Unser Sommer in Georgia - Patti Callahan Henry - E-Book

Unser Sommer in Georgia E-Book

Patti Callahan Henry

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Beschreibung

Ein Sommer voller Geheimnisse und voller Hoffnung.

Ein kleiner Buchladen in Georgia ist alles, was der jungen Riley geblieben ist, als sie ihre große Liebe verlor. Ausgerechnet ihre Schwester Maisy hat einst Mack verführt, den Mann, den Riley insgeheim noch immer liebt. Als beide in ihr Leben zurückkehren, muss Riley kämpfen: um den Laden, der kurz vor dem Ruin steht, um den Zusammenhalt ihrer Familie und um ihr Lebensglück.

»Schon allein die poetische Erzählerstimme der Autorin reißt den Leser mit.« BOOKLIST

Ein wunderschöner Roman voll herrlicher Landschaftsbilder über den Zusammenhalt der Familie und die Kunst der Versöhnung.

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Seitenzahl: 462

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Zitate

Driftwood Cottage Bookstore

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Epilog

Folgende Bücher werden in Unser Sommer in Georgia erwähnt

Danksagungen

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

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Über dieses Buch

Ein kleiner Buchladen in Georgia ist alles, was der jungen Riley geblieben ist, als sie ihre große Liebe verlor. Ausgerechnet ihre Schwester Maisy hat einst Mack verführt, den Mann, den Riley insgeheim noch immer liebt. Als beide in ihr Leben zurückkehren, muss Riley kämpfen: um den Laden, der kurz vor dem Ruin steht, um den Zusammenhalt ihrer Familie und um ihr Lebensglück.

PATTI CALLAHAN HENRY

Unser Sommerin Georgia

Aus dem amerikanischen Englischvon Sabine Schulte

 

Für meine liebsten Freundinnen,die zufälligerweise auch meine Schwestern sind:Barbi Callahan Burris und Jeannie Callahan Cunnion

 

»Verstehen kann man das Leben nur rückwärts;leben aber muss man es vorwärts.«

Søren Kierkegaard (1813-1855)

»Ohne Bücher kann ich nicht leben.«

Thomas Jefferson in einem Brief an John Adams (1815)

Driftwood Cottage Bookstore

Neues aus Palmetto Beach

Liebe Bücherfreunde,

endlich ist er da, der lang ersehnte Sommer.

In dieser Jahreszeit kehren unsere lieben Sommergäste nach Palmetto Beach zurück. Das Tempo wird geruhsamer und schenkt uns Zeit für den Schaukelstuhl im Garten, für den Strand, für Pearson’s Pier und natürlich auch für Ihre Buchhandlung im Driftwood Cottage.

Vom nächsten Freitag an haben wir eine große Überraschung für Sie geplant. Über ein Jahr reden wir jetzt schon von diesem ganz besonderen Ereignis, und nun ist es so weit: Das Driftwood Cottage feiert sein zweihundertjähriges Bestehen. Unseren Buchladen beherbergt das Gebäude zwar erst seit zwölf Jahren, aber es hat eine bewegte Geschichte und überlebte sogar einen Umzug von seinem ursprünglichen Standort auf einer Plantage an unseren Strand.

Wir haben eine ganze Woche mit Veranstaltungen geplant: Es wird Abende mit Lyrik, Kunst und Kunsthandwerk, Lesungen und Events des Buchclubs geben, und immer steht Ihnen dabei das gesamte Angebot des Driftwood Cottage Bookstore zur Verfügung.

In unserem Rundbrief finden Sie in diesem Monat wieder Besprechungen von wunderbaren neuen Büchern sowie Annes und Ethels Buchtipps des Monats und natürlich die Vorschläge der Lesezirkel. Denken Sie auch an Annes Töpferkurse und an die Aktivitäten in der Kinderecke.

Gönnen Sie sich eine Mahlzeit in unserem Café, nehmen Sie ein gutes Buch zur Hand, genießen Sie die gemütliche Atmosphäre, und feiern Sie mit uns das Driftwood Cottage und unser Städtchen Palmetto Beach!

Bis zum nächsten Mal!

Viel Vergnügen beim Lesen

wünschen Ihnen

Kitsy und Riley Sheffield

Das Programm unserer Festwoche

Freitag, 18:00 Uhr

Bestsellerautor Nick Martin spricht über seinen neuesten Thriller, der auf einem Weingut im Napa Valley spielt.

Anschließend Signierstunde

Samstag, 19:00 Uhr

Lesezirkel-Fest

Die Mitglieder der verschiedenen Lesezirkel laden Sie zu einem fröhlichen Abend mit Literatur-Quiz ein, bei dem es schöne Preise zu gewinnen gibt. Genießen Sie den Wein und die Speisen, die von den örtlichen Geschäften gestiftet wurden!

Sonntag, 18:00 Uhr

Der Kochbuch-Club bittet Sie ins Café.

Die Mitglieder werden ihr Lieblingsgericht aus ihrem Buch des Monats zubereiten: Shrimp & Grits Cookbook von Nathalie Dupree.

Kommen Sie zum Zuschauen, Probieren und Genießen!

Montag, 18:00 Uhr

Künstlerabend

Kunsthandwerker und Künstler aus der Umgebung zeigen und verkaufen ihre Originalarbeiten.

Dienstag, 19:00 Uhr

Lyrikabend

Dichter aus der Umgebung lesen aus ihren Werken.

Mittwoch, 19:00 Uhr

Kinderfest

Kommen Sie mit Ihren Kleinen und Großen zu einem vergnüglichen Abend mit Malen, Schreiben und einer Signierstunde mit Sally Wentworth, der Kinderbuch-Illustratorin aus Georgia.

Donnerstag, 19:00 Uhr

Ein Abend mit örtlichen Schriftstellern

Kennen Sie schon sämtliche Autoren unserer Umgebung?

Heute sind sie alle dabei nach dem Motto: »Lauf nicht fort, lies am Ort.«

Freitagabend

Geschlossen

Wir bereiten das große Fest am Samstag vor.

Samstag, 16:00-22:00 Uhr

Das Jubiläumsfest des Driftwood Cottage Bookstore

Die größte Party, die Palmetto Beach in den letzten zwei Jahrhunderten erlebt hat!

Musiker aus der Stadt, Speisen und Wein aus unseren Restaurants in Palmetto Beach, Tombola mit tollen Gewinnen. Dieses Fest dürfen Sie nicht versäumen.

Eins

Riley

Riley Sheffield, Geschäftsführerin des Driftwood Cottage Bookstore, war der Überzeugung, dass selbst ein vollkommen unspektakuläres Leben einem guten Roman gleicht und erzählenswert ist. Dabei war ihr eigenes Leben keineswegs normal, sondern voller unerwarteter Wendungen, Geheimnisse und Überraschungen. Es wies Erzählstränge auf, die eng mit den Biografien anderer Menschen verwoben waren. Dreh- und Angelpunkt dieses Lebens war ein zweihundert Jahre altes Haus am Strand – das Driftwood Cottage. Jeden Morgen erwachte Riley in Erwartung eines neuen Tages voller Geschichten – Geschichten in den Romanen, die sie las, und Geschichten aus dem Leben ihrer Kundinnen.

Vor zwölf Jahren hatte Rileys Mutter das alte Haus gekauft und darin eine Buchhandlung eröffnet. Riley führte das Geschäft. Sie lebte mit ihrem Sohn in der Wohnung über dem Laden. Ihre Tage waren ebenso auf den Rhythmus der Gezeiten wie auf die Ebbe und Flut der Kundenströme abgestimmt. Die salzige Meeresluft mischte sich mit den Gerüchen von Tinte und Papier. Der Seewind, der durch die geöffneten Fenster hereinwehte, führte mit den knackenden Wänden und den ächzenden Bücherregalen eine Sinfonie auf. Der Sand, den Riley zwischen den Zehen spürte, schob sich auch in die Ritzen der Bodendielen, in das Gewebe der verschlissenen Polstersessel und manchmal sogar zwischen die Buchseiten.

Hinter einer Tür links von der Kasse stand Rileys Schreibtisch, halb verdeckt von Stapeln mit Antworten auf die Einladungen für die Party, die in der kommenden Woche im Buchladen stattfinden sollte. Riley drückte sich vor der langweiligen Arbeit, die Zusagen zu erfassen, indem sie sich in die Buchclub-Ecke begab, ihr Lieblingsplätzchen im Laden.

Mit einem Seufzer ließ sie die Fingerspitzen über die Buchrücken auf den krummen Regalbrettern gleiten. Die Geschichten waren alte Freunde, die sie trösteten, und auch die Kameradschaft der Frauen in den verschiedenen Lesezirkeln half ihr ein wenig über die Einsamkeit einer zweiunddreißigjährigen alleinerziehenden Mutter hinweg. Mit den Frauen über Romane und anschließend über ihre persönlichen Geschichten zu diskutieren hatte Riley für die Verletzungen sensibilisiert, die andere mit sich herumtrugen. Die Lesezirkel wirkten wie Balsam auf die schmerzhafte Sehnsucht nach Nähe.

Riley stand hinter dem Bücherregal und hörte zu, wie die Frauen vom Strandnixen-Lesezirkel sich ins Wort fielen und einander zu übertönen versuchten. Offenbar waren sie ausnahmslos davon überzeugt, dass die eigene Meinung bedeutsamer sei als die der anderen Mitglieder. Riley musste lächeln. Sie spürte, dass ein Streit drohte. Oft genug hatte sie stöbernden Kunden und Buchclub-Mitgliedern, Autoren und Möchtegern-Schriftstellern gelauscht, sodass sie sich mittlerweile zu einer Meisterin im Heraushören von negativen Untertönen entwickelt hatte.

Sie schaute um das Regal herum.

»Hallo, meine Damen!«

»Riley«, rief Lola Martin mit erhobenen Augenbrauen, »wer war deine erste Liebe?«

Die Frauen saßen in Clubsesseln und hatten die Füße auf verblichene, rosarot-grün gemusterte Polsterhocker gestellt. Auf den aus Treibholz gezimmerten Beistelltischchen standen Kaffeetassen. Alle winkten Riley zu und begrüßten sie lautstark.

»Tom Sawyer«, antwortete sie mit schiefem Lächeln und schob ein heruntergefallenes Buch ins Regal zurück. »Interessante Frage. Über welches Buch sprecht ihr denn gerade?«

»Über Beach Music von Pat Conroy«, antwortete Lola. »Der Held des Romans hört nie auf, seine erste Liebe zu lieben, und da haben wir uns einfach gefragt, wer wohl deine erste Liebe war. Aber Tom Sawyer zählt nicht.«

»Doch, doch, der zählt.« Riley trat in die Mitte des Kreises und nahm mehrere leere Kaffeetassen an sich. »Für eine zwölfjährige Leseratte, die allein irgendwo am Flussufer saß, war Tom Sawyer der ideale erste Schwarm.«

»Das klingt, als hätte Tom Sawyer wirklich gelebt«, bemerkte Lola.

»Hat er ja auch.« Riley schaute aus dem Fenster in den Vorgarten, wo eine uralte Lebenseiche mit ausladender Krone ihre Äste hoch in den Himmel reckte. In den Astgabeln nisteten Lichtflecken.

»Seht ihr«, erklärte Ashley Carpenter und ließ ihr sechs Monate altes Baby auf dem Schoß hopsen, »wahre Liebe und Happy Ends gibt’s nur in Märchen oder Romanen, nicht im wirklichen Leben.«

Lola schüttelte den Kopf. »Ich behaupte ja gar nicht, dass es bei wahrer Liebe immer einen glücklichen Ausgang gibt. Aber manchmal eben doch. Oder?« Wieder schaute sie Riley an.

Ashley lachte. »Na, davon musst du mich aber erst mal überzeugen.«

Riley lächelte, als mehrere der Gruppe gleichzeitig zu reden anfingen. Sie verabschiedete sich und ging ins Büro zurück, um sich wieder ihrer Arbeit zu widmen.

Tom Sawyer war natürlich überhaupt nicht ihre erste Liebe gewesen – nein, Mack Logan hatte er geheißen. Riley verbannte das stets aus ihrem Bewusstsein; ihr Herz jedoch würde das niemals vergessen.

Die Antwortkarten auf ihrem Schreibtisch holten sie in die Gegenwart zurück, zu der bevorstehenden Festwoche. Der Veranstaltungsreigen sollte dem Buchladen so viele Einnahmen bescheren, dass er sich weiterhin über Wasser halten konnte. Mit dem ambitionierten Programm wurde das zweihundertjährige Bestehen des Driftwood Cottage und gleichzeitig auch der fünfundsechzigste Geburtstag von Kitsy Sheffield, Rileys Mutter, gefeiert. Mrs Sheffield war überzeugt, dass diese Kombination einfach nicht zu überbieten war. Dennoch war damit noch nicht gesichert, dass die Einnahmen den Laden retten könnten. Die Gewinne waren im Keller, und die Buchführung wies einen unüberwindlichen Schuldenberg auf.

Ihrer Mutter zufolge würde es das Fest aller Feste werden. Es würde dem Nationalfeiertag, der Amtseinführung des Bürgermeisters und selbst dem Jahrestag der Stadtgründung Konkurrenz machen. Aber Mama redete immer so – als könnten ihre enthusiastischen Schilderungen sie dafür entschädigen, dass ihr Leben so belanglos dahinplätscherte: mit Teekränzchen und Höflichkeitsbesuchen und stundenlangen Sitzungen vor dem Spiegel, bevor sie Tag für Tag und Jahr für Jahr zu denselben Leuten aufbrach.

Auch Rileys Schwestern, Maisy und Adalee, wurden zum Fest erwartet. Zum ersten Mal seit sechs Jahren würde die Familie wieder zusammenkommen.

Ein Stapel Post auf dem Schreibtisch kippte um, und die Umschläge flatterten zu Boden. Riley hob sie wieder auf und band dann ihr Haar mit einem Gummi zusammen. Sie zog eine Antwortkarte nach der anderen aus den Umschlägen und notierte die Zusagen auf einer Liste. Die Karten aus hochwertigem Büttenpapier – für Mama kam immer nur das Beste in Frage – waren alphabetisch geordnet. Die Spezialistin für Hochzeitseinladungen von Palmetto Beach hatte die Rückumschläge in Schönschrift adressiert – diesen Gefallen hatte Riley von ihr erbettelt, da es ihrer Mutter wichtig war, weiterhin den Eindruck zu erwecken, sie würden im Überfluss schwelgen. Die Familiennamen der Absender schürten bei Riley eine Sehnsucht nach den längst vergangenen Kindheitssommern voller Freiheit und Vergnügen. Sie sagte die Namen laut vor sich hin.

Früher hatte ihre Mutter stets laut die Absender der Weihnachtskarten kundgetan. Mit singender Stimme rezitierte sie deren Namen und bemerkte dann: »Weißt du noch, wie Tante Sissy am Thanksgiving Day mal zu viel getrunken hatte? Und dann hat sie den Schrank mit dem Porzellan umgeworfen.« Oder: »Ach, die liebe Mrs Duncan, sie hat ja bei diesem schrecklichen Autounfall ihren Sohn verloren.« Jeder Umschlag weckte eine Erinnerung.

Ausnahmsweise blieb das Telefon einmal still, und es klopfte auch nicht an der Bürotür, sodass Riley die Erinnerungen ungestört genießen konnte, während sie die Gästeliste erstellte. Eine halbe Stunde hatte sie so gearbeitet, als sie wieder nach einem Umschlag griff: Mr Mack Logan hatte ihn geschickt. Riley schloss die Augen und sprach den Namen aus. Die Laute waren ihrer Zunge fremd geworden.

Auf einmal wurde Riley von einer Flut lebhafter Erinnerungen überschwemmt. Mack, wie er mit zehn Jahren versuchte, mitten in der Bucht das Segelboot wieder aufzurichten, und dabei brüllte, er brauche ihre Hilfe nicht; wie er mit zwölf nach einem Angelausflug vor ihr stand und die Abendsonne von hinten sein zerzaustes Haar beleuchtete; seine Gestalt mit sechzehn, groß und schlank, und mit achtzehn, als er als Erwachsener nach seinem letzten Jahr auf der Highschool zurückgekehrt war. In schneller Folge spulten die Bilder sich vor Riley ab wie Fotos in einem Album – Bilder von Mack Logan, dem besten Freund ihrer Kindheit, ihrem Verbündeten, dem Jungen, der ganz plötzlich zum Mann geworden war.

Nun wollte Mack zur Festwoche des Buchladens nach Palmetto Beach zurückkehren, und sie würde ihn nach dreizehn Jahren wiedersehen. Was mochte aus ihm geworden sein?

Riley verdrängte die Erinnerungen, aber es war, als wolle sie eine Boje unter Wasser drücken. Ihre inneren Bilder von Mack waren so lebendig und vollständig wie eh und je. Warum nur hatte sie geglaubt, diese Eindrücke würden vergehen, bloß weil sie sich nicht damit befasste? Das war ja, als würde man sich einbilden, ein ganzes Land existiere nicht, bloß weil man nie dort gewesen war.

Während ihrer gesamten Kindheit hatte das Driftwood Cottage der Familie Logan als Ferienhaus gedient. Nie wäre Riley auf den Gedanken gekommen, dass es eines Tages ihr eigenes Zuhause werden könnte. Doch nun wohnte sie schon seit zwölf Jahren hier – seit der Geburt ihres Sohnes Brayden. Seitdem drehte ihr ganzes Leben sich um das Kind und den Buchladen. Sie hatte sich auf die praktischen, notwendigen Dinge des Alltags konzentriert. Ihre einzige Ablenkung waren die Romane, die sie verschlang.

Es klopfte, und Riley schrak auf. »Ja?«, rief sie.

»Rileyschatz?«, rief Ethel Larkin, die die Kasse bediente.

Als Riley die Tür öffnete, streckte Ethel ihr das schnurlose Telefon entgegen. »Das ist Harriet, sie ruft von deiner Mutter aus an.«

Riley lächelte. Die herzensgute Ethel hatte von Anfang an im Laden mitgearbeitet. Ihre winzige Gestalt war immer in helle, weite Kleidung gehüllt, und das weiße Haar türmte sich auf ihrem Kopf wie ein Wattebausch. Ethels Sarkasmus und Witz bewahrten Riley stets davor, sich selbst oder ihre Probleme allzu ernst zu nehmen. Zu Ethels vielen Eigenheiten gehörte auch, dass sie Tag für Tag weiße Handschuhe trug. Sie gestikulierte beim Sprechen, um ihre Worte zu unterstreichen. Es war Riley ein Rätsel, ob Ethel wusste, dass ihre Handschuhe – ein Paar wie das andere – schmutzig waren und einige auch verschlissen. Sie hatte Ethel nie danach gefragt – es gehörte zum Geheimnisvollen der alten Dame und des Buchladens.

Im Moment hielt Ethel sich die weiß behandschuhte Linke an die Wange; ihre Augen waren groß vor Sorge.

»Harriet sagt, deine Mama ist gestürzt.«

Riley schloss die Augen. Nein, Mama, nicht, flüsterte sie in Gedanken.

Vor sechs Jahren war ihr Vater gestorben, und diese Wunde schmerzte immer noch.

Riley griff nach dem Telefon. »Hallo?«

Sie warf einen Blick in den Eingangsflur in der Hoffnung, die Matriarchin der Sheffields hereinmarschieren zu sehen. Das Abendlicht fiel auf die Bodendielen. Eine junge Frau und ein kleines Mädchen mit Rattenschwänzchen spazierten zwischen den Regalen umher. Nein, jetzt würde Mama nicht kommen – es war Martinizeit. Was konnte denn bloß in der Martinizeit passiert sein?

Harriet Waters, seit vierzig Jahren Haushälterin bei den Sheffields, sagte mit zitternder Stimme: »Ach, Riley, deine Mama ist die große Treppe runtergefallen. Ich musste den Krankenwagen rufen, weil ich sie nicht wachrütteln konnte. Der Wagen hat sie gerade ins Krankenhaus mitgenommen … Als der Notarzt hier ankam, war sie wieder zu sich gekommen. Sie ist schrecklich böse, weil ich um Hilfe gerufen habe, aber was sollte ich denn machen? Sie hat da unten an der Treppe gelegen wie ein Häufchen Elend, mit verdrehten Augen … Sollte ich sie denn einfach da liegen lassen und …« Harriet verhaspelte sich.

»Jetzt mal langsam!« Riley suchte Halt an der Schreibtischkante und bemühte sich, Harriets Worte zu verstehen.

Harriet redete weiter: »Deine Mama ist jetzt im Krankenwagen in die Klinik unterwegs. Noch bei der Abfahrt hat sie mich beschimpft und mit den Armen gerudert, als wollte sie mich am liebsten in den Hintern treten. Ich bin noch bei euch zu Hause, aber die sind losgefahren … weg.«

Riley lehnte sich gegen den Schreibtisch. »Ist sie vor oder nach den Martinis gestürzt?«

»Danach. Ich hab ihr immer gesagt, sie soll nicht mit hohen Absätzen im Haus rumlaufen, aber sie hört ja nicht auf mich.«

Bedrückt dachte Riley daran, dass ihre Mutter immer noch versuchte, den eleganten Lebensstil ihrer Ehejahre beizubehalten. Um fünf Uhr nachmittags zog sie sich für die Cocktails um, abends um acht dann für das Dinner – aber ohne Ehemann.

»Ich fahre so schnell wie möglich ins Krankenhaus«, erklärte sie der Haushälterin.

Sie legte auf und schaute Ethel über die Ladentheke hinweg an. »Ich muss in die Klinik. Kannst du Brayden im Auge behalten?«

»Selbstverständlich«, sagte Ethel. »Ist mit deiner Mama alles in Ordnung?«

Riley zuckte die Achseln. »Das werde ich gleich sehen.« Sie schnappte sich den Autoschlüssel und warf über die Schulter noch einen Blick auf die Frauen des Lesezirkels, die weiterhin zusammen in der Ecke saßen. Sie waren vom Roman abgekommen und unterhielten sich nun über ihre eigenen Lebensgeschichten. Riley glaubte, dass sich das Innenleben von Buchclub-Mitgliedern anhand der Lektüre erkennen ließ, die sie sich aussuchten. Ihr eigenes Lebensbuch war im Moment ein Roman, der in den Südstaaten spielte und von einer kaputten Familie handelte, die vorgab, alles sei in bester Ordnung; er erzählte von einer Mutter, die betrunken die Treppe heruntergefallen war, von einer Schwester, die sich nach Kalifornien abgesetzt hatte, und von einer anderen Schwester, die ihr Studium als Freibrief betrachtete, um ungehindert Tag und Nacht Partys zu feiern.

Riley ging zu ihrem Sohn hinüber, der gerade aus der Schule gekommen war. Er stand in der Zeitschriftenecke und blätterte in der neuesten Ausgabe von Sport Fishing. Erst als sie ihm die Hand auf den Arm legte, bemerkte er sie. »Oma ist hingefallen; es geht ihr gut, aber sie ist im Krankenhaus. Sie braucht mich. Ethel ist hier … Ich bin so schnell wie möglich wieder zurück.«

Brayden sah zu ihr auf. »Darf ich mit?«

Riley schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich rufe dich an, sobald ich was weiß.«

Er zuckte die Achseln. »Okay.«

»Ich hab dich lieb.« Riley drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.

»Ich dich auch.« Er wischte sich den Kuss ab und grinste.

Riley hastete in die Notaufnahme des Krankenhauses und trat an die Information. Erinnerungen an die letzten Tage ihres Vaters in diesem Gebäude drängten sich ihr auf. Die Frau hinter dem Schreibtisch blickte auf. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ja, ich suche Kitsy Sheffield. Sie ist vor ein paar Minuten eingeliefert worden.«

»Gehören Sie zur Familie?«

»Ja, ich bin ihre Tochter.«

»Mrs Sheffield wird gerade geröntgt, aber Sie können auf sie warten, zweite Tür rechts. Dr. Foster kommt gleich.«

»Gut«, rief Riley über die Schulter zurück, während sie schon durch die Doppeltür stürzte und den Flur entlanghastete. In dem Kämmerchen stand keine Liege mehr; sie setzte sich auf einen der beiden Metallstühle und ließ den Kopf in die Hände sinken.

»Riley?«

Als sie aufschaute, stand Dr. Foster in der Tür. Riley kannte den Arzt schon ihr Leben lang. Auch beim Sterben ihres Vaters hatte er die Familie unterstützt. Sein weißes Haar zeugte von seinem Alter, während die Linien in seinem Gesicht von stillem Leid kündeten, dem Mitgefühl für all das, was er als Arzt in einer Kleinstadt erlebt hatte.

»Wie geht es ihr?«, fragte Riley.

»Die Computertomografie hat sie schon hinter sich, sie wird gerade geröntgt. Aber sie ist bei Bewusstsein und beschwert sich lautstark; demnach scheint es ihr ganz gut zu gehen. Allerdings hat Harriet gesagt, gleich nach dem Sturz sei sie ohnmächtig gewesen. Sie hat sich mit Sicherheit mehrere Knochenbrüche zugezogen. In etwa einer Stunde weiß ich mehr.«

»Danke.« Riley rang sich ein Lächeln ab.

Dr. Foster ließ sie wieder allein, und die endlose Wartezeit begann sie zu nerven. Sie wanderte durch das Zimmer und versuchte, nicht daran zu denken, was alles schiefgehen konnte, wenn ihre Mutter sich ernstlich verletzt hatte. Riley wandte sich gerade wieder der offenen Tür zu, als eine streitlustige Stimme durch den Flur schallte. Kitsy Sheffield wurde auf einer fahrbaren Liege in den Korridor gerollt.

»Ich sag es ihnen doch«, schrie sie Dr. Foster an, »mir geht’s prima! Geben Sie mir einfach was gegen die Schmerzen, dann ist alles gut!«

Dr. Foster warf Riley einen Blick zu und lächelte.

Sie lief zu ihnen. »Mama, ich bin da«, sagte sie und folgte ihrer Mutter zurück in den kleinen Raum.

Kitsy Sheffields sonst so ordentlich frisiertes Haar stand an einer Seite hoch und war auf der anderen zu einem wirren Knäuel zusammengedrückt. Ihre grünen Augen waren verschleiert und feucht. Das Gesicht wirkte so weiß wie die bis zum Kinn hochgezogene Decke. Eine Krankenschwester schob den Infusionsständer neben die Liege.

»Natürlich bist du da, Liebes«, sagte die Patientin. »Und jetzt sag Dr. Foster, dass er mich entlassen soll. Sofort. Auf der Stelle. Und es tut weh, wirklich verdammt weh.« Die Tränen stiegen Kitsy in die Augen, und sie drehte sich weg.

»Kitsy, einen Moment noch!« Dr. Fosters tiefe Stimme wurde leise, während die Krankenschwester die Liege an die Wand schob und die Räder feststellte. »Schwester, bitte geben Sie Mrs Sheffield eine Dosis des verordneten Schmerzmittels!«

Die Krankenschwester drückte ein paar Knöpfe auf der Spritzenpumpe. Dann verließ sie den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Dr. Foster setzte sich neben Kitsy. »Sie haben sich das Handgelenk verstaucht, den Oberschenkelhals und zwei Rippen gebrochen, und außerdem haben Sie sich entlang der Hüfte ein Hämatom zugezogen. Es sieht aus, als wären Sie von einem bockenden Pferd gefallen. Aber das sind Sie doch nicht, oder?«

»Sehr witzig!«, knurrte Kitsy Sheffield.

»Sie werden mindestens einen Tag hierbleiben müssen, also hören Sie auf zu schimpfen, und beruhigen Sie sich! Sie müssen geschient werden und kriegen einen Gips, außerdem werden wir noch ein paar Untersuchungen durchführen. Ich organisiere Ihnen gleich oben ein Zimmer, dann können Sie von dieser Liege herunter und kommen in ein richtiges Bett. Also halten Sie einfach noch ein bisschen durch!«

»Warum bist du nicht in der Buchhandlung?« Mrs Sheffield blinzelte Riley an. »Wer ist denn da?«

»Mama, ich finde, du bist wichtiger als der Laden.«

»Ich bin doch schon wieder so gut wie auf den Beinen«, erklärte Kitsy.

Dr. Foster schaute von der Mutter zur Tochter. »Riley, ich möchte Sie jetzt bitten, das Zimmer zu verlassen, damit ich unter vier Augen mit Ihrer Mutter sprechen kann.«

Abwehrend streckte Kitsy ihm die Handfläche entgegen. »Schon gut. Wir können es Riley sagen. Sie muss es ja wissen, wenn ich diese Woche durchstehen soll.«

Dr. Foster bückte sich und zog am Fußende der Liege die Decke zurecht. »Sind Sie sicher?«

»Ja.«

Riley spürte, dass die Offenbarung, obwohl sie noch nicht einmal ausgesprochen war, wie eine dunkle Rauchwolke ins Zimmer schwebte. Sie schob ihrer Mutter eine Haarsträhne aus der Stirn. Wie sie da im Bett lag, mit der Infusionskanüle im Handrücken, Verbänden an den Armen und einer Blutkruste auf der Wange, wirkte ihre Mutter so verletzlich, dass Riley der Atem stockte.

»Um was geht es denn, Dr. Foster?«

»Ihre Mutter hat vor einigen Wochen in der Kniekehle einen Knoten entdeckt. Inzwischen ist die Gewebeprobe untersucht worden. Ihre Mutter hat Knochenkrebs, ein sogenanntes Chondrosarkom.«

»Nein!« Rileys Flüstern war ein verzweifeltes Flehen. »Nicht Krebs. Nicht wie Dad.«

»Nein, so nicht … Es ist eine andere Art«, wisperte ihre Mutter. »Meinen Krebs kann man behandeln. Jedenfalls glauben sie das. Ich will einfach noch nichts unternehmen und es noch niemandem sagen … erst nach dem Besuch deiner Schwestern, nach der Festwoche in der Buchhandlung. Erzähl es deinen Schwestern nicht –«

»Mama, du darfst mit der Behandlung nicht warten. Stimmt das nicht, Dr. Foster? Sie darf es nicht aufschieben. Wir müssen uns sofort darum kümmern.«

»Wir tun, was wir können, Riley. Diese neuen Verletzungen machen die Situation natürlich noch komplizierter.« Dr. Foster strich über den Rand der Liege, als wolle er beruhigend Rileys Hand streicheln. »Ihre Mutter hat sich informiert und sich daraufhin entschieden, und nach dem Fest beginnen wir mit der Behandlung.«

Riley schaute auf ihre Mutter hinunter. Am liebsten hätte sie die Frau auf der Liege in die Arme genommen, aber Kitsy waren die Augen zugefallen, und sie pustete leise durch die geöffneten Lippen. Sie war eingeschlafen.

Riley trat zu Dr. Foster. »Das mit dem Abwarten müssen Sie ihr ausreden … Hat sie sich wegen der Krankheit so viele Knochen gebrochen?«, fragte sie.

»Das ist durchaus möglich. Aber Ihre Mutter wird Ihnen selbst sagen, was Sie wissen sollten. Ich darf Ihre Fragen nicht alle beantworten.« Dr. Foster wandte den Blick ab.

Riley fasste ihn am Ärmel seines weißen Kittels. »Doch, Doktor, das dürfen Sie. Ich kenne Sie schließlich schon mein Leben lang.«

Dr. Foster nahm Rileys Hand. »Ihre Mutter möchte diese Woche voller Feierlichkeiten und Partys noch miterleben, bevor sie es jemandem sagt. Können Sie diese Entscheidung verstehen? Sie möchte ihre Töchter zusammen sehen – mehr darf ich Ihnen nicht sagen.«

»Partys? Feierlichkeiten? Was zählt das denn im Vergleich zum …« Das Wort »Tod« brachte Riley nicht über die Lippen.

»Ihrer Mutter bedeutet die Festwoche alles. Zum ersten Mal seit Jahren sind all ihre Töchter wieder zu Hause, und das will sie sich durch nichts verderben lassen.«

»Maisy und Adalee kommen ja bloß für zwei Tage am nächsten Wochenende. Nur für zwei Tage! Die beiden haben so viel zu tun, dass sie sich weder um den Buchladen noch um Mamas Pflege kümmern können.«

»Ihrer Mutter reichen zwei Tage. Hören Sie, Riley, Ihre Mutter ist stark, und ich respektiere ihre Wünsche. Seit anderthalb Jahren plant sie diese Jubiläumswoche, und sie freut sich so darauf, ihre Mädchen alle wieder um sich zu haben. Diese Freude werde ich ihr nicht nehmen.«

»Aber jetzt wird sie ohnehin alles verpassen. Sie muss doch … im Bett liegen.«

»Bitte, überlassen Sie uns die Behandlung, und gestatten Sie Ihrer Mutter, Ihnen wann und wie sie möchte mitzuteilen, was sie Ihnen zu sagen hat.« Mit einer Handbewegung schnitt der Arzt Riley das Wort ab. »Und sagen Sie Ihren Schwestern nichts.« Dr. Foster schloss die Tür fester als nötig.

Riley war mitten im Raum stehen geblieben. Sie fühlte sich noch einsamer als an dem Tag, als sie morgens früh festgestellt hatte, dass Maisy nach Kalifornien ausgerissen war. Behutsam legte sie sich die Hand auf die Brust, dorthin, wo sie bei dem Gedanken, dass sie noch einen Menschen verlieren könnte, einen stechenden Schmerz spürte. »Nein«, sagte sie laut und fragte sich dann, wie viele Männer, Frauen, Kinder, Eltern und Liebende in diesem Raum wohl schon versucht hatten, mit diesem Wort etwas abzuwenden.

Sie küsste ihre schlafende Mutter auf die Stirn und verließ das Zimmer. Auf dem Flur zog sie ihr Handy hervor und wählte Maisys Nummer in Kalifornien. In den vergangenen zwölf Jahren war Riley überzeugt gewesen, dass sie ihre Schwester Maisy niemals wiedersehen würde.

Sie hatte sich geirrt.

Zwei

Maisy

Maisy Sheffield ließ die Finger über ein Stückchen Leinen gleiten und hielt es neben die Farbprobe in Blassrosa, die die Kundin ihr gereicht hatte. Sie sollte den passenden Stoff dazu finden. Maisy tat so, als konzentriere sie sich stark. Obwohl sie sofort gewusst hatte, welches Material farblich am besten dazu passte, nahm sie ein Stoffmuster nach dem anderen in die Hand. Die Kundin kniff mit leisem Lächeln die Augen zusammen, als sei sie erfreut darüber, wie viel Arbeit Maisy sich mit der Auswahl machte.

Die Stoffe in der Beach Boutique waren Maisy inzwischen ebenso vertraut wie ihr Leben. Mit Feuereifer hatte sie sich in alle Bereiche des Ladens in Laguna Beach eingearbeitet, fleißiger als jemals in der Schule. Schon vor langer Zeit hatte sie beschlossen: Je mehr sie sich anstrengte, um sich hier in Kalifornien eine Existenz aufzubauen, desto schneller würde ihr Leben in Georgia aus ihrem Bewusstsein verschwinden. Bisher hatte diese Strategie gut funktioniert.

Im Laufe der zwölf Jahre war die Erinnerung an die zerbrechlichen Sanddollars, die weißen Seesterne und die grauweißen Muscheln am Strand von Georgia einer Wirklichkeit gewichen, in der der Sand gröber war und die Sonne über dem Wasser unterging statt über dem Land. Hier war die Luft leicht und trocken, ganz anders als die dichte, schwüle Feuchtigkeit auf der anderen Seite des Kontinents, die Maisys goldbronzefarbenes Haar in ein Lockenwirrwarr verwandelt hatte. Hier war die Natur leiser, zarter, und die Gesänge unter den schlanken Palmen waren nicht zu vergleichen mit dem chaotischen Gezirpe der Zikaden unter den Lebenseichen von Georgia. Die Strände hier in Kalifornien behielten stets ihre Gestalt und wurden bei Hochflut nicht schmal, um dann bei Ebbe wieder in voller Größe schlammig dazuliegen.

Maisy war auf die andere Seite des Kontinents geflohen, um sich in einer völlig anderen Welt ein neues Leben aufzubauen.

Sie kniff ein Auge zu und hielt einen rosaroten Leinenstoff ins Licht. »Dieser hier ist es, Mrs Findle.«

»Ich wusste ja, dass sie den Richtigen aussuchen würden. Sie haben einfach ein Auge für solche Dinge.«

Maisy bemühte sich, nicht zu ihrer Chefin Sheila hinüberzuschauen, um zu sehen, ob die das Kompliment gehört hatte, doch sie konnte nicht anders. Sheila nickte ihr ganz kurz zu, wobei ihr blonder Bob sich kaum bewegte. Sie lächelte.

»Dann wollen wir jetzt erst mal den Stoff bestellen. Und anschließend überlegen wir, was Sie noch brauchen«, schlug Maisy vor.

»Ansonsten brauche ich nichts. Ich will ja nur den kleinen Sessel in meinem Schlafzimmer neu beziehen. Der Damast, der jetzt drauf ist, gefällt mir überhaupt nicht mehr.«

»Ach, wenn Sie diesen Stoff erst in Ihrem Zimmer haben, werden Sie bestimmt auch über die Lampen und die Bettüberwürfe nachdenken wollen.« Maisy begab sich in den hinteren Teil des Ladens. »Mit dem neuen Sesselbezug sind Sie schon dabei, eine neue Vision für den Raum zu entwerfen. Ich fände es schade, wenn Sie später bedauern würden, dass die übrige Einrichtung nicht so schön ist wie der neue Sessel.«

Mrs Findle nestelte an der Kette ihres Chaneltäschchens herum. »Na ja, vielleicht bloß die Lampen, denn meine sind aus dunklem Holz.«

»Ja, wunderbar, fangen wir doch damit an!«

Während Maisy zu einer Kristallleuchte hinüberging, deutete sie auf weitere Gegenstände, die Mrs Findles Schlafzimmer zu dem heiteren Aussehen verhelfen würden, das sie sich wünschte.

Mrs Findle blieb neben einer überdimensionierten Ottomane stehen. »Glauben Sie, dass die hier für meinen Sessel zu groß ist?«

»Nein, bestimmt nicht.«

»Sie haben einen ganz reizenden Akzent«, bemerkte Mrs Findle unvermittelt. »Wo kommen Sie her? Ich wollte Sie schon immer mal danach fragen.«

»Aus Georgia, aus einer kleinen Küstenstadt.« Maisy hatte festgestellt, dass die Frauen hier in Südkalifornien eine romantische Vorstellung von Südgeorgia hatten, die der Wirklichkeit kaum entsprach. In ihrer ersten Zeit in der Beach Boutique hatte sie versucht, ihre Herkunft zu verbergen, bis ihr klar wurde, dass es von Vorteil war, »aus dem Süden« zu sein. Sie nahm ihren Akzent wieder an, damit die Frauen sich ausmalen konnten, sie stamme aus einer Welt von vor dem Bürgerkrieg, wo die Uhren langsamer tickten und das uralte Lied von der Gastfreundschaft des Südens säuselnd durch Nächte voller Jasminduft schwebte.

Das war natürlich reine Phantasie. Das Küstenstädtchen im Süden, in dem Maisy aufgewachsen war, war eigentlich ein gottverlassenes Nest. Nur in den Sommermonaten, wenn die »Sommergäste« kamen, war dort etwas los. Allein der öde Heimatort hätte schon ausgereicht, um Maisy in den Wahnsinn zu treiben. Wenn Maisy gefragt wurde, warum sie einmal quer über den ganzen Kontinent gezogen war, erklärte sie, sie habe den Staub der Schotterstraßen und die Strandkletten von ihren Flipflops abschütteln und etwas Neues ausprobieren wollen. Nur sie selbst kannte den wahren Grund, warum sie ihre Heimat verlassen hatte. Nur sie selbst und Tucker Morgan.

»Maisy, Telefon!«, rief Sheila durch den Laden.

Mit einem Lächeln drehte Maisy sich um. »Kann ich zurückrufen?«

»Ich glaube nicht«, sagte Sheila. »Es klingt … wie ein Notruf von zu Hause.«

Maisy fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das jetzt glatt war, nicht mehr »plusterig«, wie ihre Mutter ihr schwieriges Haar immer bezeichnet hatte. Falls dieser Anruf von Mama kam wegen irgendeines künstlich aufgebauschten Dramas, dann musste Maisy ihr sagen, sie dürfe nicht mehr im Laden anrufen. Mrs Findle besaß das Potenzial, ihre beste Kundin seit Monaten zu werden.

»Ich bin sofort wieder bei Ihnen.« Maisy lächelte Mrs Findle an.

»Oh, gehen Sie nur! Ich stöbere einfach ein bisschen. Sie haben mich da auf eine Idee gebracht.«

Maisy nahm das schnurlose Telefon von Sheila entgegen und ging ins Hinterzimmer. Sie trank einen großen Schluck von ihrem kalten Starbucks-Kaffee, der auf dem Tisch stand, und fragte dann: »Na, was gibt’s?«

»Also, erst mal wünsche ich auch dir einen guten Tag, Schwesterherz.« Rileys Stimme klang, als käme sie von der anderen Seite des Erdballs, und wenn es nach Maisy ging, sollte das auch so bleiben. Eifersucht, Zweifel, Schuldgefühle und andere verwirrende Empfindungen – das alles konnte sie nur von sich fernhalten, solange das Georgia, das sie vor zwölf Jahren verlassen hatte, so weit weg zu sein schien wie ein fremder Planet.

»Tut mir leid, ich wollte nicht unhöflich sein. Hab einfach schrecklich viel zu tun. Ist alles in Ordnung?«

»Nein.« Riley machte eine Kunstpause. »Mama ist die Treppe runtergefallen. Es geht ihr ganz gut, aber …«

»Klingt ja wie ein schlechter Film. Mama ist die Treppe runtergefallen? Die ganze Treppe?« Maisy stellte sich die gewundene Vordertreppe vor, die sie so oft hinuntergegangen war, um in die Schule, zu Verabredungen oder zum Figurentanz zu gehen.

»Ja«, erklärte Riley, »von ganz oben bis nach unten.«

»Betrunken?«

Rileys Antwort war ein Schweigen.

»Hatte sie getrunken, Riley?«, wiederholte Maisy.

»Wahrscheinlich. Aber deswegen rufe ich nicht an.«

»Weswegen denn?«

»Sie hat sich den linken Oberschenkelhals und zwei Rippen gebrochen und sich außerdem das Handgelenk verstaucht.«

»Hast du nicht gesagt, es geht ihr ganz gut?« Maisy spürte, wie sich aus einem dunklen Winkel ihres Kopfes etwas in ihr Bewusstsein drängte, etwas Unausweichliches, vor dem sie möglichst schnell und möglichst weit weglaufen wollte.

»Als ich ›ganz gut‹ gesagt habe, habe ich gemeint, dass sie nicht …«

»Tot ist«, vervollständigte Maisy den Satz ihrer Schwester.

»So deutlich wollte ich es nicht sagen. Sie kann wieder nach Hause, aber sie wird bettlägerig sein …«

»Kommt nicht in Frage.«

»Du weißt doch noch gar nicht, was ich sagen will.«

Maisy schloss die Augen. »Doch, klar weiß ich das. Du willst sagen, dass ich früher kommen soll. Und länger bleiben.«

»Ja, du musst nach Hause kommen.«

»Nein.« Maisy öffnete die Augen wieder, nahm ein herumliegendes Stück Stoff in die Hand und faltete es ordentlich zusammen. »Wenn irgend möglich, helfe ich euch von hier aus, aber ich kann nicht länger bleiben als das eine Wochenende. Ich habe hier einen Job … und Freunde. Mein Leben eben.«

»Deine Familie braucht dich, Maisy. Du weißt ja, dass der Buchladen ruiniert ist, wenn die Veranstaltungen nächste Woche nicht genug … Geld einbringen. Dann ist alles futsch. Das weißt du doch.«

»Jetzt komm mir bitte nicht mit der Familie! Ich kann mich nicht entsinnen, dass jemand von euch hier nach Laguna Beach gekommen wäre, um mir zu helfen.«

»Schließlich warst du es ja, die abgehauen ist.«

»Das stimmt. Und ich bleibe hier. Also, was kann ich tun, um euch zu helfen?«

»Nimm ein früheres Flugzeug, und lass den Rückflug offen!« Riley brach die Stimme, so angestrengt war sie bemüht, die Tränen zurückzuhalten. »Bitte!«

»Nein«, wiederholte Maisy, aber sie merkte, dass ihre Antwort bereits wie eine verwässerte Version des Nein klang, das sie gerade eben ausgesprochen hatte. Sie wusste, wie es weitergehen würde – ihre Weigerung würde immer weniger entschieden werden und sich bald in ein Vielleicht und dann in ein Ja verwandeln. Vorher musste sie auflegen.

Rileys Stimme wurde kräftiger. »Ich … Wir brauchen dich, Maisy.«

»Ich wollte nur zur Abschlussparty kommen und dann gleich wieder verschwinden. Fertig, aus. Nur unsere Mutter konnte auf die Idee verfallen, ihren Fünfundsechzigsten mit der Zweihundertjahrfeier für das Haus zusammenzulegen – ist doch wahr. Und jetzt das noch!«

»Hör auf, Maisy!«

»Kannst du denn nicht Adalee anrufen und ihr sagen, dass sie euch helfen soll?«

»Das mache ich, sobald wir aufgelegt haben.«

Das Rauschen in der Leitung klang wie die einsetzende Flut, wie die Überflutung der Salzwiesen, wie die Zikaden auf der hinteren Veranda und das Lied einer Möwe an einem Sommerabend.

»Nein«, wiederholte Maisy. »Ich kann nicht.« Sie überwand ihre guten Manieren und legte einfach auf.

Sheila streckte den Kopf ins Hinterzimmer. »Alles in Ordnung?«

»Bloß ein kleines Familiendrama, ganz typisch für die Südstaaten.«

Sheila lachte. »Nun glaub bloß nicht, die Südstaaten hätten Familiendramen für sich gepachtet.« Ihr nachgeahmter Südstaaten-Akzent brachte Maisy zum Lachen.

»Meine Mama ist betrunken die Treppe runtergefallen und hat sich ein Bein und noch weitere Knochen gebrochen. Jetzt will meine zickige Schwester, dass ich sofort zu Hause antanze und ihr helfe.«

Sheila wurde ernst. »Das tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe meine Mutter vor zwei Jahren verloren. Du weißt, dass du hinfliegen musst, oder?«

»Jetzt fang du nicht auch noch an!«

Sheila lächelte. »Wir kommen auch mal ohne dich klar – allerdings nicht sehr lange.«

Maisy ließ sich in einen Sessel fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Schon beim nächsten Atemzug stand die Wahrheit ihr deutlich vor Augen: Sie musste nach Hause, nach Georgia.

Drei

Riley

Riley lehnte sich an den Schreibtisch und presste das Handy ans Ohr. Rings um den Buchladen herum wurde es Nacht, und in der zunehmenden Dunkelheit flossen die Schatten ineinander. Riley hatte bereits viermal vergeblich versucht, Adalee telefonisch zu erreichen. Jetzt meldete sie sich endlich.

»Hallo, Schwester. Was gibt’s denn?« Im Hintergrund waren laute Stimmen zu hören.

»Ich versuche schon den ganzen Abend, dich zu erreichen«, sagte Riley mit munterer Stimme, bemüht, ihre Frustration zu verbergen.

»Ich weiß. Ich hatte … viel zu tun.«

»Wo bist du denn?«

»Ich bin bei meinem Freund, bei Chad. Auf einer Party. Hast du was Wichtiges?«

»Ja. Ich hoffe, dass du etwas früher kommen kannst, als du geplant hast, weil –«

»Kommt nicht in Frage«, unterbrach Adalee sie.

»Lass mich ausreden!«

»Na, dann muss ich kurz rausgehen.« Adalee rief Chad etwas zu, und Riley hörte, wie eine Tür zuschlug. »Also weiter. Was ist los?«

Riley wiederholte alles, was sie Maisy berichtet hatte, und holte dann tief Luft. »Adalee, kannst du gleich nach deiner letzten Prüfung nach Hause kommen? Die ist doch morgen, oder?«

»Ich wollte mit ein paar Freunden nach Florida und das Semesterende feiern. Aber wenn Mama sich verletzt hat, komme ich sofort.«

»Und was ist mit deiner Prüfung morgen?«

»Ich hab den Kurs sowieso vermasselt. Und ein paar andere auch.«

»Ach Gott, Adalee! Weiß Mama das schon?«

»Ja. Und sie hat mir auch schon die Leviten gelesen. Sie hat mich angeschrien und mir erklärt, wohin Faulheit führt. Du brauchst mir jetzt nicht auch noch Vorwürfe zu machen.«

»Hatte ich auch nicht vor, Adalee. Komm einfach morgen her! Wir werden zusammen arbeiten – ich, du und Maisy.«

»Maisy kommt auch?«

Riley kämpfte gegen ihre Eifersucht an. Adalee hatte schon immer ehrfürchtig zu Maisy aufgeschaut, denn sie war die coole Schwester, die in Kalifornien lebte. »Ja.«

»Ich mache mich gleich morgen früh auf den Weg. Aber ich will nicht im Buchladen arbeiten, klar? Ich meine, es ist schließlich mein freier Sommer, meine freie Zeit.«

»Doch, Adalee, du wirst im Laden arbeiten.«

»Nein, kommt gar nicht in die Tüte.«

»Doch.« Riley ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen.

»Wir werden ja sehen …« Adalees Worte wurden undeutlich, sie fing an zu lachen. Dann klickte es, und die Leitung war tot.

Riley saß in ihrem dunklen Büro und kämpfte gegen die Tränen der Frustration. Nein, aufgeben und weinen wollte sie auf keinen Fall. Sie stand auf, reckte sich und ging durch den schwach beleuchteten Laden nach hinten zur Treppe, die in ihre Wohnung hinaufführte. Wirre Gedanken jagten ihr durch den Kopf. Sie war in keiner Weise darauf vorbereitet, möglicherweise den Laden abzugeben, während sie sich um ihre Mutter kümmerte, und dazu auch noch mit ihren Schwestern zusammenzuarbeiten. Doch im Laufe der Jahre hatte sie gelernt, dass das Leben nie wartete, bis sie bereit war, bevor es sie mit der nächsten Veränderung konfrontierte.

Wie jeden Morgen wollte Riley auf dem Aussichtsturm des Driftwood Cottage den Sonnenaufgang beobachten, denn das stärkte ihre Seele. In einer Hand hielt sie die Taschenlampe, in der anderen das Büchlein Dienstanweisung für einen Unterteufel von C. S. Lewis. Sie setzte sich in den einsamen Schaukelstuhl und schlug das Buch bei dem Lesezeichen auf – sie hatte es schon fast durch. Bevor das Cottage von seinem ursprünglichen Standort auf einer Plantage am Fluss an den Strand versetzt worden war, hatte man von diesem Ausguck ein Baumwollfeld überblicken können. Jetzt starrte Riley auf das leere dunkle Meer hinaus. Dann richtete sie die Taschenlampe auf die Buchseite. Sie tat ihr Bestes, um alle Bücher zu lesen, die die Lesezirkel sich aussuchten. Statt weiterzulesen, rief sie sich heute jedoch ihre Gespräche mit Maisy und Adalee ins Gedächtnis. Wie konnte es nur dazu kommen, dass ihre Beziehung zu den Schwestern, insbesondere die zu Maisy, so schlecht geworden war und sich vollkommen ins Gegenteil verkehrt hatte?

In diesen Momenten vor Sonnenaufgang, wenn Riley mit einem Buch in der Hand dasaß, stieg oft eine tiefe Sehnsucht in ihrem Herzen auf. Normalerweise wurde sie ganz vom Alltag in Anspruch genommen. Sich um Brayden, um den Buchladen und um ihre Mutter zu kümmern, all das füllte ihre Tage vollkommen aus. Die Aufgaben auf ihrer To-do-Liste bildeten einen Schutzwall gegen die Einsamkeit, beschäftigt zu sein war Balsam für sie.

Wenn sie sich vorstellte, dass sie den Driftwood Cottage Bookstore mit dem einladenden Café verlieren könnte, wurde ihr Herz schwer. Sie schüttelte den Kopf – nein, daran wollte sie jetzt nicht denken. Aber diesen Gedanken zu verdrängen war so schwer, als wolle sie eine schrille Sirene überhören.

Inzwischen war die Sonne aufgegangen, und Riley stieg von der Aussichtsplattform hinunter. Sie stellte sich mitten in ihre Küche, unsicher, welcher Aufgabe sie sich zuerst zuwenden sollte. Gedanken und Empfindungen wirbelten in ihrem Inneren herum wie Löwenzahnschirmchen, die man an einem windigen Tag in die Luft gepustet hat.

Mama ist krank … Dabei ist sie trotz ihrer Eigenheiten die Seele des Buchladens, dachte Riley.

Vor zwölf Jahren hatte Kitsy Sheffield den Logans das Driftwood Cottage abgekauft. Damit hatte sie nicht nur die Gelegenheit ergriffen, ihr Lieblingshaus am Strand zu erwerben und einen Buchladen zu eröffnen, sondern sie hatte auch ihrer schwangeren, unverheirateten Tochter die Chance geboten, auf eigenen Füßen zu stehen. Gleich in den ersten Tagen, als die Familie die Nachricht von Rileys Schwangerschaft noch verdauen musste, hatte Kitsy die langen, tränenreichen Gespräche am Küchentisch beendet, indem sie ihren eigenen Traum von einem kleinen Buchladen an der Küste nun für ihre Tochter verwirklichte. Kitsys wahr gewordener Traum wurde für Riley zum Zufluchtsort.

Wenige Monate nach Braydens Geburt war die Verwandlung des Ferienhauses in einen voll ausgestatteten Buchladen abgeschlossen und der Driftwood Cottage Bookstore öffnete den Bewohnern von Palmetto Beach die Türen.

Riley war mit ihrem Baby in der Wohnung über dem Laden eingezogen. Sie hatte mit ihrer Mutter ein Abkommen geschlossen, wonach Kitsy für die Renovierungen und die Anzahlung aufkam und Riley mit den Einnahmen aus dem Buchladen die Hypothek abzahlen und den eigenen Lebensunterhalt bestreiten sollte. In ihren dunklen Momenten fragte Riley sich, ob diese Übereinkunft wohl ein Schachzug ihrer manipulativen Mutter war, damit diese die Kontrolle über ihre älteste Tochter behalten konnte.

Kitsy kam jeden Vormittag in den Laden. Gekleidet, als sei sie zum Lunch des Jahres unterwegs, huschte sie von einer Kundin zur anderen, kontrollierte die Bücherauswahl der verschiedenen Lesezirkel und prüfte die Buchbestellungen. Ihre Lieblingskunden – die Frau, die nur Bücher mit blauem Einband las, der Mann, der sich nur für Romane interessierte, in denen Hunde vorkamen, und die Mutter, die nur Bücher ohne Schimpfwörter in die Hand nahm – warteten immer auf Kitsy. Von Riley oder Ethel nahmen sie keine Empfehlungen an.

Kitsy hatte sich ausbedungen, anwesend sein zu dürfen, wenn die Verlagsvertreter ihre Besuche machten, um die Bücher der nächsten Saison vorzustellen. Dieses Privileg ließ sie sich nicht nehmen. Riley hatte sich dagegen gewehrt, bis sie erkannte, dass ihre Mutter das Talent besaß, den Wünschen und Bedürfnissen ihrer Kundschaft zuvorzukommen. Kitsy fand irgendein merkwürdiges Buch im Penguin-Katalog, wusste, dass es ihren Kunden gefallen würde, und gleich im ersten Monat nach Erscheinen verkaufte der Driftwood Cottage Bookstore hundert Exemplare davon.

Wenn es allerdings Rechnungen zu begleichen gab, war Kitsy nicht dabei. Im Laufe der Jahre hatten sich Schulden angehäuft, und Monat für Monat befürchtete Riley, nicht mehr genügend Rechnungen bezahlen zu können, um sich über Wasser zu halten. Dann würde ihre Mutter den Laden notgedrungen verkaufen. Sie hofften beide, dass die bevorstehende Festwoche genügend Einnahmen bringen würde, um sie über das nächste Jahr zu retten. Und nun hatte Riley noch einen – zwingenderen – Grund, diese Woche erfolgreich abzuschließen: die gesundheitliche Verfassung ihrer Mutter.

Riley bückte sich, um einen umgekippten Stapel Bücher wieder aufzuschichten. Sie hatte die Bücher gleich neben der Treppe gestapelt, um sie wieder mit nach unten in den Laden zu nehmen. Nachdem sie ihr widerspenstiges Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden hatte, öffnete sie die Zimmertür ihres Sohnes und betrachtete den schlafenden Jungen. Er hatte seine Decke weggestrampelt und sich zu einer Kugel zusammengerollt, nur mit T-Shirt und Turnhosen bekleidet. Als Oma ihm zu Weihnachten einen Schlafanzug mit aufgedruckten Treckern geschenkt hatte, hatte er Riley informiert: »Keine Schlafanzüge mehr.«

Sein Wecker schrillte, doch er rührte sich nicht. Brayden konnte wirklich fest und lange schlafen, und Riley stellte sich vor, dass er mit jeder Stunde wuchs, auch wenn er nicht bei Bewusstsein war. Sie stellte seinen Wecker ab und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Zeit zum Aufstehen. Nur noch ein Tag Schule … Das schaffst du schon.«

Brayden stöhnte, ohne die Augen zu öffnen.

Seine Baseball-Trophäen, die Schulbücher und das Angelzeug schienen seine Kindheit zu illustrieren. Dankbarkeit erfüllte Rileys Herz.

»Mama, bitte, melde mich krank!«

»Blödsinn. Steh auf!« Sie rüttelte am Bett und widerstand dem Bedürfnis, ihm noch einen Kuss zu geben. »Sofort.«

»Ich hasse die Schule.«

»Na und? Heute ist doch der letzte Tag.«

Riley ging in die Küche, um ihm sein Lieblingsfrühstück zuzubereiten: ein Bagel mit Rührei und Schinken. Von unten drangen Geräusche und ein Duft herauf. Anne McComus öffnete gerade das Café und kochte ihren köstlichen Kaffee. Gleich würde der Buchladen zum Leben erwachen.

Eine halbe Stunde später traten Brayden und Riley durch die Tür unten an der Treppe, die direkt in den Laden führte. Anne sang aus voller Kehle die Jack-Johnson-CD mit, die aus den Lautsprechern ertönte, und ordnete dabei die Muffins in der Theke. Ihr wippender Pferdeschwanz und die eng anliegenden T-Shirts mit den wechselnden Sprüchen darauf zählten zu den Attraktionen des Cafés. Heute trug sie ein T-Shirt aus dem Driftwood Cottage Bookstore mit einer Reklame für Bücher: »The Original Laptop … Books« stand darauf.

Anne arbeitete nur im Laden, um ihr Hobby zu finanzieren: Sie stellte Engel aus Keramik her. Sie besaß ein verblüffendes Geschick, zarte Schwingen aus Ton zu formen und zwischen den Flügeln ein einzelnes Wort in den Engel einzugravieren. Dazu wählte sie Begriffe wie FRIEDE, GELASSENHEIT oder VERZEIHEN. Oft kamen Kunden, sahen die Engel in der Geschenkabteilung und gaben daraufhin bei Anne einen ganz persönlichen Engel in Auftrag. Anne töpferte den Engel dann, ohne nachzufragen, was draufstehen sollte – sie wusste es einfach.

Riley erwiderte Annes morgendliche Umarmung – Anne ließ keinen vorbeigehen, ohne ihn in die Arme zu nehmen – und schrieb im Geiste einen Zettel: den Newsletter der Buchhandlung fertig schreiben, die Büchersendung von Harcourt überprüfen, mit Anne Schreibwaren für die Geschenkabteilung aussuchen …

Sie gab ihrem Sohn zum Abschied einen Kuss, und dann verging der Tag in einem Wirbel aus Vorbereitungen für die Heimkehr ihrer Mutter, Telefonaten mit ihren Schwestern und allen möglichen nervigen Kleinigkeiten.

Es war schon später Nachmittag, als Ethel durch die offene Bürotür schaute. »Rileyschatz, der Mann von der Zeitung ist hier.« Sie deutete mit ihrem behandschuhten Zeigefinger auf den Eingang.

Riley blinzelte zur Ladentür hinüber. Sie musste ihre Sehschärfe überprüfen lassen, doch dieser Punkt rutschte auf ihrer To-do-Liste immer weiter nach unten.

Lodge Barton, der Herausgeber der Lokalzeitung, betrat den Laden. Er trug sein übliches verknittertes weißes Oberhemd und eine khakifarbene Chinohose. Seine Schildpattbrille war verrutscht.

Rasch fuhr Riley sich mit der Hand übers Haar. Sie hatte ganz vergessen, dass er kommen wollte. »Sag ihm, ich bin gleich bei ihm.«

Sie löste den Pferdeschwanz und kämmte sich, bevor sie Lodge begrüßte. Sie kannte ihn seit der Grundschule und fühlte sich wohl in seiner Gegenwart. So ging es ihr mit allen, die in diesem Urlaubsort aufgewachsen waren.

Riley stellte sich auf die Zehenspitzen, um Lodge in die Arme zu nehmen. Er war hochgewachsen, schon in der fünften Klasse hatte er einen verfrühten Wachstumsschub gehabt. Jetzt, mit einunddreißig, zeigte sich in seinem Spitzbart und an den Schläfen vorzeitiges Grau. Seine Brille saß schief, seit Riley denken konnte, als könne seine Nase das Gestell einfach nicht halten. Er gab die Zeitung des Städtchens heraus und hatte das Vertrauen und die Zuneigung der gesamten Bevölkerung gewonnen, auch wenn man seine Ansichten nicht immer teilte. Riley setzte sich in einen fadenscheinigen Polstersessel und bedeutete ihm, sich neben ihr in einem Ledersessel niederzulassen, von dessen Beinen die weiße Farbe abblätterte.

»Du siehst gut aus, Riley.«

»Das sagst du immer, du Spinner.« Sie legte Lodge die Hand auf den Arm.

Er zuckte die Achseln. »Und es stimmt immer.«

»Danke, dass du den Artikel schreibst«, sagte Riley. »Ich hoffe, dass ein paar andere Tageszeitungen ihn übernehmen und die Leute scharenweise in unsere Veranstaltungen strömen. Ich wünsche mir sehr, dass diese Festwoche ein Riesenerfolg wird … für alle.«

»Kein Problem«, sagte Lodge. »Also, fangen wir an! Erzähl mir bitte kurz was zur Geschichte des Hauses und warum ihr die ganzen Events geplant habt.«

»Lass mal sehen – wo soll ich anfangen?« Riley schaute zur Decke hinauf, während die verschiedenen Leben dieses Hauses wie eine rasche Dia-Show vor ihrem inneren Auge vorbeizogen.

»Wie wäre es, wenn du mit dem Alter des Hauses anfängst?«, schlug er vor.

Riley lächelte. »Dieses Jahr wird es zweihundert Jahre alt. Daher die Zweihundertjahrfeier.« Sie stieß Lodge mit dem Ellbogen in die Seite.

Er grinste sein schiefes, hinreißendes Grinsen. »Weiter, du Schlaubergerin!«

»Das Gebäude gehörte ursprünglich dem Besitzer einer Baumwollplantage. Es war das Wohnhaus. Für die damalige Zeit hatte es einen ungewöhnlichen Grundriss.« Riley breitete die Arme aus, als wolle sie den großen Raum umfassen. »Das hier ist der große mittlere Raum, und außerdem gab es vier Eckzimmer, aus denen wir das Büro, den Lagerraum, das Café und die Ecke für die Lesezirkel gemacht haben. Weiterhin gibt es noch das Obergeschoss, wo Brayden und ich wohnen. Und ganz oben ist das Aussichtstürmchen. Von da aus hatte man früher den Blick über die Baumwollfelder.« Während sie sprach, deutete sie auf die vier Ecken des Hauses.

»Du siehst aus wie eine Stewardess«, stellte Lodge fest, während er auf seinem Block mitschrieb. »Dort sind die Notausgänge, und …« Er lachte.

»Danke! Du bist immer so nett zu mir.«

Lodge blickte auf und rückte seine Brille zurecht. »Ich tue mein Bestes.«

Lächelnd schüttelte Riley den Kopf. »Wie dem auch sei – von außen besteht das Haus aus einer Mischung aus Kalk, Austernschalen und Zement. Im Laufe der Jahre mussten wir es zum Teil mit Holz verkleiden. Das Haus wurde vor vierzig Jahren von seinem ursprünglichen Standort an einem Flussufer hierher versetzt, weil dort neue Häuser gebaut wurden.«

»Wie seid ihr denn auf den Namen Driftwood Cottage Bookstore gekommen?«

»Als das Haus hier ankam, sah es aus wie ein Stück Treibholz, driftwood, das an den Stand gespült worden war, daher der Name Driftwood Cottage. Wir haben nur noch das Wort bookstore, Buchladen, angehängt.

Lodge klopfte mit dem Stift gegen seinen Sessel. »Das habe ich nicht gewusst.«

»Deswegen interviewst du mich ja.«

»Ja, genau.« Er lachte aus vollem Hals wie damals als Kind und wie vor vielen Jahren, als seine Frau noch lebte.

»In altnordischen Mythen heißt es übrigens, dass die ersten Menschen aus Treibholz erschaffen wurden – vielleicht kannst du das ja auch verwenden.«

Lodge nickte. »Gibt es nicht auch eine Sage über das Haus?«

»Die erste Besitzerin hier am neuen Standort hat gesagt, das Driftwood Cottage bringe allen, die durch seine Türen ein und aus gehen, glückliche persönliche Beziehungen. Sie war eine begeisterte Anhängerin von E. M. Forster und ganz überzeugt von diesem Spruch aus Wiedersehen in Howards End. Den kennst du doch, oder?«

»›Nur persönliche Beziehungen … ‹«

»Ein Mann, der seine Bücher kennt.« Riley lächelte.

»Demnach werden also alle Familien, die hier wohnen, am Ende glücklich?«

»Das mag nicht danach aussehen, aber man muss die Geschichten ganz bis zum Schluss verfolgen und schauen, wo die Beziehungen hinführen.«

»Guter Hinweis. Ich zitiere.« Lodge kritzelte etwas auf seinen Block und schaute über seine Brillengläser hinweg zu Riley. »Du machst das mit deinem Haar so, seit ich dich kenne.«

»Was meinst du?«

»Du streichst es hinter deine Schulter, bevor du etwas sagst.«

»Stimmt gar nicht.«

»Okay.« Er lehnte sich im Sessel zurück. »Jetzt erzähl mir eine Geschichte, die die Sache für unsere Leser interessant macht.«

Ja, dachte Riley, Mama stirbt vielleicht, und dies wird ihr letzter Triumph. Bei dem makabren Gedanken fröstelte sie. Sie war ziemlich sicher, dass es ihrer Mutter nicht recht wäre, wenn Lodge ihren Sturz und ihre Krebserkrankung in seinem Artikel erwähnen würde.

Riley spürte, dass sie im Begriff war, sich wieder einmal das Haar aus dem Gesicht zu streichen, und zwang sich, die Hände ruhig im Schoß liegen zu lassen. »Diese Zweihundertjahrfeier fällt zufällig mit Mamas fünfundsechzigstem Geburtstag zusammen, deswegen haben wir die beiden Feste zusammengelegt. Mama hat die Buchhandlung vor zwölf Jahren eröffnet, und dieser Laden bietet nicht nur meinem Sohn und mir ein Zuhause, sondern der ganzen Stadt. Hier treffen wir uns mit Freunden und sprechen über unser Leben und über Bücher. Hier erfahren wir Neuigkeiten. Hierhin bringen wir unsere Kinder zu Malkursen. Der Buchladen ist zu einem Treffpunkt für alle geworden, zu einem vertrauten Ort in einer zersplitterten Welt, zu einem Zufluchtsort. Und ich glaube, dieses Haus ist schon immer ein Refugium gewesen.«

»Ein Refugium«, wiederholte Lodge. »Gut, und wer ist zu den Festlichkeiten eingeladen?«

»Alle. Nahezu die gesamte Stadt, und wir haben auch Einladungen an die Vorbesitzer des Hauses geschickt und an frühere Sommergäste, soweit wir sie ausfindig machen konnten.«

»Vorbesitzer? Wie viele von ihnen kennt ihr?«

»Mindestens drei Familien, dann wird es unklar. Mack und Sheppard Logan werden kommen …«

»Mack Logan.« Lodge schrieb den Namen auf und schaute Riley dann mit einem Lächeln an. »Der frühere Freund …«

»Nicht meiner … Er war Maisys Freund.«

»Ach so.« Lodge blickte zum Fenster hinüber und sah sie dann wieder an. »Aber ich erinnere mich, dass ihr beide, du und Mack, unzertrennlich wart.«

»Sandkastenfreunde«, meinte Riley.

»Klar. Danke für die Informationen.« Lodge stand auf, streckte die Hand aus und zog Riley hoch. »Hey, geht Brayden heute angeln?«

»Ganz bestimmt. Heute ist schließlich der letzte Schultag. Da ist Brayden wahrscheinlich schon unten auf dem Steg, noch bevor es das letzte Mal geklingelt hat.«

»Na, dann sag ihm, dass ich auch runterkomme, wenn er heute … angeln möchte.«

»Brayden würde jeden Tag angeln, wenn er könnte, von morgens bis abends.«

Lodge berührte Rileys Arm und strich mit dem Finger über eine Stelle auf ihrem rechten Handgelenk, wo ein Angelhaken eine gekrümmte Narbe hinterlassen hatte. »Ich hab mal ein Mädchen gekannt, das auch am liebsten jeden Tag geangelt hätte, von morgens bis abends.«

»Schon erstaunlich«, sagte Riley, »was wir ganz unwillkürlich an unsere Kinder weitergeben.«

»Wann bist du denn das letzte Mal unten auf dem Steg gewesen?« Lodge schob seinen Notizblock in eine abgenutzte Ledermappe.

»Ich gehe fast jeden Tag hin.«

»Ich meine, um was anderes zu tun, als bloß deinen Sohn abzuholen.«

Riley hatte nicht die Absicht, diese Frage zu beantworten. Sie lächelte.