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Ein toter Musikant und das Lied vom Tod Eigentlich könnte alles so schön sein. Es ist Pfeifertag auf der Weißenbachalm in Bad Aussee - mit Gulaschkanone, Bier und echter Volksmusik. Doch beim Gasperlmaier will so gar keine ausgelassene Stimmung aufkommen. Erstens befindet sich seine Liebste weit, weit weg von ihm auf Weltreise, zweitens stört eine "moderne" Musikgruppe mit Verstärkern und Verzerrern das urige Treiben: Die Kainischer Hasenjäger sorgen für Unmut unter den Besuchern. Als der Gasperlmaier sich zum Gehen wendet, hört er hinter sich einen Schrei - und einer der Hasenjäger liegt tot im Moos. Echte Schlagerstars trifft der Altausseer Inspektor während seinen Ermittlungen - und bekommt nicht nur davon weiche Knie. Wo man auf der Bühne strahlend lächelt und zufrieden schunkelt, lauern hinter den Kulissen leidenschaftliche Affären, verletzte Gefühle, angeknackste Künstleregos und schiere Gier. Eine gefährliche Mischung … Ermittler der Herzen mit Herzschmerzen Mit der liebenswürdigen Tollpatschigkeit, die seine Fans so schätzen, und in seinem ganz eigenen Tempo lässt sich Franz Gasperlmaier von seinem Instinkt leiten. Bisher hielt ihm dabei immer seine geliebte Frau, die Christine, den Rücken frei. Nun, da sie ein Sabbatical genommen hat und die Welt erkundet, fühlt sich der Gasperlmaier arg verloren, da helfen auch die beiden Katzen Schnurli und Murli nicht, die ihm Gesellschaft leisten. Dass seine Freunde ihm samt und sonders raten, etwas selbständiger zu werden, und die Frau Doktor Kohlross ihn als Babysitter einteilt, macht es auch nicht besser. Fast gut, dass es den Franz in die Welt der Popstars und Schlagersternchen verschlägt - für Ablenkung ist hier jedenfalls gesorgt! Spannende Unterhaltung aus dem Ausseer Land Authentisch, ländlich, gut: Der Gasperlmaier kennt seine Heimat wie seine Westentasche - und ebenso gut kennt sie Herbert Dutzler. Land und Leute, Berge und Täler, Orte und Straßen, natürlich aber auch die Kulinarik des Salzkammergutes: All das beschreibt er mit einem ordentlichen Augenzwinkern und liebevollem Humor.
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Seitenzahl: 533
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Herbert Dutzler
Letzter Jodler
Ein Altaussee-Krimi
So hatte Gasperlmaier sich das nicht vorgestellt. Vorgestellt hatte er sich, dass er mit der Christine gemütlich auf die Weißenbachalm wandern und dort beim alljährlichen Pfeifertag den Schwegelpfeifern lauschen würde. Stattdessen saß er nun mit dem Kahlß Friedrich mutterseelenallein auf einem Baumstumpf mitten im Wald und kaute an einer Scheibe von der Hirschwurst, die ihm sonst so gut schmeckte. Heute aber fand er sie langweilig und zäh. „Weißt“, sagte der Friedrich, sein langjähriger Freund und ehemaliger Postenkommandant, „du hättest halt mitfahren sollen. Du hättest die Christine nicht allein …“ Er zuckte mit den Schultern und schob sich ein zentimeterdickes Stück Wurst in den Mund. Gasperlmaier schüttelte den Kopf. „Du weißt ja, das Reisen. Und schon gar das Fliegen, das ist nichts für mich.“
Zwei Wochen und einen Tag war es her, da hatte die Christine ihm reinen Wein eingeschenkt. Natürlich hatte er gewusst, dass sie ein Jahr lang von der Schule daheimbleiben würde, weil sie ein sogenanntes „Sabbatical“ beantragt hatte. Das, so hatte Gasperlmaier sich ausgemalt, würde fein werden. In der Früh würde die Christine Zeit haben, ihm ein Frühstück zuzubereiten, das sie gemeinsam gemütlich genießen könnten. Und wenn er dann heimkam, würde auf ihn ein köstliches Abendessen warten, und er würde schon von der Straße aus am Duft erraten, was es heute zu essen gab. Natürlich hatte sie einmal vorsichtig angefragt, ob er denn nicht auch ein Jahr freinehmen könne, jetzt, wo die Kinder sie nicht mehr so dringend brauchten. Und auch von Reisen hatte sie gelegentlich gemurmelt. Dass sie es aber so ernst gemeint hatte, war ihm gar nicht in den Sinn gekommen.
Am Samstag vor zwei Wochen hatte er seine Träume nämlich schlagartig begraben müssen. Es war auf der Terrasse, am Samstagabend, und sie hatten gerade ein Kotelett vom Grill samt Erdäpfeln und Salat verspeist. „Ich muss mit dir reden, Franz!“ Die Christine machte ein Gesicht, als sei eine mittlere Katastrophe passiert. Alles, nicht nur die Mundwinkel, schien zu hängen. Er zuckte zusammen. Hatte sie einen anderen Mann? War sie krank? „Es ist nämlich so, Franz, dass ich dieses Sabbatjahr nicht dazu verwenden möchte, hier herumzusitzen und Hausfrau zu spielen!“ Sie atmete hörbar aus und sah zu Boden. War das jetzt schon alles? Er verstand noch nicht ganz, worum es ging. Wenn sie ein paar Kurse machen wollte oder einmal ein Wellnesswochenende mit einer Freundin, das war ja jetzt kein so dramatisches Problem.
„Weißt, Franz, du musst jetzt tapfer sein. Ich werde nämlich den Großteil des nächsten Schuljahres nicht zu Hause sein. Ich mach eine Weltreise.“ Gasperlmaier verstand nicht. Eine Weltreise? Wozu? Und das konnte ja nicht länger als vielleicht, großzügig gerechnet, sechs Wochen dauern? Bevor er noch ans Ende seiner Überlegungen gekommen war, sprach die Christine schon weiter. „Genau genommen werde ich acht Monate unterwegs sein. Und am Mittwoch geht’s los!“ Die Christine, so stellte Gasperlmaier fest, hatte feuchte Augen bekommen und griff nach seiner Hand. Gasperlmaier durchzuckte etwas, von dem er sich nicht sicher war, ob es ein Schlaganfall sein konnte. „Das sagst du mir jetzt?“, platzte es aus ihm heraus. Die Christine nickte und fing an zu schluchzen. „Ich hab mich früher nicht getraut, aber es muss sein!“ Gasperlmaier riss sich von ihrer Hand los, stand auf und trat ins Wohnzimmer, um sich noch ein Bier zu holen. Sonst hätte er am Ende noch drauflosgeschimpft und alles nur noch schlimmer gemacht.
Er ging zum Kühlschrank, öffnete die Tür und stellte fest, dass kein Bier mehr eingekühlt war. Heftiger als nötig knallte er die Kühlschranktür zu, öffnete dafür eine der Vitrinen in der Küche und holte die Obstlerflasche heraus. Dann musste es halt ein Schnaps sein. Es gab Dinge, die ließen sich nüchtern einfach nicht verdauen. Er goss sich ein Stamperl randvoll ein und stürzte es in einem Zug hinunter. Ohne die Christine eines Blickes zu würdigen, sank er wieder auf die Terrassenbank und verschränkte trotzig seine Arme. Er hatte keine Ahnung, was er jetzt sagen sollte. Anscheinend waren alle Entscheidungen schon gefallen, und es hatte keinen Sinn mehr, zu diskutieren. Das war ja ohnehin nicht seine Stärke, gerade in Krisensituationen, wenn der Stress am größten war, fiel ihm in der Regel nichts ein, was er sagen hätte können. Momentan fuhrwerkten die Gedanken in seinem Hirn so wild herum, dass er gar nicht in der Lage gewesen wäre, einen sinnvollen Satz von sich zu geben.
Die Christine griff vorsichtig wieder nach seiner Hand, und er ließ sie gewähren. Die letzten Sonnenstrahlen, die auf die Terrasse fielen, blendeten ihn, sodass er die Augen schloss. Vorsichtig streichelte die Christine seine geballte Faust. „Weißt“, sagte sie, „wir fahren praktisch nie fort. Und wenn, dann ein paar Tage nach Kroatien. Denk an das Wochenende in Venedig, das hab ich mir viermal zum Geburtstag wünschen müssen, bis wir endlich gefahren sind. Und du bist die ganzen drei Tage mit einem missmutigen Gesicht herumgeschlichen und hast darüber gejammert, dass das Bier so teuer ist und nach nichts schmeckt. Und bei jeder Mahlzeit hast du mir erklärt, dass das Schnitzel beim Schneiderwirt zehnmal so gut ist wie das, was du auf dem Teller hast, und noch dazu billiger.“ Die Christine seufzte.
Irgendwie, dämmerte es ihm, hatte sie ja recht. Er hatte wenig Lust, fortzufahren, und wenn er weg von zu Hause war, fühlte er sich nicht wohl. Und er wusste genau, dass die Christine gerne die Welt gesehen hätte. Aber er hatte eben gedacht, dass sie sich mit den Träumen von der großen, weiten Welt zufriedengeben würde. Und jetzt … eine Weltreise? Mit wem wohl?
„Fährst du da ganz allein?“, fragte er. Die Christine schüttelte den Kopf. „Nur teilweise.“ „Was soll denn das heißen?“ Die Christine wich seinen Blicken aus. „Zuerst fahr ich nach Kanada, zur Richelle und zum Christoph.“ Der Christoph, das war der Sohn der beiden, der vor einiger Zeit eine Kanadierin kennengelernt hatte und mit ihr nach Vancouver gezogen war, nachdem er sein Studium abgeschlossen hatte. Nur vorübergehend, hatte er Gasperlmaier beruhigt, doch dem war das Herz eng geworden, als er begriffen hatte, dass sein Sohn womöglich für immer auf der anderen Seite der Weltkugel leben und er ihn nur mehr ganz selten zu Gesicht bekommen würde. Vor allem, wo er selbst sich weigerte, ein Flugzeug zu besteigen. Gasperlmaier seufzte. Es würde ihm wohl nichts anderes übrigbleiben, als sich in sein Schicksal zu ergeben.
„Und dann begleitet mich die Brigitte nach Australien und Japan.“ „Australien?“, fuhr Gasperlmaier hoch. „Muss denn das sein, das ist ja, das ist noch … weiter weg!“ Die Christine wischte sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln. „Versteh doch!“, flehte sie. „Ich hab eine solche Sehnsucht in mir, die Welt kennenzulernen, und sie geht einfach nicht von selber weg. Früher hab ich ja geglaubt, wenn ich älter werde, dann lässt das nach, aber …“ Sie schlang ihre Arme um ihn und drückte ihr nasses Gesicht an seinen Hals. „Und wenn ich diese Sehnsucht, wenn ich die gestillt habe, dann wird es mir hier, zu Hause, auch wieder viel besser gefallen, und du wirst wieder viel interessanter für mich werden …“ Gasperlmaier versteifte unwillkürlich. Hieß das, dass er im Moment nicht interessant für die Christine war? Hieß das, dass sie sich auf der Reise mit einem anderen, mit einem interessanteren Mann vergnügen würde? Und außerdem – hatte sie nicht eine Brigitte erwähnt? In Gasperlmaier keimte ein Verdacht. „Diese Brigitte … ist das nicht eine aus deiner WG, mit der du im Studium zusammen …“ Dass die Christine nickte, spürte er nur an seinem Hals. Gasperlmaier ahnte Schlimmes. Diese Brigitte, die war vor Jahren einmal bei ihnen gewesen. Eine Dunkelhaarige, die viel zu stark geschminkt war und ihre Haare oben auf dem Kopf zu einem Knödel zusammengesteckt trug. Zudem hatte sie ständig geraucht und nach Prosecco verlangt. Dann war in der WG natürlich auch noch ein Mann gewesen, ein gewisser Beda, der auch einmal bei ihnen aufgetaucht war und bei Gasperlmaier den denkbar schlechtesten Eindruck hinterlassen hatte. Er seufzte. Worauf hatte sich die Christine da bloß eingelassen?
„Du wirst sehen, die acht Monate, die gehen rasend schnell vorbei“, gurrte sie und kraulte ihn am Kinn. „Und du kannst dich ja auch ein bisschen mehr mit deiner Mama …“ „Hör mir auf mit meiner Mutter!“, maulte Gasperlmaier. Das fehlte ja gerade noch, dass er jetzt zu seiner Mutter abgeschoben wurde, weil sich die Gnädige auf Weltreise zu begeben wünschte. „Die Mama, die ist selber schon ein bisschen … ich hab sogar schon überlegt, ob ich ihr das Essen auf Rädern bestellen soll, weil sie immer wieder vergisst, dass sie den Herd abschaltet!“ „Ich hab ja nur gemeint … musst ja nicht!“ Die Christine kraulte weiter und schmiegte sich ganz eng an ihn. Er hatte schon einen Verdacht, worauf dieses Gekuschel hinauslaufen sollte, aber jetzt war er wirklich nicht in Stimmung. „Und nächste Woche kommt ja auch die Katharina nach Hause, die …“ „Die wird mir eine ganze Woche lang ihren veganen Fraß aufdrängen!“ Gasperlmaier riss sich los und richtete sich auf. „Es ist ja nicht so, dass das Essen schlecht schmeckt, für eine Woche täte ich das schon aushalten … es ist ja hauptsächlich wegen ihrer Vorträge, die ich mir dazu anhören muss!“ Er kratzte sich am Kopf. „Ja“, versuchte ihn die Christine zu beschwichtigen, „sie neigt schon ein bisschen zum Missionieren, aber sie meint’s halt gut!“ Gasperlmaier stand auf. Am besten war es, wenn er sich jetzt noch ein wenig vor den Fernseher legte, bevor er schlafen ging. An den nächsten Mittwoch wollte er lieber gar nicht denken. Die Christine aber folgte ihm und umarmte ihn neuerlich. Acht Monate, fiel ihm ein, musste er jetzt nicht nur im ganz normalen Alltag ohne die Christine auskommen. Auch die sonstigen Freuden des Ehelebens würden ihm versagt bleiben. Vielleicht war es doch keine so schlechte Idee, den Verlockungen seiner Frau nachzugeben.
Die folgenden Tage waren wie im Flug vergangen. Die Christine hatte gepackt, geplant, Reiseführer gewälzt und vor dem Computer allerhand Bürokram erledigt, der vor einer solchen Reise getätigt werden wollte. Trotzdem bekam Gasperlmaier zu seiner eigenen Überraschung alle seine Lieblingsgerichte aufgetischt, obwohl die Katharina bereits am Sonntag eingetroffen war und ein wenig schmollte, weil hauptsächlich Fleischgerichte auf dem Speiseplan standen. Sogar eine Rehkeule hatte die Christine organisiert, obwohl dafür gar nicht die Saison war.
Und urplötzlich war er am Mittwochmorgen dagestanden, mit einem Arm zum Winken erhoben, und hatte vor lauter Tränen, die er mühsam zu unterdrücken versuchte, nur verschwommen sehen können, als die Christine mit Rucksack und Rollkoffer zu ihrer Cousine Traudi in das Auto stieg, das sie zum Flughafen in München bringen sollte.
„Komm, Papa!“ Die Katharina zog ihn energisch am Arm. „Und jetzt bringe ich dir bei, wie man skypt. Dass du immer mit der Mama reden kannst und sie auch siehst. Das lenkt dich ab.“
Seither waren genau elf Tage vergangen, aber Gasperlmaier hatte kaum Zeit gefunden, sich in seiner neuen Einsamkeit einzurichten. Und nun saß er bei trübem, windigem Wetter auf einem Baumstumpf oberhalb des Weißenbachs und jausnete mit dem Friedrich, der ihm zwar Freund, aber nicht Trost genug war. „Gehen wir weiter!“ Der Friedrich stand auf und schnallte seinen blitzblauen Rucksack um. „Sonst wird es uns zu spät, und wir kommen womöglich erst nach zwölf an. Du weißt ja, ab dann dürfen alle spielen. Nicht mehr nur die Seitelpfeifer.“ Gasperlmaier nickte und folgte dem Friedrich. Ein Blick zum Himmel ließ ihn erahnen, dass das Wetter heute wohl nicht trocken bleiben würde. Dunkle Wolken schoben sich von Westen her übereinander, und der Wetterbericht hatte ebenfalls ab vierzehn Uhr mit leichtem Regen gedroht.
„Es ist ja“, meinte der Friedrich, „eigentlich eine Sauerei, dass sie da die Leute busweise hinaufkarren! Die sollten lieber zu Fuß gehen, da würden sie sich und der ganzen Veranstaltung nur Gutes tun!“ Gasperlmaier nickte wieder. Sie waren zuerst auf der Forststraße unterwegs gewesen und hatten mehrere Male stinkenden Autobussen ausweichen müssen, die das Publikum völlig mühelos zur Weißenbachalm hinaufbrachten. Früher hatte es das nicht gegeben, beim Pfeifertag waren die Fußgänger unter sich gewesen. Außer, dass vielleicht auf dem einen oder anderen Traktoranhänger ein Musiker mit seinem Kontrabass hinaufgetuckert war, wenn es denn eine Forststraße zum Veranstaltungsort gab. „Schau!“, sagte der Friedrich und deutete in den Wald hinein. „Dort sind schon ein paar Steinpilze! Die nehmen wir beim Heruntergehen mit!“ „Wenn sie noch da sind!“, entgegnete Gasperlmaier. „Du musst“, schnaufte der Friedrich während des Steigens, „auch daran glauben, immer an das Gute glauben, ans Glück, positiv denken!“ „Du hast leicht reden!“, antwortete Gasperlmaier. „Was soll daran positiv sein, dass ich jetzt acht Monate allein bin?“ Der Friedrich hielt inne, drehte sich zu Gasperlmaier um und flüsterte: „Neue Erfahrungen, Gasperlmaier. Neue Erfahrungen, Freiheit! Tun und lassen, was du willst!“ Er zwinkerte ihm zu, doch Gasperlmaier hatte momentan auf keinerlei neue Erfahrungen Lust.
Wenig später gelangten sie vom Wanderweg wieder auf die Forststraße. Gasperlmaier sah auf seine Uhr. Sie waren schon weit mehr als eine Stunde unterwegs. War er nicht früher in einer Stunde bis zur Weißenbachalm gekommen? Er war anscheinend auch nicht mehr so fit, wie er einmal gewesen war. Nun hatte er sogar Mühe, mit dem Friedrich mitzuhalten, der einen flotten Trab vorlegte. „Gleich sind wir oben!“, meinte er, als er merkte, dass Gasperlmaier ein wenig zurückgefallen war. „Was schnaufst denn so?“, fragte er. „Ja, ich muss auch ein wenig schauen. Was da so wächst. Sonst hat man ja nichts von der Natur“, flüchtete Gasperlmaier sich in eine wenig glaubwürdige Ausrede, denn selbst der Friedrich wusste, dass er sonst wenig für das übrighatte, was so am Wegesrand wuchs. Der Friedrich selber war vor wenigen Jahren noch so fett gewesen, dass ihm sogar eine Tatortbesichtigung im zweiten Stock zu schaffen gemacht hatte. Die Folge waren ein Herzinfarkt und Frühpension gewesen, aber wie durch ein Wunder hatte er kurz nach diesen Ereignissen die Liebe seines Lebens kennengelernt, die ihn nicht nur die Freuden des Ehelebens, sondern auch die Geheimnisse gesunder Ernährung und ausreichender Bewegung an frischer Luft gelehrt hatte. Nun war er mindestens zwanzig Kilo leichter als noch vor ein paar Jahren.
Hinter ihnen ertönte das Horn eines Autobusses so laut, dass Gasperlmaier instinktiv zur Seite sprang. „Schon wieder eine Ladung“, maulte er. „Wer weiß, ob wir oben überhaupt noch einen Sitzplatz kriegen. Und was zum Trinken.“ „Wird schon!“, beruhigte ihn der Friedrich. Wenig später erreichten sie tatsächlich die Abzweigung, an der sich der Wald öffnete und den Blick auf die Weißenbachalm freigab, die sich an den Abhang des Weißenbachkogels schmiegte. Gerade, als sie abbiegen wollten, überholte sie ein Auto mit Wiener Kennzeichen. Fast hätte der Wagen Gasperlmaier überfahren. Ungerührt hielt der Fahrer am rechten Straßenrand an, und alsbald quoll aus dem Auto eine Familie, deren sämtliche Mitglieder in nagelneue, teuer aussehende Ausseer Tracht gestopft waren. „Schon eine tolle Sache, dass mir der Herr Kommerzialrat den Schlüssel für die Forststraße überlassen hat!“, hörte Gasperlmaier. Eine Frau mit blonden Korkenzieherlocken quittierte den Satz mit einem glockenhellen Lachen. Gasperlmaier übersah nicht, dass sie an den Füßen Stöckelschuhe trug, die selbst für die kurzen Wege zwischen den Almhütten völlig ungeeignet waren. Kopfschüttelnd wandte er sich ab.
„Eine Sauerei!“, sagte er. „Dass jeder hier herauffahren kann, wenn er nur jemanden kennt, der ihm einen Schlüssel besorgt. Am liebsten käme ich noch einmal herauf, mit Streifenwagen und Uniform, und würde sie alle strafen, dass ihnen Hören und Sehen vergeht!“ Der Friedrich winkte ab. „Reg dich nicht auf, es macht ja keinen Sinn. Und ein hübscher Anblick ist sie schon, die Wienerin! Da kannst nichts sagen!“ Gasperlmaier verzichtete auf eine Erwiderung, denn schon hörte er den Klang der Trommeln und den hellen Ton der Schwegelpfeifen. „Gehen wir gleich ganz hinauf, zur Weißenbachalmhütte, oder schauen wir einmal?“, fragte der Friedrich. „Wir schauen!“, antwortete Gasperlmaier, der sich eigentlich schon zu müde fühlte, um die paar hundert Meter zur obersten Almhütte gleich in Angriff zu nehmen.
„Türkenkogel 2 Stunden“, stand auf einem Wegweiser, an dem sie vorbeikamen. Gasperlmaier erinnerte sich, dass er den zusammen mit der Christine bestiegen hatte, kurz nachdem er sie kennengelernt hatte. Der Gedanke an sie versetzte ihm einen Stich ins Herz. Er sah auf die Uhr. Wahrscheinlich schlief sie noch. Er konnte sich jedenfalls nicht daran erinnern, dass ihm die Tour damals anstrengend vorgekommen war. Man wurde halt nicht jünger, es half nichts.
An der ersten Hütte, wo gerade eine Pfeiferin und zwei Trommler spielten, waren alle Bänke bereits voll. Der Friedrich ging voran und entdeckte eine Bank, auf der eine Trommel abgestellt war. Gegenüber war auch noch ein ganz kurzes Stück Bank frei. „Dürfen wir uns zu euch hersetzen?“, sprach der Friedrich die jungen Leute am Tisch an und deutete auf die Trommel. „Hockt’s eng her!“, meinte ein junger, bärtiger Mann mit Goiserer Hut und stellte die Trommel auf den Boden. Das blonde Mädchen gegenüber rückte ein Stück zur Seite. Gasperlmaier war sich sicher, dass die Musiker für Wiener oder andere Touristen nicht so bereitwillig Platz gemacht hätten. „Soll ich uns ein Bier holen?“, fragte er. Der Friedrich nickte. Zu seinem Glück stellten sich nicht viele Leute beim Ausschank an, und er kehrte schnell mit zwei Flaschen zurück. „Wo kemmt’s denn her?“, fragte der Bärtige. „Altaussee“, antwortete der Friedrich. „Hört man’s nicht?“ „Schon!“, nickte der Bärtige. „Spielt ihr auch?“, fragte er. Der Friedrich schüttelte den Kopf. „Ich spiel zwar die Steirische, aber die ist mir zu schwer zum Herauftragen.“ Gasperlmaier prostete dem Friedrich zu und nahm einen kräftigen Schluck Bier. Das tat gut. Er knöpfte seinen Janker zu und zog sich den Hut tiefer ins Gesicht, denn die dunklen Wolken hatten auch einen kräftigen Westwind mit sich gebracht, der ihm ein wenig unangenehm in die Knochen fuhr. Vielleicht hätte er lieber einen Tee trinken sollen.
„Prost!“ Die Musiker stießen mit ihren Bierflaschen an, als sie fertig gespielt hatten. „Was war denn das, was ihr gerade gespielt habt?“, fragte Gasperlmaier. „Das kennst nicht?“, fragte ihn der Bärtige. „Kennen tu ich’s schon!“, entgegnete Gasperlmaier. „Ich weiß nur nicht, wie’s heißt!“ „Der Goiserer Pfeifermarsch war das!“ Die Antwort klang etwas vorwurfsvoll, so, als ob es eine Bildungslücke für einen Altausseer wäre, dieses Stück nicht namentlich zu kennen. „Ob es da auch was zu essen gibt?“, fragte Gasperlmaier den Friedrich. Der zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, aber was ich weiß, ist, dass da oben die Feuerwehr mit einer Gulaschkanone steht!“ Der Friedrich deutete hangaufwärts, und tatsächlich war da in einer Kehre ein Feuerwehrauto abgestellt, hinter dem es dampfte. Gasperlmaier dachte daran, dass die Katharina zwar zu Hause war und auch versprochen hatte, für das Abendessen zu sorgen, aber das würde auf jeden Fall vegan ausfallen, und da galt es, vorzusorgen. „Ich hätt’ schon Lust auf ein Gulasch!“ Der Friedrich nickte, setzte seine Bierflasche an und leerte sie in einem Zug. „Gehen wir halt! Dank euch schön!“
Das Gulasch war zwar sehr schmackhaft, die Portion aber nicht allzu groß. Gasperlmaier nahm sich vor, später eventuell auf eine zweite vorbeizuschauen. Konzentriert aufs Essen saß er auf einer Bierbank und ließ vor Überraschung den Löffel fallen, als er kurz aufsah.
Den Berg herauf kam ein Pärchen, das er nicht auf einem Pfeifertag erwartet hätte. Beide waren dunkelhäutig und trugen Trommeln unter dem Arm, die denen nicht unähnlich waren, die die Salzkammergutler Trommler bei sich trugen. Sie waren nämlich auch an den Seitenwangen rot und weiß gemustert, jedoch viel schmäler und außerdem sanduhrförmig. Viel auffälliger als die Trommeln waren aber die zwei an sich – der Mann weniger, der trug Jeans, ein rotes T-Shirt und Turnschuhe. Die Frau hingegen war üppig geschminkt, trug ein bodenlanges, hellbraun und rot gemustertes Kleid mit zahlreichen Blumen drauf und ein pinkfarbenes Kopftuch. Gasperlmaier staunte. Wie kamen denn die beiden hier herauf? Er vergaß völlig auf sein Gulasch und sah den beiden zu, wie sie näher kamen.
„Good morning!“, sagte der Mann, die Frau nickte, Gasperlmaier ebenso. „Good morning, my friend!“, grüßte der Friedrich, der sich anscheinend mehr aus dem Englischunterricht in der Hauptschule gemerkt hatte als Gasperlmaier. „I hear, you are playing the drums today? Is it true?“, fragte der Mann. Gasperlmaier sah hilfesuchend um sich. „Yes, yes!“, beeilte sich der Friedrich, sprang auf und schüttelte den beiden die Hände. „Drums, yes!“ Er wandte sich zu den beiden Feuerwehrleuten um, die an der Gulaschkanone standen. „Sagt’s einmal, kann einer von euch zwei gescheit Englisch?“ Der ältere der beiden deutete mit seinem riesigen Schöpflöffel auf den jungen. „Der Martin! Zumindest hat er gerade die Matura gemacht, das müsst schon reichen, dass er mit denen …“ „Hello!“, sagte der Martin, trat auf die beiden zu und schien bald in ein Gespräch vertieft. Vor allem mit dem Mann, Gasperlmaier entgingen jedoch die Blicke nicht, die er der Frau zuwarf, die ein Stück größer war als der Martin und auch als ihr Partner.
„Die wollen wissen, ob sie hier spielen dürfen. Sie sind aus Somalia, sagt er.“ Der Martin deutete auf den Mann. Der grinste und entblößte dabei ein blendendweißes Gebiss mit einer ansehnlichen Lücke zwischen den Schneidezähnen. „Somalia, yes!“ Er klemmte sich die Trommel zwischen die Oberschenkel und trommelte ein paar kurze, heftige Rhythmen. „Sag ihm, dass ab zwölf jeder hier spielen darf. Jeder, der mag. Wenn’s Volksmusik ist, aber nur“, erklärte der Friedrich. Der Martin übersetzte. Der Schwarze grinste weiter und nickte mehrmals. „Folk music from Somalia, yes!“ Gasperlmaier fragte sich, wie man so heftig geschminkt wie die Somalierin auf eine Alm gehen konnte. Plötzlich warf sie ihm aus ihren riesengroß erscheinenden schwarzen Augen einen Blick zu und schürzte leicht ihre tiefrot geschminkten Lippen. Gasperlmaier wandte sich ab. Womöglich war es ihrem Begleiter nicht recht, wenn man die Dame musterte. Er sah auf seine Uhr. „Es ist schon zwölf!“, sagte er. „Dann sollen sie uns gleich etwas vorspielen!“ Der Friedrich deutete dem Somalier. „Play! Please!“ Der nickte.
Beide hockten sich ins Gras und begannen zu trommeln. Es dauerte nicht lang, bis sich eine recht ansehnliche Zuseherschaft angesammelt hatte. Gasperlmaier sah um sich und war ein wenig besorgt – was, wenn jemandem die Musik der beiden Afrikaner nicht passte? Er musterte die Zuschauer. Die meisten lachten, klopften sich im Rhythmus auf die Schenkel oder klatschten mit. Ein paar Kopfschüttler mit finsteren Gesichtern waren allerdings auch dabei. Na, hoffentlich kam es nicht zu einer Rauferei, wo er am Ende sein Inkognito lüften und als Polizist einschreiten musste. Das hätte ihm noch gefehlt. Bald schon standen die Zuschauer so dicht, dass er die beiden Trommler gar nicht mehr sehen konnte. Er löffelte sein Gulasch zu Ende, als plötzlich rhythmischer Applaus aufbrandete. Gasperlmaier stand auf und versuchte, zwischen den Zuschauern durchzuspähen. Der Somalier hatte aufgehört zu trommeln und sprang nun zur Begleitung seiner Partnerin wild herum. Seine Sprünge waren gelenkig, fast artistisch, und es schien Gasperlmaier, als ahme er die Flucht eines Tiers vor den Jägern nach. Es mochte auch eine Art Balzritual darstellen, auf jeden Fall schienen die Zuschauer gebannt. Nach kurzer Zeit setzte sich der Somalier wieder und begann erneut zu trommeln. Die junge blonde Frau, die Gasperlmaier schon bei der ersten Hütte hatte pfeifen hören, stellte sich plötzlich neben die beiden Afrikaner und versuchte, mit ihrer Seitelpfeife deren Rhythmus aufzunehmen. Gleich tauchte auch ein barfüßiger Mann in der Lederhose auf, der seine Geige ans Kinn setzte und in den Rhythmus einfiel.
„Na, das schaut ja aus, als würde das wunderbar funktionieren mit der Völkerverständigung!“ Der Friedrich schlug Gasperlmaier auf die Schulter, so heftig, dass er fürchtete, aus dem Gleichgewicht zu geraten. Gasperlmaier drehte sich zu ihm um. „Wenn das nur keinen Ärger gibt“, flüsterte er dem Friedrich zu. „Ich glaub nicht, dass das allen gefällt. Und woher wissen die zwei überhaupt, dass da heroben heute was los ist?“ „Na, wahrscheinlich haben sie’s genau so erfahren wie früher unsere Musiker. Mundpropaganda. Schauen wir ein Stück weiter?“ Der Friedrich deutete weiter den Berg hinauf, wo es noch mehrere Hütten gab, vor denen Bänke aufgestellt waren, auf denen Musikgruppen Platz genommen hatten.
„Servus, Gasperlmaier!“ Die beiden waren noch nicht weit gekommen, als ihnen von einer Bank vor der nächsten Hütte ein bekanntes Gesicht entgegengrinste. Es war der Helmut Schwingenschlögel, der in den verschiedensten Gruppen landauf, landab die Steirische spielte und im Zivilberuf eine Autowerkstatt betrieb, in der Gasperlmaier seinem Gefühl nach schon ein ganzes Vermögen liegen gelassen hatte. Dabei war der Helmut ein durch und durch sympathischer Mensch, dem man nicht böse sein konnte, und Autos reparieren, das konnte er genauso gut wie die Ziehharmonika spielen. Gasperlmaier und der Friedrich näherten sich der Hütte und die Musiker rückten ein wenig zusammen, um ihnen Platz zu machen. „Na sowas!“, rief der Friedrich aus. „Da ist ja die Kerstin!“ „Grüß dich, Onkel!“, winkte die. „Hast auch deine Steirische mitgebracht? Kannst gleich mitspielen!“ Der Friedrich schüttelte den Kopf. „Zu schwer zum Tragen!“ „Ah geh, eine billige Ausrede!“ Die Kerstin schüttelte ihren Kopf, sodass die rote Mähne nur so flog.
Natürlich kannte auch Gasperlmaier die Kerstin Kahlß, sie war ein liebes, sommersprossiges Mädchen, aber ein ungestümes, und dadurch auch so etwas wie ein Sorgenkind. Schon vor Jahren war sie wild mit dem Moped in Altaussee herumgebraust, wie ein Bub, und mehr als einmal hatte ihr Gasperlmaier die Nummerntafeln abnehmen müssen, weil ihr fahrbarer Untersatz viel zu laut oder viel zu schnell oder gleich beides gewesen war. Dennoch war sie ihm nie böse, grüßte ihn stets freundlich und hatte immer ein Lächeln für ihn übrig. Nebenbei spielte sie noch Geige, und zwar, ohne jemals Notenlesen gelernt zu haben. „Das spürt man eh, wie’s geht!“, hatte sie Gasperlmaier einmal erklärt, der aber leider, wenn man ihm ein Instrument in die Hand drückte, gar nichts spürte.
Der Helmut zog ihn zu sich heran. „Gasperlmaier, kennst den schon?“ Das Einzige, was Gasperlmaier am Helmut manchmal auf die Nerven ging, waren seine Witze. Leider waren es oft Polizistenwitze. „Sag, Gasperlmaier, was sind die schwersten Jahre im Leben eines Polizisten?“ Der zuckte die Schultern. Er wusste, wenn man es erst gar nicht mit einer schlauen Antwort versuchte, dann ging es schneller vorbei. „Die erste Klasse!“ Der Helmut schlug sich krachend auf die Schenkel seiner Lederhose. Er war der Einzige, der lachte, was ihn aber nicht zu stören schien. „Der hat schon so einen Bart!“, maulte die Kerstin. Gasperlmaier verstand den Witz nicht ganz. Warum Jahre?
„Weißt was“, sagte der Friedrich, „spielt’s uns lieber was vor, da haben wir alle was davon!“ „Einen Schleunigen!“, rief der Carsten und setzte seine Violine ans Kinn. Der Carsten Peschke konnte nichts dafür, dass sein Vater aus Deutschland eingewandert war und ihm neben einem eindeutigen Familiennamen auch noch einen ebensolchen Vornamen verpasst hatte. Sonst war er aber ein ganz patenter Bursch, und wenn es nach dem Dialekt ging, und vor allem danach, wie er seine Geige spielte, war er ein echter Ausseer. Als die Musiker zu spielen begannen, wurde Gasperlmaier wohler, als es ihm bisher an diesem Tag gewesen war. Das, was er hier hörte, war halt seine Musik, die irgendwas in ihm zum Klingen brachte, obwohl er sich gar nicht für einen musikalischen Menschen hielt. Er beobachtete die Kerstin, deren rotblonde Haare beim Fiedeln nur so flogen, und die Emma Thaler, die kaum hinter ihrem riesigen Kontrabass hervorschauen konnte, und plötzlich hatte die eine große Ähnlichkeit mit der Christine, als sie in dem Alter gewesen war. Gasperlmaier spürte ein Brennen in der Kehle und musste die aufsteigenden Tränen mühsam hinunterwürgen. Wenn sie nur wiederkam, seine Christine, er würde alles für sie tun. Alles.
Gasperlmaier stand auf, um für sich und den Friedrich eine weitere Runde Bier zu holen, vielleicht half das ja gegen seinen Schmerz. Als er mit zwei Flaschen zurückkam, hatten die Musiker geendet, und man hörte von weitem wieder die Trommeln der beiden Afrikaner.
„Glaubst, dass da jemand was dagegen hat?“, fragte Gasperlmaier vorsichtig den Helmut und wies mit dem Kinn hinunter zu den beiden Afrikanern. Der zuckte nur mit den Schultern. „Wenn s’ nur Musik machen, dann ist alles in Ordnung. Wenn’s eine g’scheite Musik ist.“ „Ist es denn eine g’scheite Musik?“, bohrte Gasperlmaier weiter. Die Kerstin hatte ihre Unterhaltung mitgehört. „Ich find’s super! Noch schöner wär’s, wenn sie uns zu sich einladen würden und wenn wir dort drunten in Afrika spielen dürften!“ Der Friedrich schüttelte den Kopf. „Dort ist Krieg, Jahrzehnte schon. Glaub mir’s, die wollen selber nicht zurück.“
„Aber eine Negermusik ist es schon, dass es der Sau graust! Die gehören gleich auf einen Anhänger verladen, und hinunter mit ihnen!“ Ein dicker, rotgesichtiger Mann, der am nächsten Tisch saß, drehte sich zu ihnen um. Er trug einen Hut mit einem überdimensionalen Gamsbart, wie sie im Salzkammergut gar nicht üblich waren. Seinen Dialekt vermochte Gasperlmaier im Moment nicht einzuordnen. „Besser eine fesche Negermusik als eine geschissene einheimische!“, giftete die Kerstin zurück. „Was sagst?“ Der Mann erhob sich und schob seine Hemdsärmel nach oben. Der Friedrich stand ebenfalls auf und drückte ihn wieder auf die Bank. „Eine Ruh ist! Hier wird nicht gestritten und gerauft, sondern musiziert! Und wenn’st auf das Mädel losgehen willst, dann kriegst du’s mit mir zu tun! Und mit der Polizei!“ Der Friedrich zeigte auf Gasperlmaier, der den Kopf senkte, um sein Gesicht durch die Hutkrempe zu verbergen. Das brauchte er auf seinen Kummer nicht noch obendrauf, dass er hier eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Musikgeschmäckern schlichten musste. „Spielt’s noch einen! Schnell!“ Der Friedrich trieb die Musiker mit Gesten an. „Einen Schottischen?“, fragte der Helmut. „Passt schon!“ Der Friedrich setzte sich wieder hin, und als die Musik erklang, schien auch der leicht erregbare Herr vom Nachbartisch beruhigt. Gasperlmaier tat einen kräftigen Zug aus seiner Bierflasche. Für heute war das schon wieder Aufregung genug gewesen. Und jetzt würde er noch ein paar Bier, vielleicht sogar einen Schnaps trinken, rein aus Trotz, weil ihn die Christine alleingelassen hatte.
Der Friedrich hatte eine Runde Schnaps für die Musiker geholt, und die Männer stürzten den Obstler hinunter, während die Kerstin das Stamperl von sich wegschob. „Noch zu früh!“ Der Friedrich zuckte mit den Schultern, nahm ihr Stamperl und prostete Gasperlmaier zu. „Auf deine Frau, Gasperlmaier! Auf die Christine! Auf dass sie die Welt sieht, zurückkommt und einsieht, dass es nichts Besseres gibt als das Ausseerland!“ Gasperlmaier hob sein Stamperl und stürzte den Schnaps hinunter, ohne abzusetzen. Nicht nur der scharfe Alkohol trieb ihm die Tränen in die Augen. Plötzlich fühlte er sich unendlich müde und wollte sich nur noch ins Gras legen, egal wo. Dafür aber war es wohl ein wenig zu kühl und windig. „Hoffentlich fängt’s nicht zu regnen an!“, meinte er mit einem Blick zum Himmel. „Wenn, dann bin ich die Erste, die in die Hütte darf!“, lachte die Emma. „Der Kontrabass verträgt keine Feuchtigkeit!“
„Ich glaub“, sagte der Friedrich, „wir gehen noch weiter hinauf. Aber wenn ihr noch ein bisschen dableibt, kommen wir sicher wieder!“ „Schauen wir einmal!“, sagte der Helmut. „Ich brauch jetzt auch einmal etwas zu essen.“ „Das Gulasch ist gut!“ Gasperlmaier deutete auf das Feuerwehrauto mit der Gulaschkanone.
„Was brummt denn da so?“, fragte Gasperlmaier, als sie sich bergauf der nächsten Almhütte näherten. „Mir scheint“, antwortete der Friedrich, „dass die da hinter der Hütte ein Dieselaggregat stehen haben.“ Auf der Weißenbachalm gab es natürlich keinen Strom, und wer welchen wollte, musste sich den selber erzeugen. Die meisten Almhütten kamen aber mit einem Solarpaneel über der Hüttentür aus, man brauchte ja nur ein wenig Energie für das Licht. „Ja, was machen denn die da?“ Vor der Hütte spielte sich Ungewöhnliches ab. Einige Männer waren damit beschäftigt, Kabel zu verlegen und an eine Verstärkeranlage anzuschließen. „Weißt du, wem die Hütte da gehört?“, fragte Gasperlmaier. Der Friedrich schnaufte. „Dem Taferner Lois gehört die. Und das, was ich da sehe, gefällt mir gar nicht! Wozu brauchen die da Stromkabel und einen Generator?“ Mittlerweile waren sie nahe an die Terrasse der Hütte herangekommen, aus deren Tür der Lois trat und ihnen entgegenkam.
„Sag einmal, Lois, was ist denn da bei dir heute los? Was hat denn das da mit dem Pfeifertag zu tun?“ Der Friedrich deutete auf die auf dem Boden herumliegenden Kabel. Der Lois zuckte mit den Schultern. „Die jungen Leut’ haben mich gefragt, ob sie bei mir aufspielen dürfen. Und die sind halt ein bisschen moderner, da hab ich nichts dagegen. Wollt’s ein Bier?“ Gasperlmaier nickte, eingedenk seines Vorsatzes, sich heute keine Zurückhaltung aufzuerlegen. Der Lois verschwand wieder in der Hütte, und Gasperlmaier nahm einen Ständer wahr, auf dem CDs mit farbenprächtigen Coverfotos gestapelt lagen. Interessiert nahm er eine davon in die Hand. „Die Original Kainischer Hasenjäger“ stand darauf. Im Vordergrund sah man eine junge Frau, die ein Dirndl trug, wie man es vielleicht bei Fernsehübertragungen vom Oktoberfest in München sehen konnte. Hierher aber, fand Gasperlmaier, passte das nicht. „Featuring Gitti aus Goisern“ stand in kleiner Schrift unter dem Namen der Band, von der Gasperlmaier noch nie etwas gehört hatte. Kainisch, ein kleiner Ort östlich von Bad Aussee, war ihm zwar bekannt, aber Hasenjäger hatte er dort noch nie angetroffen. Er drehte die CD um. „Du bist a wunderschönes Madl“ war das erste Lied auf der Trackliste.
„Gefällt’s dir? Magst eine haben?“ Gasperlmaier schrak hoch und drehte sich um. Wer da vor ihm stand, das konnte nur die Gitti aus Goisern sein, wenn sie auch etwas anders adjustiert war als auf dem Cover der CD. Sie trug ein Dirndl mit hellblauem Leib, das vorne mit Bändern geschnürt war, die kreuzweise übereinanderliefen. Darunter eine rosa Bluse, die tiefe Einblicke gewährte. Der Rock des Dirndls war sehr kurz und ebenfalls rosa, die Gitti trug blonde Zöpfe und war viel zu stark geschminkt. Gasperlmaier musterte sie überrascht. Was hatte die bloß hier heroben verloren? „Mit einer klassischen Tracht …“, begann er und kratzte sich unter dem Hut. Die Gitti zuckte mit den nackten Schultern. „Ist doch egal, oder? Hauptsache, es schaut hip aus!“ „Hip!“, wiederholte Gasperlmaier. „Ja, wenn du meinst …“ „Wir fangen gleich an zu spielen. Setzt’s euch halt her!“ „Eine Gitti aus Goisern bei den Kainischer Hasenjägern? Was soll das denn?“ Gasperlmaier hatte gar nicht bemerkt, dass der Friedrich von hinten an ihn herangetreten war. „Jetzt seid’s doch nicht so! Ich heiß’ ja gar nicht Gitti. Ich bin die Nicole. Und weil es die Antonia aus Tirol und den Hubert von Goisern schon gibt, da hab ich mir halt gedacht, dass … ja, dass so ein Name eben zieht!“ „Hubert wär auch ganz schlecht gegangen!“, meinte der Friedrich kopfschüttelnd, während er ebenso wie Gasperlmaier zuvor die Gitti von oben bis unten musterte. Seufzend setzte er sich. Gasperlmaier nahm ihm gegenüber Platz, der Lois tauchte mit zwei Flaschen Bier auf, und zu ihrer Überraschung setzte sich die Gitti zu ihnen und rieb sich die nackten Schultern. „Kalt ist es!“, jammerte sie. „Kein Wunder“, ätzte der Friedrich, „wenn man sich halbnackert vor eine Almhütte stellt. Was ist euch denn da eingefallen, hier heroben mit so einem Gewand anzutanzen?“ Die Gitti zog einen Schmollmund, während Gasperlmaier überlegte, ihr seinen Janker anzubieten. Womöglich aber hätte er den Friedrich damit verärgert.
„Ihr seid’s“, sagte der Lois, „alle miteinander viel zu konservativ! Die jungen Leut’ heute wollen halt eine andere Musik! Die kannst du mit dem Geigengeraunze nicht hinter dem Ofen hervorlocken!“ „Dafür“, konterte der Friedrich, „gibt’s ohnehin die Zeltfeste und die ganzen Musikantenstadeln überall! Das passt einfach nicht daher! Und deinen brummenden und stinkenden Generator, den braucht hier auch keiner!“ „Prost!“, sagte der Lois und hob seine Bierflasche. „Jetzt hört’s euch das doch einfach einmal an! Dann könnt’s ja immer noch schimpfen!“ Da gab Gasperlmaier ihm recht. Die seltsame Verkleidung der Gitti war das eine, aber vielleicht war die Musik ja ganz brauchbar. Man hatte schließlich noch nichts davon gehört.
„Grüß euch! Ich bin der Christian! Der Frontmann!“ Darunter konnte Gasperlmaier sich nichts Rechtes vorstellen, aber der Christian redete ohnehin gleich weiter. „Ich hab sie gegründet, die Original Kainischer Hasenjäger! Super Name, oder?“ Der Friedrich setzte seine Bierflasche an die Lippen und wandte sich wortlos ab. Gasperlmaier, der wie immer versuchte, jedwede Konfrontation zu vermeiden, nickte vorsichtig. „Eh!“, sagte er so leise, dass er hoffte, der Friedrich würde es nicht hören. Aber der fuhr hoch. „Was heißt denn da ‚eh‘, Gasperlmaier? Ich hab selten so einen blöden Namen gehört! Jedes einzelne Wort ist ausgeborgt, nachgemacht, und saudumm noch dazu! Was soll denn das sein, ein Hasenjäger? Ha?“ So aufgeregt hatte Gasperlmaier den Friedrich überhaupt noch nie gesehen. Der nahm doch sonst alles so gelassen.
„Jetzt reg dich doch nicht so auf, du alter Depp! Du bist es uns doch nur neidig, dass wir mehr draufhaben als ihr alten Säcke!“ Den Friedrich hielt es jetzt nicht mehr auf seiner Bank, und im gleichen Moment stand auch der Christian auf. Wie zwei Kampfhähne standen sie einander gegenüber. Doch ebenso plötzlich, wie sie gekommen war, schien die Wut des Friedrich verraucht. Er winkte resigniert ab. „Was reg ich mich auf!“, sagte er und setzte sich wieder hin. „Die werden euch sowieso mit dem nassen Fetzen verjagen, die Seitelpfeifer und die anderen Volksmusiker.“ Gasperlmaier befürchtete Schlimmes. Er würde heute sicher nicht in einen Einsatz gehen, schon gar nicht nach drei Bier und einem großen Schnaps. Wenn es hier heute noch zu einer gröberen Auseinandersetzung kam, dann sollten sie sich prügeln, bis die Polizei aus dem Tal eingetroffen war. Und das konnte dauern.
„Spielt’s jetzt endlich was, oder net?“ Einige Zuschauer schienen bereits ungeduldig auf den Auftritt der Hasenjäger zu warten. „Komm, Gasperlmaier!“ Der Friedrich stand neuerlich auf. „Da horchen wir uns lieber die Trommler aus Afrika an. Das ist wenigstens keine solche Plastikmusik wie euer Gejammer da!“ Gasperlmaier war hin- und hergerissen. Natürlich hatte der Friedrich recht, aber andererseits wollte er jetzt schon hören, wie die Hasenjäger wirklich klangen. Außerdem musste er aufs Klo. „Ich komm gleich!“, beschied er dem Friedrich, verzog sich in einen Latschenstrauch noch weit hinter dem brummenden Dieselaggregat und verrichtete sein Geschäft.
Als er zurückkam, war der Friedrich verschwunden und die Hasenjäger hatten zu spielen begonnen. Eine hübsche, etwas grelle Stimme hatte sie, die Gitti, und durch ihre Verstärkeranlage waren die Hasenjäger natürlich bei weitem lauter als die anderen Musiker. Der Text des Liedes allerdings ließ allerdings auch Gasperlmaier erschauern. Noch ein Stück des Weges hinauf verfolgte ihn der Refrain: „Du bist a wunderschönes Madl, mit tätowierten Wadln. Komm, heb dein Dirndl in die Höh! Denn wenn i a dein Hintern seh, bist no amol so sche!“ Das, so dachte er bei sich, war wirklich des Guten zu viel und völlig unpassend. Die Christine hätte bestimmt auch allerhand zu diesem Text zu sagen gehabt.
Gerade näherten sich der Friedrich und Gasperlmaier der Weißenbachalmhütte, die ganz oben am Abhang lag und einen wunderbaren Blick über den gesamten Almboden bot, als die Musik aus den Lautsprechern der Hasenjäger plötzlich erstarb. Es schien Gasperlmaier, als habe sich von einem Moment auf den anderen völlige Ruhe auf die Alm herniedergesenkt, doch da und dort klangen leise schon wieder Gesang und Geigenspiel auf. Gasperlmaier drehte sich um. Vor und hinter der Taferner-Hütte spielten sich tumultartige Szenen ab. Man konnte von ihrem Standpunkt sowohl die Terrasse vor der Hütte als auch den Platz sehen, an dem der Generator aufgestellt war. Dort rangelten zwei Männer miteinander. Erst jetzt fiel Gasperlmaier auf, dass auch das sonore Brummen des Generators plötzlich aufgehört hatte. Wahrscheinlich war es das gewesen, was dieses Gefühl tiefer Stille hervorgerufen hatte. Auch auf der Terrasse vor der Hütte ging es jetzt zur Sache. Die befürchtete Rauferei war anscheinend tatsächlich losgebrochen. „Auf, Gasperlmaier! Einsatz!“ Der Friedrich gab ihm einen Schubs, dass er fast wieder über die Almwiese hinuntergestolpert wäre, doch er schüttelte den Kopf und setzte sich trotzig ins Gras. „Für mich heute nicht. Erstens hab ich schon zu viel getrunken, zweitens hab ich frei. Morgen gerne wieder!“
„Aber zumindest nachschauen gehen wir! Wer weiß, vielleicht raufen wir sogar mit! Ist ja schon lang her, dass wir einem eine kräftige Tracht Prügel verabreicht haben!“ Gasperlmaier hatte zwar keine Lust auf eine Prügelei, aber interessieren tat es ihn doch, wer da vor der Taferner-Hütte aneinandergeraten war. Als sie schließlich unten ankamen, hatte sich die Situation offenbar schon wieder ein wenig beruhigt.
Der Bösch Hias, der Pfeifervater, hatte sich zwischen die streitenden Parteien gedrängt und anscheinend eine Art Waffenstillstand herbeigeführt. Der Hias, der als Pfeifervater bei jedem Pfeifertag von Hütte zu Hütte zog und ein Gedicht vortrug, das in der Ankündigung des nächsten Pfeifertages endete, war die unangefochtene Autorität, die über Ablauf und Regeln des Pfeifertages bestimmte. „Und du, Lois“, hörte er den Hias rufen, „wenn du nicht an Ort und Stelle schwörst, dass du niemals mehr einem erlaubst, hier elektrische Musik zu machen, und wenn du mir nicht versprichst, dass dein Dieselungeheuer von jetzt ab im Tal bleibt, dann haben wir heute zum letzten Mal einen Pfeifertag auf der Weißenbachalm gehabt!“ Der Hias, so stellte Gasperlmaier fest, war puterrot im Gesicht, wahrscheinlich vor Aufregung und vom lauten Schreien. Niemand widersprach ihm. Auf der Terrasse waren ein paar Bänke umgefallen, und nach wie vor standen sich der Christian und seine Gitti aus Goisern und die Ausseer Musiker kampfbereit gegenüber. Der Schwingenschlögel stand vornübergebeugt, die Fäuste auf einen Tisch gestützt, und atmete schwer. Der Hut war ihm tief ins Gesicht gerutscht.
Die Frau des Taferner Lois wischte gerade einem Burschen Blut aus dem Gesicht. Gasperlmaier erkannte den Goiserer Trommler, mit dem sie gleich nach ihrer Ankunft auf der Alm ein paar Worte gewechselt hatten. „Was ist denn passiert?“, erkundigte sich Gasperlmaier und ließ sich neben dem Burschen auf die Bank fallen. Er hatte eine blutende Wunde an der Augenbraue, ein paar Kratzer an der Wange und ein Auge, das sich gerade blau zu verfärben schien. Die Taferner Fanny seufzte. „Tausendmal hab ich’s dem Lois gesagt, dass das nicht geht mit seinen Hasenjägern. Fast hätten wir eine Ehekrise gehabt wegen denen. Aber red einmal mit einem Mannsbild!“ Sie träufelte ein wenig Flüssigkeit auf ein Papiertaschentuch und drückte es dem Burschen gegen die aufgeplatzte Augenbraue. Der stöhnte auf. „Jetzt nicht wehleidig sein! Da darf man halt gar nicht erst anfangen mit dem Raufen. Da neben mir steht eh schon die Polizei!“ Gasperlmaier winkte ab. „Ich bin heute außer Dienst. Und außerdem in Zivil. Aber sag einmal, wie ist denn das passiert?“ Er deutete auf das übel zugerichtete Gesicht des Goiserers. „Ich hab halt getan, was getan werden hat müssen! Au!“, antwortete der. Die Fanny hatte ihm seine Kratzer ebenfalls desinfiziert. Das brannte anscheinend.
„Ich bin herauf, damit diese ‚Musik‘ endlich aufhört!“ Er sprach das Wort „Musik“ so aus, dass man deutlich hören konnte, was er von der Darbietung der Original Kainischer Hasenjäger hielt. „Und da hab ich gleich gesehen, dass die ihren Strom aus dem Generator hinter der Hütte haben. Und den hab ich ihnen abgestellt.“ „Wer hat dich so zugerichtet? Und wie heißt denn?“ Gasperlmaier deutete auf die Wunden im Gesicht des jungen Musikers. „Michel heiß ich. Und er da war’s!“ Er deutete auf einen baumlangen, mageren Kerl, dessen dünne Beine in einer viel zu weiten Lederhose steckten. „Sebastian heißt er, und er ist mich gleich angegangen, wie der Strom aus war. Wie ein Wahnsinniger hat er sich auf mich gestürzt!“ Zwar hatte Gasperlmaier nach wie vor keine Lust auf irgendwas, das auch nur entfernt mit Dienst zu tun hatte, aber den Burschen musste er sich dennoch vorknöpfen. Das ging natürlich nicht, dass man hier aus nichtigen Anlässen aufeinander eindrosch. Der Bursch, auf den der Michel gezeigt hatte, saß auf einer Bank dem Christian und der Gitti aus Goisern gegenüber. Die drei steckten die Köpfe zusammen.
Gasperlmaier sah nach dem Friedrich, stellte fest, dass der gerade in ein Gespräch mit dem Hias vertieft war, wobei der Letztere wild gestikulierte. So setzte sich Gasperlmaier allein zu den dreien, in deren Nähe sonst anscheinend niemand verweilen wollte. „Was ist denn passiert?“, fragte er. Die drei fuhren hoch. „Der Arsch hat uns den Strom ausgeschaltet! So was gibt’s ja nicht! Wir haben auch ein Recht …“ Gasperlmaier winkte ab. „Ja, ja. Darüber müssen wir jetzt nicht streiten. Ich will nur wissen, was …“ „Jetzt pass einmal auf!“, zischte der Christian. „Wir haben das gleiche Recht wie alle, hier zu spielen. Wer sagt denn, dass unsere Musik keine Volksmusik ist? Wir gehören zum Volk, und wir spielen unsere Musik! Bloß, weil ein paar Deppen nichts von moderner Musik verstehen, da lassen wir uns doch nicht einfach den Strom abschalten! Wir doch nicht!“ Der Christian war ihm so nahe gerückt und war so heftig geworden, dass sein Speichel in Gasperlmaiers Gesicht sprühte. Er wischte sich mit dem Ärmel ab. „Wer hat jetzt angefangen mit der Schlägerei? Weißt schon, wenn er“, er deutete auf den Michel, „zu einem Doktor geht, oder ins Krankenhaus, dann gibt’s eine Anzeige wegen Körperverletzung. Und ich möchte jetzt wissen, wer angefangen hat!“
„Was geht dich denn das an?“, fauchte die Gitti. Jetzt wurde es Gasperlmaier zu bunt. „Ich bin der Kommandant vom Polizeiposten in Altaussee, und deswegen geht mich das was an, wenn es hier zu …“, er war unentschlossen, wie er das Delikt nennen sollte, „… Tätlichkeiten kommt!“, sagte er schließlich. Die Gitti, so schien ihm, sank ein wenig kleinlaut auf ihre Bank zurück. „Ich hab dem ja überhaupt nichts getan, außer ein paar Watschen! Und er hat ja auch …“ Der Sebastian drehte sich um, sodass Gasperlmaier seinen Rücken sehen konnte. Der Ärmel seines Hemdes war fast abgerissen. „Dann kommt er wegen Sachbeschädigung dran!“ Mit ein paar Gesten versuchte Gasperlmaier, den Burschen zu beruhigen. „Was hast denn überhaupt mit den Hasenjägern zu tun? Und wie heißt?“, fragte Gasperlmaier. „Sebastian. Und ich spiel die Drums. Ich hab das gelernt, ordentlich, in der Musikschule, und ich kann’s! Gut sogar! Soll ich dir sagen, wo ich schon überall gespielt habe?“ Er hielt den Zeigefinger der rechten Hand gegen seinen Daumen, um eine Aufzählung zu beginnen. „Da waren einmal die Ennstaler Burschen, die …“ Wieder winkte Gasperlmaier ab. „Das glaub ich dir ja. Alles. Nur …“ Der Christian unterbrach ihn und zeigte auf die beiden Afrikaner, die sich gerade der Hütte näherten. „Und die zwei, gegen die macht niemand was! Die Neger können machen, was sie wollen! Wir sind Einheimische, wir sind aus dem Salzkammergut, und uns dreht man den Strom ab! Bloß, weil ein paar alte Trotteln hier das Sagen haben! Aber damit ist eh bald Schluss!“ Die beiden letzten Sätze hatte er in Richtung des Pfeifervaters hinübergeschrien. „Was?“, schrie der zurück. Ob er noch immer oder schon wieder krebsrot im Gesicht war, das konnte Gasperlmaier nicht beurteilen. In einer Geschwindigkeit, die er dem sonst eher behäbigen Hias niemals zugetraut hätte, stürzte er sich auf den Christian und nahm ihn in den Schwitzkasten. „Hör auf!“, jammerte der, konnte sich aber schnell befreien, weil er doch jünger und kräftiger war als der Hias. Schon polterten Bänke zu Boden, Gläser und Bierflaschen klirrten. Die Gitti floh kreischend von der Terrasse, während die beiden Afrikaner staunend Halt machten und dem Getümmel aus sicherer Entfernung zusahen.
Innerhalb weniger Sekunden war die Situation völlig unübersichtlich geworden, der soeben erst verarztete Michel zerrte den Christian vom Hias herunter, der schon ein paar kräftige Faustschläge abbekommen hatte. Plötzlich tauchten auch der Helmut Schwingenschlögel und der Carsten auf und rissen den Taferner Lois zurück, der sich anscheinend gerade auf Seiten der Kainischer Hasenjäger in den Raufhandel einmischen wollte. Gasperlmaier gelang es gerade noch, dem Sebastian eine Bierflasche zu entreißen, die der gerade auf den Schädel des Michel niedersausen lassen wollte, als ein sehr lautes „Aufhören!“ über die Terrasse schallte, das dem Treiben tatsächlich Einhalt gebot. Der Friedrich war es gewesen, dessen Machtwort die Kontrahenten offenbar zur Besinnung gebracht hatte.
So, wie Gasperlmaier die Lage sah, hatten die Hasenjäger, die zu zweit einer Übermacht gegenübergestanden waren, sowieso den Kürzeren gezogen. Der Michel hatte, obwohl ihm Blut über das Gesicht strömte, den Christian in sicherem Polizeigriff, während der Helmut und der Carsten den Sebastian fixiert hatten, der aber immer noch versuchte, die beiden abzuschütteln. Der Lois war anscheinend in seiner Hütte verschwunden, um sich aus der Schlägerei herauszuhalten. Die Gitti stand in sicherer Entfernung in der Nähe der beiden Afrikaner, die über das Geschehen sichtlich schockiert waren. „Müssen wir jetzt einen Polizeieinsatz auslösen, oder können wir uns wieder friedlich zusammensetzen und Meinungsverschiedenheiten zivilisiert lösen?“, brüllte der Friedrich. „Das ist ja nicht zum Aushalten mit euch! Dass ihr euch nicht schämt! Vor den ganzen Leuten!“ Er deutete in einer weitausholenden Geste auf die zahlreichen Zuschauer, die herbeigeeilt waren, um sich das Spektakel nicht entgehen zu lassen.
Gasperlmaier konnte ihm nur recht geben, ärgerte sich aber hauptsächlich darüber, dass der Friedrich die Rauferei beendet hatte, was eigentlich seine Aufgabe als Postenkommandant gewesen wäre. Anscheinend, so dachte er bei sich, war er für Führungsaufgaben doch nicht besonders gut geeignet.
„Jessas, Jessas! Da weiß ich gar nicht, ob ich genug Verbandszeug bei der Hand hab! Ihr Mannsbilder!“ Die Fanny Taferner trat kopfschüttelnd wieder auf die Terrasse. „Setz dich dahin!“, sagte sie zu Michel, der wieder auf der gleichen Bank Platz nahm, auf der er zuvor schon verarztet worden war. „Jetzt gebt’s euch die Hand!“, forderte der Friedrich den Christian und den Hias auf. „Und dann sagt’s, was zu sagen ist!“ „Trinken wir ein Bier miteinander! Und dabei reden wir über alles!“, reagierte der Hias als Erster. Dem Christian blieb nicht viel anderes übrig, als zu nicken und sich dem Hias gegenüber hinzusetzen.
„Komm, Gasperlmaier!“, forderte ihn der Friedrich auf. „Ich glaub, sie werden jetzt eine Ruhe geben! Gehen wir noch einmal hinauf zur Weißenbachalmhütte, dort setzen wir uns gemütlich zusammen und trinken noch eine Halbe, und dann lassen wir es gut sein!“ Gasperlmaier nickte, und langsam entfernten sie sich vom Schauplatz der Auseinandersetzung. „Das war aber auch wirklich scheußlich, was die da gesungen hat, in ihrem komischen Fetzen!“, äußerte Gasperlmaier nun doch eine Meinung zu den Darbietungen der Kainischer Hasenjäger featuring Gitti aus Goisern. „Am liebsten hätt ich ihnen ja selber den Stecker gezogen!“ Der Friedrich seufzte. „Manche begreifen es halt nicht, dass sie nicht bei jeder Veranstaltung und überall dabei sein dürfen. Denen geht’s doch nur ums Geld, die wollen CDs verkaufen und wahrscheinlich auch die ganzen Klicks im Internet haben. Der Teufel weiß, wie sie damit was verdienen.“
„Ich mein“, pflichtete Gasperlmaier bei, „ich hab ja auch schon dann und wann in einem Bierzelt … ich mein, natürlich nicht in unserem, aber … also, da war schon so … Schlagermusik, wo ich auch ein bisschen mitgeklatscht habe, aber …“ Es fiel ihm schwer zu erklären, was er genau meinte, dennoch nickte der Friedrich. „Alles dorthin, wo es hingehört. Hier kommen die Leute her, um selber zu spielen, und die Zuschauer kommen, damit sie traditionelle Musik hören können. Und nicht diesen dümmlichen Schund. Aber mit dem ist ja jetzt endlich Schluss!“ Der Friedrich öffnete das Gatter, das die Terrasse der Weißenbachalmhütte von der Weidefläche trennte. Zwei Kühe standen wie Wachtposten links und rechts des Gatters und beäugten die beiden. „Euch gefällt sicher die echte Volksmusik auch besser, was?“ Der Friedrich tätschelte eine der beiden Kühe zwischen den Augen, bevor er die Terrasse betrat.
„Geh, rückt’s ein bisserl!“ Zwei schmale Plätze auf einer der langen Bänke wurden für die beiden freigemacht, und endlich kehrte Ruhe ein, nur unterbrochen von zwei Sängerinnen, die zur Gitarrenbegleitung Volksweisen sangen. Recht gefühlvolle, wie Gasperlmaier fand. Vom Herbst war die Rede, vom Ende des Almsommers und von Abschieden. Ihm wurde wehmütig zumute, denn wieder musste er an die Christine denken, und an die riesige Weltkugel, auf deren anderer Seite sie sich nun befand. Weit, weit weg. So wie die beiden Frauen sangen. „Du bist so weit, weit weg von mir.“ Seine Augen wollten sich schon mit Tränen füllen, und er versuchte, dem Einhalt zu gebieten, indem er einen kräftigen Schluck aus der Bierflasche nahm.
Nach etwa einer halben Stunde wurde es kühl. „Wann meinst denn, dass wir wieder hinuntergehen?“, fragte er den Friedrich. Der nickte. „Bald. Mir wird schön langsam kalt. Und besser wird das Wetter auch nicht mehr!“ Er deutete nach oben zu den Wolken, die auch Gasperlmaier noch dunkler schienen als zuvor. „Pfüat euch!“ Die beiden standen auf, drängten sich durch die nun zahlreicher vor der Terrasse grasenden Kühe und traten auf den Schotterweg, der zur Hütte heraufführte. Nur wenige Meter weiter allerdings wehte ihnen ein verführerischer Duft in die Nase. Ein Stück weiter unten war am Wegesrand ein Wagen aufgestellt, in dem Bauernkrapfen gebacken wurden, man konnte es ganz deutlich riechen.
„Ja, grüß dich, Maresi!“ Gasperlmaier war erstaunt, seine Nachbarin hier heroben anzutreffen. „Dass du da Bauernkrapfen machst?“ Die Maresi grinste. „Geh, tu nicht so verlogen, Gasperlmaier! Du stehst doch eh jedes Mal beim Zaun, wenn ich welche backe!“ „Ist ja gar nicht wahr!“, verteidigte sich Gasperlmaier. Allerdings stimmte es, dass die Maresi schon gelegentlich ein paar ihrer köstlichen Germteigkrapfen über den Zaun reichte, wenn sie zu viel gebacken hatte.
„Was war denn da unten los, vorher?“ Geduldig erläuterte der Friedrich, wer warum auf wen losgegangen war, während Gasperlmaier sich seinen Krapfen schmecken ließ. „Aber einen Schnaps müsst’s schon noch trinken, als Stärkung, bevor ihr euch wieder auf den Weg macht’s!“ Die Maresi schenkte beiden ein großes Stamperl Obstler ein. Gasperlmaier zögerte. Auf der einen Seite hatte er sich geschworen, sich heute zu betrinken, um der untreuen Christine eins auszuwischen. Auf der anderen Seite – es wartete der Abstieg von der Alm auf ihn, danach die Katharina, die ihm was gekocht hatte, und morgen schließlich der Dienst, in aller Frühe. Aber sollte er die Maresi deswegen beleidigen? Der Fußmarsch würde ihn schon ausnüchtern. „Prost!“, sagte er also, und der Friedrich stieß mit ihm an. Gut war er, der Obstler von der Maresi. „Wie viele Krapfen hast denn heute schon verkauft?“, fragte der Friedrich. „Leut sind ja ein paar heroben!“ Die Maresi lachte und drehte sich zu ihrer Schmalzpfanne um, um drei Krapfen, die darin schwammen, zu wenden. „Genug! Ich komm ja eh kaum nach mit dem Backen!“ Gasperlmaier gewahrte, dass sich hinter ihm bereits zwei, drei Leute angestellt hatten. Rasch trank er seinen Schnaps aus, stellte das Stamperl auf den Tresen und trat zur Seite. „Pfüat di, Maresi!“, winkte er ihr noch zu.
„Dass es jetzt aber auch tatsächlich zu regnen anfangen muss!“, ärgerte sich der Friedrich, als aus dem feinen Nieseln, das sie schon zu spüren begonnen hatten, ein zwar leichter, aber dennoch unangenehmer Regen wurde. Er fischte aus seinem blitzblauen Rucksack eine ebenso blitzblaue, feinsäuberlich zusammengelegte Regenjacke hervor und zog sie über seinen Janker. Gasperlmaier drückte seinen Hut fester ins Gesicht. „Der muss reichen. Ich hab ja niemanden, der mir Regenzeug einpackt!“, murmelte er verdrossen. „Geh, Gasperlmaier! Du musst schon ein bissl selbständiger werden! Das Zeug pack ich mir natürlich selber ein! Ich geh beinah jeden Tag Steckenwandern, da hab ich die Jacke immer dabei! In einem ganz kleinen Packerl, das ich mir an den Gürtel hängen kann!“ Gasperlmaier zuckte mit den Schultern und wandte sich der Forststraße zu, die bergab führte.
„Grüß euch!“, schallte es ihnen von der Gulaschkanone entgegen. „Schon heim? Wollt’s noch ein Gulasch?“ Der Martin, der zuvor übersetzt hatte, was die beiden Afrikaner gesagt hatten, winkte ihnen zu. „Was meinst, Gasperlmaier? Ein Gulasch und ein Krapfen, für vier Stunden Wandern, ist das genug für ein g’standenes Mannsbild?“ Der Friedrich stieß ihn in die Rippen. Nach dem süßen Krapfen, fand Gasperlmaier, konnte man ganz gut noch ein wenig handfeste Wegzehrung brauchen. Er nickte. „Muss aber keine große Portion sein!“ „Ein Bier auch dazu?“ Gasperlmaier wehrte ab. „Nein, ich glaub …“ Der Friedrich nickte zustimmend. „Genug ist genug!“ Wenig später waren die beiden mit vollen Bäuchen wieder auf dem Weg.
Gerade, als sie den Fuß der Weißenbachalm erreicht hatten, kam ein großer Reisebus vom Wendeplatz hergefahren. Der Fahrer hielt an und ließ zischend die Tür aufspringen. „Wollt’s noch mit?“ Gasperlmaier zögerte, der Friedrich jedoch schüttelte den Kopf und bedeutete dem Fahrer, weiterzufahren. „Das brauchen wir doch nicht, Gasperlmaier, was? Die Luft wird doch durch den Regen nur noch frischer!“ Gasperlmaier spürte nun doch deutlich die zahlreichen Biere und den Schnaps, und die Beine wurden ihm schwer. Er hätte sich schon zum Mitfahren überreden lassen, doch der Bus war schon in einer Staubwolke verschwunden. Komisch, dachte Gasperlmaier. Jetzt regnete es schon ein paar Minuten lang, und die Straße staubte noch immer. Wie war das nur möglich?
Die Alm war gerade ihren Blicken entschwunden, als Gasperlmaier sich einbildete, einen Schrei gehört zu haben. „Still!“, sagte er zum Friedrich. „Hast du das auch gehört? Da hat wer geschrien!“ „Nix hab ich gehört!“, antwortete der Friedrich, doch kaum hatte er geendet, konnte man noch einmal deutlich das Kreischen einer Frau vernehmen. „Was meinst, Friedrich? Ob was passiert ist? Ob wir noch einmal umdrehen sollen?“ Diesmal war es der Friedrich, der unentschlossen wirkte. „Wahrscheinlich ist eine Spinne am Klo gesessen, oder irgend so was. Da brauchen wir doch nicht extra umdrehen, um sie zu trösten!“ Der Friedrich wandte sich ab und tat ein paar Schritte talwärts. Die Schreie aber wurden mehr, auch Männerstimmen mischten sich darunter. „Komm!“, entschied Gasperlmaier. „Wir schauen, was da los ist!“
Er wartete gar keine Antwort ab, sondern hastete zu der Stelle zurück, wo der Wald zurückwich und die Alm von der Straße aus sichtbar wurde. Schreie gellten über den ganzen Almboden und wurden von den Felswänden vielfach zurückgeworfen. Die Menschen waren in Bewegung, viele kamen über die Wiesen herabgelaufen, andere drängten nach oben. Gasperlmaier sprach eine Frau an, die zwei Kinder an der Hand hielt. „Was ist denn passiert?“ Die Frau war blass im Gesicht. „Bitte lassen S’ mich mit den Kindern nach unten! Wir müssen weg da!“ Sie rannte an Gasperlmaier vorbei, im Vorbeilaufen aber drehte sie sich noch einmal zu ihm um: „Derschlagen haben s’ einen! Derschlagen!“, flüsterte sie atemlos. Mittlerweile hatte der Friedrich aufgeholt. „Ich hab’s schon gehört, Gasperlmaier! Einsatz!“
Der Tumult war oberhalb der Weißenbachalmhütte am größten. Gasperlmaier war schweißgebadet und bekam kaum noch Luft, als er dort ankam. Er sah die Gitti aus Goisern auf einer Bank kauern, sie hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht in den Händen geborgen und wurde offenbar von Weinkrämpfen geschüttelt. Bei ihr konnte sich Gasperlmaier nicht aufhalten, denn die Schreie kamen von weiter oben. Da musste es sein! Eine riesige Fichte stand einsam, in einigem Abstand vom Waldrand, auf dem Almboden, ein großer Felsblock davor. Dort hatten sich die Leute angesammelt und kreischten durcheinander. Gasperlmaier hastete an den beiden Afrikanern vorbei, die konsterniert aus einiger Entfernung die Aufregung verfolgten. „What’s the matter?“, sprach ihn der Mann an, doch Gasperlmaier hatte keine Luft übrig, um ihm zu antworten.
„Geht’s auf die Seite, Polizei!“, krächzte er, als er an der Menschenmauer ankam, die irgendetwas umgab, was sich dort ereignet hatte. Niemand hörte ihn. Er musste nur ein wenig verschnaufen. „Platz da! Polizei!“, brüllte daraufhin der Friedrich, der ihm schneller gefolgt war, als er das für möglich gehalten hatte. Tatsächlich öffnete sich eine Gasse für die beiden, und der Friedrich scheute auch nicht davor zurück, Menschen zur Seite zu stoßen, wenn sie ihm nicht auswichen. Gasperlmaier folgte in seinem Schatten. Es dauerte nur Sekunden, bis er sah, was passiert war. Ein Mann lag auf dem Boden, der Schädel blutverschmiert. Der Helmut Schwingenschlögel machte Herzmassage. Es bedurfte keiner großen Phantasie, um sich auszumalen, was hier geschehen war. Entweder hatte ein Steinschlag oben von der Felswand den Mann getroffen, oder jemand hatte nachgeholfen und ihm einen Stein auf den Schädel geschlagen.