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Herbert Dutzler

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Beschreibung

MORD AM NARZISSENFEST: GASPERLMAIERS FÜNFTER FALL! Aufruhr in Bad Aussee - und dann auch noch eine tote Narzissenkönigin: Der Gasperlmaier hat alle Hände voll zu tun: Die einheimische Bevölkerung geht mit jähem Zorn gegen eine Billigtrachten-Kette vor, die in Altaussee eine neue Filiale eröffnet hat. Ausgerechnet vor dem Narzissenfest, wo der gemütliche Dorfpolizist ohnehin rund um die Uhr im Dienst ist. Als dann die gerade gewählte Narzissenkönigin tot aufgefunden wird, stellt sich die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen ihrem Tod und der Eröffnung des Geschäfts besteht. Dass der grantige Oberst Resch die Ermittlungen übernimmt und ihm ab sofort das Leben schwer macht, hilft da wenig - der Gasperlmaier, als neuer Postenkommandant auf sich allein gestellt, kommt ins Straucheln. Die Sorge um seine Tochter Katharina, die zur neuen Narzissenkönigin gekürt wird, macht es nicht besser. Zum Glück steht ihm trotz Karenzurlaub auch diesmal Frau Dr. Kohlross helfend zur Seite ... Der fünfte Band der erfolgreichen Krimi-Serie: Endlich hat das Warten ein Ende! Auch Franz Gasperlmaiers fünfter Fall überzeugt mit allem, was ein hervorragender Krimi braucht: einem durch und durch liebenswürdigen Ermittler, authentischem Ausseer Flair, einer großen Portion Humor und einer noch größeren Portion Spannung! ******************************* >>Wer die ersten vier Altaussee-Krimis gerne gelesen hat, wird den fünften lieben! Und wer sie nicht gelesen hat, wird ihn ebenfalls lieben! Man schwankt zwischen Schmunzeln und Gänsehaut und kann das Buch nicht mehr weglegen!<< ******************************* Preisgekrönte Krimis: 2014 vergab der Hauptverband des Österreichischen Buchhandels 3 GOLDENE BÜCHER für die Krimi-Bestseller von Herbert Dutzler. ******************************* Bisher erschienen sind: * Letzter Kirtag * Letzter Gipfel * Letzte Bootsfahrt * Letzter Saibling * NEU: Gasperlmaier - Die ersten 3 Altaussee-Krimis in einem Band

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Herbert Dutzler

Letzter Applaus

Ein Altaussee-Krimi

1

Auf diesen Einsatz hätte Gasperlmaier gern verzichtet. Zum einen, weil der ganze Wirbel ausgerechnet am Tag vor dem Beginn des Narzissenfestes stattfinden musste. Und zum anderen, weil er völlig gegen seine eigene Überzeugung handeln musste.

Es war wegen dem Trachtenparadies. Nicht, dass er an und für sich etwas gegen Trachten gehabt hätte, ganz im Gegenteil. Er trug seine Lederhose seit Jahrzehnten mit Stolz und Selbstverständlichkeit, wie auch seine Frau ihrer Arbeit als frisch gebackene Direk­torin der Altausseer Volksschule gewöhnlich im Dirndl nachging. Und jedes zweite Geschäft in Bad Aussee war ohnehin ein Trachtengeschäft, eine Lederhosenmacherei oder eine Stoffdruckerei. Daran lag es also nicht. Es lag nur an dem besonderen Trachtengeschäft, das heute eröffnet werden sollte. Das Trachtenparadies war nämlich kein alteingesessenes Geschäft, sondern eine Filiale einer Textilkette, die sich bereits über fast ganz Österreich und Bayern verbreitet hatte und Billigtrachten völlig unklarer Herkunft verkaufte. Gemunkelt wurde sogar, dass die angebotene Ware in Indien und Bangladesch gefertigt wurde. Aus billigem Ziegenleder sollten die Lederhosen sein, hörte man. Gasperlmaier hatte nichts, rein gar nichts, gegen die Inder an sich, und gegen die Ziegen schon gar nicht, aber dass im Ausseerland Lederhosen und Dirndl verkauft würden, die irgendeine bitterarme Näherin in einer Bruchbude am Brahmaputra zusammengestichelt hatte, das ließ ihn erschauern.

Und so hatte es natürlich, nachdem ruchbar geworden war, dass das Trachtenparadies eine Filiale in Bad Aussee eröffnen wollte, wütende Proteste aller Art gegeben. Ein Boykottaufruf in der Alpenpost war noch das Harmloseste gewesen. Etwas deutlicher war der Stammtisch geworden, sogar sein ehemaliger Postenkommandant, der Kahlß Friedrich. Der hatte hinter seinem Bier etwas von »Anzünden« und »Scheiben einschlagen« gemurmelt. Und darauf hingewiesen, dass er jetzt schließlich Zivilist sei und keine Uniform mehr trage, und als Pensionist könne er es sich jederzeit leisten, zivilen Ungehorsam in Betracht zu ziehen.

Warum er denn plötzlich so radikal sei, hatte Gasperlmaier gefragt. Er habe doch sonst nichts anderes im Sinn gehabt als seine Ruhe. »Eben!«, hatte der Friedrich gerufen und mit der flachen Hand auf den Tisch geschlagen. »Verstehst du denn nicht, dass es mit der Ruhe dann vorbei ist, wenn sich sogar hier die Großkonzerne mit ihrem Plastikgewand einnisten? Dann ist nämlich Feuer am Dach, wenn unsere Trachtenschneider in den Konkurs müssen!« So weit hatte Gasperlmaier selbst noch gar nicht gedacht. »Und wenn alles zugrunde geht, sperren auch noch die letzten Wirtshäuser zu!«, hatte der Friedrich gewettert. Damit hatte er Gasperlmaier völlig auf seine Seite gezogen. Er nickte ergeben.

Kurzum, für den Termin der Eröffnung des neuen Geschäfts in der Ischler Straße war gleichzeitig eine Protestkundgebung ebendort anberaumt worden. Die Straße hatte wegen des Menschenauflaufs vor dem Geschäftslokal bereits gesperrt werden müssen, und Gasperlmaier begab sich, zusammen mit der ­Manuela Reitmair, seiner Kollegin vom Posten in Altaussee, zum Ort des Geschehens, wo sie bereits von zwei Kollegen vom Bad Ausseer Polizeiposten erwarten wurden. »Dank schön, für die Verstärkung.« Der Grill Peter, einer der Kollegen, schüttelte ihnen die Hand. »Bis jetzt ist alles ruhig geblieben!« Gasperlmaier sondierte die Situation. Auf der einen Seite die Auslagenscheiben des Trachtenparadieses, mit großen Plakaten, die die heutige Neueröffnung in neonfarbenen Buchstaben auf schwarzem Grund ankündigten. Prosecco sollte es geben. Und Gutscheine sollten verschenkt und großzügige Rabatte gewährt werden. Gasperlmaier seufzte.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte sich bereits eine beträchtliche Anzahl Einheimischer versammelt, fast alle, wie er feststellte, in der Tracht und mit finsteren Gesichtern. Aber auch ein paar auffällig dünne Mädchen in Jeans und knappen Oberteilen fielen ihm auf. Gasperlmaier erschrak. Hatte man nicht in den letzten Monaten immer wieder von jungen Mädchen gehört, die sich mit entblößten Ober­körpern und Schriftzügen auf den Brüsten wütend protestierend den Ordnungskräften entgegengestellt hatten? Das fehlte hier gerade noch, dass sie halbnackte junge Frauen bändigen mussten. Gasperlmaier wandte sich ab. Vielleicht hatte ihm doch seine Phantasie einen Streich gespielt, und die Mädchen wollten bloß ein billiges Polyesterdirndl ergattern.

»Wenig los, da drinnen!« Die Manuela beschattete die Augen mit ihrer Hand und versuchte, durch die Auslagenscheibe zu spähen. »Da werden sie keine zweite Flasche Prosecco aufmachen müssen.« Plötzlich öffnete sich die Ladentür, und ein junger, dunkelhaariger Mann mit kantigen Gesichtszügen trat auf den Gehsteig. Er trug, wie Gasperlmaier feststellte, selbst das billige Trachtenimitat aus seinem Geschäft. In einer echten Ledernen, so dachte Gasperlmaier bei sich, hätte er vielleicht sogar ganz schneidig ausgesehen.

»Die Leute da sind geschäftsschädigend!« Der Mann deutete auf die Menge auf dem gegenüberliegenden Gehsteig. Ein kurzer Blick zeigte Gasperlmaier, dass sie sich noch einmal erheblich vergrößert hatte. Auch auf der Straße standen nun Menschen, sodass das Geschäft mehr oder weniger eingekesselt war, mit vier Beamten zwischen dem Eingang und der Menge. »Sorgen Sie dafür, dass die Straße frei wird und die Kunden ungehindert zu mir ins Geschäft kommen können?« Der Mann lächelte Gasperlmaier entgegen und schien, zumindest einstweilen noch, ziemlich gelassen. »Stern!« Er streckte Gasperlmaier die Hand hin. In einem Reflex ergriff der sie, um sie kräftig zu schütteln. Dumpfes Gemurmel und vereinzelte Buhrufe von der anderen Straßenseite waren die Folge. »Aha!«, schrie einer aus der Menge. »Die Polizei verbrüdert sich schon mit den Gaunern!« Das Geraune in der Menge schwoll an, doch der Kollege Grill schritt den Leuten mit erhobenen Armen entgegen. »Tut’s das doch nicht überbewerten, Leute! Wir verbrüdern uns mit gar niemandem! Wir haben nur dafür zu sorgen, dass hier das Gesetz eingehalten wird! Und euch bitt ich, von jeder Gewalt Abstand zu nehmen! Wenn wer in das Geschäft will, oder wieder heraus, dann dürft ihr mir keine Schwierigkeiten machen!« Gasperlmaier konnte nicht mehr tun, als zustimmend zu nicken. Die Buhrufe wurden weniger und verstummten schließlich. Dennoch war die Stimmung, so fand er, explosiv.

Der Herr Stern stand immer noch neben ihm und schien die Aufregung ohne jede Gefühlsregung hinzunehmen. »Das ist am Anfang oft einmal so«, sagte er. »Die Leute gewöhnen sich schon daran. Und den Touristen ist es eh wurscht, wo sie ihre Trachten kaufen.« Gasperlmaier schnaubte, hielt aber den Mund. Dafür ertönte ein Ruf aus der Menge: »Das ist doch keine Tracht, was ihr da verkauft, das sind doch bestenfalls Faschingskostüme! Eine Schande ist das!« Bravo-Rufe und Applaus unterstützten den jungen Mann mit Hut und Gamsbart, der kämpferisch die Faust hochreckte. Genau das hätte auch Gasperlmaier gesagt – wenn es ihm denn eingefallen wäre. Gerade in Stresssituationen fehlten ihm oft die richtigen Worte.

»Bravo! Zeigen wir’s denen!« Gasperlmaier fuhr herum. Die Stimme kam ihm bekannt vor. In der zweiten Reihe hinter den dünnen Jeans-Mädchen stand seine Tochter Katharina, die Faust emporgereckt. Ihn traf fast der Schlag. Was, wenn sich die Katharina hier vor den Leuten entblößen würde? Womöglich von einem Pressefotografen mit einem schwarzen Slogan auf der Brust abgelichtet werden würde? Auf der Titelseite der Schillingzeitung? Gasperlmaiers Magen zog sich zusammen, gleichzeitig befahl er sich, nicht hysterisch zu werden. Schließlich war die Katharina morgen im Finale bei der Wahl der Narzissenkönigin, und warum hätte sie die ganze Auswahlprozedur auf sich nehmen sollen, wenn sie hier heute alles aufs Spiel setzen wollte? Dennoch, sie hatte in letzter Zeit einen aus seiner Sicht etwas überzogenen Gerechtigkeitssinn entwickelt. Ständig wurde zu Hause über Tierrechte, über den übermäßigen Fleischkonsum ihrer Familie, und nicht zuletzt über den fairen Handel mit Textilien diskutiert. Gasperlmaier hätte es lieber gesehen, wenn sie für ihre bevorstehende Matura gelernt hätte. Er hatte schon eine regelrechte Aversion gegen die Wörter »Bio« und »Fair Trade« entwickelt. Jeder zweite Satz der Katharina fing, selbstverständlich in möglichst vorwurfsvollem Ton, damit an. So, als ob er persönlich hauptverantwortlich wäre für die Ausbeutung der Dritten Welt und die Schandtaten der Nahrungs­mittelindustrie.

Neben der Katharina stand eine dunkelhaarige, hagere Frau, die Gasperlmaier nicht kannte. Wegen ihrer Größe fiel sie ihm auf, sie überragte die Katharina um fast eine ganze Kopfeslänge. Ihre dunklen Augen schienen ihn zu fixieren, und um ihren Mund machte sich ein etwas hämischer Zug breit. Er wandte sich ab, stellte fest, dass er zu schwitzen begann, und nahm seine Dienstmütze ab. Der Kreis der Demonstranten um das Geschäftsportal schien enger zu werden. Plötzlich stürzten die dünnen Mädchen, die Gasperlmaier ohnehin schon die längste Zeit verdächtig vorgekommen waren, schreiend aus der Menge hervor, zogen Spraydosen aus ihren Handtaschen und versuchten, zwischen ihnen hindurch zu den Auslagenscheiben zu gelangen. Gasperlmaier erwischte eine von ihnen und fasste sie um die Mitte. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass die Manuela eine andere mit beiden Händen am Arm zurückhielt und der Grill Peter hinter ihm im Gerangel mit einem der Mädchen stöhnte. Das Mädchen, das er selbst festhielt, wand sich wie ein Aal. »Polizeibrutalität!«, schrie sie. »Das ist ein sexueller Übergriff!« Gasperlmaier bekam eine Spraydose gegen die Wange. Sie schepperte zu Boden, und Gasperlmaier ließ das Mädchen los, hauptsächlich, um ihren Fingernägeln zu entgehen, aber auch, um die Spraydose an sich zu bringen. Gegen den Widerstand des Mädchens, das sich nun an ihm festkrallte, konnte er sich die Dose schnappen. Triumphierend streckte er sie in die Höhe. Ihre Besitzerin stand ihm nun etwas ratlos, mit zerzausten Haaren und schwer atmend, gegenüber.

Gasperlmaier sah zur Auslagenscheibe und traute seinen Augen nicht. Der Kahlß Friedrich hatte sich im Schutz des Gerangels zwischen den Mädchen und der Polizei herangeschlichen und war gerade dabei, seiner Katharina eine Spraydose zu entwinden. »Mach dich nicht unglücklich, Mäderl!«, ächzte er. »Du willst schließlich Narzissenkönigin werden!« Endlich hatte er die Dose in der Hand, seinen Pranken war die Katharina nicht gewachsen. »So!«, sagte er, »und jetzt sagst mir, was ich hinsprühen soll!« Gasperlmaier dachte, er hätte sich verhört. Nur um seine Ruhe zu verteidigen, griff der Friedrich plötzlich zur Gewalt? Die Katharina beugte sich zum Friedrich und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Daraufhin zückte der die Dose und begann zu sprühen.

Gasperlmaier sah ihm mit offenem Mund zu. Er konnte doch nicht seinen ehemaligen Postenkommandanten festnehmen, um ihn daran zu hindern, eine Auslagenscheibe zu besprühen! Von hinten nahte der Herr Stern, dessen Billigtracht, wie Gasperlmaier nicht ohne Genugtuung feststellte, bereits in Fetzen hing. Sie hatte dem Angriff der Mädchen offenbar nicht standhalten können. Wenn man bedachte, wie viele Raufereien eine ordentliche Ausseer Lederhose praktisch unversehrt überstand – dafür gab es zahllose Beispiele –, war die Überlegenheit traditioneller Handarbeit bereits erwiesen. Der Herr Stern versuchte den Friedrich von der Auslagenscheibe wegzuzerren, doch der schubste den Stern nur mit der freien Linken beiseite wie eine ­lästige Fliege.

Die Menge hatte inzwischen begonnen, den Friedrich mit Sprechchören anzufeuern. Auch ein Trans­parent war aufgetaucht. »Fairer Handel mit fairer Tracht!«, stand darauf, und die dunkelhaarige Frau, die Gasperlmaier vorhin schon aufgefallen war, hielt ein Plakat in die Höhe, auf dem in schwarzer Schrift stand »Weg mit den Bluttextilien!« Sie hatte den Karton auch noch üppig mit roten Blutstropfen garniert. Mit emporgereckter Faust feuerte sie die Sprechchöre noch zusätzlich an. Gleichzeitig schien sie zu lächeln und suchte Blickkontakt zu ihm. Lachte sie ihn etwa aus?

Als sich Gasperlmaier wieder der Auslagenscheibe zuwandte, hatten zwei weitere herbeigeeilte Polizisten den Friedrich an beiden Armen gepackt und weggezerrt. Gasperlmaier kannte die beiden nicht, sie waren wohl von den Ausseern zur Verstärkung herbeigeholt worden. Auf der Scheibe stand nun »Weg mit den Bluttex«, denn der Friedrich hatte das Wort nicht mehr fertig schreiben können. »Das Trachtenparadies ist eine Hölle!«, skandierten nun die Demonstranten, und der Friedrich und die Katharina schrien mit. Dazu reckte seine Tochter im Rhythmus die Faust in die Höhe. Wieder hatte sie sich neben die dunkle Frau gestellt. Langsam wurde Gasperlmaier alles ein wenig zu viel. Der Friedrich grinste und rief zu ihm herüber: »Na, wie hab ich das gemacht, Gasperlmaier? Ich als Pensionist kann mir das erlauben, ich brauch nichts mehr vom Staat. Und die Pension werden’s mir wegen ein paar Farbklecksern schon nicht wegnehmen.« Gasperlmaier seufzte. Natürlich war es ihm recht, dass anstelle der Katharina der Friedrich die Scheibe besprüht hatte, aber mit seiner Tochter würde trotzdem ein ernstes Wörtchen zu reden sein, heute Abend, zu Hause.

»Das funktioniert so nicht! Immer nur kuschen und den Mund halten!« Kaum hatten der Christoph und die Christine die Teller weggeräumt, hatte die Katharina den Waffenstillstand gebrochen, der während des Essens verordnet worden war. Gasperlmaier rang nach Worten. »Das sagt ja auch niemand! Aber man muss doch nicht gleich, man sollte doch zuerst …« Der ­Christoph sprang ihm bei. »Man muss doch nicht gleich kriminell werden!« Gasperlmaier nickte. Die Christine setze sich wieder zu ihnen. »Im Prinzip ist es aber etwas Richtiges und Wichtiges, wofür sich die Katharina einsetzt«, gab sie zu bedenken. Die nickte so eifrig, dass die Haare flogen. »Die Näherinnen in Kambodscha oder in Bangladesch, die verdienen ein paar Euro am Tag, und dafür arbeiten sie vierzehn Stunden, sechs Tage in der Woche!«, ereiferte sie sich. »Und dann kommt da so ein Pseudo-Trachtenverein und will uns das Zeug, das in Asien aus billigsten Materialien zusammengenäht worden ist, als Tracht verkaufen! Was glaubst du denn, warum ich mich als Narzissenkönigin beworben habe?« Gasperlmaier verstand nicht recht. »Was hat denn das Trachtenparadies mit dem Narzissenfest zu tun?« Jetzt mischte sich auch die Christine ein. »Wenn wir die Tradition und das Narzissenfest ernst nehmen, dann müssen wir auch zu authentischer Tracht stehen – zu Stoffen, die in unserer Heimat entstanden sind, aus Produkten, die bei uns wachsen, und zu Gewand, das bei uns genäht worden ist.« Der Christoph grinste. »Da dürftet ihr aber auch keine Baumwolle hernehmen!« Die Katharina beugte sich vor und fuhr ihm über den Mund. »Es gibt auch zertifizierte Bio-Baumwolle aus Fair-Trade-Anbau! Was glaubst du, wozu wir eine Projektarbeit über die Vermarktung nachhaltiger Produkte im Tourismus gemacht haben!« Anscheinend, so schien es Gasperlmaier, waren an dieser Diskussion, außer ihm, ausschließlich Expertinnen und Experten aus der Textil­branche beteiligt. Wieder flogen ihm die Begriffe »Bio« und »Fair Trade« nur so um die Ohren. Zwar schwieg er, denn es redeten ohnehin schon mindestens zwei Familienmitglieder durcheinander. Aber ob das Trachten­paradies wirklich so schlimm war, daran zweifelte er. Womit würden die armen Näherinnen denn ihr Geld verdienen, wenn ihnen auch noch diese Arbeit abhandenkam, weil die Europäer gar so sehr dagegen protestierten?

»Und wenn die Gemeinde nichts tut, und wenn der Hausbesitzer sich für gar nichts interessiert als die Miete für das Geschäftslokal, dann muss man halt zu drastischeren Mitteln greifen, damit die Leute kapieren, dass eine Ziegenlederhose aus Pakistan oder ein Dirndl aus Malaysia keine Tracht sind.« Die Katharina schlug mit der Faust auf den Tisch, was ihr eine beruhigende Geste seitens ihrer Mutter eintrug. »Wenn das alles stimmt, was ihr in eurer Projektarbeit geschrieben habt, dann muss ich dir eigentlich recht geben«, sagte sie. »Aber hysterisch braucht sie deswegen nicht gleich werden. So haben sie wenigstens Arbeit, da unten!«, meinte der Christoph. »Das ist ein unglaublich ethnozentristisches Argument!«, schimpfte die Katharina, und Gasperlmaier beschloss, angesichts unverständlicher Fremdwörter ab jetzt höchstens noch besänftigend, nicht aber fachlich, in die Debatte einzugreifen. Hätte er seine Bedenken eingebracht, wäre er jetzt selbst zur Zielscheibe der Wut seiner Tochter geworden. Er trank sein Bier aus.

Dann fiel ihm aber doch noch eine Einzelheit ein, die für ihn noch nicht ganz geklärt war. »Warum, eigentlich, bewirbst du dich jetzt als Narzissenkönigin?« »Na, weil ich da die Chance bekomme, meine Botschaft hinauszutragen: Tracht ist nur dann etwas wert, wenn auch das dahinter stehende Handwerk wertgeschätzt wird. Wenn lokal gekauft und gearbeitet wird, wenn die Wertschöpfung hier stattfindet. Was das Trachtenparadies verkauft, das hat genau so viel Wert wie eine Badehose mit Lederhosenaufdruck: Keinen!«

Die Christine seufzte. »Kind, du hast ja in fast allem Recht. Aber ob der Tourismusverband mit deiner Einstellung viel Freude haben wird, das wage ich zu bezweifeln.« Die Katharina tat den Einwand mit einer lässigen Handbewegung und einem Pfauchen ab. »Die sollen froh sein, wenn es jemanden gibt, der wirklich was vom Tourismus versteht!« Die Katharina war nämlich gerade dabei, die Tourismusschule abzuschließen. Die schriftliche Matura hatte sie schon gemacht, und das noch dazu mit lauter guten Noten. Gasperlmaier hatte sich zwar gesorgt, dass das ganze Theater mit dem Narzissenfest dazu führen würde, dass sie sich keine Zeit mehr für die Schule nahm, aber da konnte er eigentlich gar nichts sagen: Die Noten passten. Und sie wollte jetzt auch Tourismusmanagement studieren. Und redete schon davon, dass sie weiß Gott wo, in Sri Lanka oder Singapur, in einem Hotel arbeiten wollte. Sogar einen Chinesisch-Kurs hatte sie deswegen belegt. Immer mehr Touristen kämen aus China, meinte sie. Gasperlmaier hätte es lieber gesehen, wenn sie nach der Schule in einem Hotel in der Umgebung gearbeitet hätte. Jetzt, wo der Christoph schon die meiste Zeit in Wien war, wollte er nicht auch noch die Katharina so weit weg wissen. Aber, was sollte man machen?

»Wer war denn eigentlich die Frau, die da neben dir gestanden ist«, wollte er nun doch noch wissen, »die große, dunkelhaarige?« »Wen meinst du?«, fragte die Katharina etwas irritiert zurück. »Na, die mit den dunklen Augen! Die uns immer so angestarrt hat! Und ein Transparent hat sie auch gehabt!« Die Katharina sah auf ihren Teller. »Ich weiß gar nicht, von wem du redest«, nuschelte sie mit halbvollem Mund. Das entsprach wohl nicht ganz der Wahrheit, doch Gasperlmaier wollte nun lieber seine Ruhe haben und die Debatte beendet wissen.

»Ich leg mich dann einmal aufs Sofa!« Er stemmte sich hoch und suchte nach der Fernbedienung des Fernsehers. Nach der erregten Debatte hatte er Lust auf ein bisschen Fernsehen, das ihm in der Regel lediglich dazu diente, völlig untätig auf dem Sofa zu liegen, gelegentlich in der Zeitung zu blättern und ansonsten wenig vom Programm mitzubekommen, bevor er einschlief. Das bevorstehende Wochenende würde ohnehin hart werden: Beim Narzissenfest wurde immer Dienst bis zum Umfallen geschoben, und er brachte dabei so viele Überstunden zusammen, dass er sich meist am Anfang der Schulferien eine Woche hatte freinehmen können. Schulferien, so erinnerte er sich, hatten seine Kinder keine mehr, damit war es vorbei. Aber die Christine, die hatte welche. Obwohl sie, was die erste Ferienwoche betraf, schon abgewinkt hatte: Jetzt, als Direktorin, könne sie nicht so einfach nach dem Ende des Unterrichts in die Ferien verschwinden wie früher. Gasperlmaier fragte sich, wozu das Ganze dann gut sein sollte. Wegen der 300 Euro, die sie jetzt im Monat mehr verdiente, wäre das sicher nicht notwendig gewesen.

Morgen Abend aber hatte er sich frei genommen: Denn da würde die große Wahl zur Narzissenkönigin im Kurhaussaal in Bad Aussee stattfinden. Und sogar die Frau Doktor Kohlross würde dabei sein. Sie war bei Ermittlungen im Ausseerland in der Regel die zuständige Chefinspektorin, und zwischen ihr und Gasperlmaier hatte sich mittlerweile so etwas wie Freundschaft entwickelt. Obwohl er sich ihr immer ein wenig unterlegen fühlte und sie insgeheim verehrte. Und zwar völlig ohne jeden Beigeschmack der Begehrlichkeit, versicherte er sich zumindest selbst. Die Frau Doktor war allerdings derzeit in Karenz, ihre kleine Sophie Franziska war gerade einmal drei Monate alt. Deshalb hoffte Gasperlmaier, dass kein Gewaltverbrechen passieren möge, bis sie wieder im Dienst war.

Vor ein paar Wochen hatte die Frau Doktor angekündigt, an diesem Wochenende einmal nach Aussee kommen zu wollen, denn ihre Mutter habe Zeit zum Babysitten. Mit knapper Not hatte man bei der Karin, der Cousine der Christine, noch ein Zimmer auftreiben können – denn das Ausseerland war während des Narzissenfestes restlos ausgebucht. Auf den Ortswappen war sie zwar nirgends zu sehen, doch war die Narzisse die geheime Wappenblume des Ausseerlandes. Gegen Ende Mai bedeckten Millionen der weißen Sterne die Wiesen, und schon seit Jahrzehnten feierte man das Narzissenfest mit Blumenkorsos, bei denen teils gigantische Figuren aus Narzissenblüten gesteckt wurden. Insgeheim fragte sich Gasperlmaier allerdings manchmal schon, warum man um ein paar Blumenfiguren ein solches Aufsehen machte. Aber den Ausseern konnte es nur recht sein: Das Narzissenfest spülte viel Geld in die Kassen des regionalen Tourismus. Nur, dass man an diesem Wochenende manchmal beim Schneiderwirt nicht einmal am Stammtisch einen Platz bekam, das ärgerte ihn schon ein wenig.

Gasperlmaier spürte ein etwas unangenehmes Gefühl im Magen, wenn er an die morgige Wahl dachte. Ob es die Katharina wegstecken würde, wenn man sie nicht wählte? Oder, anders gedacht, ob sie den ganzen Rummel verkraften würde, wenn man sie wählte? Ihm war jedenfalls bei der ganzen Angelegenheit ein wenig unwohl.

2

Es schien der Christine nichts auszumachen, dass die Frau Doktor Gasperlmaier fest an sich drückte und ihm zwei Küsse auf die Wangen drückte, als sie sie abholten. »Ihr glaubt ja gar nicht, wie ich mich freu! Das erste Mal ohne die Sophie! Ich weiß schon gar nicht mehr, wie das ist, allein in einem Bett zu schlafen, ohne dass man von einem Schreihals spätestens um drei Uhr früh wieder aufgeweckt wird!« Die Frau Doktor, fand Gasperlmaier, sah phantastisch aus. Natürlich hatte sie sich ein Ausseer Dirndl besorgt, und ihr dunkles, von ganz dünnen orangeroten Strähnen durchzogenes Haar, das über ihre Schultern floss, passte hervorragend zur Tracht. Fast wie Schwestern sahen die beiden Frauen aus, gleich groß, in etwa auch die gleiche Figur, nur hatte die Christine die Haare dunkelblond gefärbt. Schon als sie zum Auto gingen, kam sich Gasperl­maier ein wenig ausgeschlossen vor. Die beiden Frauen tratschten und kicherten wie alte Freundinnen. »Man kommt ja zwischen Stillen und Wickeln und Baden und Hintern einschmieren und Wäsche waschen praktisch zu nichts, ich erinnere mich noch gut daran!«, hörte er die Christine sagen.

Es war schon lange her, dass Gasperlmaier das letzte Mal bei der Wahl der Narzissenkönigin dabei gewesen war, er konnte sich kaum noch daran erinnern. Missvergnügt stellte er fest, dass die besseren Tische, von denen man eine gute Sicht auf die Bühne hatte, allesamt von sogenannten Prominenten besetzt waren, vom Landeshauptmann abwärts. Dafür saßen sie wenigstens an ihrem Tisch mit lauter Bekannten zusammen, meist Freunde und Freundinnen der Katharina und deren Eltern. Und natürlich hatten sich zu diesem Anlass alle in ihre beste Tracht geworfen. Bereits nach wenigen Minuten begann Gasperlmaier in seinem Rock zu schwitzen. Die Männer am Tisch, so stellte Gasperlmaier fest, warfen der Frau Doktor verstohlene Blicke zu, wenn sie sich sicher waren, dass ihre Ehefrauen sie nicht beobachteten.

Gasperlmaier ließ seine Blicke nach oben schweifen, und da sah er plötzlich den Herrn Stern vom Trachten­paradies in der ersten Reihe auf dem Balkon sitzen und angeregt mit einem Paar plaudern, das neben ihm saß. Natürlich hatte er wieder ein paar dieser elenden Fetzen an, die er in seinem Geschäft als Tracht zu verkaufen wagte. Dass der sich da hertraute? Er war sich sicher, wenn der etwa auf dem Klo im Keller ein paar handfesten Ausseer Burschen in die Hände fiel, würde es ihm übel ergehen. Fast wünschte sich Gasperlmaier, dass es so kommen möge.

Das Paar neben dem Herrn Stern allerdings, das konnte man deutlich erkennen, war in edle Tracht gehüllt, die sicherlich nicht aus dem Diskontladen stammte. Der Mann trug sein graues Haar kurz geschnitten und hatte eine sportliche Figur, die Frau schien um einiges jünger und ziemlich mager zu sein. Eben lachten alle drei, und der Grauhaarige klopfte dem Herrn Stern auf die Schulter. Wer die beiden wohl sein mochten? »Kennst du die?« Er tippte der Christine auf die Schulter, die sich von ihm abgewandt hatte und im Gespräch mit der Frau Doktor war. »Schau einmal hinauf. Da, der eine in der Billigtracht und daneben, die Blonde und der Grauhaarige. Kennst du die?« Verstohlen deutete Gasperlmaier in etwa in die Richtung, die er meinte. »Ja, der eine ist doch der Geschäftsführer vom Trachtenparadies, oder?« Gasperlmaier nickte. »Aber die zwei anderen?« Die Christine zuckte mit den Schultern. »Nie gesehen.«

Überhaupt, so stellte Gasperlmaier fest, waren sehr viele Leute im Raum, die er nicht kannte. Einerseits mochte das mit seinem schlechten Personengedächtnis zu tun haben, aber andererseits … Wer waren die alle? »Da sind so viele … von außerhalb?« »Na ja«, meinte die Christine, »das werden halt die Fans der Kandidatinnen sein. Für die wird ja auch immer ein Kontingent Karten zurückgehalten.« Gasperlmaier trank von seinem Bier und streckte die Füße unter dem Tisch so weit aus, wie das in dieser Enge eben möglich war. So war das also. Man musste nicht nur Kandidatinnen importieren, sondern auch noch deren Anhängerschaft. Wenn es nach ihm gegangen wäre – im Ausseerland hätte es genügend geeignete Mädchen gegeben. Und zur Not konnte man ja, so gestand er gerne zu, den Rest des Salzkammerguts auch noch dazu nehmen. Dann aber sollte Schluss sein. Am Ende würde noch einmal eine Wienerin Narzissenkönigin werden, wenn man so weiter­machte.

Nach einer, wie er fand, recht langwierigen Begrüßung und einer aus seiner Sicht völlig unnötigen Tanzeinlage trat der Moderator mit den zehn Kandidatinnen auf die Bühne, die sich heute der Wahl stellten. Die Katharina, fand Gasperlmaier, sah zauberhaft aus. Nur ihr Gesichtsausdruck schien ein wenig ernst. Hoffentlich führte sie nicht schon wieder etwas im Schilde, was ihr unerwünschte Aufmerksamkeit verschaffte. Die Christine applaudierte kräftig und ließ sich sogar zu ein paar Bravo-Rufen hinreißen, wie auch die meisten anderen am Tisch. Gasperlmaier nahm den Zettel zur Hand, der jedem Gast als Wahlunterlage zur Verfügung gestellt worden war und die wichtigsten Daten jeder Kandidatin anführte. Die meisten, so stellte er fest, waren ein paar Jahre älter als die Katharina, es war nur eine weitere dabei, deren Alter mit 19 angegeben wurde. Dafür war die Katharina die einzige Kandidatin aus der Gegend. Zwei waren aus dem oberösterreichischen Teil des Salzkammergutes und je eine aus Schladming und der Weststeiermark, die anderen alle aus Salzburg, Tirol und – er hatte es befürchtet – sogar Wien. Er holte seine Brille heraus, um die Kandidatin aus Wien genauer unter die Lupe zu nehmen. Aussetzen konnte man an ihr nichts, befand er. Sogar das Lächeln war einnehmend. Dennoch war das ihr Fest, ein Fest der Ausseer, auch wenn es von Tausenden Touristen aus ganz Österreich und Deutschland gestürmt wurde. Und die Narzissen­königin sollte auch eine Ausseerin sein.

Die ersten fünf Kandidatinnen, die Katharina befand sich nicht darunter, nahmen auf den Sofas auf der Bühne Platz, und der Moderator begann, sie nach der Reihe auszufragen. Was sie sich für die Zukunft wünschte, wurde die erste gefragt. »Jedes Jahr das Gleiche!«, flüsterte die Christine. Die hatte mit dieser Wahl mehr Erfahrung, denn sie war ehrenamtlich für das Narzissenfest tätig und deshalb in den letzten Jahren öfters am Wahlabend dabei gewesen. »Mehr Frieden, und weniger Gewalt auf der Welt!«, antwortete die Kandidatin. Die übrigens, so stellte Gasperlmaier fest, blond gefärbte Haare hatte. Wie auch drei weitere der Damen, nur eine war dunkelhaarig. Die Christine beugte sich zu ihm herüber. »Den Weltfrieden wünschen sie sich. Auch wie jedes Jahr.« Zum Schluss des Interviews, das an Gasperlmaier vorüberzog, ohne dass er nachher hätte sagen können, worum es gegangen war, forderte der Moderator die Kandidatin auf, eine Anekdote aus ihrem Leben zu erzählen. »Natürlich vorbereitet!«, wisperte ihm die Christine ins Ohr. Gasperlmaier wurde flau im Magen. Was, wenn sich die Katharina für eine Episode entschieden hatte, in der auch er vorkam? Gab es irgendetwas, wo er sich ungeschickt angestellt hatte? Wo er sich blamiert hatte, und womit er womöglich wieder im Faschingsbrief landen würde, wenn die Katharina es von der Bühne herunter erzählte? Ihm fielen einige Situationen ein, die dafür in Frage kamen.

Nach den Interviews bekamen die Kandidatinnen noch den Auftrag, ein paar Dinge aus dem Publikum zu holen: einen Schuh, einen Trachtenstutzen und einen Ausseer Hut. Kreischend stoben die Mädchen in den Saal, während ihnen Freunde und Familien schon mit den verlangten Utensilien entgegeneilten. In weniger als zwei Minuten waren alle wieder auf der Bühne, nur die eine oder andere Hochsteckfrisur zeigte Auflösungstendenzen. Die Frau Doktor, stellte Gasperlmaier fest, amüsierte sich blendend und klatschte bei jedem Applaus eifrig mit.

Der Moderator war schließlich zufrieden und entließ die Kandidatinnen. Gasperlmaier sah etwas nervös auf seine Füße hinunter. Das Einzige, was er beitragen konnte, falls auch die Katharina dieselbe Aufgabe gestellt bekommen würde, war einer seiner Stutzen. Sollte er ihn am Ende gleich ausziehen? Flüsternd frage er die Christine danach, die aber winkte nur ab. »Da werden schon ihre Freunde dafür sorgen!«

Die Katharina hatte die Nummer 6 und wurde in der zweiten Runde als Erste interviewt. Gasperlmaier war so unruhig, dass er begann, an seinen Fingernägeln herumzukauen. Das hatte er nicht mehr gemacht, seit er vor mehr als zwanzig Jahren mit dem Rauchen aufgehört hatte. Die Christine musste ihn mit einem sanften Klaps auf die Finger zur Ordnung rufen. Er trank den letzten Schluck seines mittlerweile warm gewordenen Biers und blickte sich nach einer Kellnerin um. Weit und breit war keine zu sehen. Allerdings stellte er fest, dass er aufs Klo musste. Dafür war aber jetzt eindeutig der falsche Zeitpunkt. Schon hatte die Katharina zu reden begonnen. »Ich mach gerade die Matura«, sagte sie, »und dann will ich Tourismusmanagement studieren!« »Respekt!«, antwortete der Moderator, »Und was würden Sie danach gerne arbeiten?« »Am liebsten im asiatischen Raum, da würden mich natürlich auch die Arbeitsbedingungen der einheimischen Bevölkerung sehr interessieren, egal, ob sie im oder außerhalb des Tourismus arbeiten.« Gasperlmaier wurde warm. Er war sich fast sicher, dass die Katharina die nächste Frage dazu benutzen würde, um ihre Botschaft loszuwerden. »Aha«, sagte der Moderator nur. Der kannte die Katharina nicht. »Und warum möchten Sie Narzissenkönigin werden?« Die Katharina räusperte sich. »Es ist mir wichtig, mit der Tracht auch die Forderung nach fairer Bekleidung in die Welt hinauszutragen. Kleidung sollte unter fairen Bedingungen hergestellt werden, wer sie macht, sollte von seiner oder ihrer Arbeit leben können, und was die Tracht betrifft, sollten Materialien und Arbeit aus unserer Gegend kommen. In Asien gefertigte Billigtrachten sind eine ethische und ökologische Katastrophe, und dagegen stehe ich auch als Narzissenhoheit, falls ich gewählt werde.«

Der Moderator schien etwas verwirrt, im Saal aber brandete Beifall auf, denn alle wussten natürlich, worum es ging: um das Trachtenparadies. Und für diese Textilkette und ihre Waren hatte keiner im Ausseerland etwas übrig. Die Frau Doktor war sogar aufgesprungen und schrie: »Bravo! Bravo!« Gasperlmaier warf einen Blick auf den Balkon. Der Herr Stern saß scheinbar ungerührt da, applaudierte aber nicht. Das Paar neben ihm klatschte recht gemessen, ohne wahre Begeisterung. Ihm traten die Tränen in die Augen. Einerseits vor Rührung, weil seine Tochter so gut reden konnte, dass sie dafür sogar Applaus bekam – andererseits aber auch aus Sorge. Was musste sie sich unbedingt in die Politik einmischen? Wer würde so einem widerspenstigen Wesen eine Anstellung geben?

»So eine Tochter kann man sich nur wünschen!« Ein kräftiger Schlag auf die Schulter ließ ihn fast vom Sessel taumeln. Hinter ihm stand der Korn Christian, ein Kamerad von der Feuerwehr, der fast zwei Meter groß war und entsprechende Arme und Hände besaß. Die Christine wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Völlig egal, ob sie gewählt wird oder nicht – sie hat was Wichtiges gesagt.« »Eine tolle Tochter!«, pflichtete auch die Frau Doktor bei. »Die wird’s weit bringen!« Gasperlmaier fragte sich, ob man das als versteckten Vorwurf betrachten musste. Er hatte es ja nicht gar so weit gebracht. Provisorischer Kommandant eines Zwei-Mann-Postens, der wahrscheinlich sowieso der nächsten Reform zum Opfer fallen würde.

Der Moderator fühlte sich durch die Reaktion des Publikums motiviert, der Katharina zu ihren Vorhaben zu gratulieren – und vergaß darauf, sie nach einer Anekdote aus ihrem Leben zu fragen. Gasperlmaier fiel ein Stein vom Herzen.

Die restliche Veranstaltung zog wie durch einen Schleier an ihm vorbei. Erst bei der musikalischen Einlage, die die Pause zur Stimmabgabe einleitete, kam er wieder richtig zu Bewusstsein. »Abstimmen, Franz!« Die Christine musste ihn erst in die Rippen stoßen, damit er den Stimmzettel zur Hand nahm. »Keinesfalls die aussichtsreichsten Kandidatinnen anstreichen!«, empfahl die Frau Doktor, »Denn die sind die stärkste Konkurrenz für die Katharina!« So setzte Gasperlmaier eine Kandidatin aus der Weststeiermark, deren Akzent ihm überhaupt nicht gefallen hatte, auf den zweiten Platz. Außerdem hatte die ein sehr spitzes Kinn gehabt. Und die mit dem Weltfrieden setzte er auf den dritten, die hatte als Einzige einen wirklich einfältigen Eindruck hinterlassen.

Endlich konnte er aufs Klo, aber selbst dort fehlte die nötige Ruhe. Von allen Seiten wurde ihm gratuliert, und jeder wünschte der Katharina den Sieg. Gasperlmaier musste sich zum Wasserlassen in eine Kabine einschließen, sonst hätte er nicht einmal zu dem Gelegenheit gefunden, wofür er heruntergekommen war.

»Die Jury hat getagt, die Stimmzettel sind ausgezählt, und hier ist das Ergebnis!« Der Moderator übergab dem Obmann des Narzissenfestvereins ein großes Kuvert. Die Musiker spielten einen Tusch, während sich alle zehn Kandidatinnen nebeneinander auf der Bühne aufreihten. Der Moderator nannte noch einmal alle mit ihrem Namen und ihrer Nummer, und wieder bekam die Katharina den längsten und lautesten Applaus. Gasperlmaier begann langsam daran zu glauben, dass sie tatsächlich gewählt werden würde.

Der Obmann wartete, bis im Saal völlige Ruhe eingekehrt war. »Die erste Narzissenprinzessin ist …« Ein leiser Trommelwirbel ertönte. »Lisa Baumgartner aus Gmunden!« Keiner an Gasperlmaiers Tisch sagte etwas. Die Prinzessin trat vor, hüpfte aufgeregt auf der Bühne herum und wischte sich Tränen aus den Augenwinkeln. Der Trommelwirbel begann erneut, der Applaus erstarb. Man wartete gespannt auf den nächsten Namen. »Die zweite Narzissenprinzessin ist Katharina Gasperlmaier aus Altaussee!« Jetzt war der Teufel los im Saal. Zuerst fiel die Christine ihm um den Hals, danach gleich die Frau Doktor. Ein wenig schauderte er, als ihm einfiel, dass es das erste Mal war, dass er sie so ganz und gar im Arm hielt. Sie roch gut. Eigentlich hatte er diese ganze Wahl nie so richtig ernst genommen, und als sich die Katharina angemeldet hatte, hatte er gemault, dass sie lieber für ihre Matura lernen sollte. Aber jetzt wurde er so richtig mitgerissen, streckte wie alle anderen die Arme in die Höhe und jubelte, wie er es schon lang nicht mehr getan hatte. Schade, dass die Mutter das nicht miterleben konnte. Aber sie hatte ja auch ausgerechnet vergangenen Montag ihre Kur antreten müssen. Die Katharina winkte, sichtlich erleichtert, ins Publikum und trat ein paar Schritte nach vorne, um sich neben die andere Prinzessin zu stellen.

Es dauerte eine Zeitlang, bis wieder Ruhe im Saal hergestellt werden konnte, sodass der Obmann die Narzissenkönigin nennen konnte. Als der Trommelwirbel begann, schrie noch jemand in den Saal »Katharina!«, aber dann wurde es still. »Die Narzissenkönigin des heurigen Jahres ist Carola Hanser aus dem schönen Zillertal!« Neuerlich brandete Applaus auf, die gewählte Kandidatin, groß und sehr blond, schlug die Hände vor das Gesicht, wankte aus der Reihe hervor und wurde vom Moderator an der Hand genommen, der sie zu ihrem Thron geleitete. Links und rechts davon hatten schon die beiden Prinzessinnen Stellung bezogen. Die Katharina strahlte. Das ernste Gesicht war verflogen, jetzt schien sie die Aufmerksamkeit des Publikums in vollen Zügen zu genießen.

Innerhalb weniger Sekunden war die Bühne voll von Menschen mit allen Arten von Kameras, die Katharina war ihren Blicken entschwunden. »Komm!« Die Christine zog ihn vom Stuhl, in Richtung Bühne. An der Seitentreppe stand ein schwarz gekleideter Security-­Mann. »Kein Zutritt! Außer, Sie haben eine Akkreditierung!« Die Christine ließ sich nicht einschüchtern. »Die habe ich! Ich bin die Mutter!« Sie schob den Mann einfach zur Seite und zog Gasperlmaier an der Hand hinter sich her. »Hallo, das …!« Der Mann schrie ihnen noch hinterher, aber da standen sie schon auf der Bühne. »Hintenrum!«, kommandierte die Christine, als sie sich einer Dreierreihe von Fotografen gegenüber sah. Tatsächlich konnten sie, außen an den Fotografen vorbei, hinter den Thron vordringen, die Christine stieß nach vorn, während sich Gasperlmaier losriss und zurückblieb. »Katharina!« schrie die Christine, die drehte sich um, und sie fielen sich in die Arme. Die Foto­grafen knipsten weiter drauflos, doch zwei weitere Security-Männer eilten herbei und versuchten, die Christine von der Katharina wegzuziehen. Einer handelte sich dabei einen wuchtigen Schlag mit der Handtasche ein, schließlich aber gelang es ihnen doch, die Christine wieder aus dem Blitzlichtgewitter zu entfernen. Etwas derangiert stand sie neben Gasperlmaier, dem die Szene peinlich gewesen war.

»Ich hab sie wenigstens einmal umarmt, das genügt mir schon. In den nächsten Tagen werden wir sie nämlich nur zu Gesicht bekommen, wenn wir uns bei irgendeiner Veranstaltung unter das Publikum mischen.« Gasperlmaier nickte und spähte versonnen in eine Ecke der Bühne, wo eine der unterlegenen Kandidatinnen in ein Taschentuch heulte. Es war die dunkelhaarige. Eine ältere Frau hatte ihr den Arm um die Schulter gelegt. Bei den Verliererinnen, so dachte Gasperlmaier bei sich, nahm man es anscheinend nicht so genau mit der Abschirmung von der eigenen Familie.

Schließlich traten sie den Rückweg an ihren Tisch an. Gasperlmaier wollte heim. »Gehen wir noch wohin feiern? Kommt die Katharina mit?« Die Frau Doktor war ziemlich aufgekratzt und hatte rote Wangen bekommen. Unsicher zuckte Gasperlmaier mit den Schultern. »Ich hab die nächsten Tage praktisch ununterbrochen Dienst, und …« »Ach was!« Die Christine unterbrach ihn mit einer wegwerfenden Armbewegung. »Unser Kind wird nur einmal Narzissenprinzessin! Jetzt wird gefeiert!«

Gasperlmaier wurde in den Keller geschickt, um die Mäntel und Schirme der Damen zu holen. Widerstrebend ließ er sich aus dem Kurhaus hinausziehen. Draußen regnete es. Heftig. »Wir gehen gleich gegenüber ins Hotel!«, kommandierte die Christine.

Gasperlmaier drückte die Christine eng an sich, während sie die wenigen Schritte zum Hotel ­Kaiser Franz zurücklegten. Der Regen prasselte auf den Schirm herunter, sodass der triefend nass war, als Gasperlmaier ihn eine Minute später im Foyer des Hotels in den Schirmständer lehnte.

»Herzlichen Glückwunsch, Frau Direktor!« »Gasperlmaier genügt!«, antwortete die Christine und hielt dem Mann ihren nassen Mantel hin, den er etwas verdutzt entgegennahm. Es war der Chef des Kaiser Franz, Josef Schernsteiner, der sonst die Nase recht hoch trug, sich aber diesmal herabließ, auch Gasperlmaier die Hand zu schütteln. »Gleich zwei Damen im Gefolge, Herr Postenkommandant?« Gasperlmaier war die Großtuerei mit Titeln lästig, vor allem, weil er sich völlig unsicher war, mit was für einem Titel der Chef des Hotels anzusprechen war. Als Ausweg entschied er sich dafür, einfach die Frau Doktor am Arm herbeizuziehen und sie vorzustellen. »Das ist die Frau Doktor Kohlross!« Der Schernsteiner begann zu strahlen. Etwas schmierig, wie Gasperlmaier fand. Er nahm die Rechte der Frau Doktor sogar mit beiden Händen. »Aber doch nicht dienstlich, wie ich hoffe?« Die Frau Doktor schüttelte den Kopf und versuchte, ihre Hand zu befreien, was ihr erst beim dritten scharfen Ruck gelang. »Ich bin privat da. In Karenz. Und schließlich hat es ja kein Verbrechen gegeben, oder?« Sie wandte sich ab und folgte der Christine, die sie zu sich in die Bar winkte. »Bissl feiern!«, nuschelte Gasperl­maier noch und folgte den Damen, die schon in einer Nische Platz genommen hatten.

Die Kellnerin, die an ihren Tisch herantrat, gefiel Gasperlmaier schon viel besser als der Schernsteiner. Ihr Lächeln war auch bei weitem sympathischer. »Ich zahl eine Flasche Sekt!«, rief die Frau Doktor, noch bevor Gasperlmaier ein Wort an die Kellnerin hatte richten können. »Wir haben was zu feiern!« »Wir haben es schon gehört. Die Katharina ist zur Prinzessin gewählt worden. Herzlichen Glückwunsch, Frau Lehrerin!« »Ah!«, strahlte die Christine, »das ist ja die Eva! Nur, an deinen Familiennamen erinnere ich mich jetzt nicht mehr.« »Rastl. Ich bin bis 2002 bei Ihnen in der Klasse gewesen. Dann sind wir allerdings übersiedelt, und meine Eltern wohnen in Bad Ischl. Jetzt bin ich wieder da.« »Die Eva! Jetzt erinnere ich mich wieder!« »Was für einen Sekt darf ich Ihnen denn bringen?« Wieder kam Gasperlmaier nicht zu Wort. Allerdings hätte er auch nicht gewusst, was er sagen sollte. »Haben Sie einen österreichischen Winzersekt?«, fragte die Frau Doktor. »Einen Schilchersekt vom Langmann hätten wir da, aus der Weststeiermark.« »Den nehmen wir!« Gasperlmaier murmelte irgendwas von »Sicher sehr teuer!« vor sich hin, worauf ihn die Frau Doktor gegen den Oberarm boxte. »Jetzt sei doch nicht so fad! Du bist der Papa der Prinzessin! Praktisch also König, geadelt! Da musst du schon ein bisschen über die Schnur hauen!«

Nachdem sie angestoßen hatten und drei weitere Bekannte an ihren Tisch getreten waren, um zu gratulieren, fragte die Frau Doktor: »Was passiert eigentlich mit den dreien jetzt? Sollten die nicht auch zum Feiern hier sein?« »Da gibt’s leider nichts zu feiern!«, antwortete die Christine. »Die drei kommen jetzt in den Pavillon am Kurhaus, da warten schon die Schneiderinnen mit den Dirndln. Die werden ihnen angepasst wie maßgeschneidert. Dann werden sie von Kopf bis Fuß ausgestattet, mit Schuhen, Spenzer, Beutel und so weiter, und dann werden sie ins Bett geschickt. Hier, im Hotel. Weil, morgen müssen sie um halb sechs aufstehen. Zum Friseur, zum Visagisten und so weiter. Und dann kommen die Termine, einer nach dem anderen.«

»Die Katharina kommt nicht heim, heute Nacht?«, fragte Gasperlmaier verblüfft. »Wozu braucht sie denn ein Hotel, wenn sie eh zu Hause …« Die Christine unterbrach ihn etwas unwirsch: »Sei doch nicht so naiv! Die werden praktisch bewacht, von der Hillbrand Gretl und ihrem Team. An die kommst du vor Montag Früh gar nicht heran!«

»Was machen denn die drei eigentlich beim Narzissenfest?« Die Frau Doktor, stellte Gasperlmaier fest, durfte sich anscheinend Unwissenheit erlauben, denn die Christine wandte sich ihr lächelnd zu und begann, ganz Expertin, zu erklären. Bei praktisch jeder Veranstaltung würden sie auftreten müssen, vorgestellt werden und ein paar Worte ans Publikum richten. Gasperlmaier besah etwas missmutig die granatrote Flüssigkeit in seinem Glas. Ihm war der Schilchersekt eindeutig zu sauer, aber er hütete sich, seine Meinung kundzutun. Er hätte lieber ein Bier gehabt. Und außerdem war es schon so spät. Er sehnte sich nach seinem Bett.

3

Sein Telefon schreckte Gasperlmaier aus dem Schlaf. Er fuhr hoch und tastete auf dem Nachtkästchen nach dem Handy, das zu Boden polterte, als er mit noch schlaftrunkenen Fingern dagegen stieß. Durch die Ritzen in der heruntergelassenen Jalousie sah er, dass es draußen schon hell war. Das Telefon hörte nicht auf zu dudeln. Wie spät mochte es sein?

Als er das Gerät endlich ans Ohr hielt, krächzte eine unangenehm rauchige Stimme in sein Ohr: »Sind Sie der Gasperlmaier? Der, der immer die Kohlross begleitet, wenn es bei euch was zu tun gibt?« Weder die Stimme, noch der Ton gefielen ihm. Wer konnte das sein? »Ja, Gasperlmaier«, meldete er sich zögerlich. »Polizeiposten Altaussee. Leiter der Dienstelle.« »So«, kam es vom anderen Ende. »Und außerdem der Vater von einer dieser Dorfprinzessinnen, was? Dann kommen’S einmal her ins Hotel Kaiser Franz, aber ein bisschen flott, wenn das bei euch da herinnen überhaupt eine Option ist!« Gasperlmaier schoss hoch. »Ist was mit der Katharina? Und wer sind Sie überhaupt?« »Na, na! Brauchst dich nicht aufregen!«, meinte die Stimme herablassend. »Deinem Haserl is nix passiert. Nur die Narzissenkönigin, die liegt zerdetscht unter ihrem Balkon.«

Gasperlmaier hatte gar nicht bemerkt, dass die Christine ebenso wie er in die Höhe gefahren war und sich nun neben ihn stellte, um mithören zu können. »Wer ist denn da überhaupt dran?« Gasperlmaier dachte noch immer an einen üblen Scherz. »Oberst Resch, von der Kripo. Und jetzt machen Sie sich endlich auf den Weg! Ich hab ja nicht ewig Zeit!« Der Oberst legte auf.

»Er hat gesagt, der Katharina geht es gut.« Gasperlmaier hatte einen Kloß im Hals stecken. »Aber die Narzissenkönigin …« »Tot?«, hauchte die Christine. Gasperlmaier nickte. »Er hat gesagt, … zerdetscht, hat er gesagt.« »Der scheint überhaupt ein roher Mensch zu sein«, flüsterte die Christine. »Gerade jetzt, wo die Frau Doktor … Du musst ganz schnell hin, Franz! Schon wegen der Katharina!« Gasperlmaier fuhr in seine Uniformhose. Fürs Duschen, fand er, war jetzt keine Zeit. Ein kurzer Blick auf das Display des Weckers sagte ihm, dass es genau fünf Uhr vierzehn war.

»Was kann denn da bloß passiert sein? Derdetscht, sagst du, hat er gesagt?« Die Christine schien ihm völlig verzagt zu sein. »Ich muss jetzt!«, verabschiedete er sich. »Aber bitte!«, jammerte die Christine, »Sobald du was weißt, rufst mich an, gell?« Gasperlmaier nickte und nestelte ärgerlich am Knoten in seinen Schuhbändern. Ausgerechnet jetzt!

Wenige Minuten später saß er bereits in seinem Einsatzfahrzeug und raste mit Blaulicht nach Aussee hinunter. War ja schließlich ein dringender Einsatz. Verkehr war wenig. Aber als er auf dem Kurhausplatz ankam, stauten sich schon die Einsatzfahrzeuge. Er stellte sich an den Straßenrand und lief zum Hotel hinüber. Es regnete schon wieder. Obwohl, so erinnerte er sich, die Sonne durch die Jalousieritzen geschienen hatte, als er aufgewacht war.

Im Foyer des Hotels erspähte er den Nistl Karl, den Obmann des Narzissenfestvereins. Der saß kreidebleich auf einer Bank, in Lederhose und Rock, so, wie ihn Gasperlmaier gestern zuletzt auf der Bühne gesehen hatte. »Was ist denn passiert?«, fragte Gasperlmaier atemlos. Der Karl sah fürchterlich aus. So, als ob er die ganze Nacht durchgemacht hätte. Was wahrscheinlich auch zutraf. »Die Narzissenkönigin«, flüsterte er, wobei sein Adamsapfel heftig auf und ab zuckte, als müsste er die Tränen zurückhalten, »die ist tot! Vom Balkon runtergefallen!« Der Karl deutete in Richtung Stiegenhaus. »Da oben sind eh deine Kollegen. Aber sie lassen mich nicht hinauf. Die zwei Prinzessinnen, die sind noch in ihrem Zimmer. Die lassen sie nicht hinaus! Was sollen wir denn jetzt tun, Gasperlmaier? Was wird jetzt aus dem Narzissenfest? Sag du’s mir!«

Gasperlmaier drehte seine Dienstmütze zwischen den Fingern. Woher sollte er denn wissen, wie das Narzissenfest jetzt weitergehen sollte? Genau besehen war ihm das völlig egal. Und auf den Oberst Resch, der schon am Telefon so unangenehm geklungen hatte, auf den war er schon gar nicht neugierig. Das Einzige, was ihn jetzt interessierte, war, die Katharina hier herauszuholen. »Die Katharina«, sagte der Karl, »ist ja Zweite geworden. Glaubst du, dass sie …« Er ließ das Ende seines Satzes in der Schwebe. Gasperlmaier ließ ihn stehen. Ob die Katharina jetzt Narzissenkönigin werden würde, das war ihm herzlich egal.

Im dritten Stock des Hotels traf er endlich auf zahlreiche Uniformierte, auch die bekannten Herrschaften in weißen Overalls waren da. Gasperlmaier hatte Glück: Die Manuela, seine Kollegin vom Posten in Altaussee, hielt vor einem Zimmer Wache. »Gut, dass du kommst!«, flüsterte sie. »Sie sind da drinnen!« Verstohlen um sich blickend öffnete sie ihm die Zimmertür.

Drinnen war es düster, links auf einem Einzelbett saß die Lisa Baumgartner, die auch Prinzessin geworden war, in Jeans und T-Shirt. Sie starrte auf ihr Handy und tippte rastlos Nachrichten, wenn sie nicht gerade innehielt, um zu lesen. Rechts, im Doppelbett, kauerte die Katharina im Trainingsanzug. »Papa!«, schrie sie, sprang auf und fiel ihm um den Hals. Innerhalb von Sekunden wurde sie vom Schluchzen nur so geschüttelt. »Papa, das ist alles so schrecklich! Ich will heim. Ich will da weg!« Gasperlmaier streichelte ihr vorsichtig über den Rücken. »Ja, bringen Sie uns da weg!« Die Lisa hinter ihm war auch aufgestanden. »So schnell, wie es geht!« Er hielt seine Tochter fest und tätschelte ihr beruhigend den Rücken. Lang, so dachte er bei sich, war es her, dass sie ihm um den Hals gefallen war. Noch länger, dass sie so bittere Tränen vergossen hatte.

Dennoch siegte die Neugier. Er setzte die Katharina vorsichtig auf dem Bett ab und nahm neben ihr Platz. Ganz schön wüst sah es in dem Zimmer aus. Überall lagen Kleider und Kosmetikutensilien herum. Die Katharina schluchzte noch immer in die vor dem Gesicht gefalteten Hände. »Was ist denn eigentlich passiert?«, fragte er vorsichtig. Die Lisa sah von ihrem Handy auf. »Wir haben ja keine Ahnung! Wir haben beide geschlafen, plötzlich hat jemand an die Tür gepumpert. Wir sollen aufmachen, die Polizei.« Die Katharina sah zu ihm auf. »Ich bin so erschrocken, ich habe ja noch geschlafen, ich hab gar nicht gewusst, was eigentlich los ist.« »Und die, die … wie hat sie schnell geheißen?«, fragte Gasperlmaier. »Die Carola. Carola Hanser. Die war gar nicht im Zimmer. Und erst der Mann von der Polizei, der hat uns gesagt, dass sie vom Balkon hinunter …« Jetzt unterbrach sich die Lisa und fing zu schluchzen an. »Wieso haben sie euch denn alle drei in ein Zimmer gesteckt?« Gasperlmaier sah sich in dem recht engen Raum um. Eine Unterkunft für die Narzissenkönigin und ihre Prinzessinnen hatte er sich eigentlich geräumiger vorgestellt. Die Katharina aber ging auf seine Frage gar nicht ein. »Der war so furchtbar, so lästig, der Polizist. Und er hat uns angeschrien. Und angeglotzt. Wir waren ja nur im Pyjama.« Die Katharina zog die Beine an und breitete die Bettdecke über sich. So verheult, wie die beiden waren, sahen sie wie kleine, schutzbedürftige Kinder aus. »Wir möchten da weg«, flüsterte die Lisa. »Der hat uns gleich beschuldigt! Ob wir es vielleicht nicht verkraften, dass wir Zweite geworden sind!« Wieder wurde die Katharina von Weinkrämpfen geschüttelt, hinter Gasperlmaiers Rücken stimmte die Lisa mit ein.

Plötzlich klopfte es energisch an der Tür. Die Manuela steckte den Kopf herein und flüsterte: »Der Resch! Er kommt!« Mit dem Zeigefinger bedeutete sie Gasperlmaier, er möge schnell aus dem Zimmer kommen. »Ich hätt dich sicher gar nicht reinlassen dürfen!«, flüsterte sie, als er neben ihr auf dem Gang stand. »Das ist vielleicht ein lästiger Hund, der Resch!«

Schon tauchte aus der Nebentür ein Mann auf, der Gasperlmaier abschätzig von oben bis unten musterte. »Und wer sind Sie?«, fragte er. »Gasperlmaier!«, stellte der sich vor. »Sie haben angerufen.« »Glauben’S ja nicht, dass ich euch Dorfpolizisten da ermitteln lass. Ich bin nicht eure Frau Doktor. Und so, wie es ausschaut, haben wir es hier ohnehin nur mit einem Selbstmord zu tun. Das Mädel ist vom Balkon hinunter gesprungen. Kein Hinweis auf Fremdverschulden. Und jetzt schaut’s, dass ihr nicht zu viel im Weg herumsteht.«

Der Oberst Resch verschwand im Zimmer der beiden Prinzessinnen. Am liebsten wäre ihm Gasperlmaier gefolgt, um die Katharina vor diesem unangenehmen Menschen zu schützen, aber der hatte mehr als deutlich gemacht, wo er Gasperlmaier am liebsten sehen wollte. »Komm!« Die Manuela zog ihn den Gang hinunter. »Wir gehen hinaus!«

Vom Haupteingang des Hotels führte sie Gasperlmaier um zwei Ecken, sodass sie von der Gartenanlage aus die Balkone sehen konnten. Darunter lag etwas, das von einer grünen Plane bedeckt war. Gasperlmaier erschauerte, obwohl es nicht das erste Mal war, dass er am Fundort einer Leiche zugegen war. Aber die Carola Hanser hatte er gerade gestern noch höchst lebendig gesehen. Hübsch und gesprächig war sie gewesen. Und vielleicht war es nur ein Zufall, dass jetzt nicht seine Katharina hier herunten lag, wer konnte das wissen? Ihm wurde übel.

Beiderseits der Plane hockten Gestalten in weißen Plastikoveralls, offenbar auf der Suche nach Spuren. Ein paar weitere Beamte standen in der Gartenanlage herum. Sie sollten wohl verhindern, dass sich Hotelgäste oder Schaulustige in die Nähe der Leiche verirrten. Er blickte nach oben. Tatsächlich waren bereits etliche verschlafene Bademantelträger auf den Balkonen aufgetaucht. Kein Wunder, der Polizeieinsatz zu so früher Stunde hatte gewaltigen Lärm verursacht. Ein Gast hatte sogar seine Kamera gezückt. Ein energisches »He, Sie da!« von Gasperlmaier ließ ihn allerdings zurückzucken und schuldbewusst die Kamera in die Tasche seines Bademantels stecken.

»Na, endlich find ich wen Kompetenten! Gasperlmaier, du musst mir helfen!« Hinter ihnen war die Hillbrand Gretl aufgetaucht, die seit vermutlich Jahrzehnten während des Narzissenfestes die Königin und ihre Prinzessinnen betreute. Sie war schon an die siebzig, aber zu jeder Zeit perfekt geschminkt und frisiert und überhaupt eine gepflegte und würdige Erscheinung. Sogar um diese Zeit, wie Gasperlmaier anerkennend feststellte. »Ich muss mit den Mädels zum Friseur! Und zum Visagisten! Und beim Ankleiden muss ich auch dabei sein, damit alles passt! Sonst werden wir nicht fertig!« Gasperlmaier seufzte. »Ich fürchte, für heute werden die Termine mit den Hoheiten abgesagt werden müssen.« Die Gretl aber ließ sich gar nicht unterbrechen. »Und wo krieg ich jetzt eine Dritte her? Und wer ist jetzt überhaupt die Königin?« Die Manuela grinste. »The show must go on, was? Das habt ihr von Hollywood schon gelernt!«

Gasperlmaier fand, dass es jetzt Zeit für ein Machtwort war. Oberst Resch hin oder her. »Gretl!«, sagte er. »Die zwei sitzen oben in ihrem Zimmer und heulen. Der Oberst vernimmt sie gerade. Sie haben miterleben müssen, wie eine von ihnen vom Balkon gestürzt ist, die ist tot!« Er deutete auf die Plane, die nur wenige Meter vor ihnen die Carola Hanser zudeckte. »Verstehst du denn nicht, dass da heute nichts geht? Ich weiß ja nicht, ob der Karl die Veranstaltungen heute absagt, oder ob das Fest für heuer überhaupt gestrichen wird, aber die zwei da oben, die müsst ihr für heute vergessen und in Ruhe lassen!«

Die Gretl stützte angriffslustig die Hände in die Hüften. »Das werden wir ja sehen! Wenn es nach mir geht, dann läuft alles nach Plan! Das wär ja noch schöner! Ich hab die ja schließlich nicht vom Balkon heruntergestoßen!« Sie drehte auf dem Absatz um und stöckelte durch den Kies davon.

»Wer hat davon geredet, dass sie heruntergeschmissen worden ist?« Die Manuela hatte die Stirn in tiefe Falten gelegt. Sie ging auf die Plane zu und hob sie an, noch bevor Gasperlmaier irgendetwas sagen konnte. Da lag sie, die Carola Hanser. Sie trug ein T-Shirt, in so einer schlammigen Farbe, und eine rot-weiß karierte Pyjamahose, die fast bis zu den Knien hinaufgerutscht war. Die langen blonden Haare breiteten sich wirr auf dem Kiesweg aus. Fast friedlich lag sie da, wäre da nicht der große Blutfleck unter ihrem Kopf gewesen. Dünn und verletzlich sah sie aus. Gasperlmaier musste aufwallende Tränen unterdrücken, als er an die Katharina oben in ihrem Zimmer dachte, mit dem ekelhaften Oberst Resch. »Sie muss direkt auf einem Stein aufgeschlagen sein, sonst hätte sie den Sturz womöglich überlebt.« Die Manuela zeigte auf den Balkon im dritten Stock. »So hoch ist das nicht. Und direkt daneben wär sie ins Blumenbeet gefallen.« Sie wies auf ein Beet bunter Blumen, das direkt hinter dem leblosen Körper der Carola Hanser den Kiesweg vom Rasen abgrenzte. Dazwischen allerdings gab es noch eine Reihe roter Steinplatten, die ihr wohl zum Verhängnis geworden war. »Sie hat Pech gehabt.« Die Manuela zuckte mit den Schultern. »Glaubst du, dass sie selber gesprungen ist?«

Gasperlmaier wusste nicht, was er erwidern sollte. Zu fest saß das Bild des dünnen, toten Körpers in seinem Hirn fest, obwohl die Manuela die Plane wieder darüber gedeckt hatte. »Ich kann’s mir nicht vorstellen«, gab sie sich selbst eine Antwort. »Man lässt sich doch nicht zur Narzissenkönigin wählen, und dann gleich bringt man sich um. In einem Moment, wo man was erreicht hat, worum man sich so lange bemüht hat!« Gasperlmaier inspizierte die Reihe der Balkone über sich. Von welchem die Carola gestürzt war, das war klar. Aber war es auch der des Zimmers, in dem die drei Mädchen geschlafen hatten? Wie hatte es der Lisa und der Katharina entgehen können, dass die Carola auf den Balkon gegangen war? Er konnte das alles nicht verstehen.

»Hab ich Sie nicht irgendwo schon einmal gesehen?« Gasperlmaier fuhr herum. Hinter ihnen stand die Frau Doktor Wurm, die Gerichtsmedizinerin, der er schon öfters bei ungeklärten Todesfällen begegnet war. Wie immer stützte sie eine Hand mit schmerzverzerrtem Gesicht an ihrem Rücken ab. »Die Bandscheiben!« »Gasperl­maier!«, stellte er sich vor. »Ah ja. Aber sagen Sie, wo ist denn die Frau Doktor Kohlross? Mir wäre es nämlich lieber, wenn ich mit dem Resch überhaupt nichts zu tun hätte.« Sie deutete mit der Hand zu den Balkonen. »Mit dem ist ja schwer zusammenzuarbeiten. Er hält gar nichts von Frauen im Polizeidienst.« Die Manuela seufzte. »Die Frau Doktor, die ist in der Karenz. Ihre Sophie ist gerade ein halbes Jahr alt«, informierte sie die Frau Doktor Wurm. »Ach, stimmt!«, antwortete die. »Ich hab ja schon Fotos vom Baby gesehen. Wie schön für die Renate. Und wie unangenehm für uns.« »Haben Sie sich die Königin, ich meine, die Frau Hanser, haben Sie die schon angeschaut?« Gasperlmaier brannten ein paar Fragen unter den Nägeln. Die Frau Doktor Wurm nickte. »So weit wie möglich. Hier ist es ja patschnass. Was glaubt ihr denn, was da meine Bandscheiben dazu sagen, wenn ich hier stundenlang herumknie? Ich möchte sie so schnell wie möglich auf meinem Tisch haben.« »Ist es denn nicht eindeutig ein Selbstmord?«, fragte die Manuela. »Eindeutig ist nie was. Sie hat ein paar Kratzer, die auch Abwehrverletzungen sein könnten. Und ihr Pyjama ist an den Ärmeln an ein paar Stellen aufgerissen. Dann möchte ich auch unter ihren Fingernägeln genau nachschauen, ob da nicht fremde DNA ist. Ich bilde mir ein, ich hab da was Blutiges gesehen. Aber bei dem Regen, da kann man nichts Genaues sagen.« »Wissen Sie denn, wie lang sie schon tot ist?« »Wenn ich mich auf meine Temperaturmessung verlassen kann, dann nicht länger als zwei Stunden.« Gasperlmaier sah auf die Uhr. Es war gerade sechs geworden, also war die Narzissenkönigin um etwa vier Uhr gestorben. In der Morgendämmerung.

Hinter ihnen scharrte etwas auf dem Kies. Es waren der Aschauer Otto, der Bestattergehilfe, und sein Chef, der Kreuzmayr Fredl. Sie setzten einen Metallsarg scheppernd direkt neben Gasperlmaier ab. Sogleich zündete sich der Otto eine Zigarette an. Niemand hinderte ihn daran. »Habt’s schon wieder eine Leich für uns?«, eröffnete der Otto das Gespräch. »Die hätt man aber noch gut gebrauchen können!«, grinste er. »Ich hab sie gestern gesehen. Und ich hab auch für sie gestimmt. So ein lieber Arsch!« Die Frau Doktor Wurm fauchte entrüstet: »Auf Wiedersehen! Und schauen Sie, dass Sie möglichst schnell nach Graz kommen! Ich möchte heute noch eine Obduktion vornehmen. Und damit Sie es gleich wissen«, sie deutete auf die Zigarette des Otto, »in der Gerichtsmedizin ist Rauchverbot. Und wir spotten auch nicht über Tote!« Entrüstet stapfte sie davon.

»Das hättest nicht sagen sollen«, wandte auch Gasperl­maier ein. »So redet man nicht über Tote.« »Hab ich vielleicht was Schlechtes gesagt? Doch nur, dass sie einen netten Hintern gehabt hat!« »Jetzt halten Sie aber das Maul! Als Bestatter sollten Sie wissen, wie man sich angesichts einer Leiche benimmt!« Die Manuela war richtig wütend geworden, sodass der Otto zurückzuckte. »Sind’s ihm nicht bös, der meint’s nicht so!« Der Fredl hatte, ganz, wie es sich gehörte, einen schwarzen Anzug an. »Komm, laden wir sie ein!« Der Otto schüttelte zwar den Kopf, klemmte sich die Zigarette aber zwischen die Lippen und hob den Sarg an, sodass sie ihn direkt neben die Plane stellen konnten.

Gasperlmaier wandte sich ab. Er wollte nicht sehen, wie die Carola in die Kiste geladen wurde. Schon wieder drückte es ihm fast die Tränen aus den Augen. Er wusste selbst nicht, warum ihm gerade dieser Tod so naheging. Vielleicht war es einfach wegen der Katharina. Schließlich war dadurch der Tod mehr oder weniger direkt in seinem Umfeld passiert. Das ließ einen natürlich nicht unberührt.

Plötzlich fiel ihm ein, dass er ja dringend die Christine anrufen musste. Die würde schon sehnlichst auf Nachrichten aus dem Kaiser Franz warten.

Die Christine hatte nach Gasperlmaiers Anruf nicht lange gefackelt und war selbst zum Hotel Kaiser Franz gefahren. Aufgeregt stand sie nun vor ihm im Foyer, wo Gasperlmaier und die Manuela auf den Oberst Resch und weitere Anweisungen warteten. »Wenn der Oberst mit der Befragung fertig ist, dann nehm ich die beiden mit! Das ist denen ja nicht zuzumuten, einfach weiterzumachen, nach so einem Schock. Die brauchen jetzt eine sichere Umgebung und einen warmen Tee!« Die Christine, fand Gasperlmaier, sah nicht so aus, als würde sie sich vom Oberst Resch an ihrem Vorhaben hindern lassen. »Wo find ich die beiden? Die Lisa, die nehm ich nämlich auch mit, so lange, bis ihre Eltern da sind, oder sonstwer, der sich um sie kümmert.« Gasperlmaier zuckte unsicher mit den Schultern. »Derweil sind sie noch im Zimmer.«

In diesem Moment kam der Resch aus dem Lift gestiegen, eine noch nicht angezündete Zigarette zwischen den Lippen, das Feuerzeug in der Hand. »Wo kann man denn da rauchen, in eurem vornehmen Schuppen?« Der Rezeptionist zuckte zusammen. Eine solche Lautstärke war hier anscheinend nicht üblich. »In der Lounge, der Raucherlounge!« Zaghaft deutete der junge Mann die Richtung an. »Alles, was Uniform trägt, zu mir in die Raucherlounge! Lagebesprechung! Auch die Dorfpolizisten!« Während er Gasperlmaier einen geringschätzigen Blick zuwarf, zwinkerte er der Manuela anzüglich zu. »Du auch, Blondie!«

Gasperlmaier zögerte, er wollte noch kurz mit der Christine sprechen. »Blondie?« Seine Frau zog die Augenbrauen hoch. »Wo haben sie denn den ausgelassen?« Die Manuela hatte die Hände zu Fäusten geballt und lief rot an. Sie würde gleich vor Wut platzen. »Nicht aufregen!«, beschwichtigte Gasperlmaier, »Der ist es gar nicht wert!« »Das ist ja ein unmöglicher Mensch!«, ereiferte sich die Christine, »Du musst unbedingt die Frau Doktor anrufen! Bei dem Regen wird sie sich ohnehin nicht viel vorgenommen haben. Komm mit, Franz, wir holen jetzt die Mädchen!« Gasperlmaier hatte ein wenig Sorge, dass er sich einen Rüffel vom Oberst Resch einfangen würde, wenn er nicht rechtzeitig zur Lagebesprechung in der Raucherlounge auftauchte, doch seine Familie war ihm jetzt näher.