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Nach einer Epoche, die als eine der glanzvollsten in ihre Geschichte eingehen dürfte, ist die katalanische Hauptstadt heute einmal mehr von Selbstzweifeln zernagt. Während Barcelona in den letzten zehn Jahren annähernd eine Million Immigranten aus aller Welt mit einer in Europa einzigartigen Selbstverständlichkeit aufnahm, begannen ihre Einwohner den Massentourismus zunehmend als zerstörerischen Faktor zu empfinden. Solche Paradoxe, die Mischung aus Vernunft und Wahn, machen zweifellos das eigentliche Wesen Barcelonas aus. Noch immer ist Barcelona Europas Stadt mit den meisten und schönsten Märkten, die nun nach und nach erneuert werden; noch immer ist die katalanische Küche authentisch. Ebenso sind die engen Altstadtgassen wie auch die Prachtstraßen des 19. und 20. Jahrhunderts lebenspralle Schauplätze einer nie abbrechenden Ereignishaftigkeit geblieben. Markus Jakob spürt den urbanistischen und gesellschaftlichen Wandlungen nach, in denen sich die Stadt nach Jahrhunderten der Despotie und des Aufruhrs unter stabilen demokratischen Verhältnissen neu entwickeln und neu verwirklichen konnte.
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Seitenzahl: 135
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Copyright © 2011 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien Alle Rechte vorbehalten Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien Umschlagabbildung: © Buenos Dias/Stephen Wolf Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien ISBN 978-3-7117-5052-5 Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt
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Mon sang est un chemin de fer sans arrêt qui mène à Barcelone.
Francis Picabia
Mein Blut ist ein Schnellzug ohne Halte, der nach Barcelona fährt.
Francis Picabia
Eine nervöse Stadt wie Barcelona scheint nur Momentaufnahmen von sich zuzulassen. In Wirklichkeit ist sie, wie das Buenos Aires von Borges, »so ewig wie das Wasser und die Luft«, und ihr frenetischer Wandel schiere Oberfläche.
Durch Oscar Wilde wissen wir, dass »nur seichte Menschen nicht nach dem Äußeren« urteilen; denn »das wahre Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare«. Für Barcelona fiel mir einst die Bezeichnung »die Stadt der Offensichtlichkeiten« ein. Der Plural ergab sich von selbst – es sind die »appearances«, wie das »Äußere« bei Oscar Wilde heißt, die den Urbanauten sowohl in historische Schichten tauchen lassen wie für die Simultaneität des Stadtgeschehens alert machen.
Ist nun die Oberfläche der Stadt laut Wilde zugleich ihre Tiefe, so erscheint die Aufgabe, sie literarisch darzustellen, desto aussichtsloser. In Cervantes’ berühmten Schmeichelworten im zweiten Band des »Don Quijote« mag man Barcelona vierhundert Jahre später, bei einigem guten Willen, noch teilweise erkennen – als »Wohnsitz der feinen Sitte, Herberge der Fremden, Zuflucht der Armen, Heimat der Helden, Rächerin der Erniedrigten und anmutige Erwiderin treuer Freundschaften, an Lage und Schönheit einzig in der Welt«. ¡Vale!
Gewisse ideologische Vorbehalte lassen mich die patriotisch beflügelten, wie einst im Mittelalter wieder auf Katalanisch verfassten Lobgesänge auf die Stadt des späten 19. Jahrhunderts überspringen. Hingegen möchte ich auf zwei heute teils auch auf Deutsch erhältliche Klassiker der katalanischen Literatur des 20. Jahrhunderts hinweisen: Josep Pla und Josep de Sagarra. Ersterer bildete in seinem »Grauen Heft« in feinsten Ziselierungen, aus der Sicht des aus der Provinz in die Hauptstadt übersiedelten Studenten, ein urbanes Gestrüpp ab, dessen schmetterlinghafter Chronist – mit Wiener Zeitgenossen wie Alfred Polgar, Peter Altenberg oder Anton Kuh vergleichbar – der unerschrockene Bourgeois Sagarra war.
Das so gutbürgerliche wie anarchische Barcelona der höchst turbulenten Epoche, als deren Eckdaten der Anfang der Stadterweiterung um 1860 und der Triumph des Faschismus 1939 gelten können, lockte freilich auch immer wieder ausländische Intellektuelle an. Einer von ihnen, der Dada-Vorläufer Arthur Cravan, trat 1916 in der Stierkampfarena Monumental gegen die schwarze Boxlegende Jack Johnson zum Kampf um den Weltmeistertitel aller Klassen an. Selbstverständlich wurde der Poet k.o. geschlagen – noqueado, wie es so schön heißt: der Legende zufolge nach zwanzig Sekunden, in Wirklichkeit – vermutlich nach Absprache – in der sechsten Runde. Mit dem Preisgeld machte er sich auf demselben Schiff wie Leo Trotzki – freilich aus anderen Gründen – nach New York davon, um 1918 in Mexiko einunddreißigjährig, unter bis heute ungeklärten Umständen, aus dieser Welt zu verschwinden.
Cravan, ein Neffe Oscar Wildes – was kein Scherz ist, obwohl er selbst es erst nach Wildes Tod erfuhr –, war zweifellos eine in das Barcelona jener Tage passende Figur: der Stadt, die zur selben Zeit eben deshalb prosperierte, weil ihre Textilindustrie halb Europa mit Kampfuniformen belieferte. Ihre Barcelona-Erlebnisse haben nach ihm insbesondere französische Autoren reihenweise festgehalten: Bataille, Genet, Claude Simon, Paul Morand, Joseph Kessel, Malraux, Mandiargues, MacOrlan … Für viele von ihnen war vor allem das Barrio Chino, jahrzehntelang das zugleich erbärmlichste und glamouröseste Sündenbabel Europas, ein Faszinosum sondergleichen. Bis zum Spanischen Bürgerkrieg, und selbst noch danach.
George Orwell, der den Krieg mitmachte, legte davon in seiner »Homage to Catalonia« beredtes Zeugnis ab. Ironie der Geschichte, dass heute direkt neben dem Straßenschild, das ihm seinerseits die Ehre erweist, ein Kameraauge wacht – obwohl Spanien vom Überwachungswahn, der die Heimat des Autors von »1984« befallen hat, noch weit entfernt ist. Im Volksmund heißt die um 1990 durch einen Häuserabriss geschaffene Plaça de George Orwell ohnehin la Plaza del Tripi; gemeint ist LSD, für das dieser Stadtteil, wie stets schon für alle möglichen Rauschmittel, ein bevorzugter Umschlagplatz geblieben ist.
Literarische Spuren hinterließen in Barcelona auch Ilja Ehrenburg und Ödön von Horváth, dessen »ewiger Spießer« hier »fremdländische Hofopernsängerinnen für sich einzunehmen und Portschingers aus aller Welt auszunehmen« suchte und sich dabei so international fühlte, dass er beschloss, »Paneuropäer zu werden«. Es ist meines Wissens nie geklärt worden, ob auch Walter Serner, bevor er 1938 nach Prag und von dort ins Vernichtungslager wanderte, zumindest einen Teil der Jahre nach seinem »Verschwinden ins Privatleben« in Barcelona zugebracht hat. Wenn ja, dann wohl kaum in denselben Sphären wie Arnold Schönberg, der aus gesundheitlichen Gründen 1931/32 in den reineren Lüften der Oberstadt seinen »Moses und Aron« vollendete.
Man sagt, in Spanien sei das 19. Jahrhundert nicht – wie es ein geschichtlicher Gemeinplatz will – 1914 zu Ende gegangen, sondern erst 1975 mit dem Tod des Diktators Franco. Dem wäre entgegenzuhalten, dass sich die Moderne zumindest in Barcelona bis 1939 in all ihren Facetten – soziologisch, politisch, künstlerisch – mit außerordentlicher Vehemenz manifestierte, und dass das Regime die Neugier und den Freiheitsdrang der Stadt spätestens seit den sechziger Jahren nicht mehr unter Kontrolle zu halten vermochte. Der Begriff der Freiheit kann im Übrigen auch den Ausbruch aus einer Enge meinen, wie ihn damals der Schweizer Schriftsteller Paul Nizon in Barcelona erlebte und in seinem Roman »Untertauchen« schilderte. Zur selben Zeit trieben sich Künstler wie Marcel Duchamp und Dieter Roth in Katalonien herum, und García Márquez und Vargas Llosa – die Asse des im Übrigen von barcelonesischen Verlegern orchestrierten Lateinamerika-Booms – hatten in Barcelona Wohnsitz genommen. Nach Spaniens Demokratisierung, die zeitlich mit den lateinamerikanischen Militärdiktaturen zusammenfiel, folgten ihnen Hunderte anderer Autoren; der heute kultisch verehrte Roberto Bolaño war einer von ihnen, und viele sind bis heute geblieben.
Endgültig gelüftet wurde das Geheimnis, dass Barcelona eine aufregende Stadt und nicht bloß Spaniens manchmal stotternder Wirtschaftsmotor ist, dennoch erst nach der vierzig Jahre währenden Franco-Diktatur. Die Literatur trug das Ihre dazu bei. Durch die Romane Juan Marsés flutet das stinkgewöhnliche Leben der oft frisch eingewanderten Bewohner der Außenbezirke; Vázquez Montalbán ließ seinen Privatdetektiv Carvalho die Höhen und Tiefen Barcelonas auf eine Weise durchstreifen, die der geschichtlichen Entwicklung fast Schritt auf Schritt folgte; Eduardo Mendoza hingegen suchte meist die historische Distanz, um seine Stadt zu begreifen. Deren »appearances« so zu mythologisieren, dass er dadurch zum weltweiten Bestsellerautor aufstieg, gelang erst Carlos Ruiz Zafón und – literarisch dürftiger – Ildefonso Falcones.
Der Fremdling Francis Picabia hatte vor beinahe hundert Jahren gewiss ein mindestens so feines Gespür für die Stadt wie die letztgenannten Autoren. Der Verfasser dieses Bändchens hingegen muss, wie bei der 2000 publizierten »Lesereise Barcelona«, leider erneut darauf hinweisen, dass sie, obwohl vollkommen neu zusammengestellt, schon bei Erscheinen vom frenetischen Wandel der Stadt, sprich ihrer Ewigkeit, überholt zu werden droht. Einige der kürzeren Texte stammen aus den frühen neunziger Jahren; die »Porträts« sind 2007 entstanden; und bei den längeren Texten handelt es sich um – wo möglich aktualisierte – Assemblagen aus Reportagen der vergangenen Jahre. Inzwischen rackert sich die Stadt weiter an sich ab; und was gleichzeitig geschieht, wird bald schon historische Tiefe haben.
Sie haben die Wahl, wie Ihnen Barcelona zu Füßen liegen soll: zerzaust oder züchtig, als scheinbar undurchdringliches Dächergewirr oder als streng geometrischer Straßenraster. Das Panorama auf dem Montjuïc lässt den Schwenk ins suburbane Weichbild zu; vom Tibidabo aus hingegen glitzern die Achsen des Eixample, zu den geordneten Maßen des Hafens abfallend, im Halbkreis eines gigantischen Freilichttheaters. Es ist kaum zu fassen, dass der Blick von den beiden Aussichtsbergen dieselbe Stadt zeigt.
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