Letzte Ausfahrt Mekka - Ines Allerheiligen - E-Book

Letzte Ausfahrt Mekka E-Book

Ines Allerheiligen

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Beschreibung

Nur ein einziger Schlag reicht aus, um Isas Leben aus dem Gleichgewicht zu bringen. In kürzester Zeit wird aus dem jungen, westlich orientierten Mann ein streng gläubiger Muslim, der sein bisheriges Leben in Deutschland komplett auf den Kopf und in Frage stellt. Auf der ersehnten Pilgerfahrt nach Mekka nimmt sein Leben eine tragische Wendung. Marie erzählt in diesem Buch einfühlsam die Wandlung ihres Schützlings Isa, der Halt in seinem Glauben sucht und damit die enge Bindung, die über mehrere Jahre hinweg bestanden hat, löst. Durch die Ereignisse auf der Pilgerfahrt bekommt Marie Kontakt zu Isas Familie in Syrien und einen Einblick in sein Leben, bevor er nach Deutschland geflohen ist.

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für

meine Familie

Was du dir wünschst,kannst du nicht immer erreichen.Manchmal fahren die Schiffe anders,als du sie lenkst.

Inhalt

Oktober 2021

Rückblick

Januar 2020

2021

Oktober 2021

März 2022

Nachwort

Oktober 2021

Es war früher Morgen und die Wolken hingen tief. Ab und zu ließen sie ein paar Regentropfen frei, die wie in einem feinen Nebel auf die Erde fielen.

Ich hatte die Scheibenwischer meines Autos auf Intervall gestellt und die Fenster an beiden Seiten leicht geöffnet, damit sie nicht beschlugen. Trotz der düsteren Stimmung war es ein milder Oktobertag.

Isa saß neben mir, verlor kaum ein Wort. Allerdings hatten wir alles seit Wochen geplant und so gab es auch nicht viel zu besprechen.

Er wirkte ruhig und entspannt. Tief in ihm aber, da musste es brodeln vor Glück, das wusste ich.

Wir waren auf dem Weg zum Bahnhof. Seine erste Reise, seitdem er vor genau drei Jahren in Deutsch-land angekommen war. Er hatte lange darauf warten müssen. Der Ausbruch von Corona hatte diese Reise in den letzten eineinhalb Jahren unmöglich gemacht und ihm monatelanges, unerträgliches Warten beschert.

Die notwendigen Vorbereitungen waren schon seit vielen Wochen abgeschlossen: eine Meningokokken Impfung, die zwei benötigten Covid-19 - Impfungen, sowie diverse Unterlagen, die gebraucht wurden, um ein Visum zur Einreise nach Saudi – Arabien zu beantragen.

Nachdem ich einige Runden am Bahnhof gedreht hatte, fand ich endlich einen Parkplatz nicht allzu weit vom Hamburger Hauptbahnhof entfernt. Genau hier hatte ich geparkt, als Isa vor drei Jahren angekommen war. Hundert Meter weiter hatte der FlixBus, der ihn nach Hamburg gebracht hatte, gehalten.

Wir hatten uns drei Jahre zuvor im Internet kennengelernt. Es lagen drei turbulente Jahre hinter uns mit vielen Höhen und Tiefen. Er war nur einer von vielen Geflüchteten, die in den letzten Jahren in Deutsch-land angekommen waren. Für mich aber war seine

Geschichte eine ungewöhnliche Geschichte. Ich wollte sie unbedingt festhalten und begann damit das Erlebte aufzuschreiben. Für mich ist dieses Buch wie eine Therapie. Eine Selbsttherapie die ich brauchte, um alles zu verarbeiten.

Als ich gerade dachte, dass alles gut werden würde, sind Dinge passiert, die das bisher Erlebte und meine Gedanken und Erinnerungen tief erschüttert haben. Dies ist eine wahre Geschichte. Alles hat sich genauso zugetragen, wie ich es in diesem Buch erzähle.

Rückblick

Im Juni 2018 hatte ich Isa im Internet kennengelernt. Ich erinnere mich noch ganz genau daran. Ich stand in der großen Küche des „Herrenhauses Schwanenberg” und packte meine mitgebrachten Taschen für unsere bevorstehende Feier am Wochenende aus.

Mein Mann inspizierte die Bar und räumte einige Flaschen ein, die wir schon im Vorfeld besorgt hatten. Wir hatten das „Schlösschen” für unsere Silberhochzeit gemietet, die wir hier am Samstag feiern wollten. Es war eine wunderschöne Location mit verschiedenen Räumen. Es gab einen großen Speisesaal, eine Bar mit Sitzgelegenheiten, eine große alte Küche sowie ein Kaminzimmer mit einer Tanzfläche und gemütlichen Sofas direkt vor dem Kamin.

Die ganze Familie und viele Freunde waren eingeladen. Unsere Kinder waren schon beide so gut wie erwachsen. Die Große lebte in ihrer eigenen Wohnung und die Kleine war auch schon recht selbständig, so dass wir langsam unabhängiger in unserem Leben wurden und wieder für uns zwei planen konnten, ohne viel Rücksicht auf die Mädels nehmen zu müssen.

Die Silberhochzeit war irgendwie wie ein Wendepunkt. Mein Mann erzählte mir später, dass er das Gefühl gehabt hatte, es würde jetzt alles ruhiger werden.

Wir hätten die schlimmsten und anstrengendsten Phasen unseres Lebens hinter uns gebracht.

Bei mir sah es etwas anders aus. Ich war bis vor zwei Jahren zu Hause gewesen und hatte nur sporadisch mal gearbeitet. Die letzten Jahre hatte ich mich fast ausschließlich um den Haushalt und die Kinder gekümmert. Meine kleine Tochter litt jahrelang unter einer sehr schweren Neurodermitis, die wir nicht in den Griff bekamen. Mein Leben bestand zu dieser Zeit aus Arztbesuchen, wenig Schlaf und Eincremen. Regelmäßiges Arbeiten konnte ich mir zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen.

Als sich ihre Haut besserte, fiel es mir schwer, mich wieder auf mich selber zu besinnen. Ich besuchte eine Fortbildung, um mich beruflich wieder auf den neuesten Stand zu bringen und bekam dann kurz vor Ende eine Teilzeitstelle als Integrationsfachkraft in einem Übergangswohnheim in Hamburg angeboten. Die Arbeit gefiel mir sehr gut und ich konnte endlich auch Kontakte außerhalb der Familie aufbauen. Ich merkte, dass ich einiges vermisst hatte in den letzten Jahren, blühte sichtlich auf, wurde unruhig und hatte das Gefühl, ich müsste so vieles nachholen.

Ich stand also in der Küche unserer Silberhochzeits-location und checkte mein Handy. Auf Instagram befand sich eine Nachricht, von einem Mann, den ich nicht kannte. Ich wollte sie später lesen, wenn ich Zeit dazu hätte.

Am Abend öffnete ich dann diese Nachricht: „Good evening, how are you”. Das war die erste Nachricht, die mir Isa schrieb, die ich aus irgendwelchen unempfindlichen Gründen nicht löschte und auf die ich antwortete.

Mit diesem Satz begann die Geschichte seiner Flucht nach Deutschland, die fünf Monate später am Hamburger Hauptbahnhof ihr Ende fand.

Isa, ein syrischer junger Mann, hatte bereits eine Flucht aus Syrien in die Türkei hinter sich.

Er war in Manbij aufgewachsen, einer kleinen Stadt nahe der Grenze zur Türkei. Eine kleine Stadt, die während des Bürgerkrieges in Syrien durch die grenznahe Lage strategisch sehr wichtig wurde und zeitweise vom Islamischen Staat besetzt war, der dort ei-gene Gesetze einführte und die Bevölkerung unterdrückte.

Eine Stadt, die eigentlich kunterbunt war in ihrer Vielfalt der Religionen und Kulturen.

Unter der Herrschaft des Islamischen Staates aber wurden die Regeln streng. Die Frauen mussten sich verschleiern und die Männer trugen lange Bärte, die nicht geschnitten werden durften. In Wahrheit aber gab es unendlich viele Gesetze die beachtet werden mussten, um nicht in Ungnade zu fallen.

Isa hatte mit 18 Jahren seinen Wehrdienst in der syrischen Armee abgeleistet und war dann in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Kurz darauf erlitt er bei einem schweren Autounfall lebensgefährliche Verletzungen, die einen langen Krankenhausaufenthalt nach sich zogen. Diese Geschichte schien schwer auf ihm zu lasten. Oft erzählte er mir davon, dass sein Vater damals auf eigene Kosten Spezialärzte kommen ließ, damit er die bestmöglichste Versorgung erhielt. Sein Leben hing lange Zeit am seidenen Faden. Aber nicht der Unfall selbst war das, was ihn so quälte, sondern die Tatsache, dass sein Vater täglich während seiner Genesung an seinem Bett saß und ihm vorhielt, wieviel Geld er für ihn ausgegeben hatte. Er selber war ans Bett gefesselt, nicht in der Lage zu Sprechen und musste diese Tortur hilflos über sich ergehen lassen.

Nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, kehrte er ins Elternhaus zurück, hatte aber noch eine lange Zeit der Genesung vor sich, wozu auch eine wöchentliche Fahrt in den nahe gelegenen Libanon gehörte, zu einer speziellen physiotherapeutischen Behandlung.

Bei einer dieser Fahrten wurde er an der Grenze vom syrischen Militär gestoppt und direkt eingezogen.

Der Bürgerkrieg hatte zu dieser Zeit bereits begonnen. Durch die gesundheitlichen Probleme seiner Verletzung, die ihm nicht erlaubten auf dem Kriegsfeld zu kämpfen, wurde er in der Verwaltung der Armee eingesetzt.

Er erzählte mir, dass das Regime irgendwann begann die Bevölkerung mit Giftgas anzugreifen und er daraufhin aus der Armee zurück in seine Heimatstadt Manbij, floh.

Hier hatte aber mittlerweile der Islamische Staat Einzug gehalten und kontrollierte die Stadt. Manbij war für den Islamischen Staat sehr wichtig, da neuer Nachschub an Kämpfern ohne Probleme aus der nahegelegenen Türkei nach Syrien einreisen konnte. Die ganze Stadt stand unter den selbsternannten Gesetzen des Islamischen Staats, an die sich alle Bewohner halten mussten. Sie verbreiteten Terror, Angst und Schrecken, unter denen die Bevölkerung litt und viele ihr Leben lassen mussten.

Isa entschloss sich trotz allem seinen Lebensunterhalt mit dem Handeln von Tabak zu verdienen, welches laut dieser Gesetze strengstens verboten war.

Eine Zeit lang klappte dies gut. Dann aber wurde er verraten und kam in ein Lager des Islamischen Staates für eine Art „Umerziehung”, der er nach zwei Wo-chen entkommen konnte und in die Türkei floh.

Er ließ sich als Flüchtling registrieren und lebte einige Zeit dort, bis er irgendwann sein Schicksal in die Hand nahm und eine fremde Frau auf Instagram mit den Worten „Good evening, how are you” anschrieb. Diese Frau war zufällig ich. Zu diesem Zeitpunkt aber wusste keiner von uns, dass dieser erste Satz eine lange Geschichte nach sich ziehen würde und ihm tatsächlich dazu verhelfen würde nach Deutschland zu gelangen.

Während unseres täglichen Schriftwechsels, war ein Thema für ihn besonders wichtig und das war seine Religion. Er bestand darauf keine Religion zu haben.

Er glaubte an nichts, war frei und offen allen gegenüber, akzeptierte jede Kultur und jeden Glauben. Das betonte er immer wieder. Seinen muslimischen Glauben hatte er abgelegt und auch nie wirklich zu hundert Prozent ausgelebt, so erzählte er mir.

Ich merkte damals, dass er besonders viel Wert darauf legte zu zeigen, dass er westlich orientiert war. Er hörte westliche Musik, trank auch Alkohol und rauchte. Alles was für mich normal war, aber in seiner Kultur nicht zum täglichen Leben dazugehörte und verboten war.

Immer wieder schrieb er mir damals, dass er „raus” musste aus der Türkei, dass er es nicht mehr aushielte dort zu leben.

Letztendlich schafften wir es und er kam am 10. Oktober 2018 mit dem Flugzeug in Frankfurt an, stieg in den Flix Bus und erreichte einen Tag später Hamburg.

Die ersten Tage waren nicht leicht, vor allem für meine Familie. Wir hatten ihm unser Gästezimmer hergerichtet und ich war völlig euphorisch. Ein fremder Mann, den ich nur aus einem fünf monatigen Chat kannte, war jetzt hier in unserem Haus. Er hatte es tatsächlich geschafft aus der Türkei, mit einem Flugzeug zu fliehen, mit einem Ausweis, dessen Foto ihm nicht im Entferntesten ähnelte – unglaublich.

Wenn mir das jemand erzählt hätte, als wir begannen zu schreiben, hätte ich ihn für verrückt erklärt.

Ich vertraute ihm blind, warum auch immer. Meine Familie kannte ihn nur aus Erzählungen. Als die Flucht begann, habe ich ihnen täglich über die Fortschritte berichtet, aber keiner von uns hatte damals daran geglaubt, dass er wirklich jemals bei uns ankommen würde.

An langen Abenden, in denen wir zusammensaßen, erzählte er mir seine Geschichte. Er war mir gegenüber sehr offen und hatte genau wie ich zu ihm, großes Vertrauen zu mir gefasst. Schon von Kindheit an war sein Leben eine Flucht gewesen. Manchmal fing er während seiner Erzählungen an zu weinen und war dann erschrocken über sich selber. Er empfand es als Schwäche zu weinen, aber ich machte ihm deutlich, dass es für mich von großer Stärke zeugte, seinen Gefühlen auf diese Weise Ausdruck zu verleihen.

Wenn ich mich an die Flucht und das erste Jahr in Deutschland zurückerinnere, dann bestehen meine Erinnerungen aus Warten, Behördengängen, Bürokratie, Enttäuschungen, Hoffnung aber auch Hoff-nungslosigkeit.

Gerade als ich dachte jetzt wird alles gut, ereignete sich ein Vorfall, der alles veränderte.

Januar 2020

In den letzten Monaten hatte sich unser ganzes Leben geändert, hauptsächlich mein Leben. Der jugendliche Elan, den Isa zu uns ins Haus gebracht hatte, wirkte sich auch auf mich aus. Die Leichtigkeit, mit der er das Leben nahm und sprichwörtlich jeden Tag so lebte, als wäre es der letzte, steckte auch mich an. Es gab keine Wochenenden mehr die ich auf der Couch verbrachte. Jedes Wochenende gab es Clubbesuche und Tanzen. Irgendwann konnte ich auch meinen Mann davon überzeugen.

Mitte Januar hatte mein Mann von der Arbeit aus eine Kohl- und Pinkelfahrt. Isa kochte an diesem Abend für mich und wir fuhren danach zur Gaststätte, in der mein Mann seine Feier hatte um ihn abzuholen. Wir wollten alle zusammen in einen Club fahren, um ein wenig tanzen zu gehen.

Wir hatten viel Spaß an diesem Abend, bis zu dem Moment, an dem ein Security Mitarbeiter der Meinung war, dass Isa den Club verlassen müsse, da er zu nah an einer Frau getanzt hatte. Auf dem Weg aus dem Club hinaus verlief alles noch ruhig. Aber Isa hatte etwas getrunken an diesem Abend und konnte nicht verstehen, warum er den Club verlassen sollte.

Auch für mich war das Handeln der Security nicht nachvollziehbar.

Er wollte wieder rein und es fiel uns schwer ihn zu beruhigen. Der Mitarbeiter der Security schubste ihn um und er fiel rücklings auf den Kopf. Bei dem Ver-such wieder aufzustehen, schlug der Mann ihn dann mit seiner Faust ins Gesicht und knockte ihn aus. Danach verschwand er ins Innere des Clubs.

Bis der Krankenwagen kam, dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, in der Isa sein Bewusstsein nicht wiedererlangte.

Er trug von diesem Vorfall eine Prellung im Gesicht und einen Knöchelbruch am Fuß davon – körperlich. Nach einer Operation, die dann an seinem Geburtstag durchgeführt wurde und einer Woche Aufenthalt im Krankenhaus, wurde er nachhause entlassen.

Von dem Tag an begann eine schleichende Verände-rung in ihm. Für ihn war es kaum zu ertragen, dass er sich an den Vorfall nicht erinnern konnte. Er litt unter einer Amnesie. Er konnte sich weder an die Zeit vor dem Ereignis erinnern, noch an das was passiert war, oder an die ersten Stunden nach dem Vorfall. Es waren mehrere Stunden, die ihm in seiner Erinnerung fehlten. Immer und immer wieder mussten mein Mann und ich ihm die Vorkommnisse des Abends erzählen.

Es war ihm unheimlich wichtig, dass er nicht den Mann der Security angegriffen hatte. Es war schon unheimlich, mit welcher Vehemenz er immer wieder die Geschichte erzählt haben wollte, um sich bestätigen zu lassen, dass er den Mann nicht geschlagen hatte.

Durch den gebrochenen Knöchel konnte er für drei Wochen seinen Deutschkurs nicht besuchen, sodass er eine Stufe zurückversetzt wurde.

Drei Wochen zu Hause sitzen und sich kaum zu bewegen taten ihr Übriges. Wieder einmal hatte er viel Zeit nachzudenken. Seit dem Vorfall hatte er keinen Tropfen Alkohol angerührt und wollte auch nie wieder Alkohol trinken. Was passiert war führte er auf den Genuss von Alkohol zurück.