Leija - J. S. Ellen - E-Book
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Leija E-Book

J. S. Ellen

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Beschreibung

In "Leija - Der Fluch der Träumerin" begleiten wir Mary, eine unscheinbare Frau mit einer verlorenen Gabe. Als letzte Überlebende aus Leija, einer Welt, in der Träume Realität werden konnten, entfaltet sich Marys Schicksal. Ihr 08/15-Leben nimmt eine düstere Wendung, als sie ihre Gabe durch einen alten, merkwürdigen Mann zurückerhält. Jedoch kommt diese Gabe mit einem verhängnisvollen Fluch. Jeder Albtraum, den sie erschafft, fordert einen realen Tribut in Form von verschwindenden Menschen. Als ihre Stadt im Albtraum versinkt, steht Mary vor einem gefährlichen Spiel, dessen Regeln sie nicht kennt. Der Volkert, ihr Gegner in diesem Spiel, scheint ihr immer einen Schritt voraus zu sein. Im verzweifelten Versuch, ihre Stadt zu retten, begibt sich Mary in eine Traumwelt, die sie nicht als solche erkennt. Durch die Verbindung zu Chris kämpft sie darum, zwischen Realität und Traum zu unterscheiden. Der Wettlauf gegen die Zeit führt zu intensiven Angriffen des Vokerts. In einem nicht enden wollenden Albtraum muss Mary zwischen Flucht, Verstecken und permanenter Gefahr handeln. Der Showdown im Wald, wo die Grenzen zwischen Traum und Realität verschwimmen, zwingt Mary zu einer letzten, verzweifelten Konfrontation mit ihrem Widersacher. Am Ende bleibt nur ein Ausweg: Der Weg durch die Grenze, ins Zentrum der Unendlichkeit des Nichts. "Leija - Der Fluch der Träumerin" ist eine fesselnde Urban Fantasy, die die Grenzen zwischen Traum und Realität auf innovative Weise verschwimmen lässt, während die Liebe und der Kampf um das Überleben die Protagonisten auf eine emotionale Achterbahnfahrt entführen.

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J. S. Ellen

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Prolog

Als Kind hatte ich eine blühende Fantasie. Eine, die über „Der Boden ist Lava“ und andere wundersame Spiele weit hinausreichte. Meine Welt war mir oft fremd und ich wusste zum Teil nicht, wann ich träumte oder wann ich wach war. Ich sah Wesen um mich herum, die nicht hergehörten. Zumindest schien sie außer mir kein anderer Mensch zu sehen.

So geschah es, dass ich im Alter von vier Jahren einen Freund hatte, den niemand wahrnahm. Alle sagten, ich hätte ihn mir ausgedacht, machten sich über mich lustig und grenzten mich aus. Selbst meine Adoptiveltern waren beunruhigt. Ich verstand die ganze Aufregung nicht, denn er tat keinem etwas.

Milo - so hatte ich ihn genannt - war etwa so groß wie eine Katze und hatte wuscheliges Fell. Viel mehr Gemeinsamkeiten hatte er mit einem solchen Stubentiger aber nicht.

Anders als dieser besaß er fünf Schwänze, wobei jeder einer anderen Tierart zuzuordnen war. Der erste war der eines Skorpions, der zweite eines Löwen, der mittlere eines Kapuzineraffen, der vierte eines Drachen und der letzte eines Elefanten. Sein mehrfach gemustertes Fell war ebenso spannend wie der Rest. Auch seine vier Pfoten stammten von verschiedenen Tieren. Wie bei einem Greifen waren die Fänge eines Adlers vorne und die Tatzen eines Löwen hinten.

Doch je öfter ich mit Milo spielte und die Kinder aus dem Kindergarten ignorierte, umso schlimmer wurde das Verhalten meiner Adoptiveltern. Anfangs taten sie es als Phase ab, später als eine psychische Störung. Damals hatte ich logischerweise keine Ahnung, was genau das heißen sollte. Milo erklärte mir dann, dass Erwachsene oft nicht in der Lage waren, zu sehen, was um sie herum alles Wunderbares geschah, und deswegen nach etwas suchten, das rational erklärbar war. Doch auch das verstand ich zu der Zeit nicht.

So beließ es Milo dabei und war einfach für mich da. Er half mir, das Verhalten der Erwachsenen zu verstehen und mich nicht davon angegriffen zu fühlen. Es gab aber auch genug Tage, an denen er mich ohne viele Worte tröstete. Das waren die Tage, an denen ich mich wieder nicht verstanden fühlte, bei meinen Adoptiveltern nicht weiterkam oder sie immer überforderter mit mir wurden. Aber egal wie schlimm etwas war, Milo war die ganze Zeit da und unterstützte mich.

Kurz vor meinem sechsten Geburtstag schleppten sie mich zu einem Arzt und nach einigen Wechseln hatten sie einen gefunden, mit dem sie zufrieden waren und der mir wirklich helfen konnte.

Das sagten zumindest meine Adoptiveltern.

Von heute auf morgen war Milo verschwunden. Lange hatte ich ihm nachgeweint, ihn vermisst und überall gesucht. Erfolglos. Und als ich älter wurde, konnte ich nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob ich ihn erfunden oder ob es ihn tatsächlich gegeben hatte. Damals, als ich klein war, war ich der felsenfesten Überzeugung, dass Milo real war. Aber waren sich nicht alle Kinder mit imaginären Freunden sicher, dass ihrer wirklich existierte?

Leider war das nicht alles, was verschwand. Ich verlor die Gabe zu träumen, büßte die Leichtigkeit eines Kindes und den unschuldigen Blick für die Welt ein.

Doch das Schlimmste?

Ich verlor meine Fantasie.

Kapitel 1

Wieder und wieder sah ich auf die Uhr und zählte die Sekunden bis zum Feierabend. Sechzig an der Zahl, die sich wie Kaugummi zogen. Zwischendurch fiel mein Blick auf meine Kollegen. Zombiemäßig starrten sie auf die Bildschirme, festgekettet wie Hunde an einer Leine.

Ich schnaufte resigniert, denn mir erging es nicht besser. Mit dem Kugelschreiber zwischen meinen Fingern klopfte ich im Takt des Sekundenzeigers auf den Schreibtisch. Als zählte er mit mir mit. Es fühlte sich wie eine Unendlichkeit an, weil ich erst dann mein Telefon ausstellen und endlich aus diesem Büro verschwinden konnte.

Wenn ich den heutigen Arbeitstag herumbekam, hatte ich es geschafft. Es war Freitag und das Wochenende stand so knapp vor der Tür. Der Geruch von leckerem Essen und meiner Lieblingsdecke kitzelte regelrecht in meiner Nase. Ich wollte nur noch weg hier. Von all den Kollegen und deren Ausdünstungen, von den nervigen Stimmen um mich herum und dem muffigen Dunst des Alltags.

Mein Blick glitt zu dem leeren Wasserglas auf meinem Schreibtisch, das ich in der letzten Stunde nicht auffüllen konnte, weil es die Regeln verboten, den Platz zu verlassen. Die abgestandene und verbrauchte Luft im Raum machte meinen Durst unerträglich. Ich schluckte trocken und schwang mit meinem Stuhl hin und her. Abwartend.

Mein persönliches Gefängnis war ein Großraumbüro, in dem ich tagtäglich acht Stunden mithilfe eines Headsets an einem Computer gefesselt war. Immer beobachtet und kontrolliert. Wie lange brauchte ich heute? Wie viele Calls schaffte ich? Machte ich zu viele Pausen oder zu wenig? Erreichte ich meine Zahlen? War ein guter oder ein schlechter Tag?

Zahlen, Zahlen, Zahlen. Sie bestimmten alles.

Obwohl das Büro hell gestaltet und von Fensterfronten umrandet war, war es wie eine dunkle Höhle. Es nahm einem jegliches Licht. Ich fühlte es in mir und sah es an meinen Kollegen. Jene, die neu anfingen, waren motiviert, wollten sich beweisen und zeigten, was sie konnten. Doch je länger man hier war, umso mehr verfiel man und wurde Teil einer monotonen Masse. Wie ein Einheitsbrei.

Alle waren gleich. Individuen waren nicht gewünscht und wurden ausgemerzt. Dabei wurde Innovation und Ideenreichtum als unbrauchbar und überheblich dargestellt. War man anders, wurde man so lange zurechtgeschnitten, bis man passte oder ging. Hatte man Ideen, hatten nicht nur die Kollegen einen abfälligen Blick für einen übrig. Man fügte sich automatisch ein. Hier war es besser, in der Masse unterzugehen, als herauszustechen. Sowohl positiv als auch negativ. Und dennoch war es der Job, den ich bis jetzt am längsten in meinem Leben hatte halten können.

Gerade als ich dabei war, die letzten zehn Sekunden countdownmäßig in Gedanken herunterzuzählen, klingelte das Telefon. Mit einem Augenrollen nahm ich das Gespräch an und brabbelte lustlos die Begrüßungsformel herunter, die uns so lange eingeimpft worden war, dass man sie selbst im Schlaf herunterbetete.

Ich hoffte, dass mein Gesprächspartner schnell zum Punkt kam. Ich wollte doch nur hier weg. Leider musste der Kunde sich erst einmal Luft machen. So meckerte er los und erzählte mir Dinge, die nichts mit seinem Problem zu tun hatten und dennoch wichtig genug für ihn waren, um gesagt zu werden. Nach etwa einer Minute ununterbrochenem Getose versuchte ich höflich zu Wort zu kommen, um mich zu erkundigen, was ich denn für den Mann tun könnte. Mit mäßigem Erfolg.

Eine erneute Schimpftirade begann. Ich zuckte resignierend mit den Schultern, lehnte mich in meinem Stuhl zurück und sah aus dem Fenster. Das konnte dauern.

„Sind Sie noch dran, Frau … Wie war noch mal Ihr Name?“

Erschrocken zuckte ich zusammen. Hatte ich doch glatt vergessen, Regel Nummer eins anzuwenden: Immer dem Gesprächspartner durch Laute signalisieren, dass man noch am Apparat war. So räusperte ich mich und antwortete höflich: „Mein Name ist Mary Mayson und natürlich höre ich Ihnen zu, Herr Fried. Wenn Sie kurz …“

Wieder unterbrach er mich und verlor sich in wüsten Beschimpfungen. Dinge wie „Nie funktioniert hier irgendwas“ reihten sich an „Dann werde ich eben kündigen“ und „Ich beschwere mich beim Vorstand“.

Ich schmunzelte, weil das nicht die ersten Gespräche dieser Art waren. Also beantwortete ich seine Aussagen mit: „Hm. Ich kann Sie verstehen und wenn Sie möchten …“, doch immer wieder fiel er mir ins Wort. Und ich versuchte, ihm zu versichern, dass ich ihm helfen wollte, sofern er mich ließ. Doch das tat er nicht.

Allmählich verlor ich die Geduld und stoppte letztendlich seinen Wutausbruch etwas unsanft und unhöflich. „Herr Fried, warum haben Sie angerufen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, legte ich los: „Sie wollten, dass man Ihnen hilft? Dann lassen Sie mich meinen Job machen und genau das tun. Es bringt nichts, wenn Sie nur rummeckern und mir nicht einmal die Chance geben, etwas zu sagen.“ Ich atmete kurz ein und aus.

Nicht ausfallend werden, Mary. Du brauchst den Job. Noch eine Kundenbeschwerde kannst du dir nicht leisten.

„In der Zeit, in der Sie geschimpft haben, habe ich einige Klicks gemacht und Ihr Problem gelöst. Falls es wider Erwarten doch nicht erledigt sein sollte, rufen Sie gerne wieder an.“

Ein knapper Moment des Schweigens folgte, welchen er schließlich mit einer Entschuldigung unterbrach. Er stammelte einen kurzen Dank und beendete das Gespräch.

Endlich Feierabend! Jetzt nichts wie weg hier. Eilig ging ich zu meinem Spind, schloss mein Headset und mein Nachschlagewerk ein, schnappte mir meine Tasche und sprintete, nur halb in meiner Jacke steckend, zur U-Bahn. Ich hoffte darauf, sie noch zu bekommen, wurde aber nach einem Blick auf die Uhr meines Handys direkt von einer erneuten Welle schlechter Laune gebremst. Das würde ich niemals rechtzeitig schaffen.

Also ließ ich mir Zeit, trottete gemütlich weiter in Richtung der U-Bahn-Station, steckte mir meine Kopfhörer in die Ohren und wählte Musik aus, die mich normalerweise aus jeder schlechten Phase herausholte. Also scrollte ich schnell durch meine Playlist und wählte alles von Taylor Swift aus, was ich finden konnte. Ich sollte mir mal langsam ein Album von der Sängerin anlegen, dann würde das alles etwas schneller gehen. Geduld war gerade nicht meine Stärke.

Endlich trafen die ersten Klänge auf mein Trommelfell und ich wartete auf die Ablenkung. Auf das entspannte Gefühl, das sich normalerweise regte. Doch diesmal passierte nichts. Immer wieder erklang die Stimme des letzten Kunden in meinen Ohren.

„Sie haben ja keine Ahnung! Wie würde es Ihnen gehen, wenn man so mit Ihren Sachen umgehen würde? Finden Sie das gut?“

Ich atmete tief ein und aus, konzentrierte mich auf die Musik, hörte und spürte die nächsten Klänge. Dennoch schossen meine Gedanken wieder zum Kunden.

„Sind denn alle inkompetent? In welcher Zeit sind wir gelandet?“

Meine Nackenhaare stellten sich auf. Es war hoffnungslos. Selbst die ruhigste Musik hätte mich nicht mehr entspannen können. Also riss ich mir die Stöpsel heraus, stopfte sie unsanft in ihre Ladebox und warf sie in meine Jackentasche.

Dann wartete ich auf die U-Bahn und starrte dabei gedankenlos auf meine Füße. Meine Stiefel hatten schon bessere Tage hinter sich. Während ich sie betrachtete, wackelte ich mit den Zehen und unterdrückte ein erneutes Seufzen. Wo konnte ich Geld einsparen, damit ich mir für den herannahenden Winter vernünftige Schuhe kaufen konnte? Der Hungerlohn reichte gerade mal für die Fixkosten und nicht wirklich zum Leben, doch irgendwie schaffte ich es immer. Also diesmal auch.

Während der Bahnfahrt versuchte ich weiter mich zu beruhigen, doch zwischen all den Menschen in der überfüllten U-Bahn war dieses Unterfangen chancenlos. So kam ich etliche an mir vorbeirauschende Bilder, unzählige Haltestellen und Menschenmassen später zu Hause an.

Achtlos warf ich meine Jacke an die Garderobe. Ob sie hängen blieb, konnte ich nicht mehr sehen. Ich hatte Hunger und ging schnurstracks in die Küche. Meine Schuhe streifte ich mir im Laufen ab und freute mich über den weichen Boden unter meinen Füßen.

Meine kleine Zweizimmerwohnung hatte nicht viel Komfort, doch für den Teppich war ich dankbar. Ohne ihn hätte ich ständig kalte Füße. Denn ich sparte, wo es für mich akzeptabel war. In dem Fall an der Heizung. Die restlichen Bewohner des mehrstöckigen Hauses heizten genug, um eine minimale Grundwärme bei mir zu erzeugen.

Ich durchkreuzte das Wohnzimmer und erreichte endlich mein Ziel. Schwungvoll zog ich den Kühlschrank auf und starrte in einen weißen, beleuchteten, aber leeren Kasten. Na ja, nicht ganz leer. Zwei Flaschen Hugo standen in der Tür. Sie halfen wohl nicht gegen meinen Hunger. Mein Magen knurrte, er gab mir recht.

„Mist!“ Frustriert knallte ich die Tür zu, lehnte mich mit dem Rücken dagegen, sah an die Decke und suchte nach einem Plan B.

Ach, was soll’s. Schulterzuckend nahm ich den Prospekt meines Lieblingslieferdienstes vom Kühlschrank und studierte es ausgiebig. Ich grinste in mich hinein. Kurz meldete sich mein schlechtes Gewissen, denn eigentlich wollte ich abnehmen. Das Problem dabei war, dass selbst kochen so anstrengend und definitiv nur etwas für gut organisierte Menschen war. Haha, nicht mein Fachgebiet.

Also nicht, dass ich jetzt aussah wie ein Elefant, aber ich wollte schon darauf achten, was ich aß, damit ich nicht wie einer endete. Meine Figur hätte ich als sportlich und schlank bezeichnet. Ab und an schaffte ich es sogar - na ja, eher seltener, aber ich gelobte Besserung – zu joggen.

Wenn ich dieses Thema mal bei meiner besten Freundin Fay ansprach, kam oft zurück: „Wo willst du denn abnehmen? Am Ohrläppchen?“ Lächelnd ließ ich ihre Kommentare an mir abprallen, denn meine Meinung war eine andere. Fay kannte mich nur bekleidet.

Im Kopf ging ich die ganze Zeit den Prospekt durch und schwankte noch zwischen Lasagne und Pizza. Doch erst einmal wollte ich es mir gemütlich machen. So band ich mir, den Feierabend einläutend, mein Haar zu einem Knoten zusammen. Anders als erhofft, war es noch immer feuerrot.

Schon als Kind fand ich diese Farbe schrecklich und fühlte mich mit ihr bestraft. In jeder meiner Lebensphasen war mein Haar Thema Nummer eins. Angefangen im Kindergarten, als die Kinder mich mit einem feuerspuckenden Drachen verglichen, über die Schulen, in denen ich bei den Beschimpfungen zwischen Pumuckl und dem Sams wählen konnte, bis hin zur Arbeitswelt, in der die dummen Sprüche auf eine andere Ebene gezogen wurden. Dort durfte ich mich mit Aussagen wie „Rost im Dach, Wasser im Keller“ vergnügen. Das Niveau sank, umso älter ich wurde.

Mit den Händen am Zopf beschäftigt, verschwand ich im Badezimmer. Wie bei meinen Haaren fragte ich mich auch bei meinen Augen, von wem ich diese wohl hatte. Von meiner Mutter oder meinem Vater? Schnell schob ich den Gedanken beiseite, denn leider wusste ich nichts von ihnen. Nicht einmal ein Bild gab es, auf dem sie zu sehen waren. Keiner, der mir von ihnen erzählen konnte, niemand, der sie kannte.

Das helle Grau meiner Augen war ungewöhnlich. Etwas Ähnliches hatte ich bisher nicht gesehen. Ich richtete meinen Blick auf den Spiegel und betrachtete die Frau, die mir daraus entgegensah. Erschrocken stellte ich fest, dass ich genauso genervt aussah, wie ich mich fühlte. Meiner persönlichen Hölle sei Dank.

Ich wusch mir das Make-up aus dem Gesicht, schlüpfte in meine bequemste Jogginghose und zog mir ein T-Shirt mit einem blöden Spruch an. Heute trug ich mein schwarzes Lieblings-Oversized-Shirt, auf dem stand: „Wir sind hier nicht bei wünsch dir was, wir sind hier bei so isses! “ Ich liebte diese Shirts. Nur leider waren die in meinem Alter nichts mehr, womit man draußen herumlaufen sollte.

Vor Kurzem hatte ich meinen einundzwanzigsten Geburtstag gefeiert und seitdem dachte ich ein wenig anders über mein Leben als noch davor. Obwohl ich vermutlich zu jung für eine Midlife-Crisis war, stiegen die ersten Symptome immer mal wieder an die Oberfläche.

Fay zog mich deswegen regelmäßig auf. Sie machte sich lustig über meine Schwarzmalerei und Torschlusspanik. Aber ich fand es gar nicht so abwegig, denn ich war leider noch immer und blöderweise dauerhaft Single. Irgendwie sollte es nicht so klappen mit den Männern. Keiner hielt mich lange genug aus, als dass man es als etwas Ernstes hätte bezeichnen können.

Während um mich herum im Freundeskreis die Ersten in festen und schon längeren Beziehungen steckten, wollte sich so etwas bei mir nicht einstellen. Es waren immer nur Liebeleien und nie ernsthafte Beziehungen. Und wenn ich mich darüber beschwerte, versuchte Fay, mich aufzubauen und erwähnte in ihrer Argumentationskette mehrfach, dass ich doch noch jung war und grundlos Panik schob. Nicht jeder hätte im Leben seinen Traumpartner schon gefunden. Sie kam dann mit diesen altertümlichen Floskeln um die Ecke von wegen: „Jeder Topf findet seinen Deckel“. Oder solche cleveren Sprüche wie: „Man muss viele Frösche küssen, bis man seinen Prinzen findet“.

Bla, bla, bla. Na klar, sie hatte auch gut reden. Immerhin war sie mit Mark schon sechzehn Monate zusammen. Woher ich das so genau wusste? Sie schmierte mir die genauen Zahlen immer wieder aufs Brot. Und obwohl ich wusste, dass sie es nicht böse meinte, war ich schon ein bisschen gekränkt.

Erst letztens hatte ich einen fadenscheinigen Grund erfunden, um unser Gespräch zu beenden. Sie schwärmte ohne Punkt und Komma von Mark. Wie lieb er war und höflich. Wie sehr ihre Eltern ihn mochten und wie perfekt er im Allgemeinen war.

Natürlich freute ich mich für sie. Wir beide waren nicht umsonst wie Pech und Schwefel. Doch dann gab es die Phasen, in denen ich es nicht ertrug. In denen mein Inneres mir Fragen um die Ohren haute, auf die ich keine Antworten fand. Was hatte sie, was ich nicht hatte? Wieso fand ich einfach keinen Typen, der mich wollte und es mit mir aushalten konnte?

Wütend stampfte ich durch meine Wohnung, schnappte mir mein Handy aus meiner Handtasche, die noch immer zwischen Flur und Wohnzimmer auf dem Boden lag, drapierte meine Tasche auf der Kommode und schmiss mich wenig galant auf die Couch. Ich surfte kurz durch die sozialen Netzwerke und schrieb Fay eine Nachricht.

Hey, Fay. Na, wie läuft es im Krankenhaus? Irgendwelche spannenden Geschichten? Hattest du auch so einen beschissenen Tag wie ich? Wünsch dir noch ’ne schnelle Schicht. Meld dich, wenn’s vorbei ist. Lov U

Soweit ich wusste, arbeitete sie noch, würde sich danach jedoch direkt melden. Jeden Tag quatschten und lästerten wir über alles und jeden. Und wenn sie länger Schicht hatte, musste ich mich gedulden, bevor ich meinen Frust mit ihr teilen konnte.

Fay war meine bessere Hälfte. Sie erdete mich und hielt zu mir, obwohl ich echt unausstehlich sein konnte. Denn meine Stimmung konnte stärker schwanken als eine Herz-Rhythmus-Kurve während eines Marathons. War ich in der einen Minute noch total euphorisch, enthusiastisch oder einfach nur gut gelaunt, schlug es dann oft ohne Grund schlagartig um.

Dann verlor meine Welt ihre Farben, wurde schwarz, nahm jedes Licht mit sich und ließ mich in tiefster Finsternis zurück. Meine Gefühle wurden dumpf, waren kaum noch da und trugen mich in die Melancholie. Diese Wechsel kamen auch für mich immer plötzlich und nicht nachvollziehbar. Es überforderte mich und hob meine Welt aus den Fugen.

Zum Glück war dann Fay da, die mich unterstützte. Sie half mir aus meiner Dunkelheit und ließ mich an ihrem Licht teilhaben. Ihrem großen Herzen verdankte ich, dass sie sich nicht abwandte. Dafür liebte ich sie.

Nachdem meine Handysucht zumindest mäßig gestillt war, bestellte ich beim Italiener um die Ecke dann doch den Klassiker. Weder Lasagne noch Pizza. Ich brauchte Routine und wählte Spaghetti Bolognese und einen Salat. Nicht, dass ich jetzt doch gesund leben wollte, aber sonst wäre ich nicht auf den Mindestbestellwert gekommen.

Während ich auf das Essen wartete, räumte ich hier und da einen Teil meines Chaos beiseite und wischte den gröbsten Staub auf den Möbeln mit der Hand weg. Das Klingeln an der Wohnungstür erlöste mich von meiner Aufräumerei und ich hastete in den Flur.

Als ich mein Essen fertig in mich hineingestopft hatte, saß ich auf der Couch und sah wie ein Idiot in die Glotze. Es lief nur Müll, im wahrsten Sinne des Wortes. Auf dem einen Sender fand ich sich gegenseitig anschreiende Menschen vor. Auf dem nächsten sah man Menschen in anderem Kontext ebenfalls brüllend. Danach bekam ich nicht mehr mit, worum es ging. Schon wieder irgendein Reality-Mist.

Mittlerweile überlegte ich wirklich, wie tief Fernsehsender graben mussten, um ein solch unterirdisches Niveau zu erreichen. Ich hatte auf einen Action-Film gehofft oder auf eine Schnulze, eben etwas, das meine Gedanken in eine andere Richtung drehen ließ. Vergebens.

Frustriert schaltete ich das Ding aus, denn auch dieser Weg der Entspannung funktionierte heute irgendwie nicht. Noch immer rauschte das Blut zu schnell durch meine Adern. Meine Nerven waren gereizt. Nervös zuckte mein Bein und auch meine Hände fummelten immer an irgendetwas herum.

So griff ich zum letzten Mittel. Wasser half eigentlich immer. Ich entschloss mich kurzerhand, unter die Dusche zu springen und dann den Abend als beendet zu erklären. Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, erst zu duschen, bevor ich mich umzog. Doch ungewöhnliche Situationen erfordern ungewöhnliche Methoden.

Und tatsächlich lag ich bereits um einundzwanzig Uhr im Bett. Etwas entspannter und irgendwie noch nicht so müde. Gerade als ich die Augen schloss, vibrierte mein Handy auf dem Nachtschrank. Im Dunkeln tastete ich nach dem wild blinkenden Ding und sah auf das Display. Fay rief an.

„Was gibt’s, Fay?“

„Ey … Warst du es nicht, die mir geschrieben hatte, ich sollte mich melden? Ich dachte, du hättest etwas Megamäßiges zu erzählen. Und jetzt bist du genervt, weil ich anrufe?“

Fay kannte mich einfach zu gut. Sie bemerkte am Klang meiner Stimme, in welcher Stimmung ich war.

„Sorry. Ich lieg schon im Bett.“

„Du tust was?“ Fay begann aus voller Kehle zu lachen. Mein mittelmäßiger Verteidigungsversuch war somit gescheitert. „Ist das dein Ernst, Mary? Schwing dich aus den Federn, wir haben Wochenende. Ich bin in ’ner halben Stunde bei dir und hole dich ab. Wir machen heute die Stadt unsicher. Keine Widerrede.“

Bevor ich Einwände hätte äußern können, hatte Fay bereits das Gespräch beendet. Und da ich meine Freundin kannte, wusste ich, dass mir nichts anderes übrig blieb, als mich ins Badezimmer zu schleifen und ein bisschen Make-up aufzulegen. Wenn sich Fay etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte man sie nicht davon abbringen. Zur Not hätte sie mich auch im Gammellook mitgeschleppt.

Nach etwa einer halben Stunde klingelte es erneut an der Wohnungstür. Nur mit einer Jeans und meinem roten Spitzen-BH bekleidet, ließ ich Fay herein und rannte sofort zurück ins Badezimmer, um mich fertig zu machen. Ich schloss mich nicht im Badezimmer ein, wie immer, wenn Fay da war. So konnten wir uns unterhalten, solange ich meine Haare stylte.

Ein kleines Detail hatte ich in all der Hektik jedoch nicht bemerkt. Fay war nicht allein. Jemand räusperte sich. Ich schluckte. Es war ein männliches Räuspern.

Erschrocken quiekte ich auf und stieß mit einem etwas zu heftigen Tritt die Badezimmertür zu. Dort, wo die beiden standen, hatten sie einen perfekten Blick auf mich.

„Macht es euch bequem, ich bin gleich fertig!“, rief ich durch die nun geschlossene Tür. Hektisch griff ich nach meinem Top und achtete auf die Geräusche aus dem Wohnzimmer. Ich hörte die männliche Stimme etwas sagen und Fays Kichern als Antwort. Mehr nicht. Wer auch immer ihr Begleiter war, den ersten Eindruck hatte ich vermasselt.

Klasse, Mary, super gemacht.

Darum bemüht, einen kühlen Kopf zu bewahren, klammerte ich mich am Waschbecken fest und betrachtete mich im Spiegel. Ich atmete mehrfach tief ein und aus. Hatte ich tatsächlich gerade halb nackt einem Fremden die Tür geöffnet? Wie peinlich!

Weiterhin die Luft einziehend und ausstoßend ließ ich meinen Kopf sinken. Ich klammerte mich noch panischer an das Waschbecken, versuchte die Röte aus meinem Gesicht zu vertreiben und sprach mir selbst Mut zu.

Nur keine Panik, Mary. Alles wird gut.

Fay hatte ihm bestimmt schon erklärt, dass das nicht mein normales Verhalten war. Hoffte ich zumindest. Ich prüfte noch einmal den Sitz meiner Kleidung. Meine Jeans schmiegte sich um meine Kurven und war geschlossen. Mein enges Top, das ich unter dem Pullover anziehen wollte, bedeckte nun auch alles, was bedeckt gehörte.

Nur mein Pullover lag auf dem Sofa, auf dem meine Gäste höchstwahrscheinlich Platz genommen hatten. Denn mehr Sitzmöglichkeiten gab meine Wohnung nicht her. Ich zupfte mir noch meine gewellten Haare in Position und straffte die Schultern, um dann zu meinen Gästen zu stoßen, als wäre das gerade alles nicht passiert.

„Kleinen Moment noch.“ Mit diesen Worten eilte ich an dem jungen Mann vorbei, der auf meiner Couch saß. Als ich direkt neben ihm war, vibrierte das Blut in meinen Adern. Ein wenig so, als würde es auf etwas aufmerksam machen. Ich schüttelte das merkwürdige Gefühl ab - keine Ahnung, was das war -, griff nach meinem Pullover und zog ihn mir über. Dann setzte ich mich den beiden gegenüber, auf die Kante meines Couchtisches.

„Mary, darf ich dir Chris vorstellen?“ Fay zwinkerte mir zu. In ihrer Sprache bedeutete das so viel wie: Er ist Single und würde bestimmt zu dir passen.

Wie magisch angezogen, sog sich mein Blick an dem jungen Mann in meinem Wohnzimmer fest. Es war, als hätte ich mich nicht mehr unter Kontrolle. Egal, wie sehr ich es wollte, mein Blick klebte an Chris. Ich versuchte es wenigstens nicht so offensichtlich zu machen. Also tarnte ich mein unbeholfenes Starren und wendete mich ein Stück von ihm ab. Dabei betrachtete ich ihn immer wieder kurz aus dem Augenwinkel. Wie er auf der Couch saß, bildete er einen heftigen Kontrast zu meiner Wohnung.

Obwohl ich vorhin ein wenig aufgeräumt hatte, sprach meine Wohnung vom gut durchdachten Durcheinander. Die Möbel waren wild gemixt, nichts passte so richtig zusammen. Doch ich mochte es, ich liebte das Kuddelmuddel und fühlte mich in einer sehr geordneten, klinischen Umgebung unwohl. Und trotz des Chaos und seiner Vollkommenheit hatte ich das Gefühl, als gehöre Chris genau hierher.

Seine gesamte Ausstrahlung passte perfekt zu dem wenigen Licht, das durch das Fenster von den Straßenlaternen zu uns strahlte. Geheimnisvoll und irgendwie undurchschaubar sah er mich an. Während dieses kurzen Blickes meinte ich, so etwas wie ein Erkennen in seinen Augen aufblitzen zu sehen, doch es war zu schnell weg, als dass ich es genau hätte sagen können. Ich fragte mich, was oder wen er erkannt haben mochte.

Wie aus weiter Ferne drangen Fays Worte in meine Ohren, doch ich verstand nichts davon. Zu sehr war ich von Chris vereinnahmt.

Seine Kleidung war sorgsam ausgewählt. So hätte er sowohl zu einem Date als auch zu einem offizielleren Essen gehen können. Beim Gedanken an eine Verabredung mit ihm stolperte für den Bruchteil einer Sekunde mein Herz. O mein Gott. Was war hier los? Chris brachte mich durcheinander. Ich konnte nicht anders und sah wieder in seine Richtung. Betrachtete die Wand hinter ihm und konnte ihn dabei nur unscharf erkennen. Doch das machte nichts. Auch farblich passte er mit seiner Kleidung genau in meine Wohnung. Er hatte exakt die Farben für sein Outfit gewählt, die meinen Geschmack trafen. Dunkel und mit kleinen hellen Akzenten.

Ich musste aufpassen. Nicht, dass ich zu sabbern begann.

Auch seine Körperhaltung bewunderte ich. Er saß nach hinten gelehnt, seine langen Beine überschlagen. Der rechte Knöchel ruhte auf dem linken Knie. Chris wirkte keineswegs nervös, was mich ein wenig aus dem Konzept brachte, denn seine Anwesenheit machte definitiv etwas mit mir.

Ich spürte seine Nähe, obwohl er nicht wirklich nah war. Es prickelte auf meiner Haut und kleine Schauer rasten durch mich hindurch, je nachdem, wie sein Blick mich traf. Immer wieder erwischte ich mich dabei, wie ich in seine Augen sah und versuchte zu verstehen, was das zu bedeuten hatte, wo dieses Gefühl von Vertrautheit herkam, das von ihm ausging und ich nicht verstand.

Es war anders, als ich es bisher erlebt hatte. Anders, als ich es mir jemals hätte vorstellen können. Ohne es zu wollen, drehten sich meine Gedanken um ihn. Wo er wohl lebte und was er sonst tat. Ich wollte alles von ihm wissen. Jedes noch so kleine Detail.

Das Gefühl, dass er zu mir gehörte, wurde übermächtig. Unbewusst hatte ich mich immer weiter zu ihm hinübergeneigt. Erst als Fays Stimme zu mir durchdrang, korrigierte ich meine Haltung und setzte mich aufrecht. Irritiert zog ich kurz meine Strähnen zurecht, als wäre das alles der Plan gewesen, wieso ich mich vorgebeugt hatte.

„Chris arbeitet seit Kurzem bei mir auf Station als Assistenzarzt“, holte Fay mich ins Hier und Jetzt. Noch ein Zwinkern. Fast hätte ich – trotz meiner Verwirrung wegen Chris - losgelacht. Das Zwinkern, das auf ihrem Gesicht erschien, sah aus, als hätte sie sich am Auge verletzt. Ihre Mimik machte dabei Bewegungen, die ich keinem Menschen zugeschrieben hätte. Doch auch das konnte sie nicht entstellen.

Fay sah wie üblich fantastisch aus. Sie trug ebenfalls eine Jeans und einen weiten Pullover, der farblich auf ihre grünen Augen abgestimmt war. Doch im Gegensatz zu mir sah es an ihr sexy aus. Das war typisch für sie. Man hätte sie in einen Kartoffelsack stecken können, sie war einfach immer hübsch.

Weiter ihre Mimik betrachtend, während sie unaufhörlich redete, konnte ich mich gerade noch bremsen. Bevor ein Lachen meiner Kehle entwich, schluckte ich es hinunter.

„Hi, Chris. Du bist also der neue Kollege, von dem Fay mir so viel erzählt hat. Freut mich, dich kennenzulernen.“

Höflich stand er auf, nickte mir lächelnd zu und hielt mir die Hand hin. „Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Ich hoffe, sie hat nur Gutes erzählt.“ Er zwinkerte.

Rasch erhob ich mich vom Couchtisch und reichte ihm zitternd meine Hand. O mein Gott. Diese Stimme. Sie verschlug mir den Atem und ich hatte kurz das Gefühl, ohnmächtig zu werden. In dem vollen und tiefen Klang schwang eine wohlige Wärme mit, die sich um mein Herz legte.

Ich war kaum imstande, auf ihn zu reagieren. Mit seiner Bewegung schwebte ein Hauch seines Duftes zu mir herüber. Chris’ Geruch nach Sonne und Sandelholz umhüllte mich, ließ mich die Welt um mich herum vergessen. Ich sah zaghaft in seine Augen und war sofort hin und weg.

Als sich dann unsere Hände trafen, rauschte das Blut nur so durch meine Adern. Ich musste aufpassen, dass mein Atem weiter floss. Seine Hand war weich und passte perfekt in meine. Ein warmer Schauer rann über meinen Körper und ich genoss ganz heimlich seine Berührung und seine Aufmerksamkeit.

Berauscht durch das Gefühl von Haut an Haut griff seine Nähe nach meiner Seele. Ich spürte das Pulsieren seines Herzens in seiner Hand und wollte mein gesamtes Sein in sie legen. Felsenfest davon überzeugt, dass er sorgfältig und liebevoll damit umgehen würde. Und gleichzeitig wollte ich seins in meine nehmen und halten. Bis in alle Ewigkeit.

Oje, war Chris ein Fall für spontane Verliebtheit? Oder schnappte ich gerade über? Denn nicht nur seine Stimme und sein Geruch umschmeichelten mich. Sein Aussehen zog mich ebenfalls in den Bann.

Obwohl ich mich mit meinen eins zweiundsiebzig wirklich nicht als klein bezeichnet hätte, überragte er mich mindestens noch um zwanzig Zentimeter. Seine schokoladenbraunen Augen, die von einem dichten Wimpernkranz umgeben waren, sahen direkt in meine. Fast so, als würde er etwas darin sehen, was nur für ihn bestimmt war.

Ich wandte den Blick ab und hoffte inständig, dass Chris nicht mehr sah, als ich wollte. Wenn er gesehen hätte, was in meinem Kopf vor sich ging, hätte er womöglich die Beine in die Hand genommen und wäre losgerannt. Denn das, was ich gerne mit ihm geteilt hätte, sollte vielleicht nicht unbedingt beim ersten Aufeinandertreffen so deutlich aus mir herausspringen. Ich ließ seine Hand los, wollte irgendetwas sagen, doch bekam keinen Ton heraus. Wie ein Fisch den Mund auf- und zuklappend sah ich ihn erneut an.

Mein Kopfkino ließ mir das Blut ins Gesicht schießen. So sah ich uns gemeinsam im Kerzenschein auf einer Decke liegen. Halb nackt und eng umschlungen fuhren unsere Hände forschend über den Körper des anderen. Szenen später betrachteten wir liebevoll unser Heim und unsere Zukunft.

Doch zwischendurch blitzten Bilder auf, die nicht ganz so romantisch waren, mir aber ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit übermittelten. Sie waren düsterer, doch auch hier war Chris an meiner Seite. Es war fast so, als würde mir mein Unterbewusstsein zeigen wollen, was mit diesem Mann an meiner Seite alles möglich wäre. Ich schluckte, überwältigt von all den Gefühlen, entschuldigte mich kurz und verschwand noch einmal ins Badezimmer, damit niemand die Röte auf meiner Haut bemerkte.

Ich war durcheinander. Was war das alles?

Gleichzeitig war ich jedoch sauer auf Fay. Hätte sie nicht wenigstens erwähnen können, dass sie jemanden mitbrächte? Denn, wie man sah, trat ich ohne diese Vorwarnung gerade von einem Fettnäpfchen ins nächste. Zumindest fühlte es sich für mich so an. Bei Chris hätte ich gerne einen besseren ersten Eindruck hinterlassen. Nicht den der Verrückten, die im BH die Tür öffnete. Oder die, der die Kinnlade herunterklappte und keinen Satz zusammenbekam, wenn sie vor einem netten Typen stand und reden sollte.

Nochmals einen Blick in den Spiegel werfend, sah ich meiner Gesichtsfarbe dabei zu, wie sie nach und nach heller und meine Sommersprossen sichtbar wurden. Als sich meine Wangen wieder dem Normalzustand angepasst hatten, setzte ich mich erneut zu den beiden.

Wir blieben noch eine Weile im Wohnzimmer und unterhielten uns. Chris erzählte von seinem Studium und über merkwürdige Patienten auf der Station. Während er redete, betrachtete ich ihn immer wieder unauffällig.

Seine markanten Gesichtszüge zog mich an. Mit seiner geraden Nase, den hohen Wangenknochen und dem kantigen Kinn betörte er mich regelrecht. So gerne wäre ich mit meinen Fingern über dessen Konturen gefahren, hätte seine Haut unter meinen Fingern gespürt und ergründet, was sein Körper zu erzählen hatte. Ich musste an mich halten, um Chris nicht die ganze Zeit anzustarren, geschweige denn mich einfach auf seinen Schoß zu setzen. Seiner Anziehungskraft hatte ich kaum etwas entgegenzusetzen. Es war, als wäre ein Band zwischen uns gesponnen, das sich immer weiter zusammenzog, um uns aneinanderzubinden.

Fay beteiligte sich an der Unterhaltung und lachte an den passenden Stellen mit ihm.

„Da war dieser eine Patient, der in seinem Zimmer nie lüften wollte. Keiner von uns wollte den Raum betreten und natürlich habe ich am Ende den Kürzeren gezogen. Wegen der Coronaschutzmaßnahmen tragen wir alle OP-Masken. Ich habe sie mit Desinfektionsmittel besprüht, damit ich den Gestank des Herren nicht ertragen musste“, erzählte Chris und wieder lachte Fay.

„Ja, an den erinnere ich mich. Wir haben immer wieder versucht, das Fenster heimlich zu öffnen. Doch sobald er es bemerkt hat, schloss er es. Auch wir haben uns am Ende fast gestritten, weil keiner mehr zu ihm wollte.“ Fay grinste mich breit an. Sie wollte mich ermutigen, am Gespräch teilzunehmen.

Doch ich sah die beiden nur abwechselnd an und lächelte dümmlich vor mich hin. Völlig überfordert mit Chris’ Anwesenheit und unserem Ungleichgewicht im Leben. Um die Situation auch für mich angenehmer zu gestalten, motivierte Fay ihren Kollegen einfach weiterzuerzählen. Leider klappte es nicht ganz. Letztendlich schaffte ich es nicht mehr, im Wohnzimmer zu sitzen.

Um der Situation zu entfliehen, lief ich in die Küche, schnappte mir eine Flasche Hugo und drei Gläser.

„Möchtet ihr?“ Ich stellte die Sektgläser und die Flasche auf den Couchtisch. Denn, wenn ich ehrlich war, brauchte ich dringend etwas mit Alkohol. Den Abend würde ich sonst nicht überleben.

Allein Chris’ Anwesenheit machte mich ganz nervös. Ständig zupfte ich an meinen Haaren herum. Oder ich rupfte Fusseln von meinem Wollpullover. Wenn ich nicht bald aufhörte, war mein ganzes Styling umsonst und mein Pullover durchlöchert.

Fay nickte mir zu und ich goss ihr ein.

„Danke, für mich nicht“, lehnte Chris das Angebot ab.

„Tut mir leid, sonst hätte ich nur Wasser anzubieten“, entschuldigte ich meine mangelnde Auswahl.

Er lächelte mich an. „Ja, gerne, Mary.“

Meine Gedanken wiederholten sich, aber … O mein Gott! Mein Name aus seinem Mund war einfach atemberaubend. Es war, als hätte ich vorher nie meinen Namen vernommen und er erlöste mich von meiner Taubheit. Dazu dieses Lächeln auf seinen Lippen. Es gehörte verboten. Die Grübchen, die es hervorbrachte, ließen sein Gesicht weicher wirken. Chris sah einfach unverschämt gut aus. Doch da war auch etwas viel Tieferes, das mich an ihm faszinierte. Er berührte mit seinem Sein meine Seele und sie wollte sich nur zu gern an ihn schmiegen. Was war das, was mich so empfinden ließ?

Ein Schauer rann über meinen Körper. Diese Verbindung, die ich zu ihm spürte, fühlte sich so viel größer an, als ich erfassen konnte. Es war, als würde er den Mittelpunkt meiner Welt verrücken und sich selbst dorthin stellen. Bei diesem Gedanken musste ich schlucken.

Nachdem ich Fay und mir eingeschenkt hatte, machte ich mich auf den Weg in die Küche, um den Hugo kaltzustellen und eine Flasche Wasser samt Glas zu holen. Ich spürte Chris’ Blick auf meinem Rücken, er brannte heiß auf meine Haut. Mein Gang wurde wackelig, meine Knie wurden weich. Was machte Chris nur mit mir?

Jetzt verfluchte ich meinen damaligen Traum von einer offenen Wohnküche und wünschte mir sehnlichst die Tür zurück, die ich direkt nach meinem Einzug herausgenommen hatte, um wenigstens den Anschein zu haben. So war es mir nun leider nicht möglich, mich kurz zu verstecken und durchzuatmen.

Nichtsdestotrotz nahm ich mir Zeit. Ich stellte die Flasche deutlich langsamer als nötig in den Kühlschrank und ließ mein Gesicht mit der herausströmenden Luft etwas abkühlen. Es half mir, wieder klar zu werden, denn Chris stellte definitiv etwas mit mir an. Irgendetwas, das ich nicht in Worte fassen konnte, ließ meinen Blick immer und immer wieder auf ihm ruhen. Gleichzeitig wuchs in mir das Bedürfnis, ihm ständig zuzuhören. Also wirklich pausenlos. Seine Stimme umschmeichelte mich und tanzte anziehend um meine Seele. Am liebsten hätte ich ihn dabei angefasst. Ich hatte das Gefühl, zu ihm gezogen zu werden. Erneut atmete ich den Schwall kühler Luft ein, ehe ich den Kühlschrank schloss. Und erst dann fühlte ich mich bereit für meine Rückkehr ins Wohnzimmer.

Wir plauderten noch eine Weile und ich versuchte, das, was Chris mit mir anstellte, zu ignorieren. Gerade erzählte Fay, wie es heute bei der Arbeit war, als sie wie aus dem Nichts aufsprang und zur Wohnungstür lief. Perplex sahen Chris und ich ihr hinterher.

„Na, kommt schon. Oder meint ihr, wir werden den ganzen Abend hier sitzen? Mark wartet vor der Schachtel auf uns. Hopp, hopp!“ Ihr Ton duldete keine Widerworte. Dabei hatte ich keine Lust auf den Club, den wir Schachtel getauft hatten, weil er winzig und immer überfüllt war.

Ich rollte genervt mit den Augen und sah im Vorbeigehen, wie Chris mich musterte. Ihm schien die Vorstellung nichts auszumachen, mit uns auszugehen. Aber ich wusste auch nicht, ob er den Club kannte. Er stand auf und folgte Fay.

„Da bleibt mir wohl keine Wahl“, sagte ich halb im Scherz, halb im Ernst und schloss mich den beiden an.

Nach einem kurzen Fußmarsch erreichten wir die Schachtel. Und schon als wir vor der Eingangstür des Clubs ankamen, erkannten wir, dass es heute kuschelig werden würde. Der durch die blinkende Leuchtreklame beleuchtete Bordstein war voller Leute. Dicht aneinandergedrängt warteten sie auf den Einlass. Teilweise waren wirklich merkwürdige Typen darunter. Von total überstylten Mädels bis hin zu Kerlen in Jogginghose. Die meisten waren in unserem Alter, doch auch der ein oder andere vom älteren Semester.

Es war kurz vor Mitternacht, also gingen die unter 18-Jährigen gleich und räumten für uns das Feld. Als Fay ihren Freund Mark ganz vorne in der Schlange ausmachte, rannte sie auf ihn zu und begrüßte ihn stürmisch. Natürlich zog Mark sie sofort für einen langen Kuss eng an sich.

Liebe kann so schön sein.

Gedanklich steckte ich mir den Finger in den Hals und machte Würggeräusche. Nicht, dass ich mich nicht für sie freute. Mein Unterbewusstsein war einfach viel zu böse und schneller, als ich es wollte. Auch einer der Gründe, wieso es viele Menschen nicht lange mit mir aushielten.

Vor einiger Zeit war ich mit einer meiner kurzen Bekanntschaften, sein Name war Joel, im Park unterwegs. Anders als die anderen Paare liefen wir nicht dicht aneinandergedrängt und verliebte Blicke austauschend über die Wege. Wir hatten zwar die Hände ineinander verschränkt, doch das war auch schon alles.

Immer wieder überlegte ich, was anders war. Wieso es sich falsch anfühlte, so unähnlich dem, wie ich es mir vorgestellt hatte. Da waren keine Schmetterlinge im Bauch und das Gefühl fehlte, nichts anderes als ihn zu wollen.

Meine Blicke erdolchten in diesem Moment die anderen Menschen im Park. Ich wurde sauer und gab abfällige Bemerkungen von mir. Es war nicht der Neid, der mich handeln ließ, es war die Wut auf mich. Wut darüber, nicht das fühlen zu können, was die anderen fühlten. Dass ich davon so weit entfernt war.

„Was ist los, Liebling?“, fragte Joel.

„Nichts!“, patzte ich zurück und zog ihn hinter mir her zu einem weniger dicht bewanderten Teil des Parks. Da solcherlei Reaktionen kein Einzelfall waren, verließ er mich recht schnell.

Beschämt von der Erinnerung und meinem Verhalten senkte ich den Kopf. Diese Szene war leider keine Ausnahme. Immer wieder geschah etwas Ähnliches. Irgendwann dachte ich, ich wäre für Beziehungen ungeeignet. Und vielleicht machte mich deswegen diese offenkundige Liebe zwischen Mark und Fay eifersüchtig. Dabei wollte ich auf keinen Fall eifersüchtig sein. Nicht auf meine beste Freundin.

„Alles okay mit dir?“, drang Chris’ Stimme durch meine düsteren Gedanken.

Erschrocken kam ich in der Realität an und bemerkte, dass ich wohl etwas wehmütiger dreinschaute, als es mir lieb war. So nickte ich kurz und sah Chris flüchtig an.

„Ja. Ja, alles bestens. Komm, wir können rein“, sagte ich zu ihm, als ich Fay vorne in der Schlange bemerkte, wie sie uns wild gestikulierend zu sich winkte. Ich bahnte mir schnell einen Weg zu ihr und Chris folgte mir in den Club. Ich musste mich ein bisschen auspowern, um die dunklen Gedanken in mir zu verdrängen.

Die Schachtel war an allen Wänden mit Spiegeln ausgestattet, nur um ihn wenigstens optisch zu vergrößern. Selbst die Säule, die mitten auf der Tanzfläche in die Höhe ragte, war mit Mosaikspiegeln versehen, in denen sich das Licht brach. Und obwohl der Club winzig war, besaß er dennoch zwei Theken. An der hinteren, neben dem DJ-Pult, stellten wir uns an.

Der Barkeeper sah mich lächelnd an. „Na, was darf es sein, Süße?“ Allein dafür hätte ich am liebsten ausgeholt und ihm eine Ohrfeige verpasst. Doch ich wollte keinen Aufstand. Und was ich noch mehr wollte, war ein Drink. „Einen Wodka Energy, bitte.“

Fay und Mark bestellten sich ebenfalls etwas Alkoholisches und Chris wählte eine Cola. Nachdem Chris und ich je ein Getränk in der Hand hielten, standen wir ein wenig verloren herum. Fay und Mark hatten ihre Kurzen noch an der Theke in einem Zug geleert und waren dann auf der Tanzfläche verschwunden. Aber nicht um zu tanzen. Sie standen an der Spiegelsäule und knutschten eng umschlungen. Verstohlen sah ich mich um. Insgeheim war ich froh darüber, dass Unterhaltungen bei diesem Lärm nicht möglich waren. Hätte ich doch eh nicht gewusst, worüber ich mit Chris reden sollte.

Was könnte ich ihm, dem erfolgreichen Überflieger, schon erzählen, was ihn interessierte? Immerhin hatte ich mit Ach und Krach eine Ausbildung als Kfz-Mechatronikerin abgeschlossen. Das war nicht die beste Entscheidung, wie sich im Nachhinein herausstellte.

Noch während der Ausbildung ging der Betrieb pleite. Ich durfte zum Glück noch meine Prüfung absolvieren und fand dann nie einen Job in der Branche. Sehr zu meinem Leidwesen. Denn was gab es Besseres, als das Gefühl, wenn man auf einem Motorblock saß und sich beim Schrauben die Hände dreckig machte, um etwas zu reparieren, das kaputt war? Wie schön wäre es, wenn man Menschen ebenso einfach reparieren könnte.

Generell hatte ich danach nie einen guten Job gefunden. Ich jobbte herum, kam immer gerade so über die Runden, hatte aber nichts, womit ich hätte glänzen können. Keine Hobbys, die spannend genug waren, keine Reisen, die ich erlebt hatte, oder irgendwelche Talente. Ich führte ein Nullachtfünfzehn-Leben. Eines, das ich gerne getauscht oder zumindest an einem Punkt noch einmal neu begonnen hätte. Eine einzige Entscheidung anders hätte treffen müssen. Eine andere Berufswahl und der nötige Ehrgeiz und schon hätte es besser laufen können.

Doch alles hätte hatte keinen Sinn. Ich war hier und musste mich mit dem arrangieren, was das Leben für mich bereithielt. Ich musste verstehen und akzeptieren, dass ich anders war. Nicht nur anders als Chris, sondern auch anders als der Rest. Irgendwie … Ich wusste auch nicht. Taub und verbittert? Das traf es am ehesten.

Chris’ fragender Blick traf mich und ich zuckte mit den Schultern, um ihm zu signalisieren, dass ich keine Ahnung hatte, was nun war. Einem spontanen Impuls folgend trank ich meinen Drink in einem Zug aus, ließ Chris stehen und ging auf die Tanzfläche. Ich fühlte mich neben ihm klein und unbedeutend. Dabei wollte ich ihn eigentlich besser kennenlernen und das verstehen, was da zwischen uns war.

Die Blicke, die immer wieder hin und herflogen, die Art von Blickkontakt, bei der man direkt wieder wegsah, wenn der andere den Kopf drehte. Doch spürte ich jeden einzelnen von ihnen. Sie berührten mich. Nicht körperlich, aber seelisch.

Ich sah noch einmal kurz über die Schulter zu ihm und bemerkte, dass er mir mit seinen Blicken folgte. Ich betonte aufreizend meinen Schritt und suchte mir einen guten Platz zum Tanzen. Es war mir egal, dass ich die Einzige von uns war, die tanzen würde, aber ich musste Dampf ablassen.

Mit den ersten Schwingungen der Melodie reagierte mein Körper intuitiv und passte sich automatisch dem Beat an. Und dann passierte das, was immer geschah, wenn ich mich der Musik hingab. Alles um mich herum wurde dumpf. Nur noch die Töne und Vibrationen des Liedes drangen ungefiltert in mein Sein. Ich spürte den Klängen nach, gab mich dem Takt hin und bewegte mich wie in Trance zu den gesungenen Zeilen. Mein Körper folgte seiner eigenen Choreografie, wurde eins mit den Wellen, die der Schall in der Luft anstieß. Nach und nach verlor ich jegliches Gefühl für meine Außenwelt. Ganz so, als wäre ich völlig allein auf der Tanzfläche und die Musik spielte nur für mich.

Deswegen bemerkte ich zu spät, dass eine Empfindung nicht passte. Eine Berührung, die nicht hätte sein dürfen. Etwas, das ich nun, da ich es entdeckt hatte, nicht mehr vergraben und ignorieren konnte. Es war bereits das dritte Mal, dass ich angefasst wurde. Das erste Mal hatte ich es noch als Versehen bezeichnet, das zweite Mal als gewollt. Doch als nun eine Hand nicht mehr nur meinen Hintern streifte, sondern über meinen vorderen Hosenbund glitt, riss ich entsetzt die Augen auf.

Plötzlich fand ich mich in einer engen Umarmung wieder. Den Kerl, der seine Arme um mich geschlungen hatte, konnte ich nicht erkennen. Er presste seinen Körper an meinen Rücken und zog mich gleichzeitig weiter zu sich heran. Ich spürte seinen Mund an meinem Ohr und den heißen Atem, den er ausstieß. Mit einer Hand hielt mein „Tanzpartner“ meine Hüften eng an seiner und die andere wanderte zielsicher in die falsche Richtung.

Mein durch das Tanzen ohnehin erhöhter Puls schnellte weiter in die Höhe. Mir stellten sich die Nackenhaare auf und Ekel griff nach mir. Panisch überlegte ich, wie ich dem Kerl entkommen konnte, doch bevor ich irgendetwas dagegen unternehmen konnte, stand Chris vor mir. Aus seinen Augen sprühten förmlich Funken und Wut stach aus ihnen hervor.

„Kennst du ihn?“, richtete er seine Frage an mich. Der knurrende Unterton in seiner Stimme verhieß nichts Gutes.

Ich zögerte, weil ich nicht einmal wusste, wer hinter mir stand.

Mein Zögern war Chris offenbar Antwort genug. Beherzt packte er den Kerl am Handgelenk, zerrte ihn von mir weg und drehte ihm den Arm auf den Rücken. „Lass deine dreckigen Finger von ihr!“, schrie er.

„Sorry, ich wusste nicht, dass sie deine Freundin ist“, gab der Typ ohne Reue zurück.

„Ist sie nicht, aber niemand fasst eine Frau so an. Hast du mich verstanden?“ Chris ließ den Typen so ruckartig los, dass dieser über seine Füße stolperte und gegen einige andere Besucher der Schachtel stieß, die sich nun zu uns umdrehten. Ich beachtete den Typen nicht weiter und drehte mich zu Chris.

„Alles okay mit dir?“ Seine Stimme klang besorgt.

„Ja, ich denke schon.“ Ich spürte, wie die Schweißperlen sich nach und nach ihren Weg bahnten, und strich mir nachdenklich eine Strähne aus der Stirn. Weil mein Haar unangenehm an meiner Haut klebte, schob ich es etwas ungelenk hinters Ohr. Ich versuchte, mit dieser Geste Zeit zu schinden, um zu verstehen, was gerade passiert war. Ich bekam es nicht ganz zusammen. Alles ging so schnell.

„Komm, ich bringe dich nach Hause.“ Misstrauisch beäugte Chris mich. Fast so, als würde er erwarten, dass ich zusammenbrach.

Mich verwirrte, dass er so schnell aufbrechen wollte. Er hatte die Situation doch geregelt. Der restlichen Nacht auf der Tanzfläche stand jetzt nichts mehr im Wege. Doch allein Chris’ Blick über die Menge hielt mich davon ab, zu protestieren. In ihm stand die pure Sorge und er hielt anscheinend Ausschau nach neuen Gefahren. Ich war mir auf einmal sicher, er würde jeden niedermachen, der mich nur falsch ansah. Es war eindeutig. Warum auch immer, wollte Chris mich so schnell wie möglich von hier fortbringen. Und obwohl es mich beunruhigen sollte, dass er sich so aufführte, dass er sich so sehr in Dinge einmischte, die ihn nicht interessieren sollten, fühlte es sich irgendwie richtig an.

Ich kannte dieses Gefühl der Fürsorge nicht. Bisher hatte ich immer das Pech gehabt, allein gewesen zu sein, wenn Dinge geschahen, die nicht geschehen sollten. Denn Fay, mit der ich immer gemeinsam feiern ging, hielt es nie so lange in Clubs aus. In der Regel brach sie schon um drei Uhr auf und machte sich mit Mark auf den Heimweg, während ich blieb, bis der Club schloss. Teilweise bekam ich so wenig von meiner Umgebung, den Menschen und mir selbst mit, dass es am Ende schon zu spät war, bis ich etwas bemerkte. Zum Glück bisher ohne schwerere Folgen.

Meine Empfindungen wirbelten im Kreis. Durfte ich mir von ihm helfen lassen oder machte ich mich dadurch abhängig von ihm? Hatte er Hintergedanken bei dieser Rettung? Eilig verwarf ich den Gedanken. Auch wenn ich Chris nicht kannte, war das ein Charakterzug, den ich ihm nie zugeschrieben hätte. Dennoch rügte ich mein Herz. Fiel ich so schnell auf ihn herein, weil ich mich so sehr nach Liebe sehnte? Interpretierte ich zu viel hinein? War er einfach nur ein besorgter und aufmerksamer Mann? Sein Blick sprach jedenfalls Bände. Chris würde keine Widerworte dulden.

Ich seufzte ergeben und ging zu Fay und Mark. Nach dem Abschied von den beiden, die natürlich wieder knutschend in einer Ecke standen, verließen Chris und ich die Schachtel.

Schweigend liefen wir nebeneinander her. Mein Blick war starr auf den Boden gerichtet. Das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, ließ mich nicht los. Ich traute mich aber nicht, es anzusprechen. Immerhin kannte ich Chris gerade mal ein paar Stunden. Wie sollte man dann ein Gespräch starten? Ich konnte kaum sagen, dass er überreagiert hatte. Also hielt ich den Mund.

Nach wenigen Minuten brach Chris das Schweigen. Er blieb direkt vor mir stehen. Da ich ansonsten in ihn hineingelaufen wäre, stoppte auch ich, hob den Blick und sah ihn an.

„Geht es dir wirklich gut?“

„Ja. Wieso sollte es nicht? Es ist ja nichts passiert.“ Abgeklärt zuckte ich mit den Schultern. Es war schon schlimmer ausgegangen, dachte ich.

„Das nennst du nichts?“ Sein Gesicht verzog sich im Zorn und ich verstand seine Reaktion immer weniger.

„Der Kerl hat mich angetanzt, passiert in einem Club doch schon mal“, versuchte ich das eben Geschehene herunterzuspielen.

„Das nennst du antanzen?“ Er fuhr sich mit der Hand durch seine hellblonden Haare. „Mary, er hat dich an Stellen berührt, die niemand einfach so anfassen sollte. Ist dir das nicht klar?“ Chris wirkte aufgelöst, so als hätte ihn das alles körperlich verletzt. Er legte seine Hände auf meine Schultern und sah mir direkt in die Augen. Durch seine Berührung bereitete sich eine wohlige Wärme in meinem Körper aus. Nur kurz ruhten seine Hände sanft und stützend dort, bis sie liebevoll über meine Arme nach unten strichen, hinunter zu meinen Fingern. Als er kurz davor war, diese mit seinen zu verschränken, begann ich zu zittern. Ob das Zittern auf seine Berührung zurückzuführen war oder auf die erlebte Situation, wusste ich in diesem Moment nicht. Völlig überfordert von allem entzog ich ihm meine Hände, trat zwei Schritte zurück und starrte auf den Boden.

Ich überlegte und rief mir die Berührungen in Erinnerung, um zu verstehen, was Chris so in Aufruhr versetzte. Wenn ich tanzte, achtete ich auf nichts mehr, so auch nicht auf mögliche Gefahren. Ich war dann in mir und nichts drang zu mir durch. Vielleicht sollte ich nicht mehr so blauäugig sein, wenn wir ausgingen?

Je mehr ich mich auf das Geschehene konzentrierte, je mehr ich mich damit befasste, umso deutlicher kam alles zurück. Wie eine Lawine stürmte alles Verdrängte gleichzeitig nach oben. Ich schnappte nach Luft. Kurz darauf jagte ein Schauer durch mich hindurch und ich spürte die Berührungen des Fremden erneut, so, als würde ich gerade angefasst werden. Ich spürte seinen Atem auf meiner Haut und seine Hände an meinem Körper.

Wieso konnte ich selbst solche Gefahren ausblenden?

Erst jetzt kroch die Angst, die ich in diesem Moment hätte empfinden müssen, meine Wirbelsäule hoch. Sie zog sich um jeden einzelnen Wirbel, verankerte sich in meinen Sehnen und sendete Schockwellen durch meinen Körper. Das Zittern, das jetzt folgte, begann kaum merklich in meinen Fingern und breitete sich von dort langsam über meinen gesamten Körper aus. Mein Atem ging stoßweise und mit jedem Zug wurde meine Kehle enger. Schweißtropfen rannen meinen Rücken hinab. Die Berührungen des Typen wurden immer präsenter, immer bedrohlicher. Erinnerungsfetzen holten mich ein und brachten mein Herz dazu, schneller zu schlagen. So schnell, dass es beinahe schmerzte.

Die Panikattacke drohte mich zu überrollen, dabei war ich nicht mehr in Gefahr. Doch es kam kaum noch Sauerstoff in meiner Lunge an. Schockwellen rasten durch meinen Körper.

Ich wollte zurück ins Hier und Jetzt. Mein Verstand sagte mir, dass ich in Sicherheit war, aber mein Körper und meine Gefühle signalisierten mir etwas anderes. Hilfe suchend sah ich zu Chris.

Er beobachtete mich genau. Ihm war anzusehen, dass er verstand, was mit mir passierte. Er näherte sich mir vorsichtig, ganz langsam, Schritt für Schritt. „Mary?“ Zögerlich hob er die Hände, um mir zu zeigen, dass er mir nichts tun würde. „Es tut mir leid, ich wollte das nicht. Ich wusste nicht, dass du …“

Ich presste meine Arme fest um meinen Oberkörper und Chris verstummte augenblicklich. Mit der Umklammerung wollte ich das drohende Übel verhindern, hatte jedoch keine Chance. Mein Verstand driftete ab und meine Vergangenheit holte mich ein. Bilder aus vergangenen Tagen rauschten an mir vorbei. Bilder, die ich selbst, als ich sie erlebt hatte, lieber nicht hatte sehen wollen. Männer, die nach mir griffen und mich, vollgepumpt mit Alkohol, mit sich nahmen. Männer, die es ausnutzten, dass ich kaum mehr bei Sinnen war und mit mir taten, worauf auch immer sie Lust hatten.

Mein Griff um mich wurde fester, als könnte ich damit verhindern, dass ich auseinanderbrach. Ich versuchte, mich selbst zu halten und mich zu beruhigen. Redete mit mir selbst. Das gerade war nicht dasselbe. Ich bin nicht mehr dort. Es war egal, was ich versuchte. Das Gefühl der Angst kroch so tief in mich hinein, dass ich es nicht mehr zu fassen bekam. Es machte sich selbstständig.

Ich schluchzte auf und ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Ohne mein Zutun entwich meiner Kehle ein verzweifelter Laut. Ich wusste nicht, wohin mit diesem Gefühl. Ich verstand mich nicht. Viele solcher und viel schlimmere Dinge waren mir schon widerfahren, weil ich alles um mich herum ausblendete.

Na ja, das, was mit den Männern passierte, wollte ich verdrängen. Vergessen. Dass ich dabei jedes Mal ein Risiko einging, war mir in diesen Momenten egal. Mein Kopf brauchte die Pausen, brauchte die Leere, die nichts füllen konnte. Anfangs hatte ich mir eingeredet, dass ich die Aufmerksamkeit der Männer genoss. Doch an jedem Morgen danach brannten die Scham und der Schmerz in meinem Inneren lichterloh.

So stand ich anschließend ewig unter der Dusche und wusch die aufkeimenden Gefühle, die Berührungen und den Schmerz über das Erlebte von mir und schloss es ganz tief in mir ein, damit es niemals ans Licht kam. Niemals war dann also jetzt. Denn all das, was ich in der letzten Zeit vergraben hatte, sprengte gerade mein Sein. Alles strömte gleichzeitig auf mich ein.

Mit hängenden Schultern und tiefen Sorgenfalten im Gesicht stand Chris vor mir. Er wusste offenbar genauso wenig wie ich, was er tun sollte. Als ich ihn aus tränenüberströmten Augen ansah, zog er mich kurzerhand an sich und hielt mich einfach fest.

„Mary, du musst atmen“, flüsterte er liebevoll in mein Haar. Er legte sein Kinn auf meinem Scheitel ab und fuhr mit einer Hand meinen Rücken auf und ab.

Kein Blatt hätte mehr zwischen uns gepasst. Mein Schluchzen wurde lauter. Sein Griff um mich fester. Beschützender. Ich fand kein Halten mehr und ließ alles, was sich angestaut hatte, alles, was so weit weg von mir zu sein schien, weil ich es tief vergraben hatte, heraus. Chris schlang die Arme um mich, als hätte er noch nie etwas anderes getan. Ich fühlte mich geborgen und sicher.

Nein, es ist falsch, rauschte es durch meinen Kopf.

Und nur einen Bruchteil einer Sekunde später realisierte ich, was gerade geschah. Ich kam meinen Gefühlen näher und Chris brach meine Barrieren auf. Er begann, sie zu zerstören, doch ohne diese war ich kaum in der Lage, am Leben teilzuhaben. Das durfte nicht passieren.

Meine Arme aus der Umklammerung meines Oberkörpers befreit, stemmte ich mich gegen Chris. Ich wollte nicht - konnte nicht zulassen - gehalten zu werden. Ich ertrug seine Nähe nicht. Er würde alles noch zusammenbrechen lassen. Alles, was ich mir mühsam aufgebaut hatte. Doch Chris ließ mich nicht los. Wütend hämmerte ich auf seine Brust ein, beschimpfte ihn und sah ihn böse an. Ich glaubte, ganz tief in meinem Inneren, war ein Teil von mir froh, dass er nicht ging. Dass er es mit stoischer Ruhe geschehen ließ und mich mit glänzenden Augen ansah. Es war kein Mitleid, was ich daraus lesen konnte, wie ich erwartet hatte, sondern tiefes Mitgefühl.

„Es tut mir leid“, wiederholte er wieder und wieder, sodass ich nicht mehr mit meinen Fäusten auf seine Brust trommelte.

Obwohl ich weiterhin protestierte, ließ er mich nicht los. Stattdessen dirigierte er mich langsam, aber sicher nach Hause. Seinen Arm um meine Taille gelegt, um mich zu stützen. Falls nötig, hielt er mich bestimmt den ganzen Weg. Vielleicht hatte er aber auch Angst, ich würde durchdrehen und dann fortlaufen.

Da ich eh keine Chance hatte, ihn abzuschütteln, wehrte ich mich nicht weiter. Wieder meldete sich der kleine Teil in mir, der Chris immer um sich haben wollte. Er war erleichtert. Erleichtert darüber, dass es jemanden gab, der die Mauern sah und bereit war, diese einzureißen. Der meine Seele in ihren Stücken wahrnahm und mich dennoch nicht allein ließ. Ganz im Gegenteil. Doch der Großteil von mir hatte Angst vor dem, was das bedeuten konnte.

An der Haustür angekommen, musste Chris mich loslassen, sonst wäre ich nicht an meinen Schlüssel in der Handtasche