Frau E. auf dem Kran sitzt, herunterwinkt. „Huhu“, sagt Frau E., „huhu, junge Frau.“
„Hallo“, sagt Meta, „können Sie fliegen?“ Frau E. lacht. „Noch nicht, Schätzchen“, sagt sie, und Meta öffnet ihre Augen wieder.
„Hallo?“, sagt Moses.
„Entschuldige“, sagt Meta, „ich war gerade …“
„Schon gut, du musst nicht helfen.“
„Doch, ich – ich habe nur nachgedacht. Bin gleich so weit.“
Moses schüttelt den Kopf. Er wirft einen Blick auf T. und flüstert: „Ich mach das schon, wirklich.“
Meta streckt sich, um durch den schmalen Gang, der eine Art Vorzimmer bildet, bis zum Kopfende des Betts sehen zu können.
Herr T. liegt mit geschlossenen Augen da und bewegt sich nicht. Er ist jung, jünger, als Meta erwartet hat, vielleicht Mitte sechzig, und er hat kein graues, sondern pechschwarzes Haar, das wie gefärbt aussieht und ihm dicht und fettig an der Stirn klebt.
„Wirklich“, sagt Moses, „setz dich draußen hin, ich komme gleich zu dir.“
„Danke“, sagt Meta sehr leise, dreht sich um und geht aus dem Zimmer. Zwei Meter weiter stützt sie sich an der Wand ab und kämpft gegen die aufsteigende Übelkeit.
Moses nimmt einen Packen der braunen Papiertücher aus dem Spender an der Wand und wirft sie in den Urinsee. Er zieht ein Paar Latexhandschuhe an, noch ein zweites, dann nimmt er eine frische Packung Papiertücher aus dem Kasten, reißt sie auf und wirft auch sie auf den Boden. Zwei Packungen billiger Zellstoff saugen den ganzen Urin auf, dann wischt er auf Knien den Boden mit Desinfektionsmittel auf.