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Diese Geschichte spielt in der Nachkriegszeit auf dem Lande. Auf einmal ist er da auf dem kleinen Hof des Altbauern Burmeister – Leo, ein Hund, ein großer Leonberger. Keiner weiß, wem er gehörte und woher er kam. Und so darf Leo auf dem Hof bleiben. Der Großvater hofft, dass ein Hund auf dem Hof ihnen manches Gesindel vom Hals halten kann. Als Einzige versteht sich Ulla mit dem großen Tier. Ihr gehorcht er, er begleitet sie sogar auf ihrem vier Kilometer langen Weg zur Schule „bis übern Berg“, und so erleben Ulla und Leo viele Abenteuer miteinander. Alles scheint gut zu gehen, bis eines Tages ein Scherenschleifer auf den Hof kommt … LESEPROBE: »Mann, haut bloß ab, ihr beiden Spielverderber!« Hans und Hanna blieben und buddelten mit an der Höhle. Bald konnten die Geschwister bequem darin sitzen. Ulla spitzte die Lippen. »Komm, Leo, komm!« Leo kam nicht. Das Mädchen kroch zum engen Höhlenausgang und rischelte mit dem Stroh. »Komm, Leo! Such, such das Mäuschen!« Der Hund sprang vor und zurück und fiepte leise. »Das hätte ich dir gleich sagen können.« Aus Hannas Stimme klang Schadenfreude. »Feige bleibt feige.« Das saß. In roter Wut zerrte Ulla an Leos Ohren, obwohl sie wusste, dass man das keinem Hund antun darf. Leo jaulte und ruckte sich frei. Hannas Gelächter traf Ulla wie ein Hieb, und sie verspürte große Lust, sich mal wieder mit der Schwester zu prügeln. Als Ulla zurückkriechen wollte, krähte ihr Hans aus der Höhle entgegen: »Du bist die Mutter. Du musst jetzt Mehlbeeren holen.« »Und du bist doof!«, schrie Ulla. Warum war Leo nur so feige? Da passierte es. Ohne jede Vorwarnung lösten sich über den Kindern einige Strohbunde, andere rutschten nach, verschütteten die Geschwister. Ulla, mit dem Gesicht zur Erde, wollte sich bewegen und vermochte es nicht unter der Last des Strohs. Irgendwo wimmerte es leise: »Oma, Oma, Oma!« Hänschen. Von Hanna kein Laut. Die Angst kam heiß und dunkel. Wir werden ersticken. Schrei doch endlich! Schrei um Hilfe! Doch Ullas flacher Atem reichte nur für ein Stöhnen. Da! Ein Kratzen und Scharren. Ein Zerren am Fuß. Leo! Hilf mir, Leo! Hilf uns! flehte Ulla. Hol uns hier raus! Der Hund heulte, als hätte er den Hilferuf empfangen. Dann hörte und spürte Ulla nichts mehr. »Wo die Kinder nur bleiben«, wunderte sich die Großmutter. »Sonst kommen sie doch alle Naslang zum Topfgucken, wenn es »Himmel und Erde« gibt.« »Himmel und Erde« war das Lieblingsgericht der Kinder.
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Seitenzahl: 83
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Barbara Kühl
Leo, das Luder
ISBN 978-3-86394-685-2 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1992 in Der Kinderbuchverlag Berlin
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta Foto: Erika Godemann
2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Meiner Mutter
Er lag etwas abseits, der kleine Hof des Altbauern Burmeister. Winter war und aus der Dämmerung längst Dunkelheit geworden. Das Torffeuer im Küchenherd bullerte und puffte und wärmte die Geschwister.
»Schiebt den Riegel vor und lasst niemanden rein«, warnte die Großmutter wie im Märchen die alte Geiß ihre sieben Zicklein.
»Und wenn Papa kommt?«, fragte die neunjährige Ulla. Sie sehnte sich nach dem Vater. Warum kam er nicht nach Hause, obwohl der Krieg seit acht Monaten vorbei war? Warum waren die Heimkehrer in Soldatenmänteln immer nur fremde Väter? »Dann schickt ihn ins Dorf, aber die Tür lasst zu, verstanden?«, sagte die Großmutter und stapfte los, dem Großvater nach, um Bekannten beim Schlachten zu helfen.
»Ob sie Blutklöße mitbringen? Oder Schmalzäpfel?« Ulla schluckte. Sie spaltete auf dem roten Ziegelfußboden mit dem Brotmesser Fichtenscheite zu fingerdicken Hölzchen, die der fünfjährige Hans auf einem Pappstück zur Weidenkiepe treckerte.
Hanna, die Älteste, erzählte das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein und rebbelte einen Zuckersack auf. Sie brauchte dringend einen neuen Pullover. Und weil ihr beim Rebbeln winzige Fusseln und Stäube in Augen und Nase gerieten, nieste sie alle Augenblicke.
»... und da sagte der Wolf ... hatschi ... sagte der Wolf …“
»Ich hab Hunger«, knurrte Ulla die Schwester an. »Ich auch«, echote Hans und patschte gegen die klinkenlose Speisekammertür. Den Schlüssel zum Schnappschloss trug die Großmutter bei sich. »Kaut Kerze!«
Ulla maulte, säbelte aber trotzdem ein paar Schnitzel vom unteren Kerzenende und - erschrak. »Pscht«, zischte sie, »pscht«, und deutete auf das Fenster neben der Speisekammer. »Da war was.»
»Kommt jetzt der Wolf?«, krähte Hans, ehe ihm Hanna den Mund zuhalten konnte. Sie hatte eine panische Angst vor Zigeunern, die angeblich außer Hühnern auch Kinder stahlen.
Ulla dagegen war geradezu besessen von dem Gedanken, einmal mit Zigeunern fortziehen zu können, obwohl sie noch nie welche gesehen hatte. Weg vom dem einsamen, langweiligen Hof in eine schillernde, aufregende Welt! Bunte Wagen, struppige Pferdchen, Lagerfeuer, Musik, klingelnde Armreifen füllten ihre sehnsüchtigen Träume. Und ein langer, schwarzer Rock mit lila und grünen Streifen, der sich bauschte beim Tanzen, der sich um ihre Beine schmiegte, ohne sie zu beengen wie diese hässlichgraue Pferdedeckenhose. Und wenn die Sehnsucht gar zu groß wurde, trällerte sie das Lied vom lustigen Zigeunerleben und träumte sich weit fort. Sie würden kommen und sie mitnehmen, irgendwann, hoffte Ulla. Und eben hatte es geklopft.
Aber es geschah nichts.
»Blöde Ziege!«, fauchte Hanna, Ulla einen Vogel zeigend. »Da war überhaupt nichts.« Dann aber hörte sie es auch, ein leises Klopfen und Scharren. Irgendwer machte sich an der Hintertür zu schaffen. Angstvoll drängten sich die Geschwister aneinander.
»Papa, bist du es?« Ullas Stimme zitterte.
»Halt doch die Klappe!« Hanna bewaffnete sich mit dem Feuerhaken und drehte den Docht der Petroleumlampe herunter. In der Küche wurde es finster. Da! Wieder dieses scharrende Geräusch. Und winselndes Weinen.
»Da weint wer«, hauchte Ulla.
»Quatsch! Das ist bloß ein Trick.«
»Vielleicht hat sich ein Kind verlaufen. Ich guck mal nach.«
»Bleib hier!«
»Nein.«
»Doch.«
»Nein. Soll es erfrieren?«
»Aber Oma hat gesagt ...«
»Feigling!« Das Brotmesser in der Hand, schlich Ulla zur Hintertür. Wenn da jemand lauert, müsste ich wenigstens seinen Atem hören. Kein Mensch kann ewig die Luft anhalten, dachte das Mädchen und hielt selber die Luft an.
Draußen blieb es still.
Ich werd’ ihn überlisten, den unbekannten Jemand, beschloss Ulla, riss in einem Anfall von Mut die Tür auf, brüllte: »Ha!«, warf die Tür wieder zu und verriegelte sie. Und dann gellte ihre Stimme durchs Haus: »Hanna, Hanna! Schnell! Vor der Tür liegt ein Löwe.« Sie hatte es genau gesehen, das zottige Etwas. Haarig und groß und gelb wie ein Löwe.
»Bist du verrückt geworden?«, keifte Hanna und kam gerannt. »Weg von der Tür! Und wehe, du guckst noch einmal raus.»
»Aber er ist tot. Er hat sich überhaupt nicht bewegt.«
»Vorhin hat er noch geklopft und gewinselt.«
»Na und?«
»Na und, na und. Tu nicht so doof! Und außerdem sag ich Oma, dass du die Tür aufgemacht hast.«
»Das machst du nicht.«
»Doch.«
»Alte Petze. Alte gemeine, feige Petze!«
Und schon rissen sich die Schwestern gegenseitig an den Zöpfen, bis sie ein eisiger Luftzug traf. Hans hatte die Tür entriegelt.
»Löwe, bist du tot?«, piepste er und piekste mit Großmutters Wäscheholz nach dem vermeintlichen Löwen. »Kommst du aus Afrika?«
»Zurück!« Hanna riss den Bruder so heftig mit sich fort, dass seine Strohpantoffeln direkt vor das Tiermaul rutschten.
Wenn das jetzt zuschnappt, dachte Ulla. Aber das Maul schnappte nicht und zuckte nicht und sah irgendwie ziemlich tot aus. »Nun bist du doch erfroren«, flüsterte Ulla und fühlte sich plötzlich schuldig. Ratlos betrachtete sie den mächtigen Körper, der reglos vor ihr im Schnee lag. Kopf und Vorderpranken ruhten auf der Türschwelle. Morgen würde Großvater ihn zum Kadaverhäuschen schleifen. Alle Bauern der Umgebung brachten ihre verendeten Tiere dorthin.
Die Frostluft biss empfindlich durch Ullas braune Strickstrümpfe. Ob Tiere auch nur ein Leben haben? Da lief ein Zittern durch das gelbliche Gezottel. Es stöhnte tief, fast wie ein Mensch, und sah Ulla sekundenlang an, hilflos und traurig.
»Die Milch«, schrie Ulla, rannte, kam wieder. Und das Wunder geschah. Das fremde Tier leckte die bläulich-dünne Magermilch, erhob sich schwankend und drängte plötzlich an ihr vorbei, hin zum wärmenden Küchenherd. Dort blieb es in einer schmutzigen Pfütze aus getautem Schnee liegen, bis die Großeltern kamen.
Ulla ließ sie gar nicht zu Wort kommen und rappelte mit blanken Augen eine tolle Flunkergeschichte herunter: »Und wie ich grad vom Klo komme, springt er plötzlich auf mich los. Ich rum ums Plumpsklo, rüber übern Hof und rein ins Haus. Er mit achtzig Sachen hinterher und gleich bis in die Küche. Er war eher drin als ich. Ehrenwort.« Kein Wort von der Hintertür, durch die man geradewegs auf die Felder gelangte.
»So, so, so«, brummelte die Großmutter und zwinkerte, »über die Hofmauer muss das Untier ja wohl geflogen sein. Tut’s euch nicht leid um eure Abendbrotmilch?«
»Kein bisschen, stimmt’s, Hanna?«, beteuerte Ulla und knuffte die Schwester.
Hans krakeelte: »Vielleicht ist er ein verzauberter Prinz.«
»Er ist ein Hund«, sagte Großvater Burmeister, »ein Leonberger.«
Hanna, noch immer nicht ohne Furcht vor dem großen Tier, stieß hervor: »Wozu brauchen wir einen Hund? Der frisst uns die Haare vom Kopf.«
»Lass man, wir werden ihn schon durchfüttern. Ein Hund auf dem Hof kann uns manches Gesindel vom Hals halten.«
»Ob er ausgerissen ist?«
»Warum sollte er? Ich glaub eher, der Hundefänger wollte ihm grad den Hals lang ziehen. Seht mal, hier!« Am Hals des Hundes fand sich ein mehrfach geknotetes Stück Schnur, darunter frische Kahl- und Scheuerstellen.
»Armer Leo«, sagte Hans und hatte damit dem Hund einen Namen gegeben.
Der Name blieb. Der Hund auch. Und mit ihm ein gewaltiges Heer von Flöhen, das eiligst ausschwärmte und nicht nur die Kinder piesakte. »Flohböcke. In meinem Haus. Das kann ja wohl nicht angehen.«
Und schon bugsierte die Großmutter den kalbsgroßen Leo in den Badebottich, stukte ihn wie ein Wäschestück und ersäufte die Flöhe. Die meisten jedenfalls.
Am nächsten Familienbadetag hechtete sich Leo unaufgefordert in den hölzernen Bottich und ertränkte um ein Haar Ullas kleinen Bruder. Gab das ein Geheule und Gezeter!
»Olle Töhle!«
Hans schwor schluchzend Rache, und Hanna gab dem Kleinen eilig einen Tipp. Aus Eifersucht sozusagen. Denn wem lief Leo nach vom ersten Tag an? Ulla. Wem gehorchte er? Nur Ulla. War das vielleicht gerecht? Leo hatte am Fundabend doch nicht nur Ullas Milch ausgesoffen. Also her mit Großvaters altem Signalhorn!
»Und schön laut, verstehst du?«, flüsterte Hanna, schob Hans in die Küche und lauschte hinter der angelehnten Tür.
Da! Ein dröhnender Trompetenstoß. Dann ein fürchterliches Getöse wie Drachenkampf und Weltuntergang zusammen. Und Hannas Schreckensschrei: »Leo bringt Hänschen um.«
Als Ulla angestürzt kam, stand der Hund über Hans und knurrte, sobald sich der Junge bewegte. Das Signalhorn lag neben ihm. »Kusch, Leo, kusch! Sei ein braver Hund. Komm her, komm! Na, komm schon! Sososo.«
Der Leonberger gehorchte, nahm das Horn ins Maul und legte es vor Ulla ab.
»Ich wollte ihm bloß was vortuten«, verteidigte sich Hans heulend. Er war ohne jede Schramme, aber der Schreck saß tief. Von Stund an ließ Leo leise Knurrtöne hören, sobald Hans sich ihm näherte. Das Signalhorn verschwand für immer in der Jauchegrube.
Und noch anderes verschwand neuerdings aus der fensterlosen Speisekammer-Essenreste, Apfel, ein Rest Griesbrei, ein Klecks Griebenschmalz und eines Tages mindestens die Hälfte der frisch gerösteten gelben Erbsen und Gerstenkörner, die von der Großmutter zu Kaffeeschrot vermahlen wurden. »Wir müssen Mäuse haben.«
Der Großvater stellte Fallen auf. Sie blieben leer. Die Mauserei aber ging weiter.
»Schämt euch, ihr Naschkatzen«, schalt die Großmutter, »warum bestehlt ihr euch selber?« Einstimmige Empörung. »Wir waren es nicht.« Der Großvater schwieg. Sollte er etwa? Und jeder misstraute jedem. Dann fehlte eines Morgens ein Stückchen Speck. Und wieder keine Spuren. »Spukkram«, nuschelte der Großvater und befingerte umständlich die Speisekammertür. Sie war ohne Schlüssel nicht aufzumachen. Und den trug die Großmutter jetzt sogar nachts an einer Strippe um den Hals.
»Eigentlich kann nur Ulla der Dieb sein«, stichelte Hanna. »Hänschen und mich würde Leo nachts gar nicht in die Küche lassen.«
»Und wie komm ich in die Speisekammer? Durchs Schlüsselloch oder wie?«
»Vielleicht damit. Er steckte in deiner Jacke.« Ulla starrte auf den gebogenen Nagel in Hannas Hand. »Du bist gemein.« Wütend schlug sie nach der Schwester, doch sofort drängte sich Leo zwischen die Streitenden.
Wohl eine Viertelstunde lang fuhrwerkte der Großvater mit dem Nagel im Schlüsselloch herum, das Schnappschloss aber sprang nicht auf.
Da stäubte die Großmutter am Abend eine hauchdünne Mehlschicht auf den Fußboden der Speisekammer. Mittenhinein stellt sie eine Untertasse mit einer Sirupschnitte. Wenn der Dieb kein Geist war, musste er Spuren hinterlassen. »Und du pass gefälligst auf, du Nachtwächter!«, schnauzte die alte Frau den Hund an.
Am nächsten Morgen war die Schnitte verschwunden. Geblieben waren die Abdrücke riesiger Tiertatzen.
»Fressen Wölfe auch Kinder?«, stammelte Hans kreidebleich.
Ulla aber flüsterte: »Ist ja richtig unheimlich.«
»Unheimlich? Dass ich nicht lache. Das war dein lieber Leo.«
»Du spinnst«, schrie Ulla die Schwester an. »Leo klaut nicht. Stimmt’s, Leo?«
Der Hund drängte sich sofort an das Mädchen, und während er sich kraulen ließ, stieß er behagliche Fieplaute aus.
»Streitet nicht«, meinte die Großmutter, »ich hab eine Idee.«