Letzte Lügen - Karin Slaughter - E-Book
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Letzte Lügen E-Book

Karin Slaughter

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Beschreibung

Du bist nicht so allein, wie du denkst ... Ridgeview Lodge, am Anfang des Appalachian Trail, ist ein luxuriöses Anwesen, perfekt für Eskapismus. Pro Woche können nur wenige Gäste die abgelegenen, privaten Hütten buchen, um in der Einsamkeit zu entspannen. Als Will Trent und Sara Linton hier für ihre Flitterwochen einchecken, hoffen sie auf größtmögliche Ablenkung von ihrem hektischen Alltag als Ermittler und Medical Examiner für das Georgia Bureau of Investigation. Doch gleich in der ersten Nacht hören die beiden einen schrecklichen Schrei - und eine Frau wird brutal ermordet aufgefunden. Will und Sara finden sich plötzlich inmitten einer Mordermittlung wieder. Der Druck steigt weiter, als der Teenagersohn der Toten verschwindet. Und mit einem Mörder, der nur darauf wartet, wieder zuzuschlagen, wird der Traumurlaub schnell zu einem Rennen gegen die Zeit ...

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Seitenzahl: 810

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Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem TitelThis Is Why We Lied bei William Morrow, New York.

© 2024 by Karin Slaughter

Deutsche Erstausgabe

© 2024 für die deutschsprachige Ausgabe

by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Published by arrangement with

William Morrow, an imprint of HarperCollins Publishers, US

Will Trent ist ein Markenzeichen der Karin Slaughter Publishing LLC.

Karte: © 2024 Karin Slaughter

Covergestaltung von Hafen Werbeagentur, Hamburg unter Verwendung von Midjourney

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749907830

www.harpercollins.de

WIDMUNG

Für David – für seine unendliche Freundlichkeit und Geduld

MCALPINE FAMILIEN-LODGE

PROLOG

Will Trent setzte sich am Seeufer auf die Erde, um seine Wanderstiefel auszuziehen. Die Ziffern seiner Uhr leuchteten im Dunkeln. Eine Stunde vor Mitternacht. In der Ferne war eine Eule zu hören, und eine leichte Brise flüsterte in den Bäumen. Der Mond war eine vollkommene Scheibe am Nachthimmel, die Gestalt im Wasser reflektierte sein Licht. Sara Linton schwamm auf die Badeplattform zu. Ihr Körper war in kühles Blau getaucht, als sie durch die sanften Wellen glitt. Dann drehte sie sich langsam auf den Rücken und lächelte Will an.

»Kommst du rein?«

Will brachte kein Wort heraus. Er wusste, dass Sara an sein unbeholfenes Schweigen gewöhnt war, aber diesmal war es etwas anderes. Ihr bloßer Anblick machte ihn sprachlos. Sein einziger Gedanke war: Was zum Teufel fand sie nur an ihm? Es war genau das, was alle dachten, die sie zusammen sahen. Sie war so ungeheuer klug, witzig und wunderschön, und er bekam nicht einmal seine Schnürsenkel im Dunkeln auf.

Er zerrte sich den Stiefel vom Fuß, als sie in seine Richtung schwamm. Ihr langes kastanienrotes Haar schmiegte sich um den Kopf. Die nackten Schultern ragten aus dem dunklen Wasser. Sie hatte ihre Kleidung abgelegt, ehe sie in den See getaucht war, und hatte über seine Bemerkung gelacht, dass es vielleicht keine so gute Idee war, mitten in der Nacht in ein Gewässer zu springen, das man kaum sehen konnte, zumal niemand wusste, wo sie waren.

Aber es war vielleicht eine noch schlechtere Idee, sich dem Wunsch einer nackten Frau zu verweigern, die ihn bat, zu ihr ins Wasser zu kommen.

Will zog seine Socken aus, dann stand er auf, um seine Hose aufzuknöpfen. Sara ließ einen leisen, beifälligen Pfiff hören, als er sich auszuziehen begann.

»Hey, mach mal langsamer«, sagte sie.

Er lachte, aber er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte, dass ihm so leicht ums Herz war. Will hatte ein anhaltendes Glücksgefühl wie dieses noch nie erlebt. Sicher, er hatte freudige Momente gekannt – der erste Kuss, der erste Sex, der erste Sex, der länger als drei Sekunden dauerte, der Collegeabschluss, zum ersten Mal einen echten Gehaltsscheck zur Bank tragen, und der Tag, an dem es ihm endlich gelang, sich von seiner hassvergifteten Ex-Frau scheiden zu lassen.

Das hier war anders.

Will und Sara hatten vor zwei Tagen geheiratet, und die Euphorie, die er während der Trauung empfunden hatte, war nicht abgeklungen. Wenn überhaupt, wurde das Gefühl mit jeder Stunde stärker. Sie brauchte ihn nur anzulächeln oder über einen seiner schlechten Witze zu lachen, und es war, als verwandelte sich sein Herz in einen Schmetterling. Was kein besonders männlicher Gedanke war, wie er sehr wohl wusste, aber es gab Dinge, die dachte man, und Dinge, die teilte man mit, und genau das war einer der zahlreichen Gründe, warum er lieber unbeholfen schwieg.

Sara johlte, als Will eine Riesenshow daraus machte, sein Hemd abzustreifen, bevor er ins Wasser ging. Er war es nicht gewöhnt, nackt herumzulaufen, schon gar nicht im Freien, deshalb tauchte er sehr viel rascher unter, als gut für ihn war. Das Wasser war kalt, auch jetzt zu Mittsommer, und die Kälte stach wie mit Nadeln in seine Haut. Seine Füße versanken im Schlamm. Dann schlang Sara ihre Arme und Beine um ihn, und Will hatte plötzlich keine Beschwerden mehr.

»Hallo«, sagte er.

»Hallo.« Sie strich ihm das Haar aus der Stirn. »Warst du schon einmal in einem See?«

»Nicht freiwillig«, gab er zu. »Bist du sicher, dass man hier gefahrlos baden kann?«

Sie dachte darüber nach. »Kupferkopfottern sind eher in der Dämmerung aktiv. Und für Wassermokassinschlangen sind wir wahrscheinlich zu weit nördlich.«

An Schlangen hatte Will gar nicht gedacht. Er war im Zentrum von Atlanta aufgewachsen, inmitten von schmutzigem Beton und gebrauchten Spritzen. Sara kam aus einer kleinen Universitätsstadt im südlichen Georgia und kannte sich aus in der Natur.

Einschließlich Schlangen, wie es schien.

»Ich muss etwas gestehen«, sagte sie. »Ich habe Mercy erzählt, dass wir sie belogen haben.«

»Dachte ich mir schon«, sagte Will. Die Auseinandersetzung zwischen Mercy und ihrer Familie heute Abend war heftig gewesen. »Wird sie zurechtkommen?«

»Wahrscheinlich. Jon scheint ein guter Junge zu sein.« Sara schüttelte den Kopf, weil alles so sinnlos war. »Es ist schwer, ein Teenager zu sein.«

Will versuchte, einen heiteren Ton in das Gespräch zu bringen. »Es hat seine Vorteile, in einem Waisenhaus aufzuwachsen.«

Sie legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen, womit sie vermutlich sagen wollte, dass sie es nicht komisch fand. »Schau mal nach oben.«

Will blickte hoch. Dann legte er ehrfürchtig den Kopf in den Nacken. Er hatte noch nie richtige Sterne am Himmel gesehen. Keine Sterne wie diese jedenfalls. Helle, einzelne Lichtpunkte in der samtschwarzen Weite der Nacht. Nicht gedämpft von Lichtverschmutzung. Nicht getrübt von Smog oder Dunst. Er holte tief Luft. Spürte, wie sich sein Herzschlag verlangsamte. Das Einzige, was er hörte, waren tatsächlich Grillen. Das einzige menschengemachte Licht war ein schwaches Funkeln von der umlaufenden Veranda des Haupthauses.

Es gefiel ihm hier.

Sie waren fünf Meilen durch felsiges Gelände gewandert, um zur McAlpine Familien-Lodge zu gelangen. Die gab es schon so lange, dass Will bereits als Kind von ihr gehört hatte. Er hatte davon geträumt, eines Tages hierherzukommen. Kanu fahren, Stand-up-Paddeln, Mountainbiking, Wandern, Marshmallows an einem Lagerfeuer rösten. Dass er diesen Ausflug nun mit Sara machte, dass er ein glücklich verheirateter Mann in den Flitterwochen war, brachte ihn noch mehr zum Staunen als sämtliche Sterne am Himmel.

»An Orten wie diesem kratzt man ein wenig an der Oberfläche, und alle möglichen schlimmen Dinge kommen zum Vorschein«, sagte Sara.

Will wusste, dass sie immer noch an Mercy dachte. An den brutalen Streit mit ihrem Sohn. An die kalte Reaktion ihrer Eltern. Ihren armseligen Bruder. An ihren Ex-Mann, der ein totales Arschloch war. Ihre exzentrische Tante. Dann waren da die anderen Gäste mit ihren Problemen, die durch den reichlich ausgeschenkten Alkohol beim gemeinsamen Abendessen noch stärker an die Oberfläche getreten waren. Was Will daran erinnerte, dass er die Anwesenheit anderer Leute nicht einkalkuliert hatte, wenn er als Junge von diesem Ort träumte. Vor allem nicht die eines ganz bestimmten Arschlochs.

»Ich weiß, was du sagen wirst«, fuhr Sara fort. »Deshalb haben wir gelogen.«

Es war nicht genau das, was er sagen wollte, aber es war nahe dran.

Will war Special Agent beim Georgia Bureau of Investigation. Sara war ausgebildete Kinderärztin und arbeitete gegenwärtig als Medical Examiner beim GBI, dem Georgia Bureau of Investigation. Beide Berufe führten häufig zu ausführlichen Äußerungen von Fremden, die nicht alle angenehm und manchmal richtig übel waren. Sie hatten gedacht, ihre Flitterwochen besser genießen zu können, wenn sie ihre Jobs verheimlichten.

Andererseits hielt es einen nicht davon ab, das eine zu sein, wenn man sich als das andere ausgab. Sie waren beide die Sorte Mensch, denen andere Menschen nicht egal waren. Insbesondere Mercy nicht. Sie schien im Augenblick die ganze Welt gegen sich zu haben. Will wusste, wie viel Kraft es erforderte, den Kopf oben zu halten, immer weiterzugehen, wenn einen seine ganze Umgebung hinunterziehen wollte.

»Hey.« Sara umarmte ihn fester und schlang die Beine um seine Mitte. »Ich muss noch etwas gestehen.«

Will lächelte, weil sie lächelte. Der Schmetterling in seiner Brust begann sich zu regen. Dann regten sich noch andere Dinge, da sie ihren Körper heiß an seinen presste.

»Was wolltest du noch gestehen?«, fragte er.

»Ich kann nicht genug von dir bekommen.« Sara bedeckte seinen Hals mit Küssen und versuchte, ihm mit den Zähnen eine Reaktion zu entlocken. Die Gänsehaut war wieder da. Ihr Atem in seinem Ohr flutete sein Gehirn mit Verlangen. Er ließ die Hand langsam abwärtswandern. Ihr Atem stockte, als er sie berührte. Er spürte, wie ihr Busen sich an seiner nackten Brust bewegte.

Dann gellte ein lauter, heller Schrei durch die Nacht.

»Will!« Sara erstarrte. »Was war das?«

Er hatte keine Ahnung. Er hätte nicht sagen können, ob der Schrei von einem Menschen oder einem Tier stammte. Sehr schrill war er gewesen, es stockte einem beinahe das Blut in den Adern. Kein Wort oder Hilferuf, sondern ein Laut ungezügelten Entsetzens. Ein Geräusch, das in den Kernbereichen des Gehirns einen Flucht- oder Kampfreflex auslöste.

Will war nicht für Flucht geschaffen.

Er nahm Saras Hand, und sie wateten rasch ans Ufer. Er hob seine Kleidung auf und gab Sara ihre Sachen. Während er sein Hemd anzog, starrte Will über die Wasserfläche. Er wusste aus der Karte, dass sich der See in der Form eines schlummernden Schneemanns ausdehnte. Der Schwimmbereich war am Kopf. Um die Biegung des Unterleibs verschwand die Uferlinie in der Dunkelheit. Geräusche waren schwer zu lokalisieren. Es war naheliegend, dass der Schrei von dort gekommen war, wo die Menschen sich befanden. Vier andere Paare und ein männlicher Single wohnten in der Lodge. Die Familie McAlpine logierte im Haupthaus. Ohne Will und Sara waren die Gäste in fünf der zehn Hütten untergebracht, die fächerförmig um den Speisesaal angeordnet waren. Damit befanden sich insgesamt achtzehn Menschen auf dem Gelände.

Jeder von ihnen konnte geschrien haben.

»Das streitende Paar beim Abendessen.« Sara knöpfte ihr Kleid zu. »Die Zahnärztin war sturzbetrunken. Der IT-Typ …«

»Was ist mit dem alleinreisenden Mann?« Will zog seine Cargoshorts an den nassen Beinen hoch. »Der ständig gegen Mercy gestichelt hat?«

»Chuck«, sagte Sara. »Der Anwalt war ein Ekel. Wie ist er ans WLAN gekommen?«

»Seine pferdeverrückte Frau ist allen auf die Nerven gegangen.« Will schlüpfte barfuß in seine Stiefel. Die Socken steckte er in die Tasche. »Die verlogenen App-Typen führen irgendwas im Schilde.«

»Was ist mit dem Schakal?«

Will, der sich gerade die Stiefel band, blickte auf.

»Baby?« Sara drehte ihre Sandalen mit dem Fuß um, damit sie hineinschlüpfen konnte. »Bist du …«

Er ließ die Schnürsenkel offen. Er hatte keine Lust, über den Schakal zu reden. »Fertig.«

Sie machten sich auf den Weg. Will drängte es, voranzukommen, und er erhöhte das Tempo, bis er merkte, dass Sara zurückblieb. Sie war ungemein sportlich, aber ihre Sandalen waren für Spaziergänge gemacht, nicht zum Laufen.

Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. »Einverstanden, wenn ich …«

»Lauf zu«, sagte sie. »Ich hol dich später ein.«

Will verließ den Pfad und rannte schnurstracks durch den Wald. Er ließ sich von der Verandabeleuchtung leiten und stieß Zweige und stachelige Ranken beiseite, an denen er mit den Hemdsärmeln hängen blieb. Seine Füße scheuerten in den Stiefeln. Es war ein Fehler gewesen, einen Schnürsenkel offen zu lassen. Er erwog, stehen zu bleiben, aber der Wind änderte gerade die Richtung und brachte einen leichten Kupfergeruch mit. Will konnte nicht sagen, ob er Blut roch oder ob sein Polizistengehirn die Erinnerung an frühere Tatorte auswarf.

Der Schrei konnte von einem Tier gekommen sein.

Selbst Sara war sich nicht sicher gewesen. Will wusste nur eines mit Bestimmtheit: Wer oder was den Laut ausgestoßen hatte, hatte Todesangst gehabt. Kojote. Luchs, Bär. Es gab viele Geschöpfe im Wald, die bei anderen Lebewesen dieses Gefühl hervorriefen.

Reagierten sie übertrieben?

Er hörte auf, durch das Unterholz zu stapfen, und drehte sich um die eigene Achse, um den Pfad auszumachen. Er konnte feststellen, wo Sara war, nicht weil er sie sah, sondern weil er ihre Schuhe auf dem Schotter knirschen hörte. Sie war auf halbem Weg zwischen dem Haupthaus und dem See. Ihre Hütte stand am anderen Ende der Anlage. Sara versuchte sich wahrscheinlich einen Plan zurechtzulegen. Brannte in den anderen Hütten Licht? Sollte sie einfach an ein paar Türen klopfen? Oder war sie genau wie Will der Meinung, dass sie aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit übertrieben wachsam waren und dass es eine wirklich lustige Geschichte für ihre Schwester abgeben würde, wie sie beide auf den Todesschrei eines Tieres hin losgestürmt waren, um zu ermitteln, anstatt es in einem nächtlichen See miteinander zu treiben?

Will war im Augenblick nicht nach Humor zumute. Das schweißnasse Haar klebte ihm am Schädel, an seiner Ferse hatte sich eine Blase gebildet, und von seiner Stirn tropfte Blut, weil eine dornige Ranke ihm die Haut aufgeritzt hatte. Er lauschte der Stille im Wald. Nicht einmal die Grillen zirpten noch. Er schlug nach einem Insekt, das ihn in den Hals stach. Etwas huschte durch die Bäume über ihm.

Vielleicht gefiel es ihm hier doch nicht so gut.

Schlimmer aber war, dass er in seinem tiefsten Innern den Schakal für diese Misere verantwortlich machte. Nichts war in Wills Leben jemals gut gegangen, wenn dieses Arschloch in der Nähe war, schon früher in ihrer Kindheit nicht. Der sadistische Scheißkerl war immer ein wandelnder Unheilsbringer gewesen.

Will rieb sich das Gesicht mit beiden Händen, als könnte er jeden Gedanken an den Schakal ausradieren. Sie waren keine Kinder mehr. Will war ein erwachsener Mann in den Flitterwochen.

Er wandte sich in die Richtung, in der er Sara vermutete. Will hatte im Dunkeln jedes Gefühl für Zeit und Richtung verloren. Unmöglich zu sagen, wie lange er durch den Wald gerannt war, als wollte er eine Horde Ninja-Krieger angreifen. Der Weg durch das Unterholz war sehr viel anstrengender, wenn einen kein Adrenalin mehr mit dem Gesicht voran in stachlige Lianen rennen ließ. Will legte sich insgeheim seinen eigenen Plan zurecht. Sobald er den Pfad erreicht hatte, würde er seine Socken anziehen und den Schnürsenkel binden, damit er nicht für den Rest der Woche hinkte. Er würde seine wunderschöne Frau suchen und zu ihrer Hütte führen, wo sie an der Stelle weitermachen konnten, wo sie aufgehört hatten.

»Hilfe!«

Will erstarrte.

Dieses Mal gab es keine Ungewissheit. Der Schrei war so ausgeprägt, dass er ohne Zweifel aus dem Mund einer Frau stammte.

Dann schrie sie erneut.

»Bitte!«

Will sprintete auf den See zu. Der Schrei war vom entgegengesetzten Ende des Schwimmbereichs gekommen, dem Unterteil des Schneemanns. Er hielt den Kopf gesenkt, die Beine arbeiteten wie Kolben. Er hörte das Blut in den Ohren rauschen, zusammen mit dem Echo der Schreie. Der Wald wurde immer dichter. Herabhängende Äste schlugen gegen seine Arme. Mücken schwirrten um sein Gesicht. Das Gelände fiel plötzlich ab. Er kam mit dem Außenrist des Fußes auf und knickte um.

Will achtete nicht auf den stechenden Schmerz und zwang sich, weiterzugehen. Er musste sein Adrenalin in den Griff bekommen, das Tempo drosseln. Die Hotelanlage lag höher als der See. Unweit des Speisesaals war eine steile Böschung. Er fand das Ende des Rundwegs und folgte dann einem weiteren Pfad, der in Serpentinen abwärtsführte. Sein Herz schlug immer noch heftig, in seinem Kopf kreisten die Selbstvorwürfe. Er hätte gleich seinem Instinkt folgen sollen, er hätte es erkennen müssen. Ihm wurde schlecht beim Gedanken daran, was er vorfinden würde, denn die Frau hatte um ihr Leben geschrien, und es gab kein bösartigeres Raubtier als den Menschen.

Dichter Rauch hing jetzt in der Luft, und er musste husten. Im Mondlicht, das durch die Bäume fiel, erkannte er, dass das Gelände terrassenförmig angelegt war. Will stolperte auf eine Lichtung, wo der Boden übersät war von leeren Bierdosen und Zigarettenkippen. Überall lag Werkzeug. Will schaute nach rechts und links, als er an Sägeböcken, Verlängerungskabeln und einem umgekippten Generator vorbeitrabte. Er sah drei weitere Hütten in verschiedenen Stadien der Renovierung. Bei einer bedeckte eine Plane das Dach. Bei der nächsten waren die Fenster mit Brettern vernagelt. Die letzte Hütte brannte. Flammen züngelten zwischen den Balken der Seitenwände hervor, die Tür stand halb offen. Aus einem geplatzten Seitenfenster stieg Rauch auf. Das Dach würde nicht mehr lange standhalten.

Die Hilfeschreie. Das Feuer.

Jemand musste in der Hütte sein.

Will holte tief Luft, bevor er die Stufen zur Veranda hinauflief. Er trat die Tür weit auf. Augenblicklich wurden von dem folgenden Hitzestoß seine Augen trocken. Alle Fenster bis auf eines waren mit Brettern verschlagen, nur das Feuer erhellte den Raum. Er bewegte sich tief gebückt, um unterhalb des Qualms zu bleiben. Durchquerte das Wohnzimmer. Betrat die winzige Küche. Ein Badezimmer, das geräumig genug für eine Wanne war. Ein kleiner Schrank. Seine Lungen schmerzten, er bekam fast keine Luft mehr. Er atmete einen Mundvoll schwarzen Rauch ein und wandte sich zum Schlafzimmer. Keine Tür. Keine Lampen. Kein Schrank. Die rückwärtige Seite der Hütte war bis auf die Wandpfosten entblößt.

Sie standen zu eng, als dass er hindurchgepasst hätte.

Will hörte ein lautes Krachen über dem Tosen des Feuers. Er trabte ins Wohnzimmer zurück. Die Decke war vollständig von Flammen eingehüllt. Sie nagten an den Tragbalken. Das Dach brach ein, es regnete brennende Holzteile. Will sah vor lauter Qualm kaum die Hand vor Augen.

Die Eingangstür war zu weit entfernt. Er rannte zu dem geborstenen Fenster und sprang in letzter Sekunde, an fallenden Trümmern vorbei. Er rollte sich auf dem Boden ab und wurde von einem Hustenkrampf geschüttelt. Seine Haut war straff gespannt, als wollte sie in der Hitze zu kochen anfangen. Er versuchte aufzustehen, schaffte es aber nur auf Hände und Knie, ehe er einen rußig schwarzen Schleimklumpen aushustete. Seine Nase lief, sein Gesicht war schweißüberströmt. Er hustete erneut, dabei schien seine Lunge voller Glasscherben zu sein. Er drückte die Stirn auf die Erde. Schlamm klebte an seinen versengten Brauen. Er atmete tief durch die Nase ein.

Kupfer.

Will richtete sich auf.

Polizisten waren gemeinhin überzeugt, dass man das Eisen im Blut riechen konnte, wenn es auf Sauerstoff traf. Das stimmte jedoch nicht. Das Eisen benötigte eine chemische Reaktion, damit der Geruch aktiviert wurde. An Tatorten von Verbrechen waren es meist die Fettbestandteile der Haut, die den Prozess auslösten. Wasser verstärkte den Geruch.

Will blickte auf den See hinaus.

Ein Stück entfernt konnte er die Sohlen von einem Paar Nike-Sneakers erkennen.

Blutbefleckte Jeans, bis auf die Knie heruntergezogen.

Die Arme seitlich im Wasser schwebend.

Der Körper lag mit dem Gesicht nach oben halb im See, halb über der Oberfläche.

Will war einen Moment lang wie hypnotisiert von dem Anblick. Es lag daran, wie das Mondlicht die Haut in ein wächsernes, blässliches Blau verwandelte. Vielleicht weil er über das Aufwachsen im Waisenhaus gewitzelt hatte oder weil ihm immer noch die Abwesenheit jeglicher Angehöriger von seiner Seite bei der Trauung nachhing – Will musste plötzlich an seine Mutter denken.

Seines Wissens dokumentierten nur zwei Fotos das siebzehn Jahre kurze Leben seiner Mutter. Eins war ein Polizeifoto von einer Festnahme, zu der es ein Jahr vor Wills Geburt gekommen war. Das andere hatte der Gerichtsmediziner gemacht, der sie obduziert hatte. Polaroid. Verblasst. Das wächserne Blau der Haut seiner Mutter ähnelte dem bei der toten Frau, die keine zehn Meter entfernt im See lag.

Will stand auf und schleppte sich auf die Leiche zu.

Er bildete sich nicht ein, das Gesicht seiner Mutter zu sehen. Sein Bauchgefühl hatte ihm bereits verraten, wen er vorfinden würde. Dennoch, vor der Leiche zu stehen und zu erkennen, dass er recht gehabt hatte, brannte eine weitere Narbe in den dunkelsten Teil seines Herzens.

Eine weitere tote Frau. Ein weiterer Sohn, der ohne Mutter aufwachsen würde.

Mercy McAlpine lag im seichten Wasser, kleine Wellen hoben und senkten die Schultern, als würde sie fortwährend die Achseln zucken. Ihr Kopf ruhte auf einer Ansammlung von Steinen, sodass Mund und Nase aus dem Wasser ragten. An der Oberfläche treibende Strähnen des blonden Haars verliehen ihr eine ätherische Wirkung – ein gefallener Engel, ein verblassender Stern.

Die Todesursache war kein Geheimnis. Auf die Frau war erkennbar wiederholt eingestochen worden. Die weiße Bluse, die Mercy zum Abendessen getragen hatte, war in der blutigen Masse ihrer Brust verschwunden. Wasser hatte einige der Wunden sauber gespült. Will konnte tiefrote Kerben in ihrer Schulter erkennen, wo das Messer gedreht worden war. Dunkelrote Rechtecke zeigten an, dass nur der Griff ein tieferes Eindringen der Klinge verhindert hatte.

Will hatte in seinem Berufsleben schon schlimmere Tatorte gesehen, aber diese Frau hatte vor kaum einer Stunde noch gelebt, sie war umhergelaufen, hatte gescherzt, geflirtet, mit ihrem mürrischen Sohn gestritten und sich mit ihrer toxischen Familie bekriegt, und jetzt war sie tot. Sie würde die Geschichte mit ihrem Jungen nicht mehr ins Lot bringen können. Sie würde nie sehen, wie er sich verliebte. Nie in der ersten Reihe sitzen, wenn er die Liebe seines Lebens heiratete. Keine Urlaube oder Geburtstage mehr, keine Abschlussfeiern oder stille Momente zusammen.

Und alles, was Jon blieb, war der Schmerz über ihre Abwesenheit.

Will gestattete sich einige Augenblicke der Trauer, ehe er sich wieder seiner Ausbildung gemäß verhielt. Er ließ den Blick durch den Wald schweifen für den Fall, dass der Mörder noch in der Nähe war. Er suchte den Boden nach Waffen ab, der Angreifer hatte das Messer jedoch mitgenommen. Dann spähte er wieder in den Wald und lauschte nach auffälligen Geräuschen. Er schluckte die Bitterkeit in seiner Kehle herunter und kniete sich neben Mercy. Legte die Finger an ihren Hals, um nach einem Puls zu suchen.

Er spürte einen ruckartigen Herzschlag.

Sie lebte.

»Mercy?« Will drehte ihren Kopf sanft in seine Richtung. Ihre Augen waren geöffnet, das Weiße leuchtete wie glänzende Murmeln. »Wer hat Ihnen das angetan?«

Will hörte ein Pfeifen, aber es kam nicht aus ihrem Mund oder ihrer Nase. Ihre Lungen versuchten, Luft durch die offenen Wunden in ihrer Brust einzusaugen.

»Mercy.« Er legte die Hände um ihr Gesicht. »Mercy McAlpine. Mein Name ist Will Trent. Ich bin Agent beim Georgia Bureau of Investigation. Sie müssen mich jetzt ansehen.«

Ihre Augenlider begannen zu flattern.

»Sehen Sie mich an, Mercy«, befahl Will. »Sehen Sie mich an.«

Der weiße Augapfel leuchtete kurz, als sie die Augen verdrehte. Sekunden vergingen, vielleicht eine Minute, ehe sie sich schließlich auf Wills Gesicht fokussierte. Kurz blitzte ein Wiedererkennen auf, dann eine Woge von Angst. Sie war zurück in ihrem Körper und ergriffen von Entsetzen und Schmerz.

»Alles wird gut.« Will machte Anstalten, aufzustehen. »Ich hole Hilfe.«

Mercy packte Will am Kragen und hielt ihn zurück. Sie sah ihn an – sah ihn richtig an. Sie wussten beide, dass nichts mehr gut werden würde. Statt in Panik zu geraten, statt ihn gehen zu lassen, hielt sie ihn fest. Sie sah ihr Leben deutlich vor sich, die letzten Worte, die sie an ihre Familie gerichtet hatte, der Streit mit ihrem Sohn.

»J-Jon … Sagen Sie ihm … Sagen Sie ihm, er muss … er muss weg von … ah …«

Will sah, dass ihre Lider wieder flatterten. Er würde Jon gar nichts sagen. Mercy würde ihre letzten Worte selbst an ihren Sohn richten. Er hob die Stimme und schrie: »Sara! Hol Jon! Beeil dich!«

»N-nein …« Mercy begann zu zittern. Sie geriet in einen Schockzustand. »J-Jon darf nicht … er darf nicht … bleiben … muss weg von … weg von …«

»Hören Sie mir zu«, sagte Will. »Geben Sie Ihrem Sohn die Chance, sich zu verabschieden.«

»L-Liebe ihn … liebe ihn … so sehr.«

»Mercy, bitte bleiben Sie noch ein wenig bei mir. Sara wird Jon herbringen. Er muss Sie sehen, bevor …«

»Es tut mir leid …«

»Nichts muss Ihnen leidtun«, sagte Will. »Bleiben Sie einfach bei mir. Bitte. Denken Sie an das Letzte, was Jon zu Ihnen gesagt hat. So darf es nicht enden. Sie wissen, dass er Sie nicht hasst. Er will nicht, dass Sie sterben. Lassen Sie ihn nicht damit allein. Bitte.«

»Vergib … ihm …« Sie hustete Blut. »… vergib ihm.«

»Sagen Sie es ihm selbst. Jon muss es von Ihnen hören.«

Ihre Faust krallte sich in sein Hemd. Sie zog ihn noch näher. »V-vergib ihm …«

»Mercy, bitte …« Seine Stimme versagte. Sie entglitt ihm zu schnell. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, was Jon sehen würde, wenn Sara ihn herbrachte. Das war kein zärtlicher Abschiedsmoment. Kein Sohn sollte mit der Erinnerung an den gewaltsamen Tod seiner Mutter leben müssen.

Er schluckte seinen eigenen Kummer herunter. »Okay. Ich sage es Jon. Ich verspreche es.«

Mercy fasste sein Versprechen als Erlaubnis auf, zu gehen.

Ihr Körper erschlaffte. Sie ließ seinen Kragen los. Will sah ihre Hand wieder ins Wasser fallen. Das Zittern hatte aufgehört. Ihr Mund stand weit offen. Ein langsamer, schmerzerfüllter Seufzer entwich ihrem Körper. Will wartete auf einen weiteren mühsamen Atemzug, aber ihre Brust regte sich nicht mehr.

Die Stille versetzte ihn in Panik. Er durfte sie nicht gehen lassen. Sara war Ärztin. Sie konnte Mercy retten. Sie würde Jon herführen, und er würde die Gelegenheit zum Abschiednehmen erhalten.

»Sara!«

Wills Stimme hallte über den See. Er riss sich das Hemd vom Leib und bedeckte Mercys Wunden. Jon sollte die Verletzungen nicht sehen. Er sollte das Gesicht seiner Mutter sehen. Er sollte wissen, dass sie ihn geliebt hatte. Er sollte sich nicht für den Rest seines Lebens fragen müssen, was gewesen sein könnte.

»Mercy?« Will schüttelte sie so heftig, dass ihr Kopf zur Seite rollte. »Mercy?«

Er schlug ihr mit der flachen Hand an die Wange. Ihre Haut war eiskalt. Es gab keine Farbe mehr, die verblassen konnte. Das Blut hatte aufgehört zu fließen. Sie atmete nicht. Er konnte keinen Puls mehr finden. Er musste mit der Herzmassage beginnen. Will legte seine Hände übereinander und setzte sie auf Mercys Brust, dann drückte er die Arme durch und legte sein ganzes Gewicht in den Stoß.

Der Schmerz fuhr in seine Hand wie ein Blitzschlag. Er versuchte, sie zurückzuziehen, aber sie saß fest.

»Halt!« Sara war aus dem Nichts aufgetaucht. Sie packte seine Hände und drückte sie wieder an Mercys Brust. »Beweg dich nicht. Du durchtrennst sonst die Nerven.«

Will brauchte einen Moment, bis er begriff, dass sie sich nicht um Mercy sorgte, sondern um ihn.

Er schaute nach unten. Sein Verstand hatte keine Erklärung für das, was er sah. Nur langsam setzte die Erkenntnis ein. Was er sah, war die Mordwaffe. Es war ein wilder, wütender Angriff auf Mercy gewesen. Der Mörder hatte ihr das Messer in seiner Raserei nicht nur in die Brust gestoßen. Er hatte sie auch von hinten attackiert und es mit solcher Wucht in sie gerammt, dass der Griff abgebrochen war. Die Klinge steckte noch in Mercys Brust.

Will hatte seine Hand an ihr aufgespießt.

1

Zwölf Stunden vor dem Mord

Mercy McAlpine starrte zur Decke und ging in Gedanken ihre Woche durch. Alle zehn Paare waren heute Morgen abgereist. Fünf neue wanderten im Lauf des Tages herauf. Weitere fünf sollten am Donnerstag eintreffen, sodass sie übers Wochenende voll belegt waren. Sie musste dafür sorgen, dass alle Koffer in die richtigen Hütten gebracht wurden. Der Transporteur hatte die letzten am Morgen auf dem Parkplatz abgeladen. Sie musste überlegen, was sie mit dem idiotischen Freund ihres Bruders anfing, der wie ein streunender Hund ständig bei ihnen auftauchte. Das Küchenpersonal musste von seiner neuerlichen Anwesenheit unterrichtet werden, denn Chuck litt unter einer Erdnussallergie. Oder vielleicht sagte sie ihnen gar nichts, wodurch sich das Maß an dummem Geschwätz in ihrem Leben in etwa halbieren würde.

Die andere Hälfte rackerte sich auf ihr ab. Dave schnaufte wie eine Dampflok, die das Ende des Tunnels nie erreichen würde. Die Augen traten ihm aus dem Kopf, seine Wangen glühten. Mercy war vor fünf Minuten lautlos zum Höhepunkt gekommen. Sie hätte es ihm wahrscheinlich sagen sollen, aber sie hasste es, ihn gewinnen zu lassen.

Sie drehte den Kopf, um auf die Uhr neben dem Bett zu schauen. Sie lagen hier auf dem Boden von Hütte Nummer fünf, weil Dave es nicht wert war, seinetwegen die Bettwäsche zu wechseln. Es musste kurz vor Mittag sein. Mercy durfte nicht zu spät zum Familienmeeting kommen. Gegen zwei Uhr würden die Gäste eintrudeln. Telefonate mussten geführt werden. Zwei Paare hatten Massagen bestellt. Ein weiteres Paar hatte sich in letzter Minute zum Wildwasser-Rafting angemeldet. Sie musste überprüfen, ob der Reiterhof die richtigen Termine am Vormittag notiert hatte. Sie musste noch einmal den Wetterbericht checken, um abzuschätzen, ob der Sturm immer noch in ihre Richtung zog. Der Obsthändler hatte Nektarinen statt Pfirsichen geliefert. Glaubten die wirklich, dass sie den Unterschied nicht kannte?

»Merce?« Dave werkte immer noch auf ihr herum, aber sie hörte die Resignation in seiner Stimme. »Ich glaube, ich muss aufgeben.«

Mercy tätschelte zweimal seine Schulter, um ihn zu entlassen. Daves schlapper Schwanz klatschte gegen ihr Bein, als er sich erschöpft auf den Rücken rollte und an die Decke starrte. Sie musterte ihn. Er war gerade fünfunddreißig geworden, aber er sah aus, als ginge er eher auf die achtzig zu. Die Augen wässrig, die Nase von geplatzten Äderchen durchzogen. Er gab ein Pfeifen von sich, wenn er Luft holte. Er hatte wieder zu rauchen begonnen, weil ihn der Schnaps und die Tabletten nicht schnell genug umbrachten.

»Tut mir leid«, sagte er.

Eine Reaktion von Mercys Seite war überflüssig, denn sie hatten das Ganze so oft durchgemacht, dass ihre Worte als permanentes Echo existierten. Vielleicht, wenn du nicht high wärst … Vielleicht, wenn du nicht betrunken wärst … Vielleicht, wenn du kein nutzloses Stück Scheiße wärst … Vielleicht, wenn ich keine einsame dumme Kuh wäre, die nicht aufhört, ihren Versager von Ex-Mann auf dem Boden zu ficken …

»Soll ich …« Er gestikulierte nach unten.

»Danke, ich hab alles.«

Dave lachte. »Du bist die einzige Frau, die vortäuscht, keinen Orgasmus zu haben.«

Mercy hatte keine Lust, mit ihm zu scherzen. Sie hielt Dave ständig vor, schlechte Entscheidungen zu treffen, aber schlief weiterhin mit ihm, als wäre sie keinen Deut besser. Sie zog ihre Jeans an. Der Knopf ließ sich schwer schließen, denn sie hatte ein paar Pfund zugelegt. Sonst hatte sie außer ihren Schuhen nichts ausgezogen. Die lavendelfarbenen Nikes standen neben dem Werkzeugkasten, was sie plötzlich an etwas erinnerte. »Du musst die Toilette in Nummer drei reparieren, bevor die Gäste eintreffen.«

»Wird erledigt, Boss.« Dave wälzte sich gemächlich auf die Seite, um aufzustehen. Er hatte es nie eilig. »Denkst du, du kannst ein wenig Geld für mich lockermachen?«

»Zweig es von deinen Unterhaltszahlungen ab.«

Dave zuckte zusammen. Er war sechzehn Jahre im Rückstand.

»Was ist mit dem Geld, das dir Papa für die Renovierung der Junggesellenhütten bezahlt hat?«, fragte sie.

»Das war eine Anzahlung.« Daves Knie knacksten laut, als er aufstand. »Ich musste Material kaufen.«

Sie nahm an, der größte Teil des Materials stammte von seinem Dealer oder seinem Buchmacher. »Eine Plane und ein gebrauchter Generator belaufen sich nicht auf tausend Dollar.«

»Jetzt hör mal auf, Mercy Mac.«

Mercy seufzte vernehmlich, als sie ihr Spiegelbild betrachtete. Die Narbe, die sich der Länge nach über ihr Gesicht zog, hob sich leuchtend rot von ihrer blassen Haut ab. Ihr Haar war noch straff nach hinten gekämmt. Die Bluse war nicht einmal zerknittert. Sie sah aus, als hätte ein Mann, der eine einzige Enttäuschung war, sie gerade zu einem höchst unbefriedigenden Orgasmus gebracht.

»Was hältst du von dieser Investmentsache?«, fragte Dave.

»Ich denke, dass Papa tun wird, was er tun will.«

»Ich frage aber nicht ihn.«

Sie sah Dave im Spiegel an. Ihr Vater hatte die Neuigkeit von den reichen Investoren beim Frühstück verkündet. Mercy war nicht zurate gezogen worden, deshalb nahm sie an, Papa rief ihr auf diese Weise in Erinnerung, dass er immer noch das Sagen hatte. Die Lodge wurde seit sieben Generationen in der Familie McAlpine weitervererbt. Früher hatte es gelegentlich kleine Darlehen gegeben, meist von Gästen, die den Ort am Leben erhalten wollten. Sie halfen auf diese Weise mit, dass Dächer repariert oder neue Boiler angeschafft werden konnten. Einmal wurde die Stromleitung von der Straße ersetzt. Diesmal hörte es sich nach etwas sehr viel Größerem an. Papa hatte gesagt, das Geld der Investoren würde für einen Anbau an die Hauptanlage reichen.

»Ich finde, es ist eine gute Idee«, sagte Mercy. »Das Areal von dem alten Campingplatz nimmt den größten Teil des Grundstücks ein. Wir können größere Hütten bauen, vielleicht sogar ins Auge fassen, Hochzeiten oder Familienfeiern auszurichten.«

»Soll es immer noch Camp Pädowinita heißen?«

Mercy wollte nicht lachen, aber sie tat es. Das Camp Awinita bestand aus vierzig Hektar Campinggelände mit Seezugang, einem Bach voller Forellen und einem prächtigen Panoramabergblick. Das Land war bis vor fünfzehn Jahren eine verlässliche Einnahmequelle gewesen, aber dann waren sämtliche Organisationen, die es mieteten, von den Pfadfindern bis zu den Baptisten, von Pädophilieskandalen erschüttert worden. Niemand wusste, wie viele Kinder dort drüben gelitten hatten. Der Familie war nichts übrig geblieben, als das Campinglager zu schließen, bevor der Makel auch noch auf die Lodge abfärbte.

»Ich weiß nicht«, sagte Dave. »Der größte Teil des Landes steht unter Naturschutz. Man kann im Grunde nicht über die Stelle hinausbauen, wo der Bach in den See fließt. Außerdem sehe ich nicht, dass Papa irgendwen wissen lässt, wie das Geld verwendet wird.«

»›Auf diesem Schild an der Straße steht nur ein einziger Name‹«, zitierte Mercy ihren Vater.

»Es ist auch dein Name auf diesem Schild«, sagte Dave. »Du machst das großartig mit der Leitung des Ladens. Du hattest recht, was die Aufwertung der Badezimmer anging. Es war eine Plackerei, den Marmor hierherzuschaffen, aber er sieht ohne Frage beeindruckend aus. Die Hähne und Wannen wirken, als stammten sie aus einem Einrichtungsmagazin. Die Gäste geben mehr für Extras aus. Buchen wiederholt. Wenn du das alles nicht getan hättest, würden diese Investoren kein Geld anbieten.«

Mercy widerstand dem Drang, stolz auf sich zu sein. Komplimente bekam man in ihrer Familie nicht gerade nachgeworfen. Niemand hatte ein Wort über die farbigen Wände in den Hütten verloren, genauso wenig wie über die Kaffeetheken oder über die Pflanzkästen, die vor Blumen überquollen, sodass die Gäste das Gefühl hatten, ein Märchenland zu betreten.

»Wenn wir dieses Geld richtig verwenden, werden die Leute zweimal, vielleicht sogar dreimal so viel bezahlen wie jetzt. Vor allem, wenn wir sie über die Straße anreisen lassen, statt sie zu zwingen, hierher zu wandern. Wir könnten sogar Quads anschaffen, um bequem zum unteren Teil des Sees zu gelangen. Es ist wunderschön da unten.«

»Es ist weiß Gott schön, da muss ich dir recht geben.« Dave verbrachte den größten Teil seiner Tage auf der Anlage, vorgeblich, um die drei alten Hütten zu renovieren. »Hat Bitty etwas bei der Geldsache mitzureden?«, fragte er.

Ihre Mutter stand immer auf der Seite ihres Vaters, aber Mercy sagte: »Sie würde eher mit dir reden als mit mir.«

»Hab keinen Mucks vernommen.« Dave zuckte mit den Achseln. Früher oder später würde sich Bitty ihm anvertrauen. Sie liebte Dave mehr als ihre eigenen Kinder. »Wenn du mich fragst, ist größer nicht immer besser.«

Größer war genau das, worauf Mercy hoffte. Nachdem der Schock über die Neuigkeit abgeklungen war, hatte sie sich mit der Idee angefreundet. Der Zufluss von Geld konnte alles auf den Kopf stellen. Sie war es leid, sich in Treibsand zu bewegen.

»Es ist eine gewaltige Veränderung«, legte Dave nach.

Sie lehnte sich an die Kommode und sah ihn an. »Wäre es so schlimm, wenn alles anders wäre?«

Sie starrten einander an. Die Frage wog schwer. Sie ignorierte die wässrigen Augen und die rote Nase und sah auf einmal den achtzehnjährigen Jungen, der versprochen hatte, sie von hier wegzubringen. Dann die Erinnerung an den Autounfall, der ihr das Gesicht aufgerissen hatte. Die Entzugsklinik. Und noch ein Entzug. Der Kampf um das Sorgerecht für Jon. Den drohenden Absturz. Und immer die nicht endende, erbarmungslose Enttäuschung.

Ihr Handy auf dem Nachttisch meldete eine Benachrichtigung. Dave warf einen Blick darauf. »Jemand ist am Anfang des Wanderwegs.«

Mercy entsperrte den Schirm. Die Kamera befand sich auf dem Parkplatz, was bedeutete, sie hatte rund zwei Stunden Zeit, bis die ersten Gäste die fünf Meilen lange Wanderung zur Lodge hinter sich gebracht hatten. Oder vielleicht weniger. Die beiden sahen aus, als würden sie den Weg mühelos schaffen. Der Mann war sehr groß und schlank und hatte die Figur eines Läufers. Die Frau hatte eine lange, rote Lockenmähne und trug einen Rucksack, der aussah, als hätte sie ihn schon benutzt.

Das Paar küsste sich innig, bevor es sich auf den Weg machte. Mercy spürte einen Stich aus Eifersucht, als sie sah, wie sich die beiden an den Händen hielten. Der Mann blickte ständig zu der Frau hinunter. Sie blickte ständig zu ihm auf. Dann lachten beide, als wäre ihnen klar geworden, wie albern und verliebt sie sich benahmen.

»Der Typ wirkt wie besoffen von Sex«, sagte Dave.

Mercys Eifersucht wurde stärker. »Und sie schaut auch ziemlich beschwipst drein.«

»Ein BMW«, bemerkte Dave. »Sind das die Investoren?«

»Reiche Menschen sind nicht so glücklich. Muss das frisch verheiratete Paar sein. Will und Sara.«

Dave schaute genauer hin, auch wenn die beiden der Kamera jetzt den Rücken zuwandten. »Weißt du, womit sie ihren Lebensunterhalt verdienen?«

»Er ist Mechaniker. Sie ist Chemielehrerin.«

»Wo sind sie her?«

»Atlanta.«

»Das echte Atlanta oder der Großraum Atlanta?«

»Ich weiß es nicht, Dave. Atlanta-Atlanta.«

Er trat ans Fenster und schaute über das Gelände zum Haupthaus. Sie wusste, irgendetwas beunruhigte ihn, aber sie konnte sich nicht überwinden, ihn danach zu fragen. Mercy hatte viel Zeit in Dave investiert. Hatte sich bemüht, ihm zu helfen. Sich bemüht, ihn zu heilen. Ihn genug zu lieben. Genug zu sein. Sich bemüht, bemüht, bemüht, nicht im Treibsand seiner schmerzhaften Bedürftigkeit zu versinken.

Die Leute hielten Dave für einen entspannten, lockeren Typen, der der Mittelpunkt jeder Party war, aber Mercy wusste, dass in seiner Brust die Angst wie ein riesiger Klumpen saß. Dave wurde nicht von Süchten beherrscht, weil er mit sich im Reinen war. Er hatte die ersten elf Jahre seines Lebens im staatlichen Pflegesystem verbracht. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, nach ihm zu suchen, als er weggelaufen war. Er hatte sich auf dem Gelände des Lagers herumgetrieben, bis Mercys Vater ihn schlafend in einer der Junggesellenhütten fand. Dann hatte Mercys Mutter ihm ein Abendessen gekocht, und Dave tauchte von da an jeden Abend auf, schließlich war er ins Haupthaus gezogen, und die McAlpines hatten ihn adoptiert, was zu einer Menge hässlicher Gerüchte führte, als Mercy mit Jon schwanger wurde. Es machte die Sache nicht besser, dass Dave achtzehn und Mercy gerade fünfzehn Jahre alt geworden war, als es passierte.

Sie hatten einander nie als Geschwister betrachtet. Sie waren eher wie zwei Idioten, die in der Nacht aneinander vorbeiliefen. Er hatte sie gehasst, bis er sie geliebt hatte. Sie hatte ihn geliebt, bis sie ihn gehasst hatte.

»Achtung.« Dave wandte sich vom Fenster ab. »Fischtopher ist im Anmarsch!«

Mercy schob ihr Handy in die Gesäßtasche, als ihr Bruder die Tür aufmachte. Er hatte eine der Katzen dabei, die wie eine mollige Stoffpuppe in seinen Armen hing. Christopher war so angezogen wie immer: Anglerweste, Fischerhut mit eingehakten Köderfliegen, Cargoshorts mit zu vielen Taschen, Flip-Flops, damit er rasch in seine Watstiefel schlüpfen, den ganzen Tag in der Mitte eines Bachs stehen und seine Leinen auswerfen konnte. Daher der Spitzname.

»Was hat dich hergelockt, Fischtopher?«, fragte Dave.

»Keine Ahnung.« Fisch zog die Augenbrauen hoch. »Etwas hat mich an Land gezogen.«

Mercy wusste, sie brachten es fertig, stundenlang so weiterzumachen. »Fisch, hast du Jon gesagt, dass er die Kanus saubermachen soll?«

»Ja, und er hat geantwortet, ich kann ihn am Arsch lecken.«

»Himmel noch mal.« Mercy warf Dave einen Blick zu, als wäre er allein für Jons Benehmen verantwortlich. »Wo ist er jetzt?«

Fisch setzte die Katze neben der anderen auf der Veranda ab. »Ich habe ihn in die Stadt geschickt, Pfirsiche holen.«

»Warum das denn?« Mercy schaute wieder auf die Uhr. »In fünf Minuten beginnt das Familienmeeting. Ich bezahle ihn nicht dafür, dass er sich den ganzen Sommer in der Stadt herumtreibt. Er muss den Zeitplan kennen.«

»Er darf nicht hier sein.« Fisch verschränkte die Arme, wie er es immer tat, wenn er glaubte, etwas Wichtiges zu sagen. »Delilah ist da.«

Er hätte Mercy weniger schockiert, wenn er gesagt hätte, dass Luzifer einen Reigen auf der Veranda tanzte. Ohne zu überlegen, packte sie Daves Arm. Ihr Herz hämmerte. Zwölf Jahre waren vergangen, seit sie ihrer Tante in einem überfüllten Gerichtssaal gegenübergestanden hatte. Delilah hatte versucht, das ständige Sorgerecht für Jon zu bekommen. Die tiefen Wunden, die der Kampf um ihn bei Mercy hinterlassen hatte, waren noch nicht verheilt.

»Was hat das verrückte Miststück hier verloren?«, fragte Dave. »Was will sie?«

»Keine Ahnung«, sagte Fisch. »Sie ist direkt an mir vorbeigefahren und dann mit Papa und Bitty ins Haus gegangen. Ich habe Jon gesucht und ihn weggeschickt, bevor er sie sieht. Gern geschehen.«

Mercy konnte ihm nicht danken. Sie hatte angefangen zu schwitzen. Delilah lebte eine Stunde entfernt in ihrer eigenen kleinen Blase. Ihre Eltern hatten sie kommen lassen, weil sie etwas im Schilde führten. »Papa und Bitty haben auf der Veranda auf Delilah gewartet?«

»Sie sind morgens immer auf der Veranda. Woher soll ich wissen, ob sie gewartet haben?«

»Fisch!« Mercy stampfte mit dem Fuß auf. Er konnte einen Schwarzbarsch und ein Rotauge auf zwanzig Meter Entfernung unterscheiden, aber er hatte keine Ahnung, wie man Menschen las. »Wie sahen sie aus, als Delilah vorfuhr? Waren sie überrascht? Haben sie etwas gesagt?«

»Ich glaube nicht. Delilah stieg aus ihrem Wagen. Sie hat ihre Handtasche so gehalten.«

Mercy sah, wie er die Hände vor dem Bauch verschränkte.

»Dann ist sie die Stufen hinauf, und sie sind alle ins Haus gegangen.«

»Zieht sie sich immer noch an wie Pippi Langstrumpf?«, fragte Dave.

»Wer ist Pippi Langstrumpf?«

»Ruhig«, zischte Mercy. »Delilah hat nichts darüber gesagt, dass Papa in einem Rollstuhl sitzt?«

»Nein. Keiner von ihnen hat irgendwas gesagt, wenn ich es recht bedenke. Sie waren merkwürdig still.« Fisch zeigte mit erhobenem Zeigefinger an, dass ihm noch etwas eingefallen war. »Bitty wollte Papa ins Haus schieben, aber Delilah ließ sie nicht und hat es selbst übernommen.«

»Klingt ganz nach Delilah«, sagte Dave.

Mercy biss die Zähne zusammen. Delilah war nicht überrascht gewesen, ihren Bruder in einem Rollstuhl vorzufinden, also hatte sie bereits von dem Unfall gewusst, und das hieß, sie hatten telefoniert. Die Frage war allerdings, wer hatte angerufen? War sie hierher eingeladen worden oder einfach gekommen?

Wie aufs Stichwort läutete ihr Telefon. Mercy zog es aus der Tasche. Sie schaute auf das Display. »Bitty.«

»Schalt es auf Lautsprecher«, sagte Dave.

Mercy tippte auf den Schirm. Ihre Mutter fing jedes Gespräch gleich an, egal, ob sie angerufen wurde oder selbst anrief. »Hier ist Bitty.«

»Ja, Mutter.«

»Kommt ihr Kinder zum Meeting?«

Mercy schaute auf die Uhr. Sie waren zwei Minuten zu spät. »Ich habe Jon in die Stadt geschickt. Fisch und ich sind unterwegs.«

»Bring Dave mit.«

Mercys Hand verharrte über dem Telefon. Sie hatte das Gespräch beenden wollen. Jetzt zitterten ihre Finger. »Wieso willst du Dave dabeihaben?«

Aber ihre Mutter hatte schon aufgelegt.

Mercy sah Dave an, dann Fisch. Sie spürte, wie ihr ein Schweißtropfen den Rücken hinablief. »Delilah wird versuchen, Jon zurückzubekommen.«

»Das wird sie nicht. Jon hatte gerade Geburtstag. Er ist so gut wie erwachsen.« Ausnahmsweise war Dave derjenige, der logisch dachte. »Delilah kann ihn dir nicht mehr wegnehmen. Selbst wenn sie es versucht, vergehen Jahre, bis die Sache vor Gericht kommt. Bis dahin ist er achtzehn.«

Mercy legte die Hand aufs Herz. Er hatte recht. Jon benahm sich manchmal wie ein Baby, aber er war sechzehn. Mercy war keine Serienversagerin mit zwei Anklagen wegen Trunkenheitsfahrten, die sich mit Benzos von Heroin zu entwöhnen versuchte. Sie war eine verantwortungsbewusste Bürgerin. Sie führte das Familienunternehmen. Sie war seit dreizehn Jahren clean.

»Leute«, sagte Fisch, »sollen wir überhaupt wissen, dass Delilah hier ist?«

»Sie hat dich nicht gesehen, als sie die Straße heraufkam?«

»Vielleicht?« Es war eine Frage, keine Feststellung. »Ich habe neben dem Schuppen Holz aufgeschichtet. Sie fuhr ziemlich schnell. Ihr wisst ja, wie sie ist. Als wäre sie auf einer Mission.«

Mercy fiel eine Erklärung ein, die fast zu schrecklich war, um sie auszusprechen. »Der Krebs könnte zurück sein.«

Fisch sah betroffen aus. Dave entfernte sich ein paar Schritte und wandte den beiden den Rücken zu. Bitty hatte vor vier Jahren die Diagnose metastasierender Hautkrebs erhalten. Eine aggressive Behandlung hatte die Symptome vorübergehend abklingen lassen, aber das bedeutete nicht das Gleiche wie Heilung. Der Onkologe hatte ihr geraten, ihre Angelegenheiten jederzeit geordnet zu haben.

»Dave?«, fragte Mercy. »Hast du etwas bemerkt? Benimmt sie sich irgendwie anders?«

Dave schüttelte den Kopf und wischte sich über die Augen. Er war immer ein Muttersöhnchen gewesen, und Bitty war immer noch vernarrt in ihn, als wäre er ein Kleinkind. Mercy konnte ihm die Extraportion Zuwendung schlecht missgönnen. Seine leibliche Mutter hatte ihn in einem Pappkarton vor einer Feuerwache zurückgelassen.

»Sie …« Dave räusperte sich einige Male, bis er sprechen konnte. »Sie würde es mir unter vier Augen sagen, wenn der Krebs wiedergekommen wäre. Sie würde mich nicht bei einem Familientreffen damit konfrontieren.«

Mercy wusste, das stimmte, wenn auch nur, weil Dave der erste Mensch gewesen war, dem sie es beim letzten Mal erzählt hatte. Dave hatte immer eine besondere Beziehung zu ihrer Mutter gehabt. Er war derjenige gewesen, der ihr den Spitznamen Little Bitty Mama gegeben hatte, weil sie so klein war. Als sie gegen den Krebs kämpfte, hatte Dave sie zu jedem Arzttermin, jeder Operation, jeder Behandlung gebracht. Er war auch derjenige gewesen, der ihre Wundverbände gewechselt, ihre Medikamenteneinnahme überwacht und ihr sogar die Haare gewaschen hatte.

Papa war zu sehr mit dem Management der Lodge beschäftigt gewesen.

»Wir übersehen das Offensichtliche«, sagte Fisch.

Dave wischte sich die Nase mit dem Saum seines T-Shirts, als er sich wieder umdrehte. »Nämlich?«

»Papa will über die Investoren reden«, sagte Fisch.

Mercy kam sich wie eine Idiotin vor, weil sie nicht gleich daran gedacht hatte. »Müssen wir eine Gesellschafterversammlung einberufen, um abzustimmen, ob wir das Geld nehmen?«

»Nein.« Dave kannte die Regeln des McAlpine’schen Familientrusts besser als irgendwer sonst. Delilah hatte versucht, ihn hinauszudrängen, weil er nur adoptiert war. »Papa ist der Treuhänder, deshalb darf er diese Entscheidungen allein treffen. Davon abgesehen ist nur ein Quorum nötig, damit die Entscheidung gilt. Mercy, du vertrittst Jon, er braucht also nur dich, Fisch und Bitty. Es gibt keinen Grund, warum ich dabei sein müsste. Oder Delilah.«

Fisch blickte nervös auf die Uhr. »Wir sollten lieber gehen, oder? Papa wartet.«

»Wartet darauf, uns hinterrücks zu überfallen«, sagte Dave.

Mercy glaubte ebenfalls, dass ihr Vater genau das vorhatte. Sie machte sich keine Illusionen, dass ihnen eine herzerwärmende Familienzusammenkunft bevorstehen könnte.

»Bringen wir es hinter uns«, sagte sie.

Mercy führte die Männer über das Gelände, die beiden Katzen im Schlepptau. Sie kämpfte gegen ihre tief sitzenden Ängste an. Jon war in Sicherheit. Mercy war nicht hilflos. Sie war zu alt für eine Tracht Prügel, und es war ja nicht so, dass Papa schneller laufen konnte als sie.

Sofort stieg ihr die Schamröte ins Gesicht. Sie war eine schreckliche Tochter, so etwas auch nur zu denken. Vor anderthalb Jahren hatte ihr Vater eine Urlaubergruppe über den Mountainbikepfad geleitet, als er plötzlich kopfüber über die Lenkstange geflogen und in die Schlucht gestürzt war. Ein Rettungshubschrauber hatte ihn mithilfe einer Seilwinde vor den Augen der entsetzten Gäste auf einer Trage herausgeholt. Er hatte einen Schädelbruch erlitten, und zwei Halswirbel sowie das Rückgrat waren gebrochen. Es stand außer Frage, dass er im Rollstuhl enden würde. In seinem rechten Arm war ein Nerv beschädigt. Mit viel Glück würde er eine eingeschränkte Kontrolle über die linke Hand zurückerlangen. Er konnte noch selbstständig atmen, aber in diesen ersten Tagen nach dem Unfall hatten die Ärzte von ihm gesprochen, als wäre er bereits tot.

Mercy hatte keine Zeit zum Trauern gehabt. In der Lodge waren noch Gäste, und in den kommenden Wochen würden weitere folgen. Aktivitäten mussten geplant und Betreuer eingeteilt werden, sie mussten Vorräte bestellen und Rechnungen bezahlen.

Fisch war der Älteste, aber er hatte sich nie für Managementaufgaben interessiert. Seine einzige Leidenschaft bestand darin, Gäste ans Wasser zu führen. Jon war zu jung, und außerdem hasste er den Umgang mit Gästen. Auf Dave war kein Verlass. Delilah kam nicht infrage. Bitty wich verständlicherweise nicht von Papas Seite. Mangels anderer Optionen waren alle Aufgaben schließlich Mercy zugefallen. Dass sie ihre Sache tatsächlich gut machte, hätte eine Quelle des Stolzes für die Familie sein müssen. Dass die Veränderungen, die sie vornahm, gleich im ersten Jahr zu einem hohen Gewinnzuwachs führten und dass sie auf dem besten Weg war, diesen jetzt zu verdoppeln, hätte Anlass für eine Feier sein müssen.

Doch ihr Vater hatte nach seiner Rückkehr aus der Reha-Einrichtung vom ersten Moment an nur vor Wut gekocht. Nicht wegen des Unfalls. Nicht, weil ihm die athletische Leichtigkeit seines Körpers verlorengegangen war. Nicht einmal wegen des Verlusts seiner Bewegungsfreiheit. Aus unerfindlichen Gründen hatten sich seine Wut und seine Feindseligkeit direkt auf Mercy gerichtet.

Jeden Tag schob Bitty Papa durch die Anlage. Jeden Tag fand er an allem, was Mercy tat, etwas auszusetzen. Die Betten wurden nicht richtig gemacht. Die Handtücher wurden nicht richtig gefaltet. Die Gäste wurden nicht richtig behandelt und die Mahlzeiten nicht richtig serviert, und natürlich war richtig immer so, wie er es getan hatte.

Am Anfang hatte sich Mercy noch bemüht, ihn zufriedenzustellen, sein Ego zu streicheln, so zu tun, als würde sie es ohne ihn nicht schaffen, ihn um Rat und Zustimmung zu bitten. Nichts funktionierte. Sein Zorn schwärte nur weiter. Sie hätte Goldbarren scheißen können, und er hätte an jedem einzelnen etwas auszusetzen gehabt. Sie hatte gewusst, dass Papa ein anstrengender Tyrann sein konnte, aber es war ihr nicht bewusst gewesen, dass er ebenso kleinlich wie grausam war.

»Wartet mal.« Fisch hatte die Stimme gesenkt, als wären sie Kinder, die sich zum See schlichen. »Wie gehen wir die Sache an, Leute?«

»Wie immer«, sagte Dave. »Du wirst auf den Boden starren und den Mund halten. Ich werde alle verärgern. Mercy wird sich verschanzen und kämpfen.«

Das brachte ihm zumindest ein Lächeln ein. Mercy drückte Daves Arm, bevor sie die Tür aufmachte.

Wie immer empfing sie Düsternis. Dunkle, verwitterte Wände. Zwei winzige Fensterschlitze. Kein Sonnenlicht. Die Eingangshalle des Haupthauses war die ursprüngliche Lodge gewesen, als diese nach dem Bürgerkrieg eröffnet wurde. Damals war es kaum mehr als eine Anglerhütte gewesen. Man sah noch die Axtspuren in der Holzverkleidung, wo die Bohlen aus den auf dem Gelände gefällten Bäumen geschnitten wurden.

Glück und Notwendigkeit hatten über die Jahre zu einer Erweiterung des Hauses geführt. Ein zweiter Eingang war an der Verandaseite angefügt worden, damit Wanderer, die den Weg heraufkamen, ein gastlicherer Anblick empfing. Für zahlungskräftige Gäste waren Privatzimmer gebaut worden, was eine Treppe zum Obergeschoss auf der Rückseite notwendig machte. Ein Salon und ein Speisesaal wurden für Möchtegern-Teddy-Roosevelts angefügt, die herbeiströmten, um den Wald im neuen Nationalpark zu erkunden. Die Küche hatte man angebaut, als Holzöfen nicht mehr praktikabel gewesen waren. Die umlaufende Veranda war ein Zugeständnis an die drückende Sommerhitze. Irgendwann hatten sich zwölf McAlpine-Brüder in Stockbetten im Obergeschoss gedrängt. Die eine Hälfte von ihnen hatte die andere Hälfte gehasst, was den Bau der drei Junggesellenhütten am See erforderlich gemacht hatte.

Sie hatten sich größtenteils in alle Winde zerstreut, als die Große Depression zuschlug und ein einsamer, verbitterter McAlpine zurückblieb, der nur mit äußerster Mühe durchhielt. Er hatte ihre Asche auf einem Regal im Keller aufbewahrt, als sie einer nach dem anderen zurückgekehrt waren. Dieser Urgroßvater von Mercy und Fisch war für die Schaffung des strikt geregelten Treuhandvermögens der Familie verantwortlich, und die Verbitterung gegenüber seinen Geschwistern war aus jedem Absatz deutlich herauszulesen.

Dieser Trust war auch der einzige Grund, warum das Anwesen nicht vor Jahren in Teilen verkauft wurde. Der größte Teil des Campingplatzes stand unter Naturschutz und durfte nicht ausgebaut werden. Die Verwendung des übrigen Teils wurde durch Vereinbarungen beschränkt. Größere Vorhaben konnten nach den Bestimmungen des Trusts nur im Konsens realisiert werden, und über die Jahre hatte es unter den McAlpines nur Arschlöcher gegeben, die mit den anderen Arschlöchern stritten und einen Konsens allein aus Gehässigkeit vermieden. Dass Mercys Vater das größte Arschloch in einer langen Ahnenreihe war, hätte keine Überraschung sein dürfen.

Doch hier waren sie nun.

Mercy straffte den Rücken, als sie den langen Flur zum hinteren Teil des Hauses entlangging. Ihre Augen begannen zu tränen, als das Sonnenlicht durch die mit einer Kurbel zu bedienenden Flügelfenster strömte, dann durch die venezianischen Fenster und schließlich durch die eleganten Harmonikatüren, die auf die hintere Veranda führten. Die Räume waren wie die Ringe eines Baums. Man konnte das Vergehen der Zeit an dem Rosshaarputz, den Popcorndecken und den avocadogrünen Geräten ablesen, die den brandneuen Herd mit sechs Kochfeldern in der Küche vervollständigten.

Genau dort warteten ihre Eltern auf sie. Papas Rollstuhl war an den runden Säulentisch geschoben worden, den Dave nach dem Unfall gebaut hatte. Bitty saß neben ihm, den Rücken gerade, die Lippen geschürzt, die Hand auf einem Stapel Dienstpläne. Ihr Aussehen hatte etwas Zeitloses. Kaum eine Falte war auf ihrem Gesicht zu sehen. Sie hatte immer eher wie Mercys ältere Schwester gewirkt als wie ihre Mutter. Bis auf den missbilligenden Gesichtsausdruck. Wie üblich lächelte Bitty nicht, bevor sie Dave sah, dann hellte sich ihre Miene auf, als wäre Elvis mit dem Jesuskind auf dem Arm durch die Tür gekommen.

Mercy registrierte es kaum. Delilah war nirgendwo zu sehen, was ihre Gedanken sofort wieder rotieren ließ. Wo versteckte sie sich? Weshalb war sie hier? Was wollte sie? War sie Jon auf der schmalen Straße begegnet?

»Ist es so schwer, pünktlich zu sein?« Papa schaute demonstrativ zur Küchenuhr. Er trug eine Armbanduhr, aber es kostete ihn Mühe, den Arm zu drehen. »Setzt euch.«

Dave ignorierte die Anordnung und beugte sich hinunter, um Bitty auf die Wange zu küssen. »Geht’s dir gut, Little Bitty Mama?«

»Alles in Ordnung, Schatz.« Bitty tätschelte sein Gesicht. »Komm, setz dich.«

Ihre leichte Berührung glättete Daves Sorgenfalten vorübergehend. Er blinzelte Mercy zu, als er sich einen Stuhl herauszog. Muttersöhnchen. Fisch nahm wie üblich links von ihr Platz, den Blick auf den Boden gerichtet, die Hände im Schoß. Keine Überraschung.

Mercy ließ den Blick auf ihrem Vater ruhen. Er hatte jetzt mehr Narben im Gesicht als sie selbst, dazu tiefe Falten, die fächerförmig von seinen Augenwinkeln ausstrahlten und wie große Anführungszeichen in seine hohlen Wangen schnitten. Er war in diesem Jahr achtundsechzig geworden, aber er sah aus wie neunzig. Er war immer draußen in der Natur gewesen, vor dem Unfall hatte Mercy ihren Vater nie länger still sitzen sehen, als er brauchte, um sich eine Mahlzeit in den Mund zu schaufeln. Die Berge waren sein Zuhause. Er kannte jeden Meter der Rundwege. Den Namen eines jeden Vogels. Jede Blume. Die Gäste vergötterten ihn. Die Männer wünschten sich ein Leben wie seines. Die Frauen wünschten sich seine Zielstrebigkeit. Sie nannten ihn ihren Lieblingsguide, ihren Seelenverwandten, ihren Vertrauten.

Ihr Vater war er ja nicht.

»Also dann, Kinder.« Bitty fing alle Meetings mit derselben Redewendung an, als wären sie alle noch klein. Sie beugte sich vor, damit sie die Pläne verteilen konnte. Sie war eine zierliche Frau, kaum größer als eins fünfzig, mit einer leisen Stimme und einem engelsgleichen Gesicht. »Heute kommen fünf Paare. Noch einmal fünf am Donnerstag.«

»Wieder eine volle Bude«, sagte Dave. »Gut gemacht, Mercy Mac.«

Die Finger von Papas linker Hand krallten sich um die Armlehne. »Wir werden zusätzliche Guides für das Wochenende brauchen.«

Mercy musste erst einmal ihre Stimme finden. Würden sie dieses Meeting tatsächlich durchziehen, als lauerte Delilah nicht irgendwo im Verborgenen? Papa führte eindeutig etwas im Schilde. Es blieb ihr nichts übrig, als mitzuspielen.

Sie sagte: »Ich habe Xavier und Gil bereits angeheuert. Jedediah ist auf Stand-by.«

»Stand-by?«, fragte Papa. »Was zum Teufel ist Stand-by?«

Mercy verkniff sich das Angebot, das Wort für ihn zu googeln. Sie hatten strikte Regeln, was die Zahl von Gästen pro Führer anging. Nicht nur aus Sicherheitsgründen, sondern auch weil ihre betreuten Ausflüge saftige Teilnehmerbeiträge einbrachten. »Für den Fall, dass sich ein Gast in letzter Minute für die Wanderung anmeldet.«

»Dann sagst du ihm, es ist zu spät. Wir lassen Guides nicht im Ungewissen hängen. Sie arbeiten für Geld, nicht für Versprechungen.«

»Jed hat kein Problem damit, Papa. Er sagt, er kommt, wenn er kann.«

»Und was, wenn er nicht zur Verfügung steht?«

Mercy knirschte mit den Zähnen. Er verschob immer die Torpfosten. »Dann begleite ich die Gäste selbst.«

»Und wer kümmert sich um den Laden, während du dich oben in den Bergen amüsierst?«

»Dieselben Leute, die sich um ihn gekümmert haben, wenn du in den Bergen warst.«

Papa blähte zornig die Nasenlöcher. Bitty schaute tief enttäuscht drein. Das Meeting dauerte noch keine Minute, und schon stritten sie. Mercy würde niemals gewinnen. Ob sie schnell lief oder langsam, sie blieb immer im Treibsand stecken.

»Schön«, sagte Papa. »Du tust ja sowieso, was du willst.«

Er gab nicht nach. Er bekam das letzte Wort und teilte ihr gleichzeitig mit, dass sie falschlag. Mercy war im Begriff zu antworten, aber Dave stieß sie unter dem Tisch mit dem Bein an, damit sie es bleiben ließ.

Papa war ohnehin schon fortgefahren. Er nahm jetzt Fisch ins Visier. »Christopher, du musst dich bei den Investoren von deiner besten Seite zeigen. Sie heißen Sydney und Max, eine Frau und ein Mann, aber sie hat die Hosen an. Nimm sie mit zu den Wasserfällen, wo sie bestimmt einen guten Fang machen. Langweile sie nicht mit deinem Ökogefasel.«

»Auf keinen Fall, verstanden.« Fisch hatte seinen Master in Natural Resources Management an der UGA mit dem Schwerpunkt Fischerei- und Wasserkunde gemacht. Die meisten Gäste waren hingerissen von seiner Leidenschaftlichkeit. »Ich dachte, es würde ihnen …«

»Dave«, sagte Papa. »Was ist los mit den Junggesellenhütten? Bezahle ich dich pro Nagel?«

In einer Schrotsalve von passiver Aggression, die alle am Tisch traf, ließ sich Dave Zeit mit seiner Antwort. Er führte gemächlich die Hand ans Gesicht und kratzte sich geistesabwesend am Kinn. Schließlich sagte er: »Ich hab Trockenfäule in der dritten Hütte gefunden. Musste den rückwärtigen Teil entkernen und von vorn anfangen. Könnte im Fundament sein, wer weiß.«

Papa blähte wieder die Nasenlöcher. Er konnte Daves Behauptung unmöglich überprüfen. Selbst wenn man ihn auf ein Geländefahrzeug schnallen würde, käme er nicht bis zu diesem Teil des Anwesens.

»Ich will Fotos sehen«, sagte Papa. »Dokumentiere den Schaden. Und räum unbedingt dein ganzes Zeug weg. Ein Sturm zieht auf. Ich zahle nicht schon wieder für eine neue Kreissäge, weil du Dummkopf sie im Regen stehen lässt.«

Dave säuberte seinen Fingernagel. »Klar doch, Papa.«

Mercy sah, wie die linke Hand ihres Vaters die Armlehne umklammerte. Vor zwei Jahren wäre er um den Tisch gestürmt. Jetzt musste er jeden Funken Energie sparen, nur um sich am Arsch kratzen zu können.

»Wann soll ich die Investoren treffen?«, fragte sie.

Papa schnaubte nur höhnisch über die Frage. »Warum solltest du sie treffen?«

»Weil ich die Managerin bin. Weil ich alle Kalkulationsbögen und Gewinn- und Verlustrechnungen habe. Weil ich eine McAlpine bin. Weil jeder von uns denselben Anteil am Treuhandvermögen hält. Weil ich das Recht dazu habe.«

»Du hast das Recht, den Mund zu halten, bevor ich ihn dir stopfe.« Papa wandte sich an Fisch. »Wieso ist Chuck wieder hier? Wir sind kein Obdachlosenasyl.«

Mercy wechselte einen Blick mit Dave. Er fasste es als sein Stichwort auf, eine Bombe mitten in die Runde zu werfen. »Verrätst du uns, warum Delilah hier ist?«

Bitty rutschte nervös auf ihrem Stuhl umher.

Papa begann zu lächeln, was ein ganz eigenes Angstgefühl erzeugte. Seine Grausamkeit hinterließ immer ein Mal. »Was glaubst du, warum sie hier ist?«

»Ich glaube …« Dave trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. »Ich glaube, die Investoren sind nicht hier, um zu investieren. Sie sind hier, um zu kaufen.«

Fisch klappte die Kinnlade herunter. »Was?«

Mercy hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. »D-das kannst du nicht. Nach den Bestimmungen des Trusts …«

»Es ist alles geregelt«, sagte Papa. »Wir müssen hier raus, bevor du den Laden an die Wand fährst.«

»An die Wand fährst?« Mercy konnte nicht glauben, was sie hörte. »Willst du mich verarschen?«

»Mercy!«, zischte ihre Mutter. »Pass auf, wie du redest.«

»Wir sind für die ganze Saison ausgebucht!« Sie konnte nicht aufhören zu brüllen. »Der Gewinn ist um dreißig Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen!«

»Und du hast ihn für Marmorbäder und modisches Bettzeug verplempert.«

»Was wir durch erneute Buchungen wieder hereingeholt haben.«

»Wie lange wird das anhalten?«

»Solange du dich verdammt noch mal raushältst!«

Mercy hörte ihr wütendes Kreischen durch den Raum gellen. Sofort überfielen sie Schuldgefühle. Noch nie hatte sie in diesem Ton mit ihrem Vater gesprochen. Keiner von ihnen hatte es getan.

Sie hatten sich zu sehr gefürchtet.

»Mercy«, sagte Bitty. »Setz dich, Kind. Zeig ein wenig Respekt.«