Leuchtend wie der Horizont - Patti Callahan Henry - E-Book

Leuchtend wie der Horizont E-Book

Patti Callahan Henry

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Beschreibung

Vertrauen ist das beste Gepäck für die Reise ins Leben.

Als ihr Ehemann Knox bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommt, bricht für Annabelle eine Welt zusammen. Doch dann erfährt sie, dass Knox nicht allein starb. Auf dem Co-Pilotensitz seiner Privatmaschine saß eine Frau. Wer war sie? Und warum täuschte Knox einen einsamen Jagdausflug vor, um sich mit ihr auf den Weg zu machen?
Um Antworten zu finden, muss Annabelle in der Vergangenheit graben. Und sich der Frage stellen, vor der es ihr so graust: War ihr gesamtes gemeinsames Leben nichts als eine Lüge?

Ein mitreißender Roman über die Kraft des Vertrauens und die Kunst, die Liebe festzuhalten.

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Zitat

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Danksagungen

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

 

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Über dieses Buch

Als ihr Ehemann Knox bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommt, bricht für Annabelle eine Welt zusammen. Doch dann erfährt sie, dass Knox nicht allein starb. Auf dem Co-Pilotensitz seiner Privatmaschine saß eine Frau. Wer war sie? Und warum täuschte Knox einen einsamen Jagdausflug vor, um sich mit ihr auf den Weg zu machen?

Um Antworten zu finden, muss Annabelle in der Vergangenheit graben. Und sich der Frage stellen, vor der es ihr so graust: War ihr gesamtes gemeinsames Leben nichts als eine Lüge?

PATTI CALLAHAN HENRY

Leuchtendwie derHorizont

Aus dem amerikanischen Englischvon Sabine Schulte

 

Für Anna Henry,um ihren Mut und ihre Liebezum Leben zu feiern

 

Einzig dem Delphin hat die Naturjene Gabe verliehen, nach der diegrößten Philosophen streben:die uneigennützige Freundschaft.

Plutarch

Eins

Annabelle Murphy

Der Horizont war für Annabelle Murphy zum Symbol für ihre Liebe und zum Denkmal für ihre Freude geworden. Gleich nach dem Tod ihres Mannes hatte sie sich gewünscht, sie könne sich im Himmel, in seiner Schönheit, auflösen. Später hatte sie geglaubt, sie könne dort Trost und Sinn finden, wo Erde und Himmel aufeinandertrafen. Da, wo das Flugzeug ihres Mannes verschwunden war – jedenfalls stellte sie es sich so vor.

Knox war jetzt seit zwei Jahren tot, doch während das Segelboot durch das dunkelnde Wasser glitt, ertappte Annabelle sich dabei, wie sie wieder einmal mit dem Gedanken an ihn zum Horizont blickte. Es war ein Segen, dass sie von ihren liebsten Freunden umgeben war, von Menschen, mit denen sie die fragilen Momente des Verlustes und der Freude geteilt hatte: Cooper und Christine, die seit ihrem Abschluss am College verheiratet waren, Mae und Frank, die ein Paar waren, seit Frank in der zehnten Klasse nach Marsh Cove gezogen war, und schließlich Shawn, dem das Boot gehörte.

Früher waren sie zu acht gewesen, aber Shawn und seine Frau Maria hatten sich scheiden lassen, und Annabelle hatte Knox an den Tod verloren. Nun, beim Segeln, spürte sie seine Gegenwart wieder einmal so deutlich, als schaue er gerade hinter dem Mastbaum hervor und frage, ob sie noch ein Glas Wein haben wolle. Der Tod hatte ihr zwar den Mann genommen, aber ihrer Liebe zu ihm hatte er nichts anhaben können.

Als das Boot die Hafeneinfahrt erreichte, rief Shawn vom Ruder aus: »Cooper? Gehen wir doch hier vor Anker, und warten auf den Sonnenuntergang!«

Annabelle trat von der Reling zurück, um Cooper an den Anker zu lassen. Sie griff in die Kühltasche, nahm ein Bier vom Eis und warf es Shawn zu. Er fing die Dose auf und formte mit den Lippen ein Danke. Annabelle staunte oft über Shawn. Äußerlich hatte er sich von ihnen allen am wenigsten verändert, in seiner Lebenseinstellung dagegen hatte er die größte Wandlung durchgemacht. Er war immer ein Lausejunge gewesen und am häufigsten zum Nachsitzen verdonnert worden, und auf der Highschool hatte man ihn Jahr für Jahr zum besten Sportler gewählt. Jetzt arbeitete er für eine Versicherung. Sein Segelboot hatte er allerdings behalten, und so oft er konnte, suchte er Zuflucht auf seinem geliebten Meer.

Nur Shawns widerspenstige blonde Locken erinnerten noch an seine einstige Wildheit. Er war seit vielen Jahren Knox’ bester Freund gewesen und davor schon Annabelles bester Freund. Er hatte sie auf dem Spielplatz beschützt und ihr gesagt, wenn sie noch Essensreste zwischen den Zähnen hatte. Er hatte sie wie einen normalen Menschen behandelt, obwohl sie ein Mädchen war. Als Knox nach Marsh Cove gezogen war, hatte er Annabelle ihren Shawn geklaut. Sie hatte gedroht, Knox unter dem Klettergerüst zusammenzuschlagen, aber Shawn hatte ihnen diplomatisch versichert, sie könnten alle drei Freunde werden, und er hatte Recht gehabt.

Kindheit und Jugend, Ehe und Elternschaft, Scheidung und Tod verbanden die Freunde. Sie stärkten ihre Verbundenheit, indem sie sich einmal im Monat bei einem von ihnen zum Dinner trafen. Wenn Shawn an der Reihe war, bot er den anderen stets einen Segeltörn bei Sonnenuntergang und anschließend ein Essen im Freien am Hafen. Niemals hätte Annabelle verraten, dass sie diese Gruppentreffen am liebsten hatte, denn sie wollte weder Mae noch Christine kränken, die bei ihren Dinnerpartys stets sehr viel Aufwand trieben.

Annabelle erschrak, denn plötzlich stand Cooper hinter ihr und legte ihr die Hand auf den Rücken. »Alles in Ordnung? Du siehst aus, als wärst du ganz woanders.«

»Doch, mir geht’s super. Guck dir diesen Abend an – zauberhaft.«

»Ja«, sagte Cooper, »das ist wahr.«

Annabelle riss den Blick vom Horizont los und schaute Cooper an. »An Abenden wie diesen denke ich immer, er kommt gleich mit einem Tablett, voll mit seinen berühmten Krebsküchlein, an Deck hoch und erzählt uns irgendeinen blöden Witz.«

Cooper beugte sich herunter und gab Annabelle einen Kuss auf den Scheitel. Sie griff nach seiner Hand.

Plötzlich hallte Maes schrilles Gelächter über das Boot. Als Cooper und Annabelle sich umdrehten, sahen sie, wie Mae Frank festzuhalten versuchte, der mit ausgebreiteten Armen zum Bug strebte. »Kommt gar nicht in Frage!«, rief Mae. »Bleib mir ja vom Bug weg, Alter!«

Frank grinste. »Wen meinst du denn mit ›Alter‹?« Er drückte Mae sein Weinglas in die Hand und stieg auf den Bug hinauf.

»Na los!«, brüllte Shawn. »Das bringst du nicht mehr, oder?«

Annabelle lachte. Diesen Kampf fochten sie regelmäßig aus: Wer würde die abendlichen Schwimmrunden ihrer Jugend wieder aufnehmen? Mittlerweile waren sie alle um die vierzig, und auch wenn sie oft damit drohten, ins Wasser zu springen, hatten sie es doch jahrelang nicht mehr getan.

Eine Leere überkam Annabelle, eine tiefe Sehnsucht, gefolgt von dem Impuls, einfach ins Meer zu springen, um dem Horizont näher zu sein. Sie drängte sich an Cooper vorbei, tippte Frank auf die Schulter und bedeutete ihm, aus dem Weg zu gehen. Er lachte. »Das soll wohl ein Scherz sein, oder?«

»Mach Platz!«, sagte sie grinsend. »Ladys first.« Sie kletterte über die Reling auf die Spitze des Bootes und streckte die Arme aus wie früher, als sie alle acht gemeinsam gegessen, getrunken und sich geliebt hatten, ohne an Tod und Verlust zu denken. Warum sprangen sie nicht vom Boot? Warum war Knox gestorben? Warum hatte Maria Shawn verlassen? Warum ging das Leben weiter, ohne die Menschen, die es in seinem Strom mitriss, um Erlaubnis zu fragen?

Annabelle stellte sich auf die Zehenspitzen. Sie spürte, wie ihr blassblauer Rock hochwehte. Mit einem eleganten Kopfsprung tauchte sie in das Wasser ein. Einen Moment lang verharrte sie reglos, bevor sie die Augen öffnete. Hier, unter Wasser, erreichten die Strahlen der untergehenden Sonne sie nicht. Um Annabelle herum herrschte Dunkelheit, doch das Gelächter von oben drang an ihre Ohren.

Sie tauchte wieder auf, strich sich das Haar zurück. Shawn beugte sich über die Reling. »Du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank, Annabelle Murphy.«

»Du bist für so was schon zu alt, wie?« Annabelle fuhr mit der Handkante über die Wasserfläche und bespritzte Shawn mit einem Sprühregen. Sie war schon immer eine gute Schwimmerin gewesen und hielt sich mühelos über Wasser. Erst als ihr Rock sich um ihre Beine wickelte, griff sie nach dem Ankertau. Ihre weiße Bluse klebte auf ihrer Haut, und das Haar umrahmte lockig ihr Gesicht.

»Mit wem redest du?« Shawn lachte, riss sich das T-Shirt vom Leib und sprang in seinen Khaki-Shorts über die Reling. Das Wasser um Annabelle blieb dunkel und warm. Gerade tauchte Shawn neben ihr auf, da sprang Cooper ebenfalls und Frank machte einen schiefen Salto vom Bug. In der hereinbrechenden Nacht schallte ihr Gelächter über das Wasser, durch Zeit und Raum, bis Annabelle beinahe glaubte, Knox wäre bei ihnen.

Christine hängte die Leiter über den Bordrand und leuchtete den vieren mit einer Taschenlampe. »Kommt überhaupt nicht in Frage, dass ich in das dunkle Wasser springe. Ihr seid ja alle nicht ganz dicht. Und jetzt raus mit euch! Ich verhungere gleich, und unsere Krebse werden schlecht.«

Mae setzte sich neben Christine und ließ die Beine über den Bootsrand baumeln. »Wenn ich nicht gerade so viel Geld für diese brandneue Caprihose ausgegeben hätte …«

Annabelle raffte mit der linken Hand ihren Rock zusammen und schwamm auf die Leiter zu. Während sie in tiefen Zügen einatmete, erinnerte sie sich daran, wie sie vor langer Zeit mit Knox in seinem Sunfish in die Bucht hinausgesegelt war. Sie waren gekentert und hatten sich an dem umgedrehten Boot festgehalten. Mit Vergnügen hatten sie gespürt, wie sich seine und ihre Beine im Wasser streiften. Annabelle bezweifelte, dass es jemals einen Moment geben würde, in dem Knox ihr nicht in den Sinn kam, in dem er sich nicht in ihrem Herzen meldete. Selbst jetzt konnte sie kaum zwei Meter weit schwimmen, ohne an ihn zu denken. Ganz gleich, worauf sie ihre Aufmerksamkeit richtete, Knox war ebenfalls da.

Sie kletterten alle wieder an Bord, lichteten den Anker und reichten Handtücher herum. Sie lachten, prosteten sich zu und tranken auf die Freundschaft. Während Shawn Kurs auf den Anleger hielt, tauschten die anderen Neuigkeiten über die Kinder und die Arbeit aus. Sie neckten Mae und Frank, weil die ihrem einzigen Kind den biederen Namen Thornton gegeben hatten und der junge Mann nun in Afrika Missionsarbeit leistete.

Sie waren sich mit Cooper und Christine darüber einig, dass Kinder im Highschool-Alter anstrengend waren, weil sie dauernd ihren Willen durchsetzen wollten. Shawn stand am Ruder und lachte über ihre Geschichten, ohne selbst etwas beizusteuern, denn er hatte keine Kinder. Seine Frau hatte ihn im zweiten Jahr ihrer Ehe verlassen, und obwohl seine besten Freunde viel unternommen hatten, um ihn wieder unter die Haube zu bringen, hatte er nicht wieder geheiratet. »Wie macht Jake sich denn auf der Uni?«, fragte er Annabelle. »Bleibt er am Ball?«

Annabelle nickte. »Anscheinend kommt er sehr gut klar. Aber ich vermisse ihn schrecklich. Ohne ihn und seine Musik erscheint mir das Haus wie eine leere Höhle. Immerhin ruft er jeden Tag an. Er kann seinen Zimmergenossen nicht leiden, aber das spielt wohl keine große Rolle, denn er hat ganz viele Freunde. Die Seminare stinken ihm. Ich glaube, die fortgeschrittenen Sachen hätte er sich am liebsten erspart.«

Cooper schlurfte mit den Füßen. »Du weißt, dass ich helfen kann, wenn er … irgendwas braucht.«

»Wir alle können helfen«, erklärte Shawn.

»Er kriegt das schon hin«, meinte Annabelle, »doch, wirklich. Im Moment ist es Keeley, die mich zur Weißglut treibt. Sie ist so anmaßend, und außerdem hat sie gerade den Führerschein gemacht.«

»Es gibt keine schlimmere Kombination«, stimmte Christine zu. »Das ist wie dieser Punsch, den ihr auf dem College gebraut habt – wisst ihr noch? Ihr Männer habt alles, was euch in die Finger kam, in einem Mülleimer zusammengekippt und dann reinen Alkohol dazugeschüttet.«

Allgemeines Aufstöhnen.

Christine lachte. »Und die gleiche gefährliche Mischung sind sechzehnjährige Mädchen, die noch in der Pubertät stecken und schon Auto fahren. Da kann man nur beten, dass sie nicht irgendwas wirklich Dummes anstellen.«

Shawn korrigierte den Kurs des Bootes. »Mensch, wenn ich euch so höre, wünschte ich, ich hätte Teenager.« Er lächelte und rief dann Cooper zu: »Schnapp dir die Vorleine, ja?«

Als sie aus dem Boot geklettert waren und sich zum Krebsessen auf dem Steg niedergelassen hatten, genoss Annabelle die vertrauten Gesten, Worte und freundschaftlichen Gefühle. Shawn trat hinter sie. »Ich bin froh, dass du gekommen bist. Eine Weile hatte ich schon befürchtet, du würdest nie wieder mit uns rausfahren.«

»Ich auch.« Annabelle berührte Shawns Arm. Den Rest des Abends war sie voller Dankbarkeit für das, was unverändert geblieben war: ihre Liebe zu ihren Freunden und ihren Kindern.

Still und leise hatte der Frühling sich im Lowcountry ausgebreitet und ein sanftes Lüftchen und grüne Schleier mitgebracht. Am Morgen war ein Regenschauer über die Stadt hinweggezogen, aber jetzt flutete das Sonnenlicht durch das Laub bis auf den Rasen, wo die Regentropfen funkelten, und auf den wie lackiert wirkenden Asphalt. Annabelles Haus – das Knox und ihr gehört hatte – lag an der Main Street in Marsh Cove, South Carolina, und von der vorderen Veranda aus konnte sie über die Straße auf den Park an der Marsh Cove Bay sehen. Die Flut setzte ein, und das Wasser strömte wild rauschend in die Bucht.

Neben ihrem Haus stand ein großer Magnolienbaum. Die kräftigen Wurzeln drückten ringsherum die Erde hoch, und neue Sprösslinge waren längst mit dem ursprünglichen Stamm verwachsen. Annabelle vermutete, dass die jüngeren Triebe inzwischen den alten Baum stützten, dass die Magnolie ohne sie umstürzen würde.

Ihr Sohn Jake liebte Mythen und Legenden, und einmal hatte er Annabelle von Tristan und Isolde erzählt, den beiden unglückseligen irischen Liebenden. Man hatte sie nebeneinander begraben, und aus ihren Gräbern erhoben sich zwei Weiden, die im Laufe der Jahre zu einem einzigen Baum zusammengewachsen waren. Diese Geschichte ließ Annabelle an ihre eigene Familie denken, an sie und Knox, an ihren Sohn Jake und ihre Tochter Keeley, alle miteinander verschlungen. Als der Baumexperte kam und ihr erklärte, die alte Magnolie werde von den jungen Ablegern erstickt und müsse abgesägt werden, da hatte sie ihm gesagt, er solle mitsamt seiner Motorsäge und seinem fachmännischen Rat wieder in seinen verbeulten Lieferwagen steigen und nach Hause fahren. Sie wusste, dass der Magnolienbaum und seine Sprösslinge sich gegenseitig stützen würden, bis sie alle zusammen umstürzten.

Selbst jetzt, ohne Knox, war Annabelle noch davon überzeugt.

Sie stellte die Füße auf die Ottomane aus Korbgeflecht und balancierte ihren Laptop auf den Knien. Nachdenklich berührte sie mit den Fingern die Tastatur, hob das Gesicht in die Sonne und schloss die Augen, um sich von der Wärme überfluten zu lassen. Für ihre Ratgeberecke »Southern Belle antwortet« musste sie eine Frage zu einer Hochzeit beantworten. Wie immer sollte sie entscheiden, was sich für eine wohlerzogene Schöne aus den Südstaaten schickte.

Liebe Southern Belle,

ich bin bei dreizehn Hochzeiten Brautjungfer gewesen, und jetzt heirate ich selbst. Muss ich alle dreizehn Frauen als Brautjungfer zu meiner Hochzeit einladen? Ich will nur zwei von ihnen dabeihaben, aber ich möchte auch keine meiner Freundinnen verlieren und die anderen nicht verärgern.

Die Chaotin aus Corinth

Annabelle hätte der Chaotin aus Corinth gern geantwortet, dass es völlig unerheblich sei, wen sie als Brautjungfer zu ihrer Hochzeit einlud – wichtig sei nur, wen sie heiraten werde und ob sie ihren Bräutigam liebe. Doch so etwas wollte die alte Mrs Thurgood, die Herausgeberin der Marsh Cove Gazette, in ihrer Ratgeberkolumne nicht lesen – nein, Annabelle musste korrekt darlegen, was die Etikette in diesem Fall verlangte.

Das Buch von Emily Post lag schon neben ihr auf dem Korbtisch, aber Annabelle verfasste ihre Antworten gern, ohne es zu konsultieren, und verglich sie erst dann mit den Regeln in dieser Bibel des guten Benehmens. Im vergangenen Jahr waren ihre Ratschläge kein einziges Mal davon abgewichen.

Liebe Chaotin aus Corinth,

Nachdenklich schnalzte Annabelle mit der Zunge. Sie beobachtete, wie die letzten Regenwolken von links nach rechts zogen und die Sicht auf ein weit entferntes Segelboot freigaben, das nach Süden unterwegs war. Nur das Segel war vor dem blassblauen Himmel zu sehen. Sie lächelte bei der Erinnerung an den vergangenen Abend, an das Schwimmen mit ihren alten Freunden.

Eine Bewegung an der Hausecke riss sie aus den Gedanken, und als sie sich umdrehte, sah sie unten an der Verandatreppe einen Mann stehen. Er hatte die Hände in den Taschen, wippte auf den Absätzen und beobachtete sie. Annabelle stand so abrupt auf, dass sie fast den Laptop auf den Boden geworfen hätte. Sie kriegte ihn gerade noch zu fassen, klappte ihn zu und legte ihn auf den Tisch.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie. Viele Touristen glaubten, ihr Haus sei Teil des historischen Rundgangs, und dann erklärte sie ihnen, dass es sich um ein privates Wohnhaus handelte. Doch nun musste sie lächeln: Der Mann war Wade Gunther, der Sheriff des Städtchens. Aber genauso schnell verschwand ihr Lächeln wieder. Ein Gedanke durchzuckte sie: Nein, bitte nicht Jake …

»Hey, Annabelle«, grüßte Wade.

»Ist irgendwas passiert?« Annabelle zerbrach sich den Kopf, warum Wade sie besuchen könnte. Erfolglos versuchte sie, die Erinnerung an das letzte Mal zu verdrängen, als sie einem Mann in Uniform die gleiche Frage gestellt hatte. Übelkeit stieg in ihr auf.

Wade Gunther räusperte sich. »Ich muss mit Ihnen sprechen, und zwar am besten persönlich, dachte ich.« Er kniff die Lippen zusammen. So ein Gesicht macht man nicht, wenn man gute Nachrichten zu überbringen hat, das wusste Annabelle. »Vor ein paar Tagen haben sich ein paar Bergsteiger im Westen von Colorado verlaufen«, fuhr der Sheriff nun fort. »Ein böser Schneesturm. Aber es waren erfahrene Leute, und sie haben überlebt …«

Gott sei Dank, es hatte also nichts mit Jake zu tun. Aber ein anderer möglicher Grund wollte Annabelle einfach nicht einfallen. Keeley war im Haus und machte Schularbeiten … »Und?«

»Sie haben ein abgestürztes Flugzeug gefunden … eine kleine Maschine, fast vollständig ausgebrannt …«

Annabelles Knie gaben nach, und sie setzte sich wie ein Kind im Schneidersitz auf die weiß gestrichenen Bodenbretter der Veranda. Sie schaute Wade an und versuchte zu sprechen, brachte jedoch keinen Ton heraus.

Der Sheriff stieg die drei Stufen zur Veranda hinauf und hockte sich neben sie. »Die FAA, das ist die Federal Aviation Administration, also die Bundesluftfahrtbehörde, hat mich kontaktiert und mich gebeten, mit Ihnen zu sprechen. Ich weiß, es muss ein Schock für Sie sein. Es tut mir leid, dass ich so mit der Tür ins Haus falle. Aber ich weiß einfach nicht, wie ich es Ihnen sonst mitteilen soll.«

»Das ist er«, sagte Annabelle. »Das ist Knox, stimmt’s?« Und ein Körnchen Hoffnung, von dessen Existenz sie gar nicht gewusst hatte, begann zu sprießen: Vielleicht – vielleicht lebte er noch. Vielleicht.

»Ja, wir haben seine Leiche gefunden … und die einer zweiten Person, die mit ihm im Flugzeug war«, sagte Wade.

»Ach, dann ist er’s doch nicht.« Annabelle stand auf, und Wade erhob sich ebenfalls. »Er ist ja allein geflogen. Zur Jagd.«

Wade schaute zum Verandadach empor, als könnten die Deckenbalken ihm helfen. »In der ausgebrannten Maschine befand sich noch eine … weitere Person. Wie Sie sich denken können, ist nach einem Brand und zwei Jahren im Wald nicht mehr viel von ihnen übrig. Aber es ist das Flugzeug Ihres Mannes.«

Annabelles Frage kam ganz von selbst, so wie ein Grashalm sich durch einen Riss im Bürgersteig schiebt. »Ein Mann oder eine Frau?« Aber sie glaubte die Antwort schon zu wissen.

»Eine Frau.« Der Sheriff ging auf der Veranda hin und her. »Die FAA hofft, dass Sie Licht in diese Sache bringen können …«

Ein Sturm widerstreitender Gefühle brach in Annabelle los. Zu ihrem Erstaunen gewann die Verlegenheit – weder der Kummer noch der Zorn, sondern die Beschämung. Man hatte ihren toten Mann mit einer anderen erwischt. Einen Moment lang meinte sie, schon das Getratsche und die Spekulationen zu hören.

Sie biss sich auf die Lippe und sagte stotternd: »Ich habe keine Ahnung.« Schlichte Worte. »Ich dachte, er wäre allein gewesen.« Peinliche Worte.

Der Sheriff wandte sich ab.

Annabelle setzte sich auf das Korbsofa und deutete auf den Sessel ihr gegenüber. »Nehmen Sie doch bitte Platz. Ich möchte nicht, dass wir reingehen – Keeley soll von unserem Gespräch hier nichts hören.«

»Das verstehe ich.« Wade setzte sich.

»So«, sagte Annabelle, »was brauchen Sie von mir?«

»Wir müssen besprechen, wo seine Überreste hingeschickt werden sollen … Die FAA wird das wissen wollen.« Seine Stimme dröhnte weiter, und Annabelle tat, als höre sie zu, aber in ihrem Kopf drehte sich alles. Wie Zuckerwatte im Kessel wirbelten ihre Gedanken umher und warteten darauf, eine feste Form zu finden.

Sie erinnerte sich an den Tag, als die Polizei gekommen war, um sie über den Flugzeugabsturz zu informieren – schon da hatten sie gewusst, dass es keine Überlebenschancen gab. Die erste Zeit nach Knox’ Tod war plötzlich wieder präsent, und alle Wunden, die sie nach Jahren der Therapie und der Trauer für geheilt gehalten hatte, rissen wieder auf. Annabelle erinnerte sich, dass sie damals keine Empfindungen mehr gehabt hatte, als hätte die Welt in den Wochen und Monaten, die auf diese Nachricht folgten, jede Bedeutung für sie verloren. Während sie Wade anstarrte, merkte sie, dass ihr neu gewonnener Lebensmut sie wieder verließ. Der Schmerz packte sie erneut, dabei hatte sie gehofft, dass er sie nie wieder mit solcher Heftigkeit überfallen würde.

Und sie verstand: Diese Wunden konnten niemals völlig verheilen. Man konnte sie ignorieren, sie abdecken, und sie konnten vernarben, aber nie vollständig verheilen. Wäre sie von ihrem Kummer geheilt gewesen, dann wäre der Schmerz nicht zurückgekehrt. Aber er griff nach ihr und versuchte sie zurück in die Finsternis zu zerren. Wieder einmal wäre sie am liebsten am Horizont verschwunden, um Knox dort wiederzutreffen.

Oft hatte Annabelle sich vorgestellt, dass Knox vom Flugzeug aus als Letztes den Horizont gesehen hatte. Sie hatte sich ausgemalt, wie er sich bemühte, die Kontrolle über die Maschine zu behalten, wie er fieberhaft Schalter und Hebel betätigte, verzweifelt bemüht, sie wieder auszurichten – jedoch vergeblich.

Plötzlich veränderte sich Annabelles Vorstellung von seinen letzten Minuten vollkommen. Nicht er allein, sondern zwei Personen hatten sich an Bord der kleinen Maschine befunden. Einer mehr machte normalerweise keinen großen Unterschied, aber jetzt erschien ihr die Zwei plötzlich als eine unfassbar große, unendliche Zahl.

»Annabelle?« Wade beugte sich vor.

»Ja?« Sie fuhr zusammen.

»Haben Sie überhaupt gehört, was ich gerade gesagt habe?«

»Ich glaube schon«, antwortete sie, bemüht, sich auf das Gesicht des Sheriffs zu konzentrieren, auf die Falten um seinen Mund, auf das Blau seiner Augen, auf alles andere, nur nicht auf seine Worte.

»Also …« Er stand auf und schaute auf sie hinunter. »Es tut mir sehr leid, dass Sie diesen Verlust erlitten haben. Wir bleiben in Kontakt wegen … der sterblichen Überreste, und falls Sie …«

Annabelle blinzelte zu ihm hoch. »Falls ich was?«

»Falls Sie erfahren, wer mit Ihrem Mann im Flugzeug gesessen hat, rufen Sie mich bitte an. Erst mal muss man jetzt die Vermisstenmeldungen durchgehen und dann die zahnmedizinischen Befunde und die DNS abgleichen. Wenn Sie also eine Ahnung haben, wer die Frau war, wäre das äußerst hilfreich.«

Annabelle spürte, wie die vertraute Decke der Hoffnungslosigkeit sich über sie breitete – wie damals nach dem Absturz, als man ihr Millionen von Fragen gestellt hatte. Sie lächelte zu Wade hinauf. »Also, ich werde ganz bestimmt herumfragen, ob jemand weiß, mit wem mein Mann sich damals heimlich ein schönes Wochenende gemacht haben könnte.«

Der Sheriff sah sie prüfend an, wandte den Blick ab und verabschiedete sich. »Danke.«

Annabelle sah ihm nach, bis er um die Ecke verschwunden war. Niedergeschmettert blieb sie sitzen.

Der Sheriff konnte nicht mehr als zehn, höchstens fünfzehn Minuten auf ihrer Veranda verbracht haben. Und doch hatte sich alles vollkommen verändert. Ein Luftzug hob die Wedel der Hängefarne und wirbelte Blätter über die unteren Stufen der Verandatreppe. Annabelle wurde klar, dass sie in diesem Augenblick noch gar nicht begreifen konnte, was alles anders geworden war.

Wie ein dumpfes Pochen, wie ein Kopfschmerz, meldete sich ein Gedanke: Ist das nicht komisch? Eine Frau bei Knox im Flugzeug.

Annabelle hatte niemals wieder über Knox’ Absturz nachgrübeln wollen. Zu viele Nächte über hatte sie immer wieder alle Alternativen durchdacht, hatte nach dem Unmöglichen gesucht – nach einem Weg, das Ende der Geschichte abzuwandeln.

Nun ging sie die Einzelheiten noch einmal durch: Laut Flugplan hatte Knox in Newboro, North Carolina, zwischenlanden wollen. Dort hatte er aufgetankt und war dann gleich nach Durango, Colorado, weitergeflogen. Fünfzig Meilen vor Durango hatte er einen Notruf abgesetzt: Motorbrand. Über Funk war eine Explosion zu hören gewesen. Die Geschichte war vierundzwanzig Stunden lang in den Nachrichten gekommen. Währenddessen hatte man nach dem Flugzeug und seinem Piloten, dem einzigen Insassen, gesucht, nach Knox Murphy, dem Rechtsanwalt aus South Carolina, der häufig unterwegs war, um unterprivilegierte Mandanten kostenlos zu beraten und zu vertreten. Annabelle hatte die Sendungen distanziert verfolgt wie eine unbeteiligte Zuschauerin. Und dann war die Geschichte aus den Nachrichten verschwunden, nicht aber aus ihrem Leben.

Mitarbeiter des U. S. Air Force Rescue Coordination Center erklärten, in jener entlegenen, unzugänglichen Gegend lägen weit über einhundertfünfzig vermisste Flugzeuge. Häufig fänden sie die Maschinen erst Jahre nach dem Absturz durch Zufall, auf der Suche nach etwas anderem. Die Absturzstellen wurden registriert, und das Gebiet, in dem Knox verunglückt war, wurde auch in die Liste aufgenommen. Doch gefunden hatte man das Flugzeug nicht … bis gestern.

Damals hatte Annabelle unzählige Fragen beantwortet. Hatte Knox in Newboro einem Mandanten geholfen? Nein, hatte sie erklärt, er hatte sie immer informiert, wenn er eine Reise unterbrach, um zu arbeiten. Hatte er explosive Stoffe bei sich gehabt? Nein, nur seine Gewehre, die er niemals geladen mit ins Flugzeug nahm.

Annabelle stand auf der Veranda und lehnte die Stirn an die geschlossene Fliegengittertür. »Ach, Knox. Nein, bitte nicht!« Sie wusste nicht, um was sie da bat. Aber genau wie sie früher schon vor dem positiven Testergebnis gewusst hatte, dass sie schwanger war, war ihr nun klar, dass mit der Entdeckung des Flugzeugwracks etwas Neues in ihr Leben getreten war.

Sie stand auf und stieß mit der Hüfte gegen das Buch von Emily Post. Ärgerlich schleuderte sie es auf den Korbsessel. Was sagte die Etikette zu dieser Situation? Was würde Emily Post jetzt raten? Vielleicht hatte sie ja Regeln für das perfekte Benehmen bei betrügerischen Ehemännern – aber was war zu tun, wenn die Übeltäter erst lange nach dem Ehebruch gefunden wurden, und zwar mausetot? Gegen jede Vernunft stieg ein Lachen in Annabelle auf. Da erteilte sie anderen Leuten berufsmäßig Ratschläge, aber für sich selbst hatte sie keinen Rat. Doch das Lachen erstarb ihr in der Kehle. Sie legte das Buch auf den Tisch und ließ sich wieder in den Sessel fallen.

In diesem Moment und noch lange Zeit danach gab es für Annabelle nichts Wichtigeres als die Frage, wer diese Frau war und warum sie mit Knox Murphy zusammen gewesen war, als er starb.

Zwei

Annabelle Murphy

Annabelle wanderte auf der Veranda auf und ab. Eine Liste, ja, sie musste unbedingt eine Liste von den Dingen machen, die sie als Nächstes und als Übernächstes tun musste und danach. Wenn ihr Leben intakt bleiben sollte, wenn sie nicht vollkommen aus der Bahn geraten wollte, musste sie ihre Gedanken zusammennehmen. Sie musste so vielen Leuten mitteilen, dass man das Flugzeug gefunden hatte – und die Frau. Dass Annabelle trotz ihres Kummers handeln musste, erschien ihr wie ein Albtraum, der sich wiederholte. Schon vor zwei Jahren hatte sie zahlreiche Telefonate über Knox und seinen Tod geführt: mit ihrer Mutter, mit seinen Eltern in Florida, mit Tante Barbara, mit Vettern und Cousinen … Und jetzt stand ihr das alles erneut bevor. Ihr Vater war schon vor Jahren gestorben, sodass ihm die Todesnachricht zum Glück erspart geblieben war.

Genau wie vor zwei Jahren, überfiel Annabelle das fast unüberwindliche Bedürfnis, sich zu verkriechen. Damals hatte sie Kraft aus ihrer Familie geschöpft, aus ihrer Liebe zu Knox und aus seiner Liebe zu ihr. Aber woher sollte sie jetzt noch die Kraft nehmen?

Namen fielen ihr ein, einer nach dem anderen.

Keeley.

Keeley war drinnen im Haus, sie arbeitete mit Laura an einem Projekt für die Schule – Annabelle würde warten müssen, bis Laura fort war, bevor sie mit ihrer Tochter sprechen könnte.

Jake.

Sie nahm ihr Handy vom Tisch und wählte die Nummer ihres Sohnes. Der Ton sagte ihr, dass er gerade telefonierte.

Shawn.

Nach dem ersten Klingeln hob er ab. »Hey, Belle.«

Annabelle antwortete mit einem unterdrückten Schluchzen, das sie in ein Husten verwandelte.

»Alles in Ordnung?«, fragte er rasch.

»Nein.«

»Bist du krank?«

»Nein …«

»Ich bin sofort bei dir …«

»Nein, deswegen rufe ich nicht an …«

Doch Shawn hatte bereits aufgelegt. Sein Büro war ganz in der Nähe, und Annabelle wusste, dass er in weniger als zehn Minuten vor der Tür stehen würde – wie in jeder Krise seit Knox’ Tod. Sie lehnte sich im Sessel zurück und wartete.

Shawns Wagen hielt vor dem Haus. Er rannte die Verandatreppe hinauf und setzte sich neben Annabelle. Behutsam strich er ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr zurück, eine so vertraute, freundliche Geste, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Er kannte sie seit ihrem vierten Lebensjahr. Sie hatten sich im Sandkasten um Spielzeug gezankt und später darum gestritten, wer mit Autofahren an der Reihe war und welche Jungs die falschen für Annabelle waren.

»Was ist los, Belle?«

»Es geht um Knox«, murmelte sie und schaute Shawn direkt an. »Wenn es in meinem Leben jemals unerlässlich war, dass du mir die Wahrheit sagst, dann jetzt.«

»Ich habe dich noch nie belogen, Belle.«

»Sei einfach ganz ehrlich!«, bat sie.

»Verdammt, was ist denn los?«

»Hat Knox mich betrogen?« Angespannt beobachtete sie Shawn.

Er runzelte die Stirn. »Nein, was redest du denn da? Wie kommst du denn darauf?«

Annabelle schlug sich die Hände vors Gesicht. »Sie haben ihn gefunden, Shawn. Sie haben sein Flugzeug gefunden.«

»Ach, Belle. Ach …«

»Ich bin noch nicht fertig.« Sie stöhnte.

»Wie meinst du das?«

Durch die Finger hindurch blinzelte sie ihn an. »Er war mit einer Frau unterwegs.«

Shawn hob ihr Kinn, schaute sie prüfend an und nahm ihren Kopf zwischen die Hände. »Nein, er wollte doch allein auf die Jagd gehen.«

Annabelle schüttelte seine Hände ab. »Wade Gunther war gerade eben hier – sie haben sein Flugzeug gefunden. Eine Frau ist bei ihm gewesen. Sie wissen nicht, wer sie war; beide Leichen sind so stark verkohlt, dass sie gar nichts mehr erkennen können.«

»Wer hat die Maschine gefunden?«

»Irgendeine Wandergruppe hat sich im Schneesturm verlaufen. Ist das nicht … seltsam? Dass jemand anders sich verirren musste, um Knox zu finden?«

Shawn nickte. »Klingt wirklich nach einer Ironie des Schicksals.«

»Wie auch immer, sie haben ihn gefunden, im Flugzeug, völlig verbrannt. Und ebendiese Frau.«

»Da sind sie sich ganz sicher?«

»Shawn … Sie können doch bis zwei zählen.«

»Ich habe keine Ahnung, wer das gewesen sein könnte.«

Annabelle beugte sich vor. In Shawns Zügen las sie die gleiche Verwirrung und den gleichen Schmerz, die sie selbst spürte.

»Ich glaube dir«, sagte sie. »Aber damit stehe ich vor der Frage: Wer war sie bloß? Warum hat sie in seinem Flugzeug gesessen?«

»Lass uns im Moment … Lass uns erst mal gar nichts dazu sagen. Wir wollen versuchen, es rauszukriegen.«

»Aber ich muss unsere Freunde fragen. Das muss ich einfach. Was ist, wenn einer von ihnen es weiß?«

»Wenn du es nicht weißt und ich es nicht weiß – dann wissen sie es ganz bestimmt auch nicht.«

»Shawn, an jedem anderen Tag, zu jedem anderen Zeitpunkt, würde ich dir zustimmen. Aber als Wade Gunther auf meine Veranda spaziert kam mit der Nachricht, dass mein Mann gefunden worden ist, tot und zusammen mit einer anderen Frau – da sind alle meine bisherigen Annahmen den Bach runtergegangen. Ohne Ausnahme. Irgendjemand weiß, wer sie war. Ich aber nicht. Und du auch nicht. Wer sagt denn, dass nicht einer von den anderen es weiß?«

»Du sagst ›einer von den anderen‹, als wären sie Fremde, dabei kennen wir unsere Freunde doch schon ein Leben lang. So was würden, so was könnten sie dir gar nicht verschweigen.«

»Ich kann überhaupt nicht mehr einschätzen, wer eigentlich zu was fähig ist.«

»Das können wir nie.« Shawn lehnte sich zurück.

Keeley öffnete die Haustür und streckte den Kopf heraus. »Dachte ich’s mir doch, dass ich deine Stimme gehört habe«, sagte sie zu Shawn. Sie stand in der Tür und lehnte sich an den Rahmen. Ihre dunklen Locken fielen ihr über die Schultern und erinnerten schmerzlich daran, wie ihrem Vater das dunkle Haar in die Stirn gefallen war. In Annabelles Bauch rumorte es gefährlich, aber dann beruhigte ihr Magen sich wieder. Ihre Hände jedoch waren taub, und die Arme kribbelten.

»Hey, Keeley.« Shawn stand auf und nahm das junge Mädchen in die Arme.

Annabelle wischte sich über das Gesicht, als wolle sie die Spuren der Gefühle tilgen, die ihre Tochter nicht bemerken sollte. »Ich habe gerade Jake angerufen«, erklärte Keeley, die nun vor Annabelle und Shawn stand. »Wollte hören, ob alles in Ordnung ist. Ich hatte Sheriff Gunther auf der Veranda gesehen und befürchtet … Jake wäre vielleicht etwas passiert.«

Annabelle schaute zu ihrer Tochter hinauf. »Ach so, dann hat er also mit dir telefoniert.«

Verwirrt zog Keeley die Augenbrauen zusammen.

»Ich habe versucht, ihn zu erreichen …« Annabelle erhob sich, griff nach ihrem Handy und tippte Shawn auf die Schulter. »Ich hab nicht gewollt, dass du deine Arbeit im Stich lässt. Ich rufe dich nachher an …«

Er warf seinen Schlüsselbund in die Luft, und Keeley streckte die Hand aus und schnappte ihn sich. Bei ihrem Gelächter wurde Annabelle einen Augenblick lang leichter ums Herz.

Keeley ließ die Schlüssel von einem Finger baumeln. »Jetzt hab ich den Schlüssel vom Cabrio.«

Shawn lachte. »Trotzdem lasse ich dich nicht fahren, Keeley. Erst musst du noch sechs Monate beweisen, dass du den Volvo fahren kannst. Ohne Beule, ohne Knöllchen, dann kriegst du deine Chance.«

»Ach komm, Mr Shawn! Nur ein einziges Mal.«

»Nein.« Er zerzauste ihr das Haar. »Was wäre ich denn für ein Freund, wenn ich mein Wort brechen würde?« Shawn warf Annabelle einen Blick zu. »Ruf mich an …«

Annabelle nickte und fasste Keeley am Arm. »Wo ist Laura? Seid ihr mit eurem Projekt fertig?«

»Sie ist schon vor einer halben Stunde gegangen – als du mit Sheriff Gunther geredet hast.«

Shawn war an seinem Wagen angelangt. Annabelle winkte zum Abschied und wandte sich dann wieder ihrer Tochter zu. »Setz dich, Keeley!«

Beide ließen sich nieder. »Sheriff Gunther ist hier gewesen, weil er Neuigkeiten für mich hatte. Sie haben Dads Flugzeug gefunden.«

»Und Dad auch?«

»Seine Leiche, Keeley.«

Augenblicklich wurden Keeleys Augen nass, Tränen rollten ihr über die Wangen. Annabelle erkannte, dass diese Nachricht jegliche Hoffnung, dass ihr Vater doch noch am Leben sein könnte, in Keeley zerstört hatte. »Also ist er wirklich tot.« Mit einer heftigen Bewegung wischte sie sich die Tränen ab. »Tot.«

»Ach, Keeley.« Annabelle breitete die Arme aus. »Und da ist noch etwas. Ich möchte nicht, dass du es erst aus der Presse erfährst oder von anderen Leuten. Jemand ist mit Dad im Flugzeug gewesen.«

Keeley hob die Hände vor die Brust, schützend wie einen Schild. »Wer denn?«

Mit einem Schaudern schloss Annabelle die Augen und lehnte sich zurück. Die Erde schien ihre Drehrichtung geändert zu haben. Niedergeschlagen überlegte sie, wie seltsam es doch war, dass sie plötzlich die Erddrehung spürte.

Durch ihr Schwindelgefühl hörte sie klar und deutlich Keeleys Worte. »Wer war bei ihm?«, fragte ihre Tochter erneut.

Wie gern hätte Annabelle die Augen geschlossen gehalten, um diese Frage nicht beantworten zu müssen, um nicht noch mehr Kummer zu erleben – doch sie öffnete die Lider, denn es ging um ihre geliebte Tochter.

»Du weißt es nicht, stimmt’s?«, stieß Keeley hervor.

Diese heftigen Worte durchdrangen Annabelles Schmerz und ihre Orientierungslosigkeit. Sie legte Keeley die Hände auf die Schultern. »Nein, ich weiß nicht, wer bei ihm war.«

Keeley sank ihrer Mutter in die Arme, und gemeinsam saßen sie reglos und schweigend da, beide voller Furcht, diese neue Welt zu betreten, in der Keeleys Vater, Annabelles Ehemann, vielleicht nicht mehr der Mensch war, für den sie ihn gehalten hatten.

»Ach, Keeley, ich hab dich lieb. Es tut mir so leid, dass wir das durchmachen müssen …«, flüsterte Annabelle.

Keeley ließ ihre Mutter los, setzte sich wieder gerade hin und hob das Kinn. »Müssen wir noch mal eine Trauerfeier abhalten? Diesmal mit Beerdigung?«

»Du lieber Gott, nein.« Annabelle wollte Keeleys Hand nicht loslassen. Sie fasste noch fester zu.

»Okay … mit dir kann ich darüber nicht reden …« Keeley entwand Annabelle ihre Hand. Sie biss sich auf die Lippe, stand auf und drehte sich um. Ohne ein weiteres Wort ging sie ins Haus zurück.

Annabelle starrte auf die geschlossene Tür. Wo war nur ihr liebes kleines Mädchen geblieben? Das Kind, das Du bist die beste Mama der Welt auf einen Zettel geschrieben und ihn unter der Schlafzimmertür hindurchgeschoben hatte? Das Mädchen, das zum Übernachten bei einer Freundin war und abends plötzlich abgeholt werden wollte, weil es seine Mama so sehr vermisste?

Diese Keeley schien mit Knox zusammen gestorben zu sein, und einen Moment lang erschien Annabelle dieser Verlust viel ungeheuerlicher als alle anderen zusammen. Eine dumpfe Müdigkeit überfiel sie – eine Traurigkeit, die sich mit Verwirrung und Wut zu einem unentwirrbaren Gefühlsknäuel vermischte, das sie den ganzen Tag und bis in die Nacht hinein nicht loslassen würde. Sie wollte mit niemandem sprechen – sie sehnte sich nur nach Ruhe. Dabei hatte sie so viele Telefonate zu führen.

Die Sonne leuchtete hinter einer Wolke hervor und schien Annabelle direkt ins Gesicht. Sie hob die Hand und schirmte die Augen ab. Ihr war, als hätte jemand ihren Körper gerade mit einem Gewicht von tausend Pfund beschwert. Fragen nahmen Gestalt an, hämmerten auf sie ein. Warum hatte Knox ihr die Lüge mit der Jagd aufgetischt? Hatte er sie immer belogen, wenn er wegfuhr? Was war mit den Hirschgeweihen, die er mitgebracht hatte – hatte er sie echten Jägern abgekauft? Mit schweren Schritten ging Annabelle auf der Veranda hin und her. Hatte Knox diese Frau jedes Mal mitgenommen? War sie immer dabei gewesen, oder hatte er sie gerade erst kennengelernt?

Ihr Handy klingelte. Annabelle zuckte zusammen. Als sie Jakes Nummer auf dem Display erkannte, ging sie dran. »Hey, alter Freund«, sagte sie und zwang ihre zitternde Stimme zur Normalität.

»Alles klar, Mummy?«

»Wieso?« Annabelle rieb sich die Stirn.

»Keeley hat gerade angerufen. Sie hat es mir gesagt. Sie hat mir von Dad und dem Flugzeug und der Frau erzählt.«

»Ja.« Auf einmal überkam Annabelle das verzweifelte Bedürfnis, das Gesicht ihres Sohnes zu sehen. »Ich habe eben versucht, dich anzurufen …«

»Wie haben sie ihn denn gefunden?«

»Es war eine Wandergruppe«, antwortete Annabelle.

»Ach so …«

Stumm lauschte Annabelle dem Schweigen ihres Sohnes am anderen Ende der Leitung. Sie staunte darüber, dass Jake oder Knox fortgehen konnten – der eine aufs College, der andere in den Tod –, ohne dass ihre Liebe zu ihnen verging; sie war fest in ihrem Herzen verwurzelt.

»Mummy?«

»Ich bin noch dran«, sagte sie. »Mir geht’s gut, Jake. Ist doch verrückt, dass sie ihn – dass sie die beiden so gefunden haben … Aber mir geht’s gut.«

»Diese Sache ändert doch nichts, Mummy.«

Jetzt spürte Annabelle, wie ihr die Tränen kamen. Wollte ihr Sohn sie auf den Arm nehmen? Knox war der Eckstein, auf dem in ihrem Leben alles aufgebaut gewesen war. Sah Jake denn nicht, dass alles andere zusammenbrach und sich verschob, sobald dieser Eckstein entfernt wurde? Doch, diese Frau im Flugzeug änderte selbstverständlich alles.

Wenn Annabelle sich in Knox und seinem Wesen, in seiner Integrität und Liebe geirrt hatte, was hatte sie dann noch alles falsch eingeschätzt? Wenn ihre Annahmen über sein Engagement, seine Ethik und das, was ihm am Herzen lag, falsch waren, drehte sich möglicherweise die Sonne um die Erde. Und die Erde war vielleicht eine Scheibe, von der man am Horizont herunterstürzen konnte.

Zu wissen, wer diese Frau war, das war wichtiger als alles andere. Deren Existenz zerstörte Annabelles Vertrauen in ihr vergangenes Leben und in ihre Liebe.

Sie holte tief Luft. Diese finsteren Gedanken wollte sie an ihren optimistischen Sohn nicht weitergeben.

»Jake, es tut mir leid, dass du es von Keeley erfahren hast, nicht von mir. Sobald ich mehr weiß, rufe ich dich an.«

»Kannst du mir Einzelheiten berichten?«

Annabelle rasselte alles herunter, was ihr aus dem Gespräch mit Wade Gunther im Gedächtnis geblieben war.

»Soll ich nach Hause kommen?«

Ja!, hätte Annabelle am liebsten geschrien. Ihr Sohn sollte ihr mit seiner Anwesenheit zu Hause bestätigen, dass ihr Leben schön war, doch sie wusste, dass sie das nicht von ihm verlangen durfte. Sie selbst war es, die die Zweifel ihrer Kinder durch Vertrauen und Liebe ausräumen musste.

»Jake, bitte bleib da! Sobald ich mehr weiß, rufe ich dich an. Ich hab dich lieb.«

»Ich dich auch, Mummy. Ich hab dich auch lieb.«

Als Annabelle auflegte, fühlte sie sich, als sei ihr Körper ausgehöhlt, als hätte sie alles, was von ihrem Vertrauen noch übrig gewesen war, aus sich herausgeholt und an ihren Sohn weitergegeben.

Annabelle liebte das Chaos, das in den Büroräumen der Marsh Cove Gazette herrschte. Die Hektik, die Termine, die Rufe und die klingelnden Telefone ließen wenig Zeit für Besinnlichkeit und Leid. Sie betrat den hinteren Raum und klopfte an die Bürotür von Mrs Thurgood.

»Herein!« Die Stimme ihrer Chefin war heiser vom Rauchen, das sie zu Neujahr angeblich wieder einmal aufgegeben hatte.

»Hallo, Ma’am.« Annabelle betrat das Büro und legte Papiere auf den Tisch. »Hier sind die Antworten der Kummerkastentante für diese Woche.«

Mrs Thurgoods graue Haare standen in alle Richtungen ab, als wäre sie per Boot zur Arbeit gekommen und nicht in dem schwarzen Cadillac, mit dem sie in der Stadt herumkutschierte. »Sie hätten das doch in den Posteingang legen oder mir zumailen können. Warum stören Sie mich?«

Annabelle lächelte Mrs Thurgood an. »Da kommt gleich eine Geschichte rein … und ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.«

»Die Nachricht, dass das Flugzeug Ihres Mannes gefunden wurde?«

Annabelle bemühte sich, weiter zu lächeln, aber es gelang ihr nicht. »Ja, die meine ich. Ich war sicher, dass Wade es Ihnen inzwischen erzählt hat. Und jetzt hoffe ich, dass Sie wenigstens einen Tag lang warten, bevor Sie das abdrucken, damit ich meine Freunde … und meine Verwandten benachrichtigen kann.«

Mrs Thurgood hob eine Augenbraue. »Man hat also eine Frau in der Maschine gefunden? Und niemand weiß, wer sie ist? Wie kann ich denn so eine Story zurückhalten, Annabelle?«

Annabelle hob die Hand. »Das ist keine Story, das ist mein Leben.« Eine panische Angst überfiel sie, dass diese Nachricht eine Tür geöffnet haben könnte, die sie bisher nicht einmal gesehen hatte. »Und vielleicht können Sie mir sogar helfen. Sie wissen doch alles über diese Stadt, was man nur wissen kann.«

»Alle haben Knox geliebt. Er hat sich in der Gemeinde engagiert, hat kostenlos unterprivilegierte Menschen beraten und verteidigt, er hat die Sanierung der Innenstadt unterstützt – die ganze Stadt wird sich für die Entdeckung seines Flugzeugs interessieren. Es ist mein Job, Neuigkeiten unter die Leute zu bringen.«

»Aber … sie haben auch eine Frau gefunden.« Annabelle war es bereits müde, das zu sagen.

»Wissen Sie nicht, dass die Weitergabe von Informationen die einzige Möglichkeit ist, Informationen zu erhalten?«

»Ich möchte nicht, dass daraus eine Story wird, und schon gar nicht eine, die im ganzen Land die Runde macht. Es ist so peinlich.«

»Das wissen Sie doch gar nicht … noch nicht jedenfalls. Es gibt schließlich eine Million Gründe –«

»Was sagen Sie mir immer?« Annabelle beugte sich vor, klopfte auf den Schreibtisch. »›Die einfachste Erklärung ist normalerweise die richtige.‹«

»Und ich hab immer gedacht, Sie würden mir gar nicht zuhören.« Mrs Thurgood lachte über ihren eigenen Scherz. Sie glättete ihr widerspenstiges Haar, als hätte sie sich gerade im Spiegel betrachtet. »Aber im Ernst, Annabelle, haben Sie das Wort ›normalerweise‹ in dem Satz nicht bemerkt? Normalerweise, habe ich gesagt. Aber nicht immer. Lassen Sie uns keine voreiligen Schlüsse ziehen, okay?«

»Schlüsse?« Das Wort schmeckte fremd und bitter in Annabelles Mund – wie eine Speise, die sie noch nie probiert hatte. »Ich habe so viele Schlüsse gezogen und Vermutungen aufgestellt. Bisher, heißt das.«

Mrs Thurgood schloss die Augen. »Die haben wir alle im Gepäck, und oft sind sie wie schlecht gepackte Koffer – auf unserer Reise durchs Leben fallen sie auseinander und müssen neu gepackt werden. Annabelle, in dieser Hinsicht sind Sie nicht anders als alle anderen Frauen. Wir halten so lange an unseren Schlüssen und Annahmen fest, bis wir uns neue suchen müssen, und dann merken wir irgendwann, dass die neuen auch nichts taugen und wir sie lieber alle zusammen fallenlassen sollten.«

»Aber«, sagte Annabelle, »was sollen wir denn dann mitnehmen?«

»Vertrauen«, antwortete Mrs Thurgood.

»Auf was?«

»Das müssen Sie selbst herausfinden, meine Liebe. Jedenfalls sollten Sie darauf vertrauen, dass wir herausfinden, wer in dem Flugzeug gesessen hat. Okay?«

»Aber wenn …?« Die Frage kam von weit her und machte eine Bruchlandung in Annabelles Herz, genau dort, wo ihr Vertrauen zu Knox seinen Platz gehabt hatte.

»Aber wenn … was?«, hakte Mrs Thurgood nach.

»Wenn nichts davon stimmt?«

»Nichts wovon?« Mrs Thurgood trat hinter ihrem Schreibtisch hervor, was selten war, denn dazu musste sie zu ihrem Stock greifen.

»Nichts von all dem, was ich über mein Leben gedacht habe.« Annabelle beugte sich vor. Diese Frage war in ihr entstanden, nachdem Wade ihre Veranda verlassen hatte. »Wenn nun alle meine Annahmen über meine Ehe und mein Leben auf Lügen beruhten? Wenn alles, worauf ich vertraut und mich verlassen habe, gar nicht wahr gewesen ist?« Annabelle legte die zitternden Hände auf den Tisch, um sich abzustützen.

Mrs Thurgood berührte sie am Ellbogen. »Ach, Belle, das ist natürlich ein schrecklicher Gedanke.«

»Können Sie mit der Veröffentlichung der Geschichte nicht wenigstens warten, bis ich Zeit hatte, meine Familie und meine Freunde anzurufen?«

Mrs Thurgood nickte. »Sie haben noch ein paar Stunden – es wird erst in der Abendausgabe stehen.«

Annabelle senkte den Kopf. »Ich muss gehen …« Damit verließ sie das Büro.

Auf der Veranda von Cooper und Christine tanzten Licht und Schatten ein nachmittägliches Ballett. Annabelle stand vor der Tür und suchte nach den richtigen Worten, um ihre Freunde nach der fremden Frau zu fragen. Sie wollte ihre Neuigkeiten und ihre Fragen nicht so ungefiltert und emotionsgeladen ausspucken wie gerade eben im Büro von Mrs Thurgood.

Bevor sie anklopfen konnte, öffnete Christine ihr mit einem Lächeln. »Hey, Annabelle.« Ihre Freundin nahm sie in die Arme. »Ich darf Weißweintrinken und Segeln nicht mehr mischen, bin einfach zu alt dafür … Ich habe heute schreckliches Kopfweh. Und wie geht’s dir?«

»Gut … Ich hoffe, dass ich euch zu einer günstigen Zeit erwische. Vielleicht könnte ich kurz mit euch beiden sprechen? Oder ist Cooper heute unterwegs?«

»Er muss in einer Stunde los, er fliegt nach Phoenix. Ich sehe mal nach, ob er fertig gepackt hat.«

Annabelle stellte sich die Schlagzeilen vor, das Gerede, die Telefone, die in der ganzen Stadt klingeln würden. »Ich möchte bloß fünf Minuten mit euch sprechen … wenn es euch passt.«

»Ja, natürlich. Ich hole Cooper.« Christine winkte Annabelle, ihr zu folgen, warf einen Blick zurück über die Schulter und lachte. »Nicht zu fassen, dass du gestern ins Wasser gesprungen bist.«

»Es kommt mir vor, als wäre das schon Millionen Jahre her.«

»Wie meinst du das?«

»Ich habe heute etwas erfahren … Hol Cooper, damit ich es nicht noch mal erzählen muss …«

»Gut.« Christine ging den Flur hinunter zum Schlafzimmer. Sie hatte Cooper auf dem College kennengelernt und nach dem zweiten Date beschlossen, ihn zu heiraten. Christine stammte aus Florida – einem Staat, der, wie sie sagte, zwar im Süden lag, aber nicht zu den Südstaaten gehörte. Sie hatte sich erst ins Lowcountry verliebt und dann in Cooper, so als wäre er ein Teil dieses Landstrichs, das jemand ihr zum Geschenk gemacht hatte.

Annabelle erinnerte sich an einen Silvesterabend vor langer Zeit. Damals hatte Christine ihr erzählt, sie wisse jetzt, dass Cooper sie liebe, denn er sei bei ihr geblieben, obwohl er die Möglichkeit gehabt habe, zu einer alten Freundin zurückzukehren, die ihm einst das Herz gebrochen hatte.

Als Christine ihr diese Geschichte erzählte – sie waren damals beide schon jahrelang verheiratet und hatten zu viel Sekt getrunken –, erlebte Annabelle einen der seltenen Momente, in denen sie an Knox zweifelte. Hätte er sie verlassen, wenn er wirklich die Chance gehabt hätte? Sie beobachtete, wie Knox am anderen Ende des Raumes mit Shawn sprach und lachte. Dann schaute er sich um, bis er sie entdeckte, ihre Blicke begegneten sich, und er lächelte. Zehn Jahre waren sie damals verheiratet gewesen, und sie hatte gewusst, dass er nach ihr suchte, dass er sich nach einem ruhenden Pol in dem überfüllten Raum sehnte. Aber bin ich vielleicht nur das für ihn: eine Quelle der Ruhe und der Vertrautheit?, hatte sie sich in jener Neujahrsnacht gefragt.

Während sie nun in Christines Flur stand, erinnerte Annabelle sich an Knox’ Lächeln, als hätte sie es gerade eben erst empfangen.

Cooper erschien. Sein Haar war noch nass, und er knöpfte sich gerade das Hemd zu. »Hey, Belle, was gibt’s?« Er drückte ihr ein Küsschen auf die Wange.

»Kann ich euch einen Moment sprechen?«

»Das klingt so förmlich – du brauchst uns doch nicht zu fragen, wenn du mit uns sprechen willst. Was ist los? Du siehst nicht besonders … gut aus.«

»Danke, Cooper.« Annabelle boxte ihn in den Arm.

Er deutete auf die Küche. »Komm, ich mache uns Kaffee.«

Annabelle folgte ihm. Die Küche war neu eingerichtet, aber ganz auf alt gemacht mit Kieferndielen, Arbeitsflächen aus Granit, die so bearbeitet waren, dass sie gebraucht wirkten, einem schwarzen Viking-Herd mit künstlicher Patina und maßgeschreinerten Mahagonischränken.

Cooper schüttete Kaffeebohnen in die Mühle. Annabelle setzte sich auf einen Barhocker am Tresen, während Christine in der Küche umherlief, als suche sie nach einem Gegenstand, den sie aufräumen konnte.

Das Lärmen der Kaffeemühle ließ sie alle einen Moment lang schweigen. Dann klopfte Cooper das Kaffeepulver in den Filter und wandte sich an Annabelle. »Schieß los, Mädel! Was gibt’s?«

Christine setzte sich jetzt auch hin, an den Familienschreibtisch mit dem Rollladen, der Rechnungen und andere Schriftstücke diskret verbarg.

»Sheriff Gunther hat mich heute Nachmittag besucht. Offenbar haben sie Knox’ Maschine gefunden und seine Leiche auch«, sagte Annabelle.

Cooper kam um den Tresen herum und nahm sie in die Arme. Er roch nur nach Seife und Zahnpasta und sagte gar nichts. Annabelle war ihm dankbar dafür.

Als er zurücktrat, fügte sie hinzu: »Und eine zweite Person war bei ihm.« Sie konnte ebenso gut gleich zur Sache kommen. »Eine Frau. Ich hoffe sehr, dass ihr mir sagen könnt, wer sie war …«

Cooper beugte sich herunter und schaute ihr in die Augen. »Das soll wohl ein Witz sein.«

Schon in diesem Moment wurde ihr klar, dass er keine Ahnung hatte, wer die Frau war. »Nein, das ist kein Witz.«

Christine sprang von ihrem Schreibtischstuhl auf und kam zu ihnen. »Verdammt, Cooper, mit so was macht Annabelle doch keine Witze.«

Sie schaute Christine an. »Weißt du irgendwas über die Frau?«

Christine hob die Hände. »Nein, nein, ich habe doch bloß gemeint, dass niemand über so was Schreckliches Witze machen würde.«

Annabelle wandte sich wieder an Cooper. »Aber wer war sie denn bloß?«

»Lass uns das Ganze noch mal durchgehen«, schlug Cooper vor. »Also, Knox hat gesagt, er würde nach Colorado fliegen, zur Jagd. Allein. Das hat er … wie oft gemacht? Einmal im Jahr? Alle zwei Jahre?«

»Ja, unregelmäßig.« Annabelle spielte mit ihrem Kaffeebecher. »Nicht zu bestimmten Terminen.«

Cooper kam mit der Kaffeekanne und füllte ihre drei Becher.

Annabelle pustete in ihren Kaffee. »Hört mal, ich weiß, dass Cooper gleich los muss, aber wenn euch noch irgendwas einfällt, was mir helfen könnte rauszukriegen, wer sie war, dann sagt es mir bitte – auch wenn es bloß eine Kleinigkeit ist. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um meine Gefühle zu schonen. Ihr müsst mir alles erzählen. Die FAA, die Bundesluftfahrtbehörde, bemüht sich bereits, die Leichen zu identifizieren – und bald steht das alles in den Zeitungen.«

Cooper schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wer diese Frau gewesen sein könnte. Bisher habe ich immer gedacht, ich würde die Leute, die Knox gekannt hat, auch alle kennen. Wenn er dich in dieser Sache belogen hat – dann hat er mich auch belogen.«

»Ich weiß nicht, ob er mich angelogen hat. Mit Sicherheit weiß ich nur, dass … Nein, eigentlich weiß ich gar nichts mit Sicherheit.« Annabelle trank einen Schluck Kaffee.

Cooper setzte sich neben sie. »Lass dich nicht verunsichern, Annabelle. Wahrscheinlich gibt es eine ganz logische Erklärung.«

Annabelle starrte aus dem Fenster, über den Garten ihrer Freunde hinweg auf den Bach, der dahinter floss. Oben auf der Lehne einer eisernen Bank saß eine gelbe Meise. »Kannst du dir auch nur eine Erklärung denken, die nichts mit Täuschung oder Untreue zu tun hat?«, fragte Annabelle. »Ich nicht. Bei allen Erklärungen, die mir einfallen, ist eins von beiden im Spiel.« Annabelle hob die Handflächen, als wiege sie etwas ab, dann senkte sie die rechte Hand. »Täuschung« – Annabelle senkte die linke Hand –, »Untreue.« Sie ließ beide Hände sinken. »Von den beiden Möglichkeiten finde ich keine besonders prickelnd.«

»Hat Knox auf dem Weg nach Colorado nicht irgendwo eine Zwischenlandung gemacht? Aufgetankt oder so was?«, erkundigte Cooper sich.

Annabelle richtete sich auf. »Doch. In Newboro, North Carolina. Da ist er gelandet …«

»Siehst du? Vielleicht gibt es doch eine ganz vernünftige Erklärung … Reg dich nicht über etwas auf, was du noch gar nicht weißt.«

»Okay, da gebe ich dir recht – ich verstehe es einfach noch nicht«, räumte Annabelle ein. »Ich werde mir Mühe geben zu glauben, dass ich es eines Tages vielleicht verstehe.« Annabelle schloss die Augen und legte den Kopf auf den Tresen. »Bitte, lieber Gott, mach, dass es eine gute Erklärung gibt!«

»Wir sind hier, wenn du uns brauchst.« Cooper tätschelte ihr sanft den Kopf.

Christine stand auf und setzte sich neben Annabelle. »Bitte sag uns Bescheid, wenn wir irgendwas tun können.«

Annabelle hob den Kopf. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Danke, ihr beiden.« Als sie aufstand, um zu gehen, fragte sie sich, welches der nächste Schritt in diesem planlosen Tanz sein könnte – in diesem Tanz, dessen Schritte niemand kannte.

Zu Hause erledigte Annabelle alle Telefongespräche, vor denen sie sich gefürchtet hatte: mit ihrer Mutter und ihren Schwiegereltern, mit Vettern, Cousinen und Tanten. Sie wiederholte die Geschichte jedes Mal mit künstlich munterer Stimme und fühlte sich dabei, als risse sie ihr Leben auseinander, als entferne sie Bausteine aus dem Fundament ihrer Ehe.

Anschließend musste sie sich vergewissern, dass es Jake gutging, dass die Neuigkeiten ihm nicht so schlimm zusetzten wie Keeley. Sie wählte seine Nummer, aber die Mobilbox sprang an. »Hey, Jake, hier ist Mummy. Wollte nur hören, wie’s dir geht. Ruf mich an! Hab dich lieb«, sagte sie und legte auf.

Das Studium hielt ihn ganz schön auf Trab. Jake war der Einzige aus seiner Highschool-Klasse gewesen, den die University of North Carolina zum Studium der Politischen Wissenschaften zugelassen hatte. Seine Noten und seine Aktivitäten, der gute Ruf seines Vaters und seine eigene liebenswerte Persönlichkeit hatten ihm den Platz in der renommierten Fakultät eingebracht. Eine ganze Weile hatte Jake noch in der Wahl des Hauptfachs geschwankt – bis er sich nach dem Tod seines Vaters dann entschloss, dessen Arbeit fortzuführen und Menschen zu Gerechtigkeit zu verhelfen, denen sie verweigert worden war.