Letzter Tropfen - Herbert Dutzler - E-Book + Hörbuch

Letzter Tropfen E-Book und Hörbuch

Herbert Dutzler

4,3

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Beschreibung

Verbotene Pillen und verhängnisvolle Fotos: Gasperlmaier ermittelt am Catwalk Nicht genug, dass die Dreharbeiten einer bekannten Model-Castingshow mitsamt schriller Modelmama die beschauliche Idylle in Altaussee stören. Jetzt wird auch noch der Set-Fotograf tot im See aufgefunden. Das kommt für Franz Gasperlmaier höchst ungelegen, hat ihn schließlich das Hochzeitsfieber gepackt. Bevor seine Tochter Katharina ihrer Stefanie das Ja-Wort geben kann, gilt es nun also nicht nur deren etwas eigenwillige Eltern kennenzulernen, sondern auch die Ermittlungen im Dunstkreis der TV-Show aufzunehmen. Was für ein Glück, dass ihm Frau Doktor Kohlross mit ihrem flotten Flitzer zur Seite steht. Schon bald zeigt sich: Die ungeschminkte Wahrheit hinter der Model-Castingshow ist alles andere als schön. Ein Ermittler, den man sofort nach der letzten Seite vermisst Professioneller Fettnäpchentreter, heimatverbundener Genuss- und Familienmensch, einer, der oft so lange über die richtigen Worte nachdenkt, dass er keine Gelegenheit mehr hat, sie auszusprechen: Das ist Franz Gasperlmaier. In seinem neuesten Fall hat er kaum einmal Zeit, in Ruhe ein Bier zu trinken: Kinder, Schwiegerkinder und der kleine Enkel machen das Haus so lebendig, wie es schon lange nicht mehr war. Fast freut er sich ein bisschen darauf, wieder mit seiner Christine allein zu sein – auch wenn er die Kinder dann vermissen wird. Wie gut, dass der Nachbar hinterm Gartenzaun immer einen edlen Tropfen und einen guten Rat für den Franz parat hat … Zwischen malerischer Idylle und Mordschauplatz: eine Reise ins steirische Salzkammergut Liest man Herbert Dutzlers Altaussee-Krimis, ist man versucht, sofort eine Fahrkarte zu kaufen, sich in den nächsten Zug zu setzen und das schöne Ausseerland selbst zu entdecken, in einer Plätte über den See zu schippern oder den Loser zu besteigen. Mit einer großen Portion Sympathie für Land und Leute zeichnet Herbert Dutzler seine Heimat – nicht ohne kritische Blicke auf die Schattenseiten des Landlebens und den touristischen Ausverkauf der Region.

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Seitenzahl: 537

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Zeit:14 Std. 14 min

Sprecher:Florian Eisner
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Herbert Dutzler

Letzter Tropfen

Ein Altaussee-Krimi

Herbert Dutzler

Letzter Tropfen

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
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Herbert Dutzler
Zum Autor
Impressum

1

Ein leichtes Missbehagen hatte sich in Gasperlmaiers Brust breitgemacht. Obwohl es ein wunderschöner Mainachmittag war. Allerdings warf die Lärche schon ihren langen Schatten auf die Terrasse, auf der er mit seinem Feierabendbier in der Hand stand, und im Mai wurde es gegen den Abend hin doch meist recht frisch in Altaussee. Drinnen im Wohnzimmer war ihm ein bisschen zu viel Wirbel. Heute hatte er sich etwas früher freigenommen, und nach dem Dienst brauchte er Ruhe. Immer mehr und immer länger, je älter er wurde. Und das, weswegen er sich freigenommen hatte, lag ihm ein wenig im Magen.

Nicht, dass er etwas gegen die Familie gehabt hätte, aber sechs Leute machten doch eine Menge Lärm, auch wenn sie gar nicht absichtlich besonders laut waren. Abgesehen von Theo, um den sich ohnehin alles drehte. Natürlich liebte auch Gasperlmaier seinen ersten Enkel über alles, aber dass sämtliche Frauen der Familie mit verzückten Mienen jede Bewegung des Zwerges verfolgten, selbst wenn er nur still vor sich hin sabberte, fand er ein wenig übertrieben. Und jedes Gurgeln, das Theo von sich gab, musste von allen Seiten ausgiebig kommentiert werden.

Den Kleinen hatten Gasperlmaiers Sohn Christoph und dessen Frau Richelle von Vancouver herüber nach Altaussee gebracht. Sein Name sollte, so Christoph, einer sein, der sowohl in Kanada als auch in Österreich geläufig war, aber Gasperlmaier hatte mit dem „Th“ am Beginn so seine Probleme. Man durfte nämlich den Kleinen nicht einfach „Theo“, also deutsch ausgesprochen, nennen, sondern es klang mehr wie „Fio“. Er bekam das nicht so richtig hin. Sein Englischunterricht in der Hauptschule lag ja nun auch schon mehr als vierzig Jahre zurück, und seine Englischlehrerin, die Frau Rastl, so glaubte er sich zu erinnern, hatte das englische „Th“ auch nicht so perfekt hinbekommen, wie es sich anscheinend gehörte.

Dennoch, auch Gasperlmaiers Herz schmolz dahin, wenn er sich den Kleinen auf den Bauch legte und der dann irgendwas vor sich hin quasselte, fröhlich gluckste und an Gasperlmaiers Unterlippe zog, dass es schmerzte. Sogar die Brille durfte er ihm herunterreißen und darauf sabbern, da war Gasperlmaier nichts zu dumm. Aber nach einer Viertelstunde oder so, da war es dann auch wieder genug, und er war froh, den Theo an eine der vielen Frauen in der Familie übergeben zu können. Oder an dessen Vater, der sich ebenso rührend um den Kleinen kümmerte wie die aufregende Richelle.

Die war, fand Gasperlmaier, so schön, dass man sich geradezu Sorgen machen musste. So schöne Frauen, hieß es doch, hatte ein Mann nie für sich allein, und man musste höllisch aufpassen, dass sie einem nicht abhandenkamen. Einmal, als er nicht hatte schlafen können, hatte er der Christine von seinen Sorgen erzählt, und sie hatte ihn gescholten, weil sein Frauen- und sein Männerbild so antiquiert seien, dass man sich geradezu schämen musste. Deshalb behielt er seine Bedenken nun lieber für sich.

So auch jene, die den Doktor Frisch betrafen. Doktor Karl Frisch. Den nämlich sollte er zusammen mit seiner Christine heute Abend vom Hotel Seeblick abholen, weil er samt seiner Frau bei ihnen zu Hause zum Abendessen eingeladen war. Der Doktor Frisch war der Vater der Stefanie Frisch, die drinnen im Wohnzimmer saß und am Samstag seine Tochter, die Katharina, heiraten würde. Er selbst hatte sich ja schon längere Zeit damit anfreunden können, dass seine Tochter lieber eine Frau als einen Mann heiraten wollte. Obwohl, zunächst war ihm auch das Herz schwer geworden. Nicht, weil er etwas gegen die Vorlieben der Katharina gehabt hätte, sondern weil er sich sorgte, dass ihr Leben dadurch weniger unbeschwert und vor allem ohne Kinder ablaufen würde. Der Sohn, so hatte er gegrübelt, 10.000 Kilometer weit weg, und damit natürlich auch die Enkel, und die Tochter hatte sich eine Lebensgemeinschaft ausgesucht, in der Kinder wohl nicht zu erwarten waren.

Seine unmittelbare Sorge allerdings galt nun der Begegnung mit dem Doktor Karl Frisch, dem Vater der Braut seiner Tochter. Die Stefanie hatte ihn gewarnt. Ihr Vater sei erzkonservativ und streng katholisch, lehne eine lesbische Partnerschaft und Ehe aus tief verwurzelten Prinzipien heraus ab und hatte nur mit allergrößter Mühe dazu überredet werden können, überhaupt an der Zeremonie teilzunehmen. Ihre Mutter Klara, so hatte die Stefanie erklärt, sei ein Hascherl, das von jeher alles getan habe, was ihr Mann von ihr verlangt habe. Wenn die Stefanie über ihre Eltern sprach, konnte man fühlen, wie sehr sie darunter litt, dass sie ihre Entscheidungen und ihren Lebensstil nicht akzeptieren wollten. Und im Falle ihrer Mutter, dass ihr jedes Selbstbewusstsein fehlte, das ihr eine eigenständige Haltung ermöglicht hätte. Gasperlmaier nahm einen Schluck Bier. Das konnte ein anstrengendes Abendessen werden. Besser, man stärkte sich schon im Voraus.

„Servus, Gasperlmaier!“ Drüben auf dem Balkon des Nachbarhauses war der Doktor Altmann aufgetaucht, seit einiger Zeit der neue Nachbar. Er war ein pensionierter Richter aus Wien, und seine Frau, ebenfalls eine Doktorin, war Anwältin gewesen. Zu Gasperlmaiers Freude und Überraschung hatten sich die Altmanns als angenehme Nachbarn entpuppt, und über die Monate war sogar etwas entstanden, das man durchaus Freundschaft nennen konnte. Die Frau Doktor Altmann kochte mit Vorliebe sehr scharfes Gulasch, und alle paar Wochen waren die Christine und er bei den Altmanns zum Gulaschessen eingeladen. Die Christine hatte sich jeweils mit einem ihrer köstlichen Strudel revanchiert, die allerdings in den letzten Jahren immer öfter ohne saftiges Faschiertes oder knusprigen Speck auf den Tisch kamen.

„Du schaust mir ein wenig besorgt aus der Wäsche“, konstatierte der Doktor. „Wart, ich komm schnell hinunter!“ Gasperlmaier begab sich an den Zaun, wo sich zwischen zwei Büschen der übliche Treffpunkt befand. Das Gras war schon ein wenig abgetreten und stellenweise schütter, so oft standen sie mittlerweile am Zaun zusammen. Der Doktor trug, wie praktisch ständig, ein Gamsjackerl und eine Lederhose, die noch den Beigeschmack der frisch geschneiderten trug. Den, so hatte ihm der Doktor erklärt, wolle er möglichst schnell loswerden, weshalb er die Hose nun täglich trug. Manchmal sogar des Nachts, wie er Gasperlmaier kürzlich unter heftigem Augenzwinkern anvertraut hatte. Auch heute blinzelte der Doktor Gasperlmaier zu und zog einen Flachmann aus einer Tasche seiner Jacke. „Ich weiß schon, was dir im Magen liegt!“ Gasperlmaier sah erstaunt zu ihm auf. „Woher …?“ „Na ja!“ Der Doktor goss sich ein Stamperl ein, trank es auf ex und schenkte für Gasperlmaier nach. „Es ist ein gebrannter Zirbener, vom Pohn in Knoppen, ein Wundermittel sozusagen!“ Gasperlmaier nahm das Stamperl. „Die meinige“, sagte der Doktor, „war ja am Nachmittag zum Kaffee bei deiner Christine, ein bissl Babyschauen, und da haben sie halt über den heutigen Abend geredet. Und darüber, dass du ein wenig Bammel hast vor dem Doktor Frisch, der ja ein richtiges Brechmittel zu sein scheint, wie man hört!“ „Ah!“ Der Zirbene schmeckte kräftig nach genau dem, was drin war, da konnte man nichts sagen. Er brannte Gasperlmaier bis in den Magen hinunter. „Ich kann“, sagte er, „mit solchen Leuten nicht so gut umgehen. Es sind ja nicht alle von da drunten so wie du. Da tu ich mir manchmal schwer.“ Der Doktor Altmann nickte. „Ich kenn solche Typen“, sagte er. „Was glaubst du, wie oft ich als Richter mit selbstgerechten Besserwissern zu tun gehabt habe. Und ich hab da einen Tipp für dich. Ich weiß schon, wie du mit ihm umgehst! Magst noch einen?“ Gasperlmaier nickte gedankenverloren und hatte, eh er sich’s versah, einen zweiten Schnaps hinuntergestürzt, ohne zu bedenken, dass weder die Christine noch der Doktor Frisch über eine Zirbenfahne begeistert sein würden, und wenn sie noch so würzig nach Nadelholz roch.

„Weißt“, sprach der Doktor gleich weiter, „am besten, du lässt ihn reden, nickst hie und da einmal, damit er glaubt, dass du zuhörst, und in Wirklichkeit lässt du sein Geschwafel beim einen Ohr hinein- und beim anderen wieder hinausziehen.“ Gasperlmaier nickte wieder. Er fand Gefallen am Vorschlag des Doktor Altmann. „Und ja nicht auf das eingehen, was er erzählt, nicht widersprechen, und wenn du was sagst, redest du einfach von etwas ganz anderem. Vom Wetter, zum Beispiel.“ „Das würd mir eh liegen“, meinte Gasperlmaier. „Ich mein, das mit dem Nicken und gar nichts sagen!“ „Siehst du!“ Der Doktor schenkte sich noch einmal ein, schüttelte den Flachmann, um ihm die letzten Tropfen zu entlocken. Gott sei Dank, so dachte Gasperlmaier bei sich, war der Schnaps jetzt ausgetrunken, da kam er nicht in Verlegenheit, einen dritten ablehnen zu müssen.

„Vielleicht“, sagte Gasperlmaier noch, „wäre es sogar eine gute Idee, euch mit den Frischs zusammenzubringen. Dich als Doktor würd er ja ernst nehmen müssen. Weil ihr auf gleicher Ebene miteinander reden könnt, sozusagen. Ich fühl mich da doch immer ein bissl …“ Gasperlmaier ließ seinen Satz unvollendet. Der Doktor Altmann nickte. „Das wird schon einmal passen, während der Woche.“

Es war ja nicht nur der Doktor Frisch, es gab da noch ein anderes Problem, das bei der Planung der Hochzeit überhaupt noch nicht abzusehen gewesen war. Eigentlich hatte er sich freinehmen wollen, soweit das eben möglich war, aber jetzt war urplötzlich dieses Fernsehteam über Altaussee hereingebrochen. Eine Folge einer Castingshow sollte in den nächsten Tagen am See abgedreht werden, und das hieß anstatt freier Tage Mehrarbeit, denn es gab Verkehrsbeschränkungen, Umleitungen, Personenkontrollen und so weiter. Gasperlmaier seufzte.

„Daddy! It’s time to go and fetch the Frisches! Christine says, du musst kommen die Frisch abholen!“ Die Richelle war auf der Terrasse aufgetaucht. Ein wenig seltsam fand er es schon, dass die Richelle die Christine und ihn mit „Mummy“ und „Daddy“ anredete, aber anscheinend war das in Kanada so üblich. Er selber hatte seine Schwiegereltern, die leider schon früh gestorben waren, niemals so angesprochen, es hatte ihn schon Mühe gekostet, sie beim Vornamen zu nennen. Und auch die Christine nannte seine Mutter immer „Gretl“.

„Ich komm schon!“, versprach Gasperlmaier. „Gleich!“ Der Doktor Altmann grinste verschmitzt. „Das ist aber eine ganz Saubere, deine Schwiegertochter! Auf die muss dein Sohn gut aufpassen!“ Er zwinkerte verschwörerisch. Gasperlmaier seufzte. Was die Richelle anbetraf, da traute er nicht einmal dem Herrn Doktor Altmann über den Weg, denn der konnte seine Augen selten von gutaussehenden Frauen lassen. Sogar die Christine hatte er schon gelegentlich so gemustert, als gefalle sie ihm. Aber das hatte Gasperlmaier eher geschmeichelt. Er war natürlich auch stolz darauf, mit einer gutaussehenden Frau verheiratet zu sein. „Also dann, pfüat di!“ Er hob den Arm zum Gruß und strebte der Terrasse zu.

Im Wohnzimmer saßen die Frauen zusammen und plauderten, der Christoph tippte auf seinem Laptop, während sich Theo an einem Küchenschrank hochzog und es gerade schaffte, an den Griff heranzukommen. Mit ein paar schnellen Schritten war Gasperlmaier bei ihm und hob ihn hoch. „Na, du möchtest wohl das Kastl da unten ausräumen, wie? Das lassen wir aber schön bleiben!“ Gasperlmaier zupfte Theo am Ohrläppchen, der wand sich in seinen Armen und grinste breit. „Sonst fällt dir noch ein Kochtopf auf die Zehen, das wollen wir doch nicht!“ Gasperlmaier warf einen Blick ins Wohnzimmer. „Die Oma und die Tanten und deine Eltern, alle sitzen sie da, und niemand kümmert sich um dich!“

Die Christine stand auf. „Na, wenn du ihn einmal hochhebst, musst du nicht gleich so … Oh Gott! Was stinkt denn da so? Hast du etwa eine Fahne?“ Sie streckte ihre Arme aus. „Gib mir das arme Kind! Das wird ja schon von deinem Atem besoffen! Und so willst du den Doktor Frisch abholen? Schnell gehst du hinauf und putzt dir die Zähne! Und danach noch spülen, mit der antibakteriellen Lösung! Hoffentlich hilft es was!“ Sie nickte mit dem Kopf ärgerlich gegen die Treppe hin, um Gasperlmaier anzutreiben. Gleichzeitig strich sie Theo begütigend über den Kopf, der Gasperlmaier interessiert nachblickte.

Die Christine hatte ja recht, er hatte sich vom Doktor Altmann wieder einmal verführen lassen, zumindest den zweiten Schnaps hätte er ablehnen sollen. Auf der anderen Seite war es auch gut, dem Doktor Frisch etwas entspannter zu begegnen. Und die Christine hätte nicht gleich so ein Theater machen brauchen, so schlimm konnte sein Atem gar nicht sein. Gasperlmaier nahm pflichtschuldigst die Zahnbürste zur Hand und drückte etwas Paste darauf. Hinter ihm öffnete sich die Tür. „Und du ziehst bitte die schwarze Hose und das weiße Hemd an, das ich dir hingelegt habe. Den Trachtenrock kannst du ruhig nehmen, nur hab ich mir gedacht, dass uns der Herr Doktor Frisch vielleicht für rückständig hält, wenn wir gleich in Dirndl und Lederhose auftauchen.“ Gasperlmaier nickte. „Du weißt ja, die Leute aus dem Osten … die haben da oft so komische Vorurteile.“ Gasperlmaier kannte diese Leute zur Genüge. Immer wieder einmal hatte er es mit einem besonders Obergescheiten aus Wien oder auch aus Deutschland zu tun, der meinte, hier im Salzkammergut wären alle zumindest verschlafene Ewiggestrige, wenn nicht gar alte Nazis. Gasperlmaier konnte Gott sei Dank mit den Wahlergebnissen kontern, die das genaue Gegenteil bewiesen.

„Ziehst du mir mal den Reißverschluss zu?“ Die Christine drehte ihm den Rücken zu, und Gasperlmaier konnte nicht anders, als einen Kuss auf ihren Nacken zu drücken. „Nicht jetzt!“, kicherte sie. Seine Fahne schien sie schon vergessen zu haben, so schlimm konnte die also nicht gewesen sein. Sie hatte ein rotes, sehr schickes Kleid ausgesucht, das mit Knöpfen und Stickereien ein wenig an Tracht erinnerte. Gasperlmaier schloss den Reißverschluss langsam, um sich noch ein wenig an den Sommersprossen auf dem Rücken der Christine erfreuen zu können.

„Hauch mich einmal an!“, sagte sie, als Gasperlmaier seine Zahnreinigung abgeschlossen und die Gurgellösung ausgespuckt hatte. Er hauchte vorsichtig in ihre Richtung. Sie rümpfte die Nase, aber nur ein klein wenig. „Geht so. Sprichst du halt am Doktor Frisch vorbei und atmest ihm nicht direkt ins Gesicht.“ Das, so schien Gasperlmaier, war eine schwierige Vorgabe, und an ein unbefangenes Treffen war so nicht zu denken, wenn er ständig überlegen musste, wie und wohin er ausatmete. Wahrscheinlich war es das Beste, den Ratschlag des Doktor Altmann zu befolgen und möglichst wenig zu sprechen.

Unten waren der Christoph, die Katharina und die Stefanie in der Küche beschäftigt, während die Richellemit Theo auf dem Boden lag und ihm ein Bilderbuch vor die Nase hielt, das ihn aber nicht sonderlich zu interessieren schien. „Look!“, sagte sie. „What’s that? Is it an elephant?“ Der Christoph hatte ihm erklärt, dass Theo nur dann die Sprachen beider Eltern erlernen würde, wenn die Richelle immer Englisch mit ihm sprach und er immer Deutsch. Gasperlmaier stellte sich das schwierig vor, aber sein Sohn hatte ihm versichert, dass es nur eine Frage der Gewohnheit sei und bei ihnen schon ganz automatisch funktioniere. Auch, wenn die beiden miteinander sprachen, blieben sie bei ihrer jeweiligen Muttersprache, was Gasperlmaier manchmal seltsam anmutete.

„Klappt alles mit dem Essen?“, fragte die Christine. Die drei in der Küche bejahten und hantierten etwas hektisch weiter. „Der Papa ist Gott sei Dank schon an vegetarische Gerichte gewöhnt, wenn ich zu Hause bin. Die muss immer ich kochen, die Mama versteht sich nicht darauf. Oder sie traut sich nicht.“ Die Stefanie zuckte verlegen mit den Schultern und wischte sich ein wenig Schweiß von der Stirn. Gasperlmaier sah ihr ihre Unsicherheit an. Wie würde das Kennenlernen der Eltern und Schwiegereltern verlaufen? Es war, so vermutete Gasperlmaier, immer auch ein heikler Punkt in einer Beziehung. Und dass es bis zur Hochzeit gedauert hatte, bis man die Frischs einmal zu Gesicht bekam, das war nicht seine Schuld. Sie hätten ja früher einmal nach Altaussee kommen können.

Vor der Haustür stellte Gasperlmaier fest, dass man einen Schirm brauchte. Es hatte leicht zu regnen begonnen, und man konnte sich schließlich nicht wie ein begossener Pudel vor den Doktor Frisch hinstellen. „Versuch einfach, ganz normal und nett zu den beiden zu sein!“, erklärte ihm die Christine auf dem Weg zum Hotel Seeblick. „Vielleicht sind sie ein wenig komisch, aber Unmenschen sind sie sicher nicht!“

„Wir suchen die Familie Frisch!“, erklärte sie an der Rezeption. „Grüß Gott, Frau Lehrerin, grüß dich, Gasperlmaier!“ Die junge Frau am Tresen war anscheinend durch Christines Schule gegangen. Warum sie ihn duzte und die Christine nicht, war Gasperlmaier schleierhaft. „Ja mei!“, rief die Christine aus. „Die Verena! Ich hätt’ dich beinahe nicht erkannt! Ist ja auch schon eine Zeitlang her!“ Die Verena nickte. „Woher kennt ihr euch denn?“ Sie zeigte zunächst auf die Verena, dann auf Gasperlmaier. „Na, vom Kirtag natürlich! Ich hab gekellnert, und der Gasperlmaier hat Bier gezapft!“ „Ah ja!“, sagte der und nickte, obwohl er sich an die Verena beim besten Willen nicht erinnern konnte. Da gab es Dutzende Kellnerinnen im Bierzelt, und er war mit dem Zapfen beschäftigt gewesen, sodass er sich die Gesichter auf keinen Fall merken konnte, und schon gar keine Namen dazu.

„Die Familie Frisch, glaub ich, ist in der Bar! Zum Begrüßungsdrink!“ „Da schau her!“ Die Christine hob die Augenbrauen. „Ob wir da auch hineindürfen, obwohl wir keine Hausgäste sind?“ Die Verena nickte. „Kein Problem, geht’s nur rein!“ Sie streckte einladend den Arm in Richtung Bar aus. „Das müssen sie sein!“ Die Christine nickte unauffällig zum Fenster hinüber, wo zwei Paare standen. „Der Große, das muss der Frisch sein!“ Gasperlmaier nickte. Er hatte sich die Fotos der Frischs nicht so genau angeschaut, als dass er sie hier wiedererkennen hätte können. Die Christine schritt zielstrebig auf die Gruppe zu.

„Herr Doktor Frisch? Frau Frisch?“, fragte sie. Die Frau Frisch lächelte und nickte, und sogar das Gesicht des Doktor Frisch, fand Gasperlmaier, hellte sich ein wenig auf. Die Frau Frisch war eine kleine, eher rundliche Frau mit glattem grauem Haar, das etwa auf Kinnlänge geschnitten war. Gasperlmaier fiel die recht üppige Goldkette um ihren Hals auf. Der Herr Doktor Frisch überragte sie um mehr als einen Kopf, war im Gegensatz zu ihr dürr, glatzköpfig und mit einer langen, krummen Nase gesegnet, was ihm als Ganzes ein vogeliges Aussehen verlieh. Gasperlmaier grüßte und schüttelte Hände. Die Frau Frisch hieß mit Vornamen Klara. „Darf ich vorstellen?“, sagte der Doktor Frisch. „Das Ehepaar Suter aus der Schweiz. Wir haben uns soeben kennengelernt.“ Der beleibte, nicht eben große Mann nickte freundlich, drückte Gasperlmaier kräftig die Hand und stellte sich als Beat Suter aus Interlaken vor. Seine Frau war, wie Gasperlmaier fand, eine Erscheinung. Sie schien ein gutes Stück jünger als ihr Mann, trug ihr schwarzes Haar lang und offen und hatte ein Gesicht wie ein Model, mit hohen Wangenknochen und vollen Lippen, um die sich aber ein etwas übellauniger Zug gelegt hatte. Ihr Händedruck war hastig und kühl. Wenn Gasperlmaier richtig verstanden hatte, dann hieß sie Aurelia.

Ein Kellner kam mit einem Tablett vorbei, auf dem volle Proseccogläser standen. Beat Suter griff zu, schneller als er war allerdings der Doktor Frisch. „Wenn’s denn der Gesundheit dient!“, sagte der Schweizer in breitem Schwyzerdütsch und prostete den anderen zu. „Sie nicht?“, fragte der Kellner die Christine und Gasperlmaier. „Wir sind keine Gäste, wir sind nur gekommen, um die Familie Frisch abzuholen“, erklärte die Christine. „Wir möchten Sie trotzdem gerne auf ein Glas einladen!“, entgegnete der Kellner.

Schließlich prosteten alle sechs einander zu, als draußen bei der Rezeption Getrappel und vielstimmiges Gekicher laut wurde. „Die Models!“, grinste Beat Suter. „Sehr ansehnlich, aber leider auch sehr laut!“ Seine Frau rümpfte die Nase. „Stellen Sie sich vor“, sagte Suter, „wir durften heute nicht ins Hallenbad. Ein Fotoshooting, hieß es. Und gibt es dafür eine Entschädigung? Natürlich nicht!“ Er schüttelte den Kopf. „Also, was mich betrifft“, meldete sich erstmals Doktor Frisch zu Wort, „ich bin schon im See schwimmen gewesen. Schwimmen im kalten Wasser ist das Allerbeste für die Gesundheit!“ Gasperlmaier erschauerte. Der See hatte um diese Jahreszeit höchstens fünfzehn, sechzehn Grad. Das war nichts für ihn. War der Herr Doktor Frisch etwa so ein Asket, der sich mit eiskaltem Wasser bestrafte? „Also, ich wäre schon gerne in den Pool gegangen!“, widersprach die Frau Frisch. Na ja, dachte Gasperlmaier bei sich, so ein Hascherl war sie dann doch nicht, dass sie ihrem Gatten nicht bei der ersten Gelegenheit widersprochen hätte. Er selber verbat sich, eingedenk des Ratschlags von Doktor Altmann, jeden Kommentar.

Eine Gruppe sehr junger Mädchen fiel kichernd in die Bar ein. Die meisten waren schlank und hochgeschossen, doch Gasperlmaier konnte auch zwei etwas fülligere entdecken. Ein paar der Mädchen waren schwarz. „Es wird da diese Castingshow gedreht“, erklärte Gasperlmaier. „Haben wir leider noch nicht gewusst, als wir den Termin für unsere Hochzeit angesetzt haben!“

„Sie heiraten? Das finde ich aber schön!“ Plötzlich lächelte die Aurelia. Es stand ihrem Gesicht ganz ausgezeichnet. „Nein, nein!“, beeilte sich Gasperlmaier. „Unsere Töchter! Also, unsere Tochter heiratet die Tochter der …“ Er deutete auf den Doktor Frisch, der ihn strafend anblickte und fast unmerklich den Kopf schüttelte. „Ja, unsere Töchter heiraten am Samstag! Und wir freuen uns schon darauf! Prost!“ Die Christine hatte die Situation gerade noch rechtzeitig entspannt, obwohl ihr „Prost!“ ein wenig trotzig geklungen hatte. Anscheinend, so dachte Gasperlmaier bei sich, musste man angesichts einer Hochzeit von zwei Frauen doch noch immer mit Überraschung bei jenen rechnen, denen man davon erzählte. Und manche, wie der Doktor Frisch, schienen davon sogar peinlich berührt. Hätte er doch besser den Mund gehalten. Der Herr Suter kicherte. „Seien Sie froh! Ich habe drei Töchter! Aus zwei Ehen! Was mir da schon alles an möglichen Schwiegersöhnen untergekommen ist, ich kann’s Ihnen gar nicht sagen!“ Sein Lachen entspannte die Situation endgültig. Sogar der Doktor Frisch erlaubte sich ein Nicken und ein verhaltenes Lächeln. Die Aurelia starrte düster vor sich hin.

Gasperlmaier warf einen Blick hinüber an die Bar, wo es sich die Mädchen, wild durcheinanderquasselnd, bequem gemacht hatten. Manche von ihnen, so nahm er jetzt wahr, als sie auf den Barhockern saßen, schienen hauptsächlich aus langen Beinen zu bestehen. „Na, was ist, willst du nicht ein paar Fotos schießen?“ Eines der Mädchen hatte einen Mann angesprochen, der Gasperlmaier zuvor noch gar nicht aufgefallen war. Er saß in einer Ecke der Bar, hatte ein fast leeres Bierglas vor sich stehen und sah ein wenig heruntergekommen aus, in seinem heraushängenden Hemd und einer unförmigen, viel zu weiten Hose. Hinter dem Bierglas, so stellte Gasperlmaier fest, lag eine große Kamera mit einem schweren Objektiv daran. Nun nickte der Mann, erhob sich und legte die Kamera vor sein rechtes Auge. Sofort hüpften einige der Mädchen von den Barhockern und begannen zu posieren, ziemlich affektiert, wie Gasperlmaier fand. Der Beat Suter und sogar der Doktor Frisch verfolgten das Schauspiel, wobei der Doktor Frisch wiederum fast unmerklich den Kopf schüttelte und, so kam es Gasperlmaier zumindest vor, kaum hörbar verächtlich zischte.

„Na, da steht dir ja noch einiges bevor!“, sagte die Christine und stieß Gasperlmaier in die Seite. Der seufzte. „Wieso das denn?“, fragte die Aurelia Suter. Gasperlmaier fiel auf, dass sie vor allem dem Fotografen missbilligende Blicke zuwarf. Wahrscheinlich, so dachte er bei sich, fand sie den nicht ordentlich genug gekleidet für die Bar eines so eleganten Hotels. „Na ja“, sagte die Christine schließlich, weil er sich zu keiner Antwort bequemte, „mein Mann hat im Rahmen dieser Veranstaltung noch ein paarmal Dienst, private Security genügt denen anscheinend nicht, die wollen auch von der Polizei beschützt werden!“ Sie lachte. Bis auf den Doktor Frisch stimmten alle ein.

„Wir müssen dann auch!“, erklärte Gasperlmaier mit einem Blick auf die Uhr. „Unsere Kinder haben für uns alle zu Hause gekocht!“, erklärte die Christine, während Gasperlmaier noch einen raschen Blick zu dem improvisierten Fotoshooting hinüberwarf. Der Fotograf kniete auf dem Boden, vor ihm wedelte ein Mädchen verführerisch mit ihrem Rocksaum, während eine andere, die sehr kurze Shorts trug, ihm ihre High Heels direkt vor die Linse hielt.

Als sie ausgetrunken hatten und aufbrachen, schaute Gasperlmaier noch einmal zu dem Fotografen. Er hatte sich wieder in seine Ecke der Bar verzogen, vor ihm stand ein frisch gefülltes Bierglas.

Der Heimweg verlief für Gasperlmaier etwas bedrückend. Vor ihm und dem Doktor Frisch gingen die beiden Frauen, offenbar in angeregte Unterhaltung vertieft. Sie schienen sich prächtig zu verstehen. Zwischen ihm und dem Doktor Frisch herrschte angespannte Stille. „Bin schon gespannt, was die Kinder gekocht haben!“, fiel Gasperlmaier schließlich doch noch etwas ein, was er zur Unterhaltung beitragen konnte. „Ich persönlich halte ja nichts von diesem Getue. Dass das Fleisch umweltschädlich sein soll und die Tiere gequält werden. Schließlich heißt es in der Genesis ‚Macht euch die Erde untertan‘. Da hat Gott wohl auch die ganzen Viecher gemeint!“ Der Doktor Frisch sagte das so, als hätte er lange darüber nachgedacht. Gasperlmaier wusste nichts zu erwidern und zuckte mit den Schultern. „Ich persönlich ess ja auch gerne ein Schnitzel!“, sagte er schließlich. Der Doktor Frisch nickte. „Sehen Sie! Sagen Sie, Herr Inspektor, wollen wir uns nicht ‚Du‘ sagen? Wenn wir doch jetzt de facto familiär verbunden sein werden?“ Gasperlmaier nickte, obwohl er die Ausdrucksweise des Doktor Frisch etwas umständlich fand. „Ich heiße Karl!“ Unerwartet blieb der Doktor Frisch stehen und streckte ihm die Hand hin. „Franz!“, sagte Gasperlmaier, der seinen Blick heben musste, um dem Karl ins Gesicht sehen zu können. Der hatte einen kräftigen, trockenen Händedruck. „Franz!“, wiederholte er. „Ein schöner Name mit langer Tradition. Welcher Franz denn? Franz Xaver? Franz von Sales?“ Gasperlmaier räusperte sich. Was wollte der wissen? Welcher Franz? Was sollte denn das heißen? „Wann feierst du denn deinen Namenstag?“, fragte der Karl. „Am 4. Oktober!“ Das wenigstens wusste Gasperlmaier, obwohl sein Namenstag schon lange nicht mehr wirklich gefeiert worden war. Der Karl aber nickte. „Franz von Assisi also! Wunderbar!“ „Genau!“, fügte Gasperlmaier hinzu, um irgendwas zu sagen.

Die Steffi und die Katharina umarmten die Frischs gleich an der Haustür, nachdem Gasperlmaier aufgesperrt hatte. Die Frau Frisch strich der Katharina sogar über das Haar und drückte sie fest. Der Karl beließ es bei zwei flüchtigen Wangenküssen und blieb ein wenig steif. Bis alle einander vorgestellt waren und sich zu Tisch gesetzt hatten, dauerte es eine Weile. Im Wohnzimmer war es recht eng geworden, sie hatten einen Tisch dazustellen müssen, um alle unterzubringen. Es roch, so fand Gasperlmaier, nach Käse. „Ich hab als ersten Gang eine Karotten-Ingwer-Suppe gemacht!“ Der Christoph tauchte mit einem großen Topf und einem Schöpflöffel aus der Küche auf. „Dein Sohn kocht?“, fragte der Karl verwundert, den man neben Gasperlmaier platziert hatte. „Du etwa auch?“ „Ich …“, setzte Gasperlmaier an, als ihn die Christine unterbrach: „Er grillt. Der Franz grillt im Sommer immer unsere Koteletts. Heute war es dazu ja …“ Sie deutete auf die Terrassentür, hinter der nichts als regenverhangene Berge zu sehen waren.

Jede weitere Debatte wurde von Theo verhindert, der lautstark gegen die Suppe protestierte und alle, sogar den Karl, zum Schmunzeln brachte. „Wir beginnen zu Hause normalerweise mit einem Tischgebet“, erklärte der Karl, als die Katharina den Gemüsestrudel servierte. „Papa!“ Der Ausruf der Stefanie klang vorwurfsvoll. „Du kannst es ja eh halten, wie du willst, aber geh bitte den anderen nicht mit deiner, mit deinen … Gewohnheiten auf die Nerven!“ „So?“ Der Karl warf das Besteck hin. „Unser Herrgott und ich gehen dir also auf die Nerven!“ Er warf einen Blick zur Decke und deutete mit einem Finger eben dorthin. „Und was ist mit meinen Nerven? Denkt an die jemand?“ Der Karl tupfte sich den Mund mit der Serviette, alle am Tisch starrten ihn erschrocken an, sogar der Theo hielt für einen Moment seinen orange verschmierten Mund. Der Großteil der Suppe, die ihm die Richelle einzuflößen versucht hatte, war an den Backen kleben geblieben.

„Ich versteh Sie ja!“, versuchte die Christine zu beruhigen. „Und bevor wir jetzt den Strudel anschneiden, können wir doch ein kurzes Gebet einschieben – wer nicht will, muss ja nicht mitmachen.“ Die Christine faltete die Hände. „Gut zusammen leben, nehmen, teilen, geben. Wenn jeder etwas hat, werden alle satt“, sagte sie mit geschlossenen Augen vor sich hin. „Passt!“, sagte der Christoph und nahm das Messer an sich, um den Strudel aufzuschneiden. Die Spannung war von allen abgefallen, es kam wieder ein Gespräch in Gang. Die Christine, das musste Gasperlmaier neidlos anerkennen, hatte ein unschlagbares Talent, wenn es darum ging, Situationen nicht eskalieren zu lassen. Wahrscheinlich brauchte man das als Schuldirektorin. „Noch ein bisschen Weißwein?“, fragte Gasperlmaier. Der Karl nickte. „Gerne!“ Die Flasche war bereits fast leer. Hatte man dem Karl schon mehrmals nachgeschenkt? Gasperlmaier sah um sich. Niemand sonst trank Weißwein, außer der Christine, aber die hatte ihren Gespritzten noch kaum angerührt. Wenn er weiter so trank, so sagte Gasperlmaier sich, dann würde sich der Karl sicherlich bald entspannen. Wenigstens war er nicht auch noch Abstinenzler.

Zu den Kasspatzen, die die Katharina beigesteuert hatte, nahm sich Gasperlmaier noch ein zweites Bier. „Gut habt ihr gekocht!“, sagte er schließlich, nachdem er mühsam einen Rülpser unterdrückt hatte. „Und das Fleisch ist mir gar nicht abgegangen!“ „Siehst du, Papa! Es gibt einen Haufen tolle Rezepte ohne Fleisch. Wenn du zum Beispiel anfangen würdest, unter der Woche überhaupt kein Fleisch mehr zu essen, sondern nur am Wochenende …“ Die Christine hob einen Zeigefinger und unterbrach die Katharina. „Keine Missionierungen zu Hause! Haben wir ausgemacht!“ Die Kathi lächelte. „Bin ja schon still!“ Gasperlmaier begann, die leeren Teller abzuräumen, damit man ihm nachher nicht vorwerfen konnte, sich überhaupt nicht an der ganzen angefallenen Arbeit beteiligt zu haben. „Nein, nein, Klara!“ Die Christine drückte die Frau Frisch wieder auf ihren Sessel zurück, als sie Anstalten machte, die Salatschüsseln einzusammeln. „Das machen wir schon. Ihr seid heute unsere Gäste!“ „Hoffentlich bald einmal auch bei uns!“, sagte die Frau Frisch. Gasperlmaier stellte fest, dass die Frauen offenbar auch schon per du waren, gleichzeitig graute ihm vor der Vorstellung, nach St. Pölten reisen zu müssen.

Der Rest des Abends verlief ohne weitere Zwischenfälle, obwohl die Stefanie ihrem Vater immer wieder misstrauische Blicke zuwarf, so, als ob sie Angst hätte, dass ihm jeden Moment etwas einfallen könnte, das einen Streit auslöste. Die Richelle und der Christoph hatten sich schon zurückgezogen, um den Theo ins Bett zu bringen, als auch der Karl von seinem Sessel aufstand. Ein wenig unsicher, wie Gasperlmaier fand. Er musste sich sogar auf der Tischplatte abstützen. „Wir werden euch jetzt von unserer Gegenwart befreien!“, meinte er etwas unsicher. „Aber geh!“, lachte die Christine. „Von Befreien kann gar keine Rede sein! Es war doch ein netter Abend!“ Die Klara war sofort aufgesprungen, als ihr Gatte sich erhoben hatte. Viel hatte sie nicht gesagt, den ganzen Abend, fand Gasperlmaier. Aber, ebenso wie die Stefanie, immer wieder ängstlich zu ihrem Karl hinübergeblickt. Und gegessen hatte sie auch nicht viel. Einen koffeinfreien Kaffee hätte sie gerne gehabt, so etwas war aber im Hause Gasperlmaier nicht vorrätig gewesen.

„Es ist ohnehin Zeit, dass wir gehen. Wir wollen schließlich das schöne Hotel auch ein wenig genießen!“, sagte sie. „Gehst heute noch in den See schwimmen?“, versuchte Gasperlmaier es, an den Karl gewandt, mit einem Scherz. Der aber nahm seine Frage ernst. „Wenn es nicht schon finster wäre, würde mich nichts daran hindern!“ Er hatte Schwierigkeiten, in den zweiten Ärmel seines Sakkos hineinzufinden, doch bevor die Klara herbeispringen konnte, war ihm Gasperlmaier behilflich. „Wir begleiten euch noch!“, sagte die Christine mit einem warnenden Blick in Gasperlmaiers Richtung. Damit er nicht widersprach. Zwar hatte er keine rechte Lust, noch einmal zum Hotel Seeblick hinunterzupilgern, aber schaden konnte es natürlich auch nicht, nach dem üppigen Essen noch einen kleinen Verdauungsspaziergang zu unternehmen.

Der Karl war schon etwas wackelig auf den Beinen, und seine Frau warf ihm besorgte Blicke zu. Aber an der frischen Luft, so dachte Gasperlmaier bei sich, erholte man sich ja schnell wieder. Der Maiabend war recht frisch geworden, ihn fröstelte ein wenig. Dafür hatte der Regen aufgehört. Im Westen konnte man noch einen kleinen Fleck dunkelblauen Himmels erkennen, das letzte Tageslicht war gerade erst verblasst. Um diese Jahreszeit wurde es erst sehr spät finster. „Na ja!“, sagte der Karl, der wieder neben Gasperlmaier einherging. „So hat man eben seine Sorgen mit den Kindern. Wer hätte gedacht, dass …“ Er schwieg, doch Gasperlmaier konnte sich denken, was er hatte sagen wollen. „Es ist ja nicht wegen mir!“, fuhr der Karl fort. „Ich hab mich schon damit abgefunden. Aber wegen der Leute. Ich bin im Kirchenchor und im Pfarrgemeinderat. Wenn ich allein daran denke, wie mich der Herr Pfarrer angeschaut hat, als ich es ihm gestehen musste …“ Gasperlmaier nickte. Das verstand er. „Mir ist es ja nicht viel anders gegangen. Ich habe natürlich auch an die Kameraden bei der Feuerwehr gedacht. Und die Nachbarn, und alle. Ich hab gedacht, die werden sich monatelang das Maul zerreißen. Und uns womöglich die Freundschaft kündigen. Aber dann ist es ganz anders gekommen. Die meisten haben gar nichts gesagt und so getan, als wäre alles wie sonst. Und manche haben uns ganz aufrichtig gratuliert, und schließlich sind alle zur Tagesordnung übergegangen, weil die Sensation doch nicht groß genug war, dass man lange hätte darüber tratschen können.“ Eine so lange Rede hatte Gasperlmaier schon ewig nicht mehr gehalten. Sie hatte auch geraume Zeit gedauert, denn er hatte ausgiebige Pausen eingeschoben, in denen der Karl nur genickt und geseufzt, aber nichts gesagt hatte. Inzwischen waren sie bei der Gradieranlage angekommen. Gasperlmaier hielt es für eine gute Idee, noch ein paar Runden durch die Anlage zu drehen, in der Salzwasser über Tannenzweige tropfte. Das konnte dem Karl nur helfen, schneller wieder nüchtern zu werden.

„So etwas habe ich noch nie gesehen!“, staunte die Klara, als sie schließlich auf einer der Bänke Platz nahmen. Draußen war es inzwischen völlig finster geworden, drinnen erhellte schummerige Beleuchtung den Raum nur notdürftig, sodass man eben sehen konnte, wohin man trat. Gasperlmaier erinnerte sich mit Schaudern an die Köpfe zweier Mordopfer, die vor Jahren einmal hier aufgehängt worden waren. Das Bild hatte ihn wochenlang bis in seine Träume verfolgt. Dennoch fand er die Atmosphäre heute so romantisch, dass er den Arm um die Schultern der Christine legte. „Ich habe mich ja schon gefragt …“, unterbrach die Klara das Schweigen. „Ich meine, ich möchte nicht …“ Die Christine richtete sich auf, und Gasperlmaier zog seinen Arm zurück. Die Klara räusperte sich. „Die Stefanie ist unser einziges Kind, und wir hatten uns doch schon so … ich meine, Sie haben … ihr habt doch schon einen Enkel, und …“ Wieder brachte sie ihren Satz nicht zu Ende. „Du meinst, ob die beiden Kinder haben werden?“, fragte die Christine. Die Klara nickte. „Die Katharina hat jedenfalls angedeutet, dass man als lesbisches Paar nicht unbedingt auf Kinder zu verzichten braucht“, sagte die Christine. Gasperlmaier lenkte seine Blicke auf die von den Tannenzweigen perlenden Wassertropfen, ihm war das Thema unangenehm.

Der Karl streckte einen Finger in die Höhe. „Man sollte“, dozierte er, „das Unnatürliche nicht auf die Spitze treiben. Wenn man denn Kinder haben will, als Frau, dann finde ich auch, dass man sich einem Mann hingeben sollte!“ „Vielleicht ist es gescheiter, wir gehen jetzt ins Bett!“, versuchte die Klara, die Situation zu retten. Sie stand auf. Die Christine folgte ihr, aber nicht, ohne etwas zu erwidern. „Ich hab zunächst auch gedacht, dass es unrealistisch ist, sich als lesbisches Paar ein Kind zu wünschen“, sagte sie. „Aber dann … wenn es eine Möglichkeit dafür gibt … die beiden wären gewiss gute Mütter. Da bin ich mir zu hundert Prozent sicher.“ Bei dem Wort „lesbisch“ hatte der Karl merklich gezuckt. Die Christine hakte sich bei Gasperlmaier unter und zog ihn in Richtung Hotel, wohl auch, um einer weiteren Debatte über dieses Thema vorzubeugen. Hinter sich hörte Gasperlmaier die Klara zischen. Sie ließ sich wohl doch nicht so ohne weiteres alles von ihrem Mann vorschreiben, wie das die Stefanie empfand.

Vor dem Eingang des Hotels hielten sie inne. „Ob die Bar wohl noch offen hat?“, überlegte der Karl. „Dann könnten wir zum Abschluss des gelungenen Abends vielleicht noch ein kleines Bier …?“ Er grinste ein wenig schief. Gasperlmaier nickte, während die Christine und die Klara nahezu synchron ihre Köpfe schüttelten. „Also ich gehe jetzt ins Bett!“, erklärte die Klara bestimmt und holte ihre Schlüsselkarte aus der Handtasche. „Auf mich musst du auch verzichten, wenn es denn noch ein Bier sein muss. Ich hab morgen schließlich Schule. Und ich glaub, du musst auch in den Dienst!“ Die Christine streifte Gasperlmaier mit einem warnenden Blick. „Nur eines noch, ein kleines, liebe Christine!“, plädierte der Karl. „Dann schick ich dir deinen Mann umgehend nach Hause! Versprochen!“ Die Christine seufzte und verabschiedete sich von Gasperlmaier mit einer resignierten Handbewegung. „Na denn, gute Nacht! Und mach keinen Lärm, wenn du nach Hause kommst!“

Ehe es sich Gasperlmaier versah, war er hinter dem Karl in die Bar getreten. Dort ging es, wenn man die Uhrzeit bedachte, recht laut zu. Eine Gruppe von Mädchen belagerte eine Ecke des Raums, der über eine breite Fensterfront zum See hin verfügte. Manche saßen auf den Stühlen, andere auch auf Stuhl- und Sofalehnen, wieder andere sogar auf dem Boden. Gasperlmaier war von den vielen langen Beinen, die zur Schau gestellt wurden, regelrecht irritiert und wandte sich der Bar zu.

„Was darf’s denn sein?“, fragte der Barkeeper, der stilecht in Lederhose, weißem Hemd und Gilet auf sie zutrat. Nachdem der Karl die zwei Bier bestellt hatte, machte sich der Barkeeper ans Zapfen. Er sah, so fand Gasperlmaier, durchaus so aus, als könne er die Mädchen in der Ecke schwer beeindrucken. Immer wieder wanderten seine Blicke auch zu dem lärmenden Haufen hinüber. „Tut mir leid, dass es heute so laut ist. Normalerweise haben wir ja etwas reiferes Publikum. Da geht es ruhiger zu, wenn überhaupt noch jemand auftaucht, um diese Zeit!“ Gerade, als Gasperlmaier seinen ersten Schluck nahm, wurde in der Ecke der Mädchen Musik laut, sie klang etwas blechern, als käme sie von einem sehr kleinen Lautsprecher, der zu laut aufgedreht worden war. Wahrscheinlich, so mutmaßte er, kam sie aus einem Handy. Zwei der Mädchen, eine der etwas Fülligeren und eine Schwarze, standen auf und begannen, zur Musik zu tanzen. „Am Ende ziehen sich die hier noch aus!“, mokierte sich der Karl. Die Mädchen vollführten zwar Bewegungen, die Gasperlmaier an Stripperinnen erinnerten, sie behielten jedoch ihre Kleider an. Die eine, die einen Rock trug, warf ihn aber immer wieder weit hoch. Fast ein bisschen entrückt, als würden sie ihre Umgebung gar nicht mehr richtig wahrnehmen, so wirkten die beiden. Gasperlmaier wandte sich ab. Er wollte sich schließlich nicht vorwerfen lassen, die Mädchen zu belästigen, und sei es auch nur mit Blicken. Einige begannen in seinem Rücken zu singen. „Sieht so aus“, sagte der Barkeeper, der über ihn hinweg zu der Gruppe blickte, „als hätten die was eingeworfen!“ Er grinste. „Wie, eingeworfen?“, fragte Gasperlmaier. „Na, wahrscheinlich E halt, kennt man ja!“ Die Stimme war aus dem Dunkel gekommen, Gasperlmaier blinzelte, um erkennen zu können, wer dahinten in der Ecke der Bar saß. „Glauben Sie, so führt man sich auf, wenn man nüchtern ist?“ „Das ist ja erschütternd!“, mischte sich der Karl kopfschüttelnd ein. „Dass man in diesem Hotel mit Drogensüchtigen zu tun hat!“ Gasperlmaier erkannte den Mann, der nun ins Licht zu ihnen trat. Es war der Fotograf, der heute schon am frühen Abend in der Bar Bier getrunken hatte. „Was heißt drogensüchtig!“ Der Fotograf deutete auf das Bier, das vor ihnen stand. „Die Jugend trinkt nicht so viel, dafür besorgen sie sich andere Rauschmittel. Ich sehe das nicht so eng!“ Der Barkeeper schüttelte den Kopf, warf sich ein Geschirrtuch über die Schulter und verschwand im Hintergrund.

„Jetzt machen Sie keine Fotos mehr?“, fragte Gasperlmaier. Der Mann lächelte. „Jetzt bin ich außer Dienst. Und ich glaube, die Mrs. McDonald hätte auch keine große Freude damit, wenn ich solche Fotos an die Öffentlichkeit bringen würde.“ Er deutete mit dem Kinn nach den Mädchen. Gasperlmaier riskierte einen kurzen Blick. Tatsächlich war mehr Haut zu sehen als zuvor, und es waren nun vier, die tanzten. „McDonald?“, fragte der Karl. „Wer soll denn das sein, bitte?“ Der Fotograf seufzte und schob dem Karl eine Visitenkarte hin, die er aus der hinteren Hosentasche gezogen hatte. „Bringst mir noch ein Weißbier?“, rief er in den dunklen Hintergrund der Bar. „Und drei Enzian, wenn’s geht!“ „Wieso …?“, begann Gasperlmaier etwas irritiert. „Ihr trinkt doch einen mit mir, oder?“ Der Karl nickte. „Wenn’s sein muss!“, gab sich Gasperlmaier geschlagen. „Also!“, sagte der Fotograf. „Ich sehe, ihr beiden habt keine Ahnung von der ganzen Veranstaltung. Richtig?“ Erst jetzt fiel Gasperlmaier auf, dass er Deutscher war, sein Tonfall verwies, soweit Gasperlmaier das beurteilen konnte, weit in den Norden. „Holger Hasselfeld. Ich bin Set-Fotograf. Hier wird gerade eine Folge unserer Show gedreht, ‚Top Model of the Year‘. Ihr kennt das sicher, läuft auf unserem Sender.“ Er deutete auf eine Zeile auf seiner Visitenkarte, die immer noch auf dem Tresen lag. „FiveLive“ stand da. Gasperlmaier erinnerte sich vage, dass das ein Fernsehsender sein konnte, den seine Kinder früher gelegentlich geschaut hatten. Der Karl schüttelte den Kopf, leerte sein Bier und bestellte ein weiteres, als der Kellner das Weißbier für den Fotografen und die drei Enzian brachte. „Wofür braucht man da einen Fotografen?“, fragte der Karl, schon mit etwas unsicherer Stimme. Hoffentlich, so dachte Gasperlmaier bei sich, würde man nicht ihm die Schuld dafür geben, wenn der Karl spätnachts betrunken in sein Zimmer zurückkehrte und die Klara weckte. „Prost!“ Der Fotograf hob sein Stamperl und stürzte es hinunter, ehe Gasperlmaier noch Zeit gehabt hatte, daran zu riechen. Er wusste zwar, dass es im Ennstal unten Enzianbrenner gab, aber eine Vorliebe für das bittere Destillat hatte er nicht. Dennoch folgte er dem Fotografen und dem Karl. Der Schnaps schmeckte tatsächlich bitter und brannte in der Kehle. Gasperlmaier unterdrückte einen Hustenreiz.

„Ich mache Fotos, neuerdings hauptsächlich für sogenannte soziale Medien“, erklärte der Hasselfeld. „Natürlich aber auch für Printmedien. Die sind ja noch nicht ganz tot.“ Gasperlmaier verstand. „Ihr vermarktet die Sendung also auch über Facebook und so.“ Der Hasselfeld lächelte milde. „Facebook, das ist eher was für eure Generation. Wir sind mehr bei Instagram und TikTok. Ich natürlich eher auf Insta, ich mache keine verwackelten Kurzvideos. Bin schließlich Profi.“ Gasperlmaier erinnerte sich an den Namen, den der Fotograf zuerst fallenlassen hatte. „Und wer ist diese McDonald?“ „Das ist unsere Chefin, sie moderiert und produziert die Sendung. Ihr werdet sie leicht erkennen, wenn ihr sie trefft, an ihren künstlichen Hupen!“ Er lachte etwas schmutzig und hielt die zu Halbkugeln geformten Hände vor die Brust, um das hervorstechendste Merkmal der Frau McDonald anzudeuten. Gasperlmaier nahm seinen letzten Schluck Bier und nahm sich fest vor, jetzt sofort Pfüat Gott zu sagen und nach Hause zu gehen. Doch der Hasselfeld legte ihm eine Hand auf den Unterarm und sprach gleich weiter. „Den Namen hat sie von ihrem Mann, der ist Schotte und hat bei ManU gespielt. Sie sind zwar verheiratet, aber ich glaube nicht, dass da noch viel läuft. Wäre eine wunderbare Sache, sie einmal mit einem anderen zu erwischen! Solche Fotos könnte ich fünfstellig verkaufen! Fünfstellig!“

„Und warum?“, fragte der Karl, der etwas schwankte und sich am Tresen festhalten musste. Der Hasselfeld schüttelte den Kopf. „Sie war ein internationales Topmodel! Und mit 37 schon in Model-Pension! Eigentlich unglaublich – aber so ist die Branche.“ Er zuckte mit den Schultern und nahm einen weiteren Schluck aus seinem Glas. Plötzlich tauchte eines der Mädchen zwischen Hasselfeld und Gasperlmaier auf, umweht von einer intensiven Duftwolke. „Hassi, machst du ein paar Fotos? Wir sind alle gerade so gut drauf!“ Sie kraulte den Fotografen unter dem Kinn und zog einen Schmollmund. Gasperlmaier war sie schon aufgefallen, als sie die Frischs abgeholt hatten. Es war die mit den extrem kurzen Shorts, die dem Hasselfeld die High Heels direkt vor die Linse gehalten hatte. Jetzt wandte sie Gasperlmaier ihren Rücken zu, und er konnte nicht umhin, festzustellen, dass die Shorts wirklich sehr kurz waren.

„Wenn ich der Chefin erzähle“, sagte Hasselfeld, „was ihr da treibt, dann könnt ihr morgen alle heimfahren. Es ist schon längst Zapfenstreich!“ „Ach Hassi! Was bist du doch für eine Spaßbremse!“ Das Mädchen zerzauste dem Fotografen die etwas schütteren Haare über dessen Stirn und kehrte mit klackenden Absätzen zu ihren Mitkonkurrentinnen zurück. „Die Suzie, ich meine, die Mrs. McDonald“, erklärte er, „die führt nämlich ein strenges Regiment. Sie selber ist ja nicht hier einquartiert, sie wohnt da drüben!“ Er zeigte vage in Richtung des Sees hinaus, wo es sicher kein weiteres Hotel mehr gab. „In diesem Diät-Hotel. Wo du Unsummen dafür hinlegst, dass sie dir praktisch nichts zu essen geben. Sagt man zumindest!“ Der Fotograf hatte sein frisches Weißbier bereits zur Hälfte geleert und sprach mittlerweile auch mit deutlichem Zungenschlag. Es war wirklich höchste Zeit, nach Hause zurückzukehren. „Ich muss jetzt!“ Er erhob sich von seinem Barhocker. „Schon?“, fragte der Karl, mit einem, wie Gasperlmaier fand, etwas lüsternen Blick hinüber zu den Mädchen. Gasperlmaier nickte. „Dienst! Du kannst ja ausschlafen!“ „Mitnichten!“, konterte der Karl. „Um sieben gehe ich im See schwimmen!“ Gasperlmaier nickte, dachte sich seinen Teil und verließ die Bar. Hoffentlich ging das mit dem Karl gut. Er war jedenfalls nicht schuld, wenn es zum Totalabsturz kam. Auf jeden Fall, so dachte Gasperlmaier bei sich, wirkte er deutlich lockerer, wenn er zu viel getrunken hatte.

Draußen im Foyer saßen zwei Mädchen auf einem Sofa und hielten einander umarmt. Die eine, eine Dunkelhaarige, schluchzte lauthals und hatte ihr Gesicht hinter einem Taschentuch verborgen. Getröstet wurde sie von einem kahlköpfigen Mädchen mit ausgesprochen vollen, grell geschminkten Lippen. Gasperlmaier stutzte kurz und überlegte, ob er Hilfe anbieten sollte. Dann erinnerte er sich daran, dass er im Umgang mit weinenden Frauen nicht der Geschickteste war, und trat durch die Eingangstür ins Freie. Auf dem Heimweg dachte er darüber nach, warum sich ein junges Mädchen eine Glatze scheren ließ und ob ihm die Lippen nur der fehlenden Haare wegen so überaus voll erschienen waren.

Vorsichtig schlich Gasperlmaier zu Hause die Treppe hinauf, die natürlich, wie üblich, knarrte. Nicht einmal die Katzen schafften es die Stufen hinauf oder herunter, ohne dieses lästige Knarren auszulösen. Nachdem er im Bad seine Verrichtungen erledigt hatte, tappte er ins dunkle Schlafzimmer und stieß prompt mit dem Schienbein gegen das Bett, worauf ihm ein erstickter Schmerzensschrei entfuhr. Sogleich leuchtete die Nachttischlampe der Christine auf. „Hat aber lang gedauert, das Seidel!“ Ihr Ton schien Gasperlmaier ein wenig vorwurfsvoll. Er sah auf die Uhr. Es war noch nicht einmal Mitternacht. Kein Grund also für Vorwürfe. Gasperlmaier zog sich aus und legte seine Kleider sorgfältig über eine Sessellehne, damit er sie morgen noch einmal tragen konnte. „Kannst schon wieder abschalten“, erklärte er der Christine, als er sich unter der Bettdecke zusammenrollte. „Was hat er dir denn noch erzählt, der Karl?“ Die Christine, so schien es ihm, wollte lieber diskutieren als schlafen. „Er selber gar nicht so viel. Eher der Fotograf, der vorher schon dort gesessen ist. Und die Mädels haben Krach gemacht. Der Fotograf hat gemeint, dass die was eingeworfen haben.“

Die Nachttischlampe leuchtete erneut auf. „Und da legst du dich einfach so ins Bett? Solltest du dem nicht nachgehen, wenn im Hotel Drogen konsumiert werden? Außerdem stinkst du nach Schnaps. Was war denn da noch los?“ Gasperlmaier seufzte. „Es gibt ja gar keinen Beweis, sie haben’s nicht in der Hotelbar getan. Es war nur eine Vermutung, weil sie so laut waren. Und so überdreht. Außerdem hat uns der Fotograf erzählt, dass die Chefin von denen, die McDonald, dass die eh recht scharf ist, wegen Disziplin und so. Und er hat uns einen Enzian ausgegeben, wäre doch unhöflich gewesen …“ Die Nachttischlampe ging wieder aus. „Dass du da aber schon genau aufpasst!“, warnte ihn die Christine noch. „Wenn du Dienst hast, bei diesem TOMOTY!“ Gasperlmaier gähnte. „TOMOTY? Was ist denn TOMOTY?“ „Top Model of the Year“, erklärte die Christine noch. „Und Enzian trinkst du doch sonst nicht. Und jetzt schlaf!“

Das, so dachte Gasperlmaier bei sich, hätte er gern schon früher getan.

2

Gasperlmaier wurde von schrillem Läuten aus dem Schlaf geschreckt. Was war es denn, das da klingelte? Hatte er geträumt, oder …

Die Christine stieß ihn unsanft in die Rippen. „Geh du mal runter, Gasperlmaier, es ist erst sechs. Wer läutet uns denn da schon so früh aus den Federn? Das ist ja eine Unverschämtheit!“ Gasperlmaier wankte aus dem Bett und öffnete die Schlafzimmertür. Die Stefanie stand schon in der Tür gegenüber, im Nachthemd. „Was ist denn los?“ Sie rieb sich die Augen. „Eh nichts, wahrscheinlich!“, krächzte Gasperlmaier und polterte schlaftrunken die Stiege hinunter. Schon wieder schnarrte die Klingel und wollte gar nicht mehr damit aufhören.

Vor der Tür, das konnte er auch durch das Milchglas erkennen, stand ein Feuerwehrmann. Ein Schreck durchzuckte ihn. Brannte es etwa bei ihnen? Womöglich im Dachstuhl? Er riss die Tür auf. „Servus, Gasperlmaier!“ Der Brandmayr Oskar stand vor der Tür, einer von den Gruppenkommandanten der Altausseer Feuerwehr. Er lächelte. „Einen feschen Pyjama hast da. Aber zieh dich lieber an, bevor du mitkommst. Wir haben nämlich was, das du dir anschauen solltest.“ „Brennt’s irgendwo?“, fragte Gasperlmaier und sah an sich hinunter. Der Pyjama war fast nagelneu, er wusste gar nicht, was es da zu grinsen gab. Der Oskar schüttelte den Kopf. „Brennen tut’s nicht. Aber wir haben wieder einmal eine Wasserleiche. Und die solltest du sehen, bevor wir sie herausholen. Denk ich mir zumindest.“

Gasperlmaier nickte. Es war nicht das erste Mal, dass ihn die Feuerwehr benachrichtigte, wenn jemand im See ertrunken war. Manche Leute dachten eben, es sei die Aufgabe der Feuerwehr, sich um im Wasser treibende Leichen zu kümmern, und riefen erst gar nicht bei der Polizei an. „Gleich!“, beschied er dem Oskar und ließ die Tür offenstehen, weil er sie ihm nicht einfach vor der Nase zuschlagen wollte, andererseits aber konnte er ihn auch nicht zu so nachtschlafender Zeit ins Haus bitten, wenn die Frauen womöglich alle noch im Nachtgewand herumhuschten.

„Was ist denn los?“ Die Christine kam ihm schon im Stiegenhaus entgegen. „Nix!“, winkte er ab. „Brauchst nicht alle aufwecken. Nur eine Wasserleiche!“ „Oh Gott!“ Die Christine schlug die Hand vor den Mund, gleichzeitig kam die Stefanie aus ihrem Zimmer, schon in Jeans und Pullover, aber mit völlig verwuschelten Haaren. „Gibt’s was zu tun für eine Journalistin?“, fragte sie im Flüsterton. Gasperlmaier schüttelte den Kopf. „Ich muss jetzt aber auch weg. Der Oskar, der wartet vor der Tür. Den kann ich nicht so lang stehen lassen.“

„So!“, sagte er, als er die Haustür hinter sich zufallen ließ. Der Oskar grinste. „Haben s’ alles gleich wissen wollen, die Weiberleut?“ „Nein, nein, passt schon!“, antwortete Gasperlmaier. „Fahren wir!“, sagte der Oskar und zeigte auf den Kombi, mit dem er gekommen war. Eigentlich war der das Kommandantenfahrzeug, aber das war wohl in diesem Fall egal.

„Eine blöde Geschichte!“, sagte der Oskar, während er wendete. „Ausgerechnet auf dem Seeparksteg, wo sie heute für diese Fernsehshow drehen wollen!“ „Auf dem Steg?“, fragte Gasperlmaier überrascht. „Habt’s ihr die Leiche am Ende schon herausgeholt?“ Der Oskar schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Der ist noch im Wasser, wo er hingehört, bis du ihn gesehen hast. Wir sind auf dem Steg. Und die Leute von der Fernsehshow. Der, der ihn gefunden hat, hat gleich alle zusammengetrommelt, noch bevor wir gekommen sind. Die machen einen Riesenaufstand. Stell dich gleich darauf ein!“ Gasperlmaier seufzte und holte sein Handy aus der Brusttasche. „Da ruf ich am besten gleich die Manuela an. Damit wir wenigstens zu zweit sind!“ „Bin fast schon dort!“, rief die in den Hörer, nachdem ihr Gasperlmaier die Situation erklärt hatte.

Als sie am Seepark ankamen, war das Areal trotz der frühen Stunde keineswegs menschenleer. Einige wenige Schaulustige hingen an den Absperrungen, die die Feuerwehr bereits errichtet hatte, sodass niemand Unbefugter auf den Steg gelangen konnte. Wo die um diese Zeit herkamen, war Gasperlmaier schleierhaft. Wer so früh aufstand, tat das doch meistens, weil er unbedingt zu seiner Arbeit musste.

Der Steg sah nicht so aus wie sonst, denn an seinem Ende war ein Metallgerüst direkt im See aufgestellt worden, das zwei Plattformen für Kameras trug, eine auf dem Niveau des Steges und eine weitere sicher drei, vier Meter hoch über dem See. Das ganze Ungetüm sah grauenhaft aus, und es verschandelte den Blick über den See zu den Bootshäusern am anderen Ufer. Ein paar Nebelschwaden zogen noch über das still und spiegelglatt daliegende Wasser. Gasperlmaier fröstelte. Er zog den Reißverschluss seiner Einsatzjacke bis ganz oben zu. „Bin schon da!“ Atemlos legte ihm die Manuela, seine Kollegin vom Polizeiposten Altaussee, ihre Hand auf die Schulter. „Wo ist denn die Leiche?“ Der Oskar, der Gasperlmaier auf den Steg hinausbegleitet hatte, zeigte auf eine Stelle im seichten Wasser gegen Ende des Stegs, nahe dem Platz, wo sich die neuerrichteten Aufbauten befanden. „Dort liegt er. Auf dem Grund.“

Eine stark geschminkte Blondine stöckelte auf Gasperlmaier zu. „Oh my God, oh my God!“, jammerte sie und presste die Handflächen gegen die Schläfen. Sie trug knallenge Jeans, rosarote Stöckelschuhe an den nackten Füßen und eine ebenso rosarote Steppjacke. Gasperlmaier gingen mehrere Fragen durch den Kopf. Erstens, ob man mit diesen Schuhen nicht furchtbar fror, hier in der morgendlichen Kühle, und zweitens, wie es kam, dass die Frau kurz nach sechs Uhr morgens so üppig geschminkt hierher auf den Steg gefunden hatte. Das Herstellen einer solch aufwendigen Bemalung, so mutmaßte er, dauerte doch gewiss eine Zeitlang.

„Oh my God, oh my God!“, jammerte sie wieder und kam knapp vor Gasperlmaier zu stehen. Ein paar Tränen glitzerten in ihren Augenwinkeln. Hoffentlich konnte die überhaupt Deutsch. „Sie müssen diesen Mann sofort herausholen lassen, Herr Kommissar!“ Sie griff nach Gasperlmaiers Unterarm und hielt ihn fest, obwohl der zurückzuckte, bevor er sich seinem Schicksal ergab. Jetzt war wenigstens klar, dass sie Deutsch sprach. Wahrscheinlich eine Deutsche, mutmaßte Gasperlmaier. Die Frau hatte lange, künstliche Wimpern und sehr volle Lippen. Sie schüttelte Gasperlmaiers Arm. „Der Tote muss hier weg, wir müssen drehen! Die Girls können auch diesen Stress nicht brauchen, die flippen mir aus!“ Erst jetzt gelang es Gasperlmaier, sich loszureißen. „Gleich“, nickte er. „Wir schauen ihn uns einmal an.“ „Würden Sie uns verraten, wie Sie heißen? Und was Sie hier machen?“ Die Manuela war neben Gasperlmaier getreten und hatte die Fragen gestellt, die eigentlich er hätte stellen müssen. Allerdings, dank der Erzählungen des Fotografen von gestern Abend konnte er sich denken, um wen es sich handelte. Er erinnerte sich, dass der respektlos von „künstlichen Hupen“ gesprochen hatte, und ganz unwillkürlich wanderte sein Blick über die Brüste der Frau McDonald. Klein waren sie nicht.

Die Frau hob das Kinn und strich sich die Haare hinter das rechte Ohr zurück. „Ich bin die Chefin von dem Ganzen da, Frau Polizistin!“ Sie deutete in einer schwungvollen Geste mit ausgestrecktem Arm über den See, sodass man fast meinen konnte, sie meine ganz Altaussee. „McDonald. Suzie. Würde mich schon ein wenig wundern, wenn Sie noch nie von mir gehört haben. Aber kann ja sein, dass ihr hier ein wenig verschlafen …“ „Chefin von was?“, unterbrach Gasperlmaier, nun doch etwas ungehalten. „Na, wir drehen hier eine Fernsehshow. TOMOTY. Das heißt …“ „Top Model of the Year“, unterbrach Gasperlmaier. „Sie müssen nicht glauben, dass wir hier auf der Nudelsuppe dahergeschwommen sind, liebe Frau!“ Die Frau McDonald schnappte noch nach Luft, als Gasperlmaier an ihr vorbeistapfte und der Manuela deutete, ihm zu folgen. „Halt!“, schrie ihnen die nach. Ihre Stöckelschuhe klapperten, als sie ihnen folgte. „Und wie lange dauert das Ganze da? Wir haben eine schedule, very tight!“ Jetzt, wo er wusste, dass die Frau ohnehin Deutsch sprach, ging ihm das englische Getue auf die Nerven. „Jetzt geht einmal gar nichts!“ Gasperlmaier deutete mit einer heftigen Geste beider Arme eine Schranke vor seiner Brust an. „Fragen S’ mich in einer Stunde wieder!“ Er drehte sich um und ließ die Frau McDonald stehen, die laut zischte. „Bloody Cops!“ oder so etwas Ähnliches meinte Gasperlmaier noch gemurmelt zu hören.

Der Oskar stand mit einem jungen Mann in einem schlabbrigen grauen Anzug am Rand des Stegs und hatte offenbar die Unterhaltung zwischen Gasperlmaier und der Suzie McDonald mitverfolgt. Er grinste. „Eine hantige, wie?“, flüsterte er ihm zu. „Schaut mir auch ganz so aus. Kein Gramm Fett. Die hat überhaupt nichts Weiches an sich.“ Gasperlmaier hielt die Hand schützend über die Augen, um sehen zu können, wer oder was da im Wasser lag. Ein Mann in weitem Hemd und langer Hose lag auf dem von der Sonne schon angestrahlten, sandigen Grund des Sees nahe dem Steg im flachen Wasser. „Grausig!“ Die Manuela neben ihm schüttelte den Kopf und suchte, viel sanfter als zuvor die Suzie, Halt an Gasperlmaiers Unterarm. Der Mann hatte Augen und Mund offen, und obwohl das Wasser durch eine leichte Brise ein wenig bewegt wurde, erkannte Gasperlmaier ihn.

„Um Gottes willen!“, erschrak er. „Den kenn ich!“ „Sie auch?“, fragte der Mann im grauen Anzug. Gasperlmaier nickte. „Ich hab gestern Nacht noch mit ihm geredet. Fotograf war er, für euer Fernsehteam da, aber an den Namen kann ich mich nicht mehr erinnern.“ „Hasselfeld. Holger Hasselfeld“, erklärte der Mann. „Jakobsen“, stellte er sich dann vor und schüttelte Gasperlmaier die Hand. „Ich bin der Bühnenmeister der Show. Ich hab ihn gefunden und die Feuerwehr angerufen.“ Der Oskar nickte. „Wir kennen uns ja schon. Vom Aufbau des Gerüsts. Wir haben da mit unserem Boot, und sonst auch, mitgeholfen.“ Er deutete auf die Kameraplattformen.

„Dann könnte es ja sein, Gasperlmaier, dass du der Letzte warst, der ihn lebend gesehen hat!“, flüsterte die Manuela. „Wo war denn das, gestern Nacht?“ Gasperlmaier spürte deutlich ein ganz unangenehmes Ziehen im Magen. Nächstes Wochenende stand die Hochzeit an, und er war anscheinend gerade im Begriff, in einen zumindest unklaren Todesfall hineingezogen zu werden. Er nickte mit dem Kinn in die Richtung des Hotels Seeblick hinüber. „Dort hat er gewohnt. Und ich hab am Abend, am späten Abend, den Karl noch zurückgebracht, ins Hotel, der wohnt nämlich auch da.“ „Der Karl? Wer ist denn das?“ Plötzlich fiel Gasperlmaier siedend heiß ein, dass der Karl ja mit dem Hasselfeld noch weiter getrunken hatte, als er das Hotel verlassen hatte. Wer konnte wissen, was den beiden noch eingefallen war? Er musste so bald wie möglich hinüber ins Hotel und mit dem Karl reden. Es war ja wohl nicht möglich, dass der irgendwas mit dem Tod des Hasselfeld zu tun hatte. Oder doch? Die Manuela stieß ihn in die Rippen, weil er, ohne zu antworten, hinunter in das Gesicht des Toten starrte. „Der Karl? Ja, das ist der Vater von der Stefanie, du weißt schon, sie sind wegen der Hochzeit …“ Die Manuela schüttelte den Kopf. „Daran hab ich jetzt gar nicht gedacht. Das kannst du jetzt ja brauchen wie einen Kropf, einen Todesfall. Soll ich vielleicht übernehmen?“ Gasperlmaier winkte ab. „Wahrscheinlich besoffen ins Wasser gefallen. Wäre nicht das erste Mal. Mach ein paar Fotos, dann holen wir ihn heraus!“

„Was ist jetzt?“, mischte sich von hinten die Frau McDonald wieder ein. „Wann holt ihr diesen versoffenen Fotografen endlich aus dem Wasser?“ Gasperlmaier hatte am harten Klacken ihrer Absätze schon gemerkt, dass sie sich ihnen genähert hatte. Er drehte sich um. „Gleich!“, beschwichtigte er. „Wir holen ihn gleich heraus. Und wieso versoffen?“ Er wandte sich der Suzie McDonald zu. Die zuckte mit den Schultern. „Alle haben es gewusst. Er war … er hatte ein Alkoholproblem. Deswegen musste er sich auch … er war früher bekannt, einer der Besten.“ Gasperlmaier seufzte. „Die Feuerwehr wird ihn gleich bergen. Wir schaffen … wir kümmern uns dann auch um die Leiche.“

Was er der Frau McDonald nicht sagte, war, dass er gerade überlegte, wie es nun weitergehen sollte. Wenn der Todesfall nämlich ein nicht natürlicher war, dann musste man möglicherweise den Steg als Tatort betrachten und von der Spurensicherung untersuchen lassen. Er würde sicher keine Nachlässigkeit begehen und den Toten einfach einem Bestatter übergeben, ohne dass man genau untersucht hatte, was hier wirklich passiert war. Einen solchen Fehler hatte er einmal gemacht, er würde ihm kein zweites Mal passieren.

„Und wann verschwindet ihr dann alle, dass wir endlich drehen können?“ Wieder diese Geste, die Gasperlmaier ärgerte. So, als ob alles hier ihr gehörte und nur auf ihr Kommando zu hören hatte. „Ich glaub nicht, dass das heute noch was wird!“, kam ihm die Manuela wieder einmal zuvor, und diesmal war er froh darüber. Sie sprach aus, was Gasperlmaier sich nur gedacht hatte. Spurensicherung, und Sperre des Geländes und so. Die McDonald schrie auf. „Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Was glauben Sie denn, was das alles hier kostet?“ Wieder die Geste. „Ich lass mir doch nicht meine Show von so ein paar Hillbillys wie euch kaputtmachen!“ Wütend stöckelte sie davon. Gasperlmaier sah ihr nach. Möglicherweise, so dachte er bei sich, war auch dieser Hintern nicht zur Gänze der Natur geschuldet. „Hillbillys?“, murmelte er, der Manuela zugewandt. „Was ist denn das?“ Die zischte verächtlich. „Nichts Freundliches. Kannst du dir ja denken!“