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DIE GESCHICHTE EINER WIEDERBEGEGNUNG IM ANGESICHT DES ABSCHIEDS - ZÄRTLICH UND LANGE NACHHALLEND. EINE ZÄRTLICHE LIEBE UNTER UNGEWÖHNLICHEN UMSTÄNDEN Als angehender Arzt absolviert Benjamin ein PRAKTIKUM AUF DER KREBSSTATION. Dass er dort ausgerechnet auf seine JUGENDLIEBE AMBROS trifft, hätte er sich nicht träumen lassen. Ambros wird als Patient behandelt, sein Körper ist voller Metastasen. Inmitten des Krankenhausalltags NÄHERN SICH DIE BEIDEN BEHUTSAM WIEDER ANEINANDER AN. Zwischen resoluten Krankenschwestern und röchelnden Zimmernachbarn, jovialen Oberärzten und unbelehrbaren Notfallskandidaten ist ihnen bewusst, dass es DIE AUGENBLICKE SIND, DIE IHNEN BLEIBEN ... EINE HOMMAGE AN DEN AUGENBLICK: BERÜHREND UND LEBENSNAH, MITUNTER AUCH ZUM SCHMUNZELN David Fuchs, SELBST ONKOLOGE, erzählt die Geschichte der jungen Männer ohne jegliche Rührseligkeit, dafür MIT FEINEM SINN FÜR DAS VERSCHROBENE IM ZWISCHENMENSCHLICHEN - und berührt damit umso mehr. Mühelos birgt er die SCHÖNHEIT UND LEICHTIGKEIT DES LEBENS im Angesicht eines Abschieds. Der FM4-WORTLAUT-GEWINNER legt damit ein STARKES DEBÜT vor, gewürzt mit ein bisschen NEUNZIGERJAHRE-FEELING, in dem er zeigt, dass die großen Gefühle in den kleinen Gesten stecken. "Beeindruckend und auch sehr berührend - ein Kondensat von ein paar wirklich sehr starken kleinen Anekdoten und Bildern, die zu einer ganz großen Lebens- und Liebesgeschichte werden." Jurybegründung zum FM4-Wortlaut 2016
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Seitenzahl: 198
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David Fuchs
Bevor wir verschwinden
Roman
It suddenly seemed very important that I look closely, as closely as I could.
Frank Huyler, „The Blood of Strangers“
Wir defibrillieren Schweine in Planschbecken. Für meine Dissertation. Wir narkotisieren die Schweine, lösen Kammerflimmern aus und defibrillieren.
Gestern war Adelheid dran. Adelheid ist eine zweijährige Sau und es geht ihr schlecht. In der Nacht habe ich sie vier Mal defibrilliert und jetzt flimmert ihr Herz schon wieder. Ich kontrolliere die Klebeelektroden auf ihrem Brustkorb und drücke den Knopf. Adelheid zuckt.
Sehr gut, sagt Ed, Sinusrhythmus. Ed ist Krankenschwester an der Onkologie und verdient sich im Tierversuchslabor ein bisschen Geld dazu. Eigentlich heißt sie Edna, aber alle nennen sie Ed, weil sie Edna nicht mag. Ich kann das verstehen. Ich heiße Benjamin Marius Maier. Marius benutze ich nicht. Das klingt, als hätten meine Eltern mich Maria nennen wollen, aber nicht den Mut dazu gehabt. Und Benjamin, nicht Ben. Ben klingt wie ein steifer Schwanz.
Ich kann Adelheids Puls in der Leiste kaum spüren. Er ist schwach, aber rhythmisch. Der Blutdruck am Monitor ist zu niedrig und ich sage zu Ed, dreh bitte das Adrenalin höher. Sie drückt ein paar Tasten auf der Motorspritze. Die Spritze piepst und Adelheids Blutdruck steigt.
Man kann Menschen nach einer Reanimation mit Wasser kühlen, um das Hirn zu schützen. Wenn es zu lange ohne Sauerstoff bleibt, geht es kaputt, und die Reanimation war sinnlos. Viele Patienten muss man aber oft defibrillieren, und dabei muss natürlich Strom fließen. Und keiner weiß, was passiert, wenn man das unter Wasser macht. Deshalb die Schweine und deshalb die Planschbecken.
Die Schweine sind sowieso Schlachtvieh. Bei uns bekommen sie gutes Futter und echtes Stroh, und am Ende gibt es eine Narkose, da bekommen sie vom Sterben gar nichts mehr mit. Es geht ihnen gut.
Um die Herzen zum Flimmern zu bringen, machen wir einen Schnitt in der Leiste und führen einen Katheter bis zum Herz. Man muss nah ran, damit es funktioniert. Es reicht aber nicht, das Herz mechanisch zu stimulieren, also es sozusagen anzustupsen. Man braucht einen elektrischen Reiz. An dem Katheter hängt ein Kästchen, das wie eine Bombe aus einem Film aussieht. Es ist eine Kunststoffschachtel mit Drähten, roten, gelben, blauen, und Drehrädern, die die Stromstärke regulieren. Damit kann man dem Schweineherz den elektrischen Schlag versetzen, den es braucht, um zu flimmern.
Okay, sage ich zu Ed, jetzt ist sie stabil, willst du einen Kaffee? Ed sagt, nein danke, ich muss in den Tagdienst.
Kommst du morgen auf die Station?, fragt sie und ich sage, klar.
Ab morgen habe ich ein Praktikum auf Eds Station. Ich brauche noch vier Wochen Praktikum, drei Prüfungen und die Dissertation, und dann bin ich mit dem Studium fertig.
Onkologie interessiert mich nicht. Es war mir immer egal, wie sich die Chemotherapien von achtzig verschiedenen Lymphomarten voneinander unterscheiden. Falls überhaupt. Das einzig interessante Medikament ist Cyclophosphamid, von der Geschichte her. Das ist im Prinzip Senfgas, nur ein Atom ausgetauscht. Im Buch war das Molekül aufgezeichnet, also Senfgas und daneben Cyclophosphamid.
Wo soll ich morgen hin?, frage ich und Ed sagt, komm einfach nach der Personalabteilung auf die Station, ich zeige dir alles. Okay, sage ich, dann in der Früh auf der Station. Bis morgen, sagt Ed. Sie nimmt ihre Tasche, tätschelt Adelheid an der Wange und geht.
Ich sehe auf dem Überwachungsmonitor, wie sie am Gang neben der Pflanze stehen bleibt, Hydrokulturkügelchen vom Boden aufhebt und sie einzeln zurück in den Topf legt.
Die Personalfrau hat mir einen Mantel gegeben, einen Schlüssel, einen Piepser und einen Namen: Oberarzt Wendelin Pomp. Bei dem soll ich mich melden, hat sie gesagt. Ich bin erstmal zu Ed auf die Station.
Es gibt keine Klimaanlage und Mitte August ist es im Krankenhaus richtig heiß. Klimaanlagen gibt es nur in den wichtigsten Bereichen: OP, Palliativstation, Personalverwaltung.
Jede Station hat ihren eigenen Geruch. Die Dermatologie von letztem Sommer habe ich noch in der Nase, diese Mischung aus Stuhl und Hautcreme, Suppe und Babypuder. Oder die alten Leute in der Notaufnahme, die aus ihren Wohnungen kommen und wie Essig riechen oder wie die Päckchen mit Lavendel aus dem Kleiderschrank.
Auf der Onkologie riecht es anders, wie eine Mischung aus Waschmittel und Fischsuppe mit Knoblauch. Ich stehe auf dem Stationsgang, lege den Kopf in den Nacken und rieche.
Und, sagt Ed hinter mir, interessant? Ich drehe mich um. In der Hand hält sie eine Bettpfanne und sie hat die Hosenbeine hochgekrempelt. Wenn ich jetzt lache, bringt sie mich um.
Hallo, sage ich, was soll interessant sein? Sie zeigt zur Decke. Die Lichter, sagt sie, interessant? Ich schüttle den Kopf. Ich habe nicht die Lichter angesehen, sage ich und sie sagt, vergiss es, komm mit.
Sie führt mich in einen kleinen Raum. Auf einer Anrichte an der Wand stehen Infusionsflaschen, einige mit roter, einige mit durchsichtiger Flüssigkeit, und alle aus Plastik.
Ed steht neben mir und wartet. Und jetzt?, frage ich und sie sagt, anziehen musst du dich noch. Wo?, frage ich und sie sagt, na hier, wirst ja keine Garderobe brauchen für den Mantel.
Ich ziehe den Mantel an und lege meinen Rucksack unter einen Tisch. Ed sagt, in fünfzehn Minuten ist Visite, wir fangen vorne im Stützpunkt an. Eine Blutabnahme ist noch vorher, schaffst du das?
Ich kann schon ziemlich gut Blut abnehmen. Sehr gut eigentlich, ich bin ja auch fast fertig mit dem Studium. Sicher, sage ich zu Ed, mache ich gern, wenn sie zu schwierig für dich ist. Das hat gesessen. Ed ist stolz darauf, dass sie gut stechen kann, das hat sie mir bei den Schweinen oft genug gesagt.
Sie sagt nichts, nimmt eine Plastikschale mit Blutröhrchen und drückt sie mir in die Hand. Der lässt sich nur von einem Arzt stechen, sagt sie und ich sage, ich bin kein Arzt. Sie nimmt zwei Infusionsflaschen. Aber fast, sagt sie, das muss reichen für den Herrn Wegener.
Das kann nicht sein. Ich nehme ein Blutröhrchen. Das Etikett: Ambros Wegener, 4.5.1978. Diesen Namen gibt es nicht zweimal.
Ambros Wegener heißt wie eine Krankheit. Das kann man im Lehrbuch nachschlagen, Gefäßentzündung mit Knötchenbildung. Obwohl die Krankheit vielleicht bald nicht mehr so heißen wird, weil Wegener, also der, nach dem die Krankheit benannt ist, ein Nazi war.
Ambros Wegener ist kein Nazi, sondern mein Exfreund, und ich will ihm auf keinen Fall Blut abnehmen. Aber das kann ich Ed nicht sagen. Ich muss es machen, weil wenn ich gleich die erste Blutabnahme nicht mache, bin ich bei den Schwestern untendurch.
Vielleicht lässt Ambros sich wirklich nur von einem Arzt stechen. Ich sollte es ihm gleich sagen. Also, hallo Ambros, kennst du mich noch, Arzt bin ich übrigens keiner. Und dann kann ich wieder gehen.
Stimmt was mit den Röhrchen nicht?, fragt Ed. Nein, sage ich, ich kenne nur den Patienten. Woher kennst du den Wegener?, fragt sie und ich sage, aus der Schule. Im Ernst, sagt sie, ist ja lustig.
Der Plastikboden ist frisch geputzt und glänzt. Meine Schuhe quietschen bei jedem Schritt. An Ambros’ Zimmertüre hängt ein handgeschriebenes Schild: Personal bitte nicht klopfen. In Krankenhäusern klopft man sowieso nur aus Höflichkeit. Man wartet nicht, bis man hereingebeten wird, man klopft und geht ins Zimmer.
Im ersten Bett liegt ein alter Mann mit geschlossenen Augen und offenem Mund. Sein Gebiss hat sich gelockert. Er schmatzt zwischen zwei Atemzügen und das Gebiss klappert.
Ambros liegt im zweiten Bett. Hinter beiden Betten hängen gerahmte Kinderzeichnungen an der Wand. Er trägt einen blauen Krankenhauspyjama. Dünn sieht er aus. Er war schon damals in der Schule nicht dick, aber jetzt ist er richtig abgemagert. Aber er hat Haare. Sie sind kurz und schütter, aber es sind Haare. Ich habe nicht geglaubt, dass auf einer Onkologie jemand noch Haare haben kann.
Ich berühre ihn am Oberarm. Oberarm ist die beste Stelle, sowohl für die Hygiene als auch für die Intimsphäre. Oberarm geht immer. Das ist weniger nah als die Hand und trotzdem eine stärkende Berührung. Wir haben das an der Uni geübt. Die Hälfte spielt die Patienten und die Hälfte spielt die Ärzte. Die Patienten sitzen auf einem Sessel und weinen und die Ärzte legen ihnen die Hände auf die Oberarme. Ein paar haben sich nicht getraut oder wollten nicht, weil sie es blöd gefunden haben. Aber an der Uni hat der Oberarm immer funktioniert.
Ambros, sage ich. Er reagiert nicht. Ich greife fester zu und sage noch einmal lauter, Ambros. Der Alte im Nebenbett jammert kurz und ist wieder still. Ambros, sage ich, und schüttle ihn leicht. Er macht die Augen auf und sieht mich an. Guten Morgen, sagt er.
Ambros, sage ich. Er reibt sich die Augen. Ben, sagt er und sieht mich an, den Mantel, das Tablett mit den Blutröhrchen, bist das du? Praktikum, sage ich, seit heute. Wolltest du nicht etwas anderes studieren?, fragt er. Er greift zur Fernbedienung neben dem Bett und stellt das Kopfteil höher. Umdisponiert, sage ich.
Kommst du Blut abnehmen?, fragt er, und ich sage, soll ich jemand anderen holen? Nein, sagt er, warum? Ed behauptet, du lässt dich nur von Ärzten stechen, sage ich, und Ambros sagt, Ed redet den ganzen Tag nur Scheiße.
Ich lege den Stauschlauch an, nehme die Nadel zwischen Daumen und Zeigefinger und steche zu. Das Blut, das ins Röhrchen fließt, ist hellrot und pulsiert. Das ist nicht gut. Das ist gar nicht gut. Pulsieren heißt: Arterie getroffen. Ich schließe die Blutröhrchen an. Hoffentlich passiert nichts. Ambros fragt, alles okay? Jaja, sage ich. Nichts ist okay. Ich sitze am Bett meines Exfreundes im Krankenhaus und habe seine Armarterie punktiert. Die Armarterie ist eine Endarterie und das heißt: Wenn sie kaputtgeht, geht der Arm kaputt. Ich lege den Tupfer auf die Einstichstelle und ziehe die Nadel raus. Fest draufdrücken, sage ich zu Ambros.
Wie geht es dir?, fragt er und ich sage, gut. Ich möchte ihn nach seiner Diagnose fragen, warum er hier ist, was er gemacht hat die letzten Jahre, und während ich noch überlege, sagt er, erzähl, wieso Medizin, was hast du gemacht, wo? Ich sage, tut mir leid, ich kann jetzt nicht, ich muss zur Visite. Dann komm später wieder, sagt er, du musst mir alles erzählen.
Oberarzt Wendelin Pomp sitzt im Schwesternzimmer und liest Zeitung. Ich stelle die Blutröhrchen ab und sage, guten Morgen, ich bin der neue Student. Guten Morgen, sagt er, ich bin Pomp. Benjamin, sage ich und gebe ihm die Hand. Ich setze mich zu ihm.
Das Hochwasser, sagt er, schrecklich. Die Zeitung titelt mit JAHRHUNDERTHOCHWASSER und einem Foto von einem Feuerwehrboot, das auf einer überfluteten Straße schwimmt. Unsinn, sagt Pomp, Jahrhunderthochwasser ist Unsinn. Warum?, frage ich. Na ja, sagt er, wir haben 2002, woher wollen die wissen, ob im Rest des Jahrhunderts nicht noch ein schlimmeres Hochwasser kommt? Vielleicht meinen sie, dass es das schlimmste Hochwasser seit hundert Jahren ist, sage ich. Nein, sagt er, es hat gerade ein neues Jahrhundert angefangen und wir haben noch achtundneunzig Jahre Zeit.
Ed kommt herein und legt die Mappe mit Patientenkurven auf den Tisch. Pomp schiebt seine Kaffeetasse und die Zeitung zur Seite. Starten wir mit der Visite?, fragt Ed. Pomp nickt und schlägt die erste Kurve auf.
So, sagt er, wie geht es dem Wegener? Ed sagt, Ben war gerade bei ihm. Wer ist Ben?, fragt Pomp und ich sage, das bin ich. Ach so, sagt er, Benjamin. Wie geht es dem Wegener? Geht ihm ganz gut, sage ich und Pomp sagt, fein. Er streicht ein paar Infusionen weg und schreibt eine Tablette auf.
Was hat er überhaupt?, frage ich und Pomp hält mir die Kurve hin. Melanom steht da, linkes Schulterblatt, Clark Level IV, pT3aN0M1. Wenn ich mich jetzt an die Klassifikation erinnern würde. Aber M1 kenne ich. M1 heißt Metastasen. Er hat Metastasen?, frage ich und Pomp sagt, ui, die fehlen ja. Er nimmt seinen Stift und schreibt: 2. Lebermetastasen, 3. Lungenmetastasen, 4. Meningeosis carcinomatosa. Meningeosis heißt, Metastasen an den Hirnhäuten. Dura mater, Pia mater, Arachnoidea. Kurz: Scheißprognose. Schrecklich, sagt Pomp, oder? Haben wir schon einen Termin für die MR? Ed schüttelt den Kopf.
Wegen der Blutabnahme, sage ich. Welche Blutabnahme, fragt Pomp und ich sage, bei Wegener. Die war vielleicht arteriell. Na ja, sagt Pomp, wir werden ja sehen, ob der Arm kalt wird, und er klopft mir auf die Schulter.
Pomp blättert weiter. So, sagt er, der tote Kobicek. Habt ihr den ins selbe Zimmer gelegt? Ja, sagt Ed, sonst war nichts mehr frei.
Der tote Kobicek, sagt Pomp, will seit drei Monaten sterben und kann nicht. Sie haben ihn von zu Hause zum Sterben ins Altersheim geschickt und dann weiter auf die Neurologie. Nachdem er dort vier Wochen lang nicht gestorben ist, haben sie ihn wieder ins Heim gebracht. Er ist aber wieder nicht gestorben, also ist er jetzt bei uns. Wie lange schon?, frage ich und er sagt, seit gestern. In einer Woche, sagt er, schicke ich ihn zurück, falls er es bis dahin nicht geschafft hat.
Pomp macht die restlichen Patienten durch, streicht ein paar Medikamente weg und ordnet Untersuchungen an, dann gehen wir los. Ed fragt, wo fangen wir an?, und Pomp sagt, das ist mir egal. Dann nehmen wir gleich Bens Freund, sagt sie.
Der tote Kobicek liegt auf einem Luftkissenbett. Wie meine Schweine, die haben auch so eins. Der Motor am Fußende surrt und ein Schlauch bläst Luft in die Matratze. Auf dem Schlauch steht in gelben Klebebuchstaben „CPR“. Das heißt, man kann bei einer Reanimation den Schlauch aus dem Motor ziehen und die Matratze fällt in sich zusammen, damit man einen harten Untergrund für die Herzdruckmassage hat. Nicht, dass das für Kobicek wichtig wäre, aber die Technik ist da.
Das Bett verhindert Druckgeschwüre, was genauso angesichts der Gesamtsituation sowohl für Kobicek als auch die Schweine egal wäre, aber den Tierschützern nicht. Oder den Angehörigen.
Edna, sagt Pomp, nimm bitte das Gebiss raus, sonst erstickt er noch an seinen Zähnen.
Ambros hat Kopfhörer auf den Ohren und liest. Er hat eine normale Matratze und an seinem Bett ist kein Motor. Ich versuche, einen Blick auf seinen Arm zu kriegen. Sieht rosig aus. Zumindest ist er nicht kreideweiß. Und wenn ich wirklich die Arterie kaputt gemacht hätte, könnte er nicht so ruhig lesen.
Pomp geht weiter zu Ambros und spricht ein paar Worte mit ihm, aber ich höre nicht genau hin, weil ich Ed zusehen muss, wie sie dem toten Kobicek mit Handschuhen zuerst die Oberkieferprothese und dann die Unterkieferprothese entfernt. Es macht ein schmatzendes Geräusch.
Sobald ich den Termin weiß, sage ich es Ihnen, sagt Pomp und Ambros nickt. Ich will nach Hause, sagt er, und Pomp sagt, das verstehe ich.
Ich stelle mich hinter Pomp und winke Ambros zu. Er lächelt mich an und Pomp dreht sich kurz um. Sie können das ja mit Benjamin besprechen, sagt er, Sie kennen sich ja besser. Wiedersehen, sagt er, und geht aus dem Zimmer.
Was sollen wir besprechen?, frage ich Ambros und er sagt, keine Ahnung, es geht nur um den Termin für die MR. Aber jetzt erzähl, fragt er, was hast du gemacht die letzten Jahre?
Ich erzähle ihm vom Zivildienst im Altersheim, vom Studium, den Urlauben, Festivals und so weiter, und dann frage ich, und du, wolltest du nicht weg aus der Stadt und studieren? Wollte ich, sagt er, aber es war kein Geld mehr da, also bin ich geblieben, hab gearbeitet, gekellnert und so, und nebenbei fotografiert. Und deine Mutter, sage ich und er sagt, weggezogen. Wo wohnt sie jetzt?, frage ich und er sagt, keine Ahnung, irgendwo in Deutschland mit ihrem Typen.
Ich hole Pomp und Ed zwei Zimmer weiter ein. Am Türschild steht nur ein Name: Follert.
Du solltest wissen, sagt Ed zu Pomp, dass sie ihre Blutdrucktabletten immer noch nimmt. Warum?, fragt Pomp, die habe ich doch abgesetzt und Ed sagt, sie hat eine Packung im Nachtkästchen. Pomp sagt zu mir, Frau Follert hat ein Zungengrundkarzinom und ein Loch in der Wange. Sie nimmt eine Tablette, die fällt durch das Loch wieder raus und dann nimmt sie sie nochmal. Ich frage, warum macht sie das? Wahrscheinlich, sagt Pomp, hat ihr der Hausarzt irgendwann gesagt, dass sie stirbt, wenn sie die Blutdrucktabletten nicht nimmt.
Wir gehen ins Zimmer. Es riecht nach einem Raumspray mit Zitrusaroma und dazu, ganz leicht, nach faulem Fleisch.
Frau Follert, wie geht es Ihnen?, fragt Pomp und sie sagt, es geht mir gut. Sie hält sich ein Taschentuch vor den Mund und fängt damit den Speichel auf, der ihr beim Reden aus dem Mund läuft. Die rechte Seite ihres Gesichts ist von einem Verband verdeckt.
Gut, sagt Pomp, aber es gibt doch sicher etwas, das Sie stört. Der Geruch, sagt sie, der Geruch stört mich schon. Und Schmerzen?, fragt Pomp, und sie sagt, nur der Geruch, aber da kann man nichts machen. Pomp sagt, da kann man schon etwas machen, Schwester Edna macht Ihnen dann einen schönen Verband.
Möchten Sie eine Tablette zum Schlafen?, fragt Pomp. Nein danke, sagt Frau Follert, es ist nur der Geruch.
Nach der Visite sagt Pomp, willst du einen Kaffee? Ich sage ja, holen wir uns einen. Nicht auf der Station, sagt Pomp, da können uns die Schwestern sehen.
Das ist überall gleich. Wenn man mit der Visite fertig ist, muss man möglichst schnell von der Station verschwinden. Auch, wenn man nichts zu tun hat, weil wenn man auf der Station bleibt, fällt irgendeiner Schwester garantiert irgendeine Arbeit ein. Chirurgen haben es gut, die können sich im OP verstecken. Wir haben keinen OP, aber eben den Kaffeeautomaten im Erdgeschoß und eine Raucherterrasse.
Ich bin dann doch auf die Station zurückgegangen und Ed hat mich sofort erwischt. Sie fährt mit dem Verbandswagen zu Frau Follerts Zimmer. Hilfst du mir?, fragt sie. Sicher, sage ich, was soll ich tun? Wir gehen zum Zimmer.
Sei nett zu Frau Follert, sagt sie, sie hat letzte Woche versucht, sich aufzuhängen. Wie, sich aufzuhängen, sage ich, hier? Ja, hier, sagt Ed, aber sie hat es mit dem Infusionskatheter versucht und hat ihn sich dabei rausgerissen. War eine Sauerei, sagt sie, aber sonst ist nichts passiert. Geht es ihr jetzt besser?, frage ich und sie sagt, der Psychiater ist zufrieden. Sie klopft an die Türe.
Hallo, Frau Follert, sagt sie, wir machen jetzt den Verband. Frau Follert nickt und fährt mit den Fingern unter den Tupfer über ihrer Wange und kratzt sich.
Halt das hier, sagt Ed und drückt mir zwei Packungen Tupfer in die Hand. Sie legt ein grünes OP-Tuch auf den Verbandswagen und bereitet ihre Sachen vor. Sie nimmt mir die Tupfer ab, öffnet die Verpackung und lässt die Tupfer auf das Tuch fallen.
Sie stellt eine Tasse mit einer grünen Flüssigkeit hin. Das riecht wie Tee, sage ich und sie sagt, das ist auch Tee, Salbeitee, gegen den Geruch.
Zieh dir Handschuhe an, sagt Ed, und zieh bitte den Tee in ein paar Spritzen auf. Sie bereitet die restlichen Sachen vor und ich gebe ihr die Spritzen.
Ed entfernt den Verband. Es ist kein komplizierter Verband, nur Tupfer, die mit Klebeband fixiert sind. Mir wird schlecht. In Frau Follerts Wange ist ein Loch, durch das man ihre Zähne sehen kann. Die Ränder der Wunde sind dick und rot.
Immer, wenn mir schlecht wird, drücke ich die Zunge fest gegen den Gaumen und rolle die Zehen ein. Dann stehe ich so da und halte die Spannung, bis die Übelkeit nachlässt. Meistens hilft das, die Übelkeit ebbt langsam ab und tritt in den Hintergrund. Jetzt nicht, mir ist immer noch schlecht. Ich versuche, nicht hinzusehen. An der Wand über dem Bett hängen eine Kinderzeichnung und ein Kruzifix aus Holz.
Nimm das, sagt Ed und drückt mir einen Packen Tupfer in die Hand, und halt das da hin. Ich halte die Tupfer an Frau Follerts Hals, knapp unterhalb der Wunde. Ed nimmt die erste Spritze mit Salbeitee. Sie spült die Wunde, zuerst an den Rändern, dann in der Mitte über dem Loch. Einmal spritzt sie zu fest und Frau Follert hustet. Tut das gut?, fragt sie und Frau Follert nickt. Ich spüre den warmen Tee durch die Handschuhe.
Ed macht den Verband fertig. Ganz zuunterst kommt eine Auflage mit Kohlebeschichtung, gegen den Geruch. Darüber legt sie große Tupfer und klebt sie mit Pflasterstreifen fest.
Brauchen Sie noch etwas?, fragt Ed und Frau Follert sagt, Eis. Wie bitte?, sage ich, und sie sagt noch einmal lauter, Eis, bitte kann ich Eis haben. Holst du es bitte, sagt Ed, ich mache das hier inzwischen fertig.
Die Schwestern machen Eis in Urinproberöhrchen. Das funktioniert wie Paiper-Eis, nur kleiner und dünner. Sie machen Zitrone, Himbeere und Cola, aber sie frieren alles ein, was die Patienten wollen, Bier, Prosecco, Milch und so weiter. Ich gehe zum Kühlschrank und nehme eines von jeder Sorte mit. Eis in Urinproberöhrchen ist eine seltsame Idee. Aber so haben die Patienten einen Kühlschrank voll Eis und die ganzen Röhrchen eine sinnvolle Verwendung.
Ed hat den Verband wieder fertig gemacht und das Fenster geöffnet. Es riecht nach Salbeitee.
Welche Sorte wollen Sie?, frage ich und Frau Follert zeigt auf das Colaeis. Ich schiebe es ein Stück weit aus dem Röhrchen und berühre ihre Lippen mit dem Eis. Sie nimmt es in die Hand und saugt. Ed zieht die Handschuhe aus und sagt, ich nehme Zitrone. Für mich bleibt Himbeere.
Wir bleiben bei Frau Follert und lutschen unser Eis, Ed und ich, und am Ende werfen wir die leeren Röhrchen auf den Tisch mit dem Verbandszeug. Ed holt eine Tube mit Lippenbalsam aus einer Lade und drückt eine kleine Wurst heraus.
Sie verteilt die Creme mit dem Zeigefinger zuerst auf Frau Follerts Unterlippe, dann auf der Oberlippe. Sie nimmt noch etwas mehr und cremt die Mundwinkel ein.
Wegen der Aussicht, hat der Klassenvorstand gesagt, wegen der Aussicht sollen wir hinaufgehen, und ich habe mir gedacht, nie im Leben gehe ich auf den Petersdom rauf. Aber dann ist Ambros gegangen und ich auch.
Ich habe noch nie eine so enge Wendeltreppe gesehen. Beim Hinaufgehen kann man sich mit den Händen ein paar Stufen weiter oben abstützen, wie beim Bergsteigen. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn jemand hier drin eine Panikattacke bekäme. Zum Glück ist Ambros relativ robust und ich habe vorhin heimlich ein Bier getrunken.
Das Treppenhaus ist eng und so schief, dass ich den Oberkörper schräg halten muss, um weiterzukommen. Wenn man die Ellenbogen ausstreckt, scheuert man links und rechts an den gefliesten Wänden. Ambros schaut zurück und sagt, Marius, beeil dich. Seit zwei Tagen nennt er mich Marius. Wahrscheinlich, weil es lateinisch klingt.
Wir treten auf eine Aussichtsplattform hinaus. Ich schaue auf die Stadt und stelle mir vor: fliegen. Ambros, sage ich, kannst mir eine schnorren? Er klemmt seine Zigarette in den Mundwinkel. Selbst gedreht. Er holt den Tabak raus, die Papers, den Filter. Er hat eine kleine Maschine zum Selberdrehen, stellt sie auf dem Steingeländer ab. Aber mit einer Maschine geht das Coole am Selberdrehen verloren. Schön werden sie aber, die Zigaretten. Bitte schön, sagt er und ich sage, danke, hast du mal Feuer?
Die Mädels wollen schon wieder runter. Zu kalt ist es und langweilig. Außerdem wollen sie auf einen Kaffee gehen und, wenn möglich, vorher den Papst sehen. Der Klassenvorstand geht mit. Wir sollen nachkommen, in zehn Minuten. So lange wollen sie warten, ob der Papst aus einem Fenster winkt.