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Bei dem bekannten Autor Leo Richter meldet sich eine renommierte Zeitschrift: Man wolle einen längeren Text über ihn in Auftrag geben, ob ihm das recht sei. Geschmeichelt sagt Richter zu: Beginn einer so fürchterlichen wie amüsanten Leidensgeschichte. Ergänzt wird sie durch ein Porträt des Autors Daniel Kehlmann, verfasst von Adam Soboczynski, einem der glänzendsten Kulturjournalisten der jüngeren Generation.
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Seitenzahl: 41
Daniel Kehlmann
Leo Richters Porträt
sowie ein Porträt des Autors von Adam Soboczynski
Mit Illustrationen von Frank Stockton und Fotos von Heji Shin
von Daniel Kehlmann
Ein Magazin wollte ein Porträt über Leo Richter veröffentlichen: acht Seiten, zwei große Fotos, vielleicht sogar sein Bild auf dem Cover. Ohne zu zögern, sagte er zu, und sofort bereute er es.
Leo hatte Angst vor vielen Dingen: vor Terroranschlägen, großen Hunden, Betrunkenen auf der Straße und davor, ein Flugzeug zu versäumen. Er hatte Angst vor Impfungen, dem Elften und Dreizehnten jedes Monats, vor vergiftetem Essen, Fahrten auf der Autobahn, vor seiner Mutter, einem Schlaganfall und Varietékünstlern, die Leute aus dem Publikum auf die Bühne holten; er hatte Angst vor dem Dasein, das nach dem Tod kommen mochte, vor weltweiten Epidemien und dem Literaturkritiker Pavel Malzacher. Und seit der ersten Begegnung mit Guido Rabenwall hatte er Angst vor dem Porträt, das dieser schreiben würde.
Schon als er in das Kaffeehaus hereinkam – über zwei Meter groß, um die Siebzig und mit buschig grauem Bart–, wußte Leo, daß er es war, daß nur er es sein konnte. Und noch während er auf seinen Tisch zusteuerte, überfiel Rabenwall der fürchterlichste Hustenanfall, den Leo je miterlebt hatte: Er blieb stehen, beugte sich vornüber, stützte eine Hand auf die Stuhllehne, krümmte sich und hustete, als wollte er nie mehr aufhören; es klang ernst, groß und medizinisch, und es war so laut, daß die Gespräche ringsum verstummten, Köpfe sich drehten und die Kellnerin mit hochgezogenen Brauen stehenblieb. Dann verstummte er, setzte sich, streckte Leo die Hand hin und sagte mit tiefer Stimme: «Rabenwall!» Leo brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, daß er sich vorgestellt hatte.
«Die Namen von Ihren Freunden hätte ich gern. Zehn oder zwölf reichen. Mit Adresse und Telefonnummer und kurzer Angabe, woher Sie sich kennen und wie nahe Sie sich stehen. Mit Ihrer Frau muß ich natürlich sprechen, falls Sie eine haben in Ihrem Leben, aber ich denke, da wird es wohl eine geben, ja? Kinder haben Sie nicht, ich weiß, keine offiziellen jedenfalls, aber Sie haben Familie: Eltern, Tanten, Onkel, Cousins, Cousinen, was immer, wer immer.» Rabenwall starrte einen Moment in die Luft, schief über Leos Kopf hinweg, mit halb geschlossenen Augen. Dann rief er: «Schulkollegen!»
«Bitte?»
«Mitschüler, alte Lehrer! Das ist immer ergiebig. Sie, lieber Herr, werde ich natürlich auch befragen, aber da will ich mich zurückhalten, Sie haben viel zu tun, Sie müssen arbeiten, sind ja ein großer Künstler, nicht?» Er sah Leo unverwandt an, die Zähne leicht gebleckt, und es war nicht zu erkennen, ob er sich über ihn lustig machte.
Am Abend konnte Leo sich nicht einmal auf den Fernseher konzentrieren, so nervös war er. Schulkollegen…! Hans Merfing fiel ihm ein, der hinter ihm gesessen und ihm regelmäßig Kaugummis auf den Hinterkopf geklebt hatte, auch Lisa Martin, der er mit dreizehn Geld für einen Kuß hatte geben wollen, weil Rolf, Erwin und Dieter ihm erzählt hatten, daß das bei ihr funktionierte, aber natürlich war es ein Scherz gewesen, und noch Monate später hatte die ganze Klasse über ihn gelacht. Nicht einmal jetzt konnte er daran denken, ohne daß die Scham heiß zurückkehrte.
Das Telefon läutete, er hob ab, von der anderen Seite der Leitung kam ein tiefes Knarrgeräusch. Keine technische Störung, sondern Husten.
«Es ist halb elf!» rief Leo.
«Ich habe Sie doch nicht geweckt», keuchte Rabenwall. «Sie gehen ja nie vor zwölf schlafen. Mir ist folgendes aufgefallen. Vor neun Jahren hat–»
«Woher wissen Sie, wann ich schlafen gehe?»
«Stimmt es nicht?»
«Woher–»
«Vor neun Jahren. Die Abendnachrichten hatten Sie für eine Reisereportage engagiert. Sie sind dann nach Griechenland und offenbar in ein gutes Hotel. Schöne Insel, sauberes Wasser, alles erster Klasse.»
Leo schwieg.
«Aber dann ist kein Text erschienen. Und der Redakteur…» Leo hörte ihn durch Seiten blättern. «Er arbeitet dort nicht mehr, aber er erinnert sich gut und sagt, Sie haben nie geliefert.»
«Ich hatte Wichtigeres zu tun! Ich habe ein Buch fertig geschrieben.»
«Haben Sie je etwas zurückgezahlt? Hotel, Flugkosten für beide?»
«Wie bitte?»
«Sie waren nicht allein dort.»
«Was?»
«Die Frau bei Ihnen.» Rabenwall hustete kurz. «Für die hat die Zeitung auch bezahlt. Zwei Flüge, ein Doppelzimmer!»
Leo schwieg.
«Sie haben dort an Ihrem zweiten Buch gearbeitet, Herr Müller und die Ewigkeit. Sie wissen, daß viele das für Ihr bestes halten, andere für das einzig gute. Nichts für ungut, ist nun mal so.»
Leo räusperte sich. Vielleicht war Rabenwalls Husten ansteckend, vielleicht hatte es andere Gründe: Sein Hals tat plötzlich weh.
«Jedenfalls unterscheidet es sich von den anderen so sehr, daß man gar nicht umhinkann zu fragen, was war denn da los? Ihre Frau hat sich ja drei Monate später scheiden lassen. Leider weigert sie sich derzeit noch, mit mir zu reden, aber…»
«Es ist spät, können wir –?»