Liebe, die dunklen Mächten widersteht: Drei Romane - Ann Murdoch - E-Book

Liebe, die dunklen Mächten widersteht: Drei Romane E-Book

Ann Murdoch

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Beschreibung

Dieser Band enthält folgende Romane von Ann Murdoch: Geheime Wege ins Verderben Nur die Liebe ist unsterblich Sieben Siegel bis zum Tod An ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag erfährt Lady Alexandra Adderley aus einem ihr hinterlassenen Brief, dass ihre verstorbenen Eltern sie adoptiert hatten, nachdem ihre leiblichen Eltern bei einer Ausgrabung in Ägypten ums Leben gekommen waren. Nun befindet sich Alexandra im Besitz einiger alter Dokumente, die ihre Eltern ihr hinterließen. Noch ahnt sie nicht, dass sie beim Versuch der Aufklärung der mysteriösen Umstände einer unglaublichen Verschwörung auf die Spur kommen soll.

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Ann Murdoch

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Inhaltsverzeichnis

Liebe, die dunklen Mächten widersteht: Drei Romane

Copyright

Geheime Wege ins Verderben

Nur die Liebe ist unsterblich

Sieben Siegel bis zum Tod

Liebe, die dunklen Mächten widersteht: Drei Romane

Ann Murdoch

Dieser Band enthält folgende Romane von Ann Murdoch:

Geheime Wege ins Verderben

Nur die Liebe ist unsterblich

Sieben Siegel bis zum Tod

An ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag erfährt Lady Alexandra Adderley aus einem ihr hinterlassenen Brief, dass ihre verstorbenen Eltern sie adoptiert hatten, nachdem ihre leiblichen Eltern bei einer Ausgrabung in Ägypten ums Leben gekommen waren. Nun befindet sich Alexandra im Besitz einiger alter Dokumente, die ihre Eltern ihr hinterließen. Noch ahnt sie nicht, dass sie beim Versuch der Aufklärung der mysteriösen Umstände einer unglaublichen Verschwörung auf die Spur kommen soll.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author / COVER MARA LAUE

© dieser Ausgabe 2020 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

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Geheime Wege ins Verderben

von Ann Murdoch

Der Umfang dieses E-Books entspricht 96 Taschenbuchseiten.

Glencore House ist eine schottische Inselresidenz, auf der wenig so ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Hier versucht Jennifer Tyrone, einen schweren Schicksalsschlag zu überwinden und wieder einen Lebenssinn zu finden. Sie betreut die zwei Kinder der Witwe Montgomery, doch bald gerät sie in ein düsteres Familienrätsel hinein, und die Lage sieht hoffnungslos aus. Wird Jenni das Rätsel lösen können?

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch

© by Author

© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

[email protected]

1

Jennifer Tyrone saß im Motorboot, in dem ein wortkarger Mann sie in Clainvegan abgeholt hatte, einem kleinen verschlafenen Ort hoch oben an der Nordwestküste Schottlands.

Nun setzte dieser Mann, der sich als Gordon vorgestellt hatte, sie mit dem Boot über nach Glencore Island, wo ihre neue Arbeitsstelle in Glencore House auf sie wartete. Dort sollte die junge Frau eine Stelle als Erzieherin antreten.

Jennifer Tyrone war ausgebildete Lehrerin und hatte eigentlich einen guten Posten in Glasgow innegehabt. Außerdem besaß sie eine hübsche Wohnung und einen liebevollen Verlobten, Alistair McKenzie. Aber dann war das Schreckliche geschehen. Eines Abends waren sie beide überfallen worden. Jennifer hatte miterleben müssen, wie drei Männer ihren Verlobten brutal zusammenschlugen, während sie selbst grob festgehalten wurde. Durch einen glücklichen Zufall war eine Polizeistreife vorbeigekommen, sonst wäre es für Jennifer ebenfalls schlimm ausgegangen.

Doch auch so wurde die junge Frau noch immer von Grauen geschüttelt. Denn Alistair starb an den Verletzungen, die er erlitten hatte. Es war ein schwacher Trost, dass man die drei Verbrecher gefangen und verurteilt hatte, das brachte ihr den geliebten Menschen nicht wieder zurück.

Jenny war an diesem Erlebnis fast zerbrochen, sie hatte ihre Arbeit mit den Kindern vernachlässigt und sich in ihrer Wohnung regelrecht eingeigelt.

Doch dort erinnerte praktisch alles an Alistair, seine Kleidung hing im Schrank, seine Bilder schauten sie an, und der Duft seines Rasierwassers hing noch immer in der Luft.

Jennifer war kurz davor verrückt zu werden, bis ihr Vater dieses Elend nicht mehr mit ansehen konnte.

Eines Abends war er ganz überraschend zu Besuch gekommen und hatte seine einzige Tochter dumpf brütend in der Küche vorgefunden. Da war ihm der Kragen geplatzt. Er hatte nie vorher erlebt, dass seine Tochter aufgegeben hatte, egal, welche Schwierigkeiten sich ihr in den Weg stellten. Aber jetzt war sein Mädchen fast zerbrochen am Tod des geliebten Mannes, und an ihrer eigenen Hilflosigkeit. Gregory Tyrone wollte sie aus diesem Zustand herausreißen, egal wie. Er konnte nicht länger zusehen. Mit harten Worten hatte er seine Tochter gegeißelt, bis sie aus ihrer Lethargie aufwachte und trotzig und wütend Antworten gab. Und schließlich hatte sich die Verkrampfung in Jennifer gelöst, und sie hatte sich in den Armen ihres Vaters ausgeweint.

Jenny hatte erkannt, dass es so nicht weitergehen konnte. Also kündigte sie ihre Arbeit und ihre Wohnung, bewarb sich auf verschiedene Stellenangebote möglichst weit weg und verbannte jeden Gedanken an Alistair aus ihrem bewussten Denken.

Wider Erwarten bekam sie recht schnell eine Antwort auf ihre Bewerbung in Glencore House. Zwei Kinder brauchten eine Erzieherin, die auch ihre Lehrerin sein sollte. Das Herrenhaus lag abgeschieden auf einer Insel, und Jenny hatte ohne langes Überlegen zugesagt. Einsamkeit war ihrer Meinung nach genau das, was sie brauchte.

Deshalb befand sie sich jetzt hier in diesem kleinen Boot, das von dem schweigsamen Gordon sicher gelenkt wurde.

Aus dem Dunst, der über dem Wasser lag, schälten sich langsam die Umrisse der Insel und des Herrschaftshauses, ein paar Sonnenstrahlen brachen plötzlich durch die Wolkendecke und tauchten die Kulissen ein filmreifes flammendes Rot. Jenny hielt für einen Augenblick den Atem an, soviel Schönheit hatte sie nicht erwartet.

Die Insel schien nur langsam näher zu kommen, sie war doch größer, als Jenny gedacht hatte. Glencore House, das war ein großzügig angelegtes Haus mit einem regelrechten Park drumherum. An der Westseite der Insel befanden sich hohe Fels- und Geröllberge, während nach Osten hin das Land abfiel und einen regelrechten Strand bildete, der allerdings sehr steinig war. Die Seeluft war frisch, aber angenehm und roch nach Salz und Tang. Eine kleine natürliche Bucht bildete die Anlegerstelle, ein Holzsteg, der ins Wasser ragte, bot eine gute Möglichkeit zum Aussteigen.

Gordon passte eine Welle ab und brachte das Boot sicher an den Steg, und Jenny konnte gefahrlos aussteigen. Der Mann nahm ihre Reisetasche, das andere Gepäck würde später nachkommen, und führte die Frau durch den Park zum Haupteingang. Weißbestreute Kieswege bildeten interessante Muster zwischen bunt bepflanzten Blumenrabatten. Ein Spielplatz war auf dem Rasen zwischen hohen Bäumen angelegt, lag jetzt aber verlassen.

Jennifer schritt die Treppen zum Portal hinauf, und oben öffnete sich die Tür wie von Zauberhand. Ein korrekt gekleideter Butler stand in der Öffnung und blickte ihr mit undurchdringlicher Miene entgegen.

Jenny machte nicht den Fehler, dem Mann die Hand zu reichen. Auch wenn sie beide Angestellte waren, so wusste Jenny, dass eine gewisse Hierarchie auch heute noch in Herrschaftshäusern üblich war, und danach hatte sie den Butler zunächst einmal nur als Inventar anzusehen.

Sie wollte sich also gerade vorstellen und bitten, sie bei der Lady anzumelden, als die fast lächerliche Feierlichkeit jäh durchbrochen wurde.

Eine Tür öffnete sich im Innern, knallte gegen eine Wand, und zwei Kinder kamen herangestürmt. Das mussten die Zwillinge sein, die ab heute unter Jennys Obhut und Erziehung standen.

Es handelte sich um ausgesprochen hübsche Kinder, und man hatte nicht den Fehler gemacht, beide in gleicher Weise anzuziehen.

Roger und Kathryn Montgomery waren elf Jahre alt, groß gewachsen für ihr Alter und schlank, von fast zierlicher Gestalt. Eine Flut von pechschwarzem Haar umrahmte wild das schmale Gesicht von Kathryn, während Rogers Haare kurz geschnitten waren und nur im Nacken ein kleines Schwänzchen auf den Kragen seines Hemdes fiel.

Die Kinder bauten sich lachend und sich gegenseitig anschubsend vor Jenny auf und starrten sie neugierig mit leuchtend grünen Augen an.

Die junge Frau lächelte längst, und auch im Gesicht des Butlers war die undurchdringliche Miene einem liebevollen Ausdruck gewichen. Jenny registrierte das automatisch, der alte Mann schien die Kinder zu lieben.

Nun kam ein wenig kopfschüttelnd eine elegante Frau ebenfalls aus dem Raum, und Jenny hielt für einen kurzen Augenblick den Atem an: Welch eine Schönheit!

Mit damenhaften Bewegungen schritt die Frau auf Jenny zu und lächelte, während sie ihr die Hand reichte.

„Herzlich willkommen. Ich bin Gwendolyn Montgomery.“

Jenny nahm die dargebotene Hand, der Druck war fest und sicher.

Lady Gwendolyn deutete dann auf die Kinder, die erwartungsvoll, aber noch immer stumm dastanden. Es schien ungeschriebene Regeln in diesem Haus zu geben, das merkte sich Jenny.

„Und das sind meine Kinder, die Ihnen das Leben ab heute vermutlich schwermachen werden“, fuhr die Lady mit einem verschmitzten Lächeln fort, welches die Lehrerin sofort für sie einnahm.

„Ich bin Roger“, verkündete der Junge.

„Und ich Kathryn“, kam es von dem Mädchen.

Zwei kleine Hände streckten sich Jenny entgegen. Aber statt diese nacheinander zu nehmen, ging sie in die Hocke, ließ ihre Handtasche auf den Boden fallen und griff mit beiden Händen nach je einem Kind.

„Mein Name ist Jennifer Tyrone, meine Freunde nennen mich Jenny. Und ich freue mich, euch kennenzulernen.“

Sie drückte die Kinder kurz an sich und stand dann wieder auf, strahlte die Hausherrin an und behielt die Hände der Kinder in den ihren. Automatisch bückte sich der Butler und hob die Handtasche auf. Jenny wurde rot, das hatte sie nicht gewollt und auch nicht erwartet.

Gwendolyn Montgomery lächelte nachsichtig.

„Kommen Sie, meine Liebe, Sie müssen von der langen Reise erschöpft sein. Ich habe einen Imbiss vorbereiten lassen. Wie war die Überfahrt? Hat Gordon gut für Sie gesorgt?“

„Ja, danke, sehr gut“, stammelte Jenny, plötzlich überwältigt davon, wo sie sich befand. Sie fühlte sich wie im Märchen, allerdings um viele Jahre in die Vergangenheit versetzt. Die Hektik, das laute Leben, der Schmutz und die vorgetäuschte Intimität einer Großstadt wie Glasgow fielen von ihr ab. Hier gingen die Uhren anders.

Wenig später saßen die vier Personen in einem hübsch eingerichteten Salon. Tee und Sandwiches standen auf einem Tablett bereit, und Lady Gwendolyn goss das aromatische Getränk in feine Porzellantassen.

Jenny zog eigentlich Kaffee vor, aber im Augenblick war das egal.

Die Kinder saßen eng beieinander auf einem Sofa und beobachteten ihre neue Erzieherin neugierig. Hin und wieder flüsterten sie miteinander und kicherten dann plötzlich.

Wie auf Kommando sprangen sie gleichzeitig auf und liefen hinaus.

„Rog, Kathy, kommt sofort wieder her! Was ist das für ein Benehmen? Ihr seid sehr unhöflich“, rief die Lady hinterher, aber die beiden taten so, als hörten sie nicht und verschwanden.

„Tut mir leid“, sagte die Mutter und lächelte dann nachsichtig. „Aber ich fürchte, sie werden sich wieder einmal einen Streich ausdenken. Die Kinder leben hier doch sehr abgeschieden und das Personal vergöttert sie, statt sie zu erziehen. Und ich selbst – nun, ich liebe meine Kinder sehr. Sie sind das einzige, was ich noch habe, seit mein Mann starb.“

Jenny hatte gelesen, dass Lord Roderick unter merkwürdigen, nie geklärten Umständen gestorben war, aber aus Höflichkeit fragte sie nicht weiter. Stattdessen erkundige sie sich danach, wie die Kinder bisher unterrichtet worden waren.

„Bis vor kurzem hatten wir einen Privatlehrer hier, der allerdings nur für den Unterricht zuständig war. Die Kinder mochten ihn nicht und haben ihn regelrecht hinausgeekelt. Und es ist nicht leicht, in unserer Einsamkeit jemanden zu finden. Die meisten Menschen vermissen den Trubel der Stadt, Restaurants, Theater, und was es sonst noch alles gibt. Deshalb freue ich mich so sehr, dass Sie zugesagt haben, Miss Tyrone. Aber aus Ihrer Bewerbung ging nicht hervor, was Sie veranlasst hat, hierher zu kommen. Oder war es Ihnen nicht klar, dass wir fast außerhalb der Zivilisation leben?“

Das war eine so deutliche Frage, dass Jenny klar darauf antworten musste.

„Ich habe es begrüßt, weitab leben und arbeiten zu können, Mylady. Ich – ich habe einen schweren Verlust erlitten und bin dankbar, Abstand von allem haben zu dürfen.“

In dürren spröden Worten erzählte Jenny von Alistair, und Lady Gwendolyn legte ihr spontan eine Hand auf den Arm.

„Sie Ärmste“, sagte sie erschüttert. „Das muss ein schwerer Schlag gewesen sein. Seien Sie mir also doppelt willkommen. Ich fürchte allerdings, dass die Kinder Ihnen keine Zeit zum Trauern lassen werden.“

Plötzlich lächelte sie, und Jenny sah, dass die Lady in Wirklichkeit nicht viel älter als Ende dreißig sein konnte. Die aufgesetzte Damenhaftigkeit machte einer vergnügten Liebenswürdigkeit Platz, Lady Gwendolyn wirkte völlig natürlich und sympathisch.

„Alle glauben, dass ich es nicht weiß, aber Higgins, der Butler, hat den beiden einen Spitznamen gegeben, weil sie mit rasender Geschwindigkeit kuriose Einfälle produzieren. Die beiden tragen diese Namen wie einen Ehrentitel und sind auch noch stolz darauf.“

„So?“, machte Jenny und bekam große Augen. Sie fühlte sich zu der Frau hingezogen. Beide verband ein schweres Schicksal, und auf die junge Lehrerin machte die Lady den Eindruck, als brauche sie mindestens ebenso dringend wie ihre Kinder eine Freundin. Da spielte es keine große Rolle, dass Lady Gwendolyn rund zehn Jahre älter war als sie selbst.

„Higgins nennt die beiden Smith and Wesson. Sie wissen schon, diese amerikanische Pistole.“

Beide Frauen glucksten plötzlich vor Lachen, ein geheimes Einverständnis war zwischen ihnen entstanden, und Jenny fühlte ein wenig von der Einsamkeit, die die andere erfüllte.

Dieses vertraute Gefühl wurde jäh unterbrochen, als die Tür sich öffnete und Higgins hereinkam. Statt sich an die Hausherrin zu wenden, blickte er Jenny an, und sie hatte das Gefühl in seinen grauen, bewusst nichtssagenden Augen einen vergnügten Funken tanzen zu sehen. Sie wappnete sich innerlich.

„Ich bedaure, Ihnen melden zu müssen, dass Master Roger und die junge Lady Kathryn in der Küche eine Explosion ausgelöst haben. Sie bezeichneten es als physikalisches Experiment und bitten Sie, das Ergebnis zu begutachten.“

Jenny schluckte plötzlich schwer und wollte der Lady einen hilfesuchenden Blick zuwerfen. Doch dann nahm sie die Schultern zurück und stand auf. Das hier war ihre Aufgabe, dazu war sie hier, um Experimente zu begutachten und beim nächsten Mal zu verhindern – vielleicht. Jenny sah ein, dass ihre Aufgabe vielleicht schwerer werden würde, als sie gedacht hatte. Aber sicher auch interessanter.

2

Es war später Abend, und Jennifer Tyrone saß todmüde in ihrem Zimmer am Fenster. Ein bleicher Vollmond schien vom Himmel durch die großen Fenster herein, denn sie hatte die Vorhänge nicht zugezogen.

Ihr Zimmer war hübsch eingerichtet, mit alten wertvollen Möbeln und einem riesigen Himmelbett.

Anders als die anderen Personalräume befand sich dieses Zimmer nicht unter dem Dach, sondern war eigentlich als Gästezimmer vorgesehen, es lag neben den Räumen der beiden Kinder.

Ein Bad befand sich auf dem Gang, direkt gegenüber. Und wenn man von den modernen Lampen und den Heizkörpern absah, hätte sich Jenny um ein paar Jahrhunderte in der Zeit zurückversetzt fühlen können.

Jetzt aber war sie rechtschaffen müde. Nachdem sie auf den Bericht des Butlers hin in die Küche gegangen war, hatte die Lehrerin mit einem Schock zu kämpfen gehabt.

Higgins hatte verschwiegen, dass die Kinder die ganze Küche in Mehlstaub getaucht hatten. Es wäre völlig falsch gewesen, Roger und Kathryn jetzt auszuschimpfen, das wusste Jenny. Es würde ihre Autorität untergraben und die beiden nur bockig machen. Sie standen auch einigermaßen trotzig da, als erwarteten sie ein Donnerwetter. Doch Jenny fing die Sache anders an.

„Ich dachte eigentlich, dass wir mit dem Unterricht noch bis morgen warten“, hatte sie nüchtern gesagt. „Und vor allen Dingen würde ich niemals eine Küche für solche Experimente benutzen. Schließlich muss hier noch Essen gekocht werden. Und ob euch eine Quarkspeise mit Mehl schmeckt, das wage ich doch zu bezweifeln. Ganz abgesehen davon, dass die Köchin mich jetzt hasst.“

„Sie? Aber wir haben doch ...“, begann Kathryn erstaunt, wurde aber von ihrem Bruder in die Rippen gestoßen und verstummte.

„Natürlich mich“, fuhr Jenny ungerührt fort. „Immerhin soll ich euch unterrichten, und ihr seid auch scheinbar schon ganz wild darauf. Aber dieses Chaos hier schlägt auf mich zurück. Was können wir da wohl tun, um die Köchin wieder zu versöhnen?“

Jenny sah, dass die Köchin ihr Zeichen mit der Hand machte, aber sie ignorierte das. Stattdessen ging sie zu der Frau hin, reichte ihr die Hand und stellte sich vor.

„Tut mir sehr leid, dass die beiden etwas voreilig waren“, entschuldigte sie sich, und die Kinder bekamen große Augen.

„Ich bin Eve“, erwiderte die Köchin etwas verlegen. „Und das hier macht doch nichts. Martha, unser Hausmädchen, und ich machen das schon wieder sauber.“

„Das können wir auf keinen Fall zulassen“, widersprach Jenny ernsthaft und schaute die Kinder an. „Das machen wir drei natürlich, nicht wahr?“

Roger schnappte hörbar nach Luft, aber diesmal war es Kathy, die ihn anstieß.

„Natürlich“, erklärte sie wenig begeistert.

Und wenig später waren die drei emsig damit beschäftigt, Staub zu wischen und den Boden zu kehren.

Das war für die Kinder eine heilsame Lehre gewesen, auch in Courage. Denn dass Jenny sich verantwortlich gefühlt und mitgearbeitet hatte, ließ sie in der Achtung der Kinder steigen.

Deshalb saß die junge Frau jetzt todmüde und doch völlig überdreht am Fenster und starrte hinaus.

Dunst lag über dem Wasser, und durch das Mondlicht war es so hell, dass Jenny erkennen konnte, wie die Nebelschwaden wanderten und bizarre Formen bildeten.

Ihre Gedanken schweiften ab, und vor ihrem geistigen Auge tauchte das Gesicht von Alistair auf, so dicht und so real, dass sie es fast greifen konnte. Unwillkürlich streckte sie eine Hand aus, um über seine Wange zu streicheln, doch sie konnte ihn nicht erreichen. Aber er lächelte sie an, sein Gesicht schien so unverletzt, wie es vor dem brutalen Überfall gewesen war.

„Hab keine Angst, und weine nicht um mich“, hörte sie seine Stimme, obwohl das doch völlig unmöglich war.

„Alistair“, flüsterte sie, und Tränen liefen ihre Wangen herunter. Wieder versuchte sie nach ihm zu greifen, aber es war unmöglich ihn zu erreichen. Sie schluchzte heftig auf und merkte nicht, dass Kathryn leise in ihr Zimmer gekommen war.

Erst als die kleine Kinderhand sie berührte, schrak sie zusammen. Das Abbild Alistairs verschwand, und Jenny schämte sich plötzlich ihrer Tränen.

„Bist du traurig?“, fragte das Mädchen und kuschelte sich an Jenny. Automatisch zog die Frau das Kind auf den Schoß und wischte sich energisch über das Gesicht.

„Ja, ich bin ein bisschen traurig“, gab sie zu. „Aber darüber musst du dir keine Gedanken machen. Warum liegst du eigentlich nicht im Bett und schläfst?“

„Ich konnte nicht schlafen, der Mond scheint so hell.“

„Sind denn die Vorhänge nicht zu?“

„Doch, aber ich glaube, ich fühle den Mond“, erklärte die Kleine altklug. „Du kannst doch auch nicht schlafen, oder?“

Es kam Jenny gar nicht merkwürdig vor, dass das Kind sie duzte, es war ein Vertrauensbeweis, den sie gerne annahm. Und so hatte sie nichts dagegen, es schien ihr richtig so. Und auch, dass das Mädchen zu ihr statt zu ihrer Mutter kam, schien in dieser Nacht normal.

„Du solltest jetzt trotzdem versuchen zu schlafen“, sagte Jenny liebevoll. „Ich werde jetzt auch ins Bett gehen.“

„Erzählst du mir was?“, fragte die Kleine.

„Ein Märchen?“, fragte Jenny.

„Warum nicht? Darf ich in deinem Bett kuscheln? Sonst klettere ich manchmal zu Roger. Aber der haut mich im Schlaf.“

Jenny lächelte.

Es war ein ganz neues Gefühl, diesen kleinen warmen Körper neben sich im Bett zu haben, das kannte Jenny gar nicht. Aber sie nahm das Mädchen in die Arme und begann ihr ein Märchen zu erzählen, bis Kathys ruhige Atemzüge anzeigten, dass sie eingeschlafen war. Auch Jenny fielen die Augen zu, bevor sie das Kind in ihr eigenes Zimmer zurücktragen konnte.

Ihr letzter Gedanke galt Alistair, dessen Gesicht selbst jetzt im Halbschlaf noch vor ihr auftauchte und sie anlächelte.

3

„Es gibt hier im Haus Geheimgänge, und wir kennen sie alle“, verkündete Roger stolz.

Jenny saß mit den Kindern im Arbeitszimmer des verstorbenen Lord Roderick und unterrichtete. Da sie es für wichtig hielt, in den beiden auch die Familiengeschichte wach zu halten, hatte sie sich mit Lady Gwendolyns Erlaubnis kundig gemacht, indem in den alten Büchern stöberte.

Am ersten Morgen war die junge Frau ganz verwundert in ihrem noch fremden Zimmer aufgewacht und hatte zuerst gar nicht gewusst, wo sie sich befand und wer das fremde Kind in ihrem Arm war. Doch dann war die Erinnerung zurückgekehrt. Jenny hatte Kathryn sanft geweckt und in ihr Zimmer geschickt, ohne dass jemand von diesem trauten Beisammensein wusste. Es blieb ihr Geheimnis.

Der Tagesablauf war relativ einfach. Jenny bekam ein fast fürstliches Gehalt dafür, dass sie sich praktisch den ganzen Tag um die Kinder kümmerte, einen Tag in der Woche hatte sie dann frei.

Es blieb ihr überlassen, wie sie die Unterrichtsstunden einteilte, doch auf jeden Fall hatte sie dem Schuldezernat einen detaillierten Bericht vorzulegen, welche Fortschritte die Kinder machten. Nicht einmal hier in dieser Abgeschiedenheit ging es ohne Bürokratie.

Jenny hatte sich dafür entschieden, das Arbeitszimmer für die Schulstunden der Kinder zu nutzen, und die ersten Tage waren damit vergangen, dass sie sich einen Überblick verschaffte, was die Kinder schon wussten und konnten.

Die Nachmittage waren mit Spaziergängen und Spielen angefüllt, und Jenny fühlte sich schon nach drei Tagen heimisch. Sie hatte einen Teil des weitläufigen Hauses kennengelernt, in dem längst nicht alle Zimmer eingerichtet und bewohnt waren, und sie hatte sich mit der Geschichte der Montgomerys beschäftigt. Schulbücher hatte sie in ihrem Gepäck mitgebracht, und nun wollte sie einen sinnvoll durchdachten Unterricht aufziehen.

Gerade hatte sie den beiden etwas aus der Geschichte Schottlands erzählt, über die Flucht Mary Stuarts, als Roger schon die Querverbindung zu Geheimgängen zog und auf diejenigen verwies, die hier in Glencore House zu finden waren.

„Es ist gefährlich solche alten Gänge zu benutzen“, erklärte Jenny. „Es könnte Fallen geben, die auch heute noch zu Verletzungen führen können. Versprecht mir, dass ihr nie allein solche Geheimgänge benutzt.“

„Gehst du dann mal mit?“, erkundigte sich Kathy neugierig.

„Nein, ich habe nicht vor, in uralten schmutzigen Gängen herumzulaufen und nicht zu wissen, wo ich mich gerade befinde. Und nun, versprecht mir, dass ihr das auch nicht tut.“

Streng sah sie die beiden Kinder an, die etwas betreten den Blick senkten. „Nun, was ist? Ich warte“, mahnte Jenny. „Und ihr wisst, was ein Versprechen bedeutet. Man darf es nicht brechen.“

„Hm, ja“, kam die wenig begeisterte Antwort.

„Kathryn – was soll das heißen? Hm, ja?“

Das Mädchen gab sich einen Ruck und schubste dann ihren Bruder an. „Wir versprechen es.“

„Was versprecht ihr?“, hakte Jenny nach. „Hört mal, ich sage das nicht, um euch zu ärgern, sondern weil ich mir Sorgen mache. Ich möchte nicht den Tag erleben, an dem ich euch verletzt oder tot aus einem dieser Gänge holen muss. Also?“

„Wir versprechen, dass wir nicht mehr allein in uralte schmutzige Geheimgänge gehen“, kam es endlich.

Jenny entging die Einschränkung keinesfalls, doch sie machte sich jetzt keine weiteren Gedanken. Es würde auf Glencore Island wohl keine neuen und sauberen Geheimgänge geben.

„Nun gut. Das Wetter ist so schön, lasst uns jetzt die Zeit nutzen und einen Spaziergang zu den Felsen hinaus machen.“

Begeistert packten die Kinder die Bücher ein. Jenny gab in der Küche Bescheid und bat um etwas Proviant. Dann kam ihr eine Idee, und sie ließ sich einige kleine Einmachgläser geben.

„Wir können das Wasser untersuchen und Muscheln, oder was wir sonst noch finden“, erklärte sie.

Roger und Kathryn tollten übermütig herum. Vom Haus zu den Klippen war es doch ein Weg von rund 20 Minuten, und dann begann erst die richtige Kletterei. Die Kinder, die ihr ganzes Leben hier gewohnt hatten, kannten jeden Stein und bewältigten den Weg so schnell, dass Jenny sie aus den Augen verlor. Auf ihr Rufen bekam sie zunächst keine Antwort, doch dann kam vergnügtes Kichern.

„Du musst uns suchen“, kam es etwas dumpf.

„Das werde ich ganz sicher nicht tun“, erwiderte Jenny empört. „Roger, Kathryn, sofort kommt ihr hierher zu mir.“

Doch die Kinder gehorchten nicht und blieben verschwunden.

Jenny kletterte über die teilweise scharfkantigen Felsen und dicke Steinblöcke, kam ins Schwitzen und verwünschte die Kinder wie auch sich selbst, dass sie einen so dummen Vorschlag gemacht hatte.

Endlich konnte sie auf der anderen Seite herunterklettern. Es war Ebbe, und ein Stück Sandstrand befand sich jetzt vor dem Wasser. Bei Flut würde dieser kleine Strand vermutlich regelmäßig überspült, aber Jenny sah, dass es einige Höhlen hier gab, die jetzt zugänglich waren.

Die Kinder würden doch nicht ...

Jenny bekam es plötzlich mit der Angst zu tun, und ihre Stimme klang schrill, als sie jetzt immer wieder die Namen der Kinder rief. Wie und wo sollte sie die beiden hier finden? Das erschien ihr ziemlich aussichtslos.

Trotzig und niedergeschlagen setzte sie sich auf einen Felsen, der im Sonnenschein abgetrocknet war.

Auf jeden Fall musste sie die Kinder finden, bevor die Flut kam. Nicht auszudenken, was passieren könnte, würden die beiden vom Wasser eingeschlossen.

„Roger, Kathryn, kommt her und lasst uns jetzt etwas essen“, versuchte sie eine List, doch sie hörte selbst, dass ihre Stimme unsicher klang.

„Sie werden die beiden kaum finden, wenn sie das nicht wollen. Die kennen sich hier aus. Allerdings sollte man ihnen den Hosenboden versohlen, dafür, dass sie Ihnen solche Angst einjagen“, erklang plötzlich eine warme männliche Stimme.

Jenny zuckte vor Schreck zusammen und wirbelte herum, um den Sprecher zu sehen.

Ein Mann stand da wie aus dem Boden gewachsen. Schlank, sportlich, in Fischerkleidung, das blonde Haar vom Wind zerzaust. Er hatte ein sympathisches Lächeln im Gesicht, und sah ganz so aus, als würde er hierhergehören, aber sicher nicht als Dienstbote.

„Wer sind Sie? Und was machen Sie hier?“, fragte Jenny scharf. „Diese Insel ist Privatbesitz.“

„Ich weiß“, erwiderte er offen. „Und ich werde auch gleich wieder verschwinden. Wenn Sie nicht verraten, dass ich hier war, werde ich es auch nicht tun.“

In Jenny flammte plötzlich Zorn auf. Ihre Augen blitzten zornig, und sie richtete sich kerzengerade auf. Sie konnte nicht ahnen, dass sie dem Mann vor ihr plötzlich wie eine Meeresgöttin vorkam. Das leuchtend rote Haar hatte sich aus dem grünen Samtband gelöst und wehte im Wind, das Gesicht war leicht gerötet, und die grünen Augen schossen Blitze ab.

„Wer sind Sie?“, fragte sie noch einmal.

„Ein Wassergeist, geschickt, um die Göttin der Meere zu besänftigen“, kam fast ehrfürchtig die Antwort. Aber nun wurde es Jenny zu dumm.

„Wenn Sie mir nicht sofort eine Antwort geben, werde ich ...“

Ja, was wollte sie dann tun? Dies hier war nicht Glasgow, wo an jeder Ecke ein Telefon stand, um die Polizei zu rufen. Hier hatte sie eine Kletterpartie und einen Fußmarsch vor sich, bis sie zum Haus zurückkam, um Gordon zu Hilfe zu holen. Erschreckend wurde sie sich ihrer Hilflosigkeit bewusst. Und außerdem waren da ja auch noch die Kinder.

„Himmel, die Kinder“, entfuhr es ihr ungewollt.

„Ich sagte schon, die beiden kennen sich hier aus“, sagte der Mann beruhigend. „Und ich werde Ihnen ganz sicher nichts tun. Auch wenn Sie mich anschauen, als wollte ich Sie fressen. Ich war nur auf der Suche.“

„Nach Wassergeistern und Meeresgöttinnen?“, fragte sie bissig. „Sagen Sie mir, wer Sie sind und woher Sie die Gewissheit nehmen, dass den Kindern nichts passiert ist. Ich finde Ihr Benehmen reichlich merkwürdig und anmaßend, Mister.“

„Und ich finde Sie ausgesprochen schön, wenn auch ziemlich kratzbürstig. Wenn Sie die Kinder suchen wollen, gehen Sie in die Höhle da links. Sie hat einen Ausgang auch zum Land hin. In einer Stunde setzte die Flut ein.“

Jenny wollte näher auf den Fremden zulaufen, ihn festhalten oder schütteln und endlich eine Antwort auf ihre Fragen.

Doch sie stolperte über den Picknickkorb, den sie die ganze Zeit getragen und dann auf dem Boden abgestellt hatte. In dem kurzen Augenblick, in dem sie um ihr Gleichgewicht kämpfte, richtete sie den Blick auf die eigenen Füße. Als sie wieder hochschaute, war der Mann verschwunden. Nicht einmal Fußspuren im Sand waren zu sehen, das Meer bedeckte gleich alles mit schwappenden Wellen.

„Träume ich?“, fragte Jenny verzweifelt. „Oder leide ich jetzt an Halluzinationen? O Alistair, ich wünschte, du wärst bei mir.“

Trotzig, weil die Gefühle sie zu überwältigen drohten, stampfte sie mit dem Fuß auf. Dann wandte sie sich der Höhle zu, auf die der Fremde gezeigt hatte.

„Roger, Kathryn, seid ihr da drin?“, rief sie in das Dunkel hinein. „Ich habe jetzt genug von diesen dummen Streichen. Das ist absolut nicht lustig.“

4

Die beiden Kinder saßen in der Nähe des Landausgangs und amüsierten sich über Jennys verzweifelte Suche.

„Ich glaube, jetzt ist es genug“, sagte Kathy schließlich. „Ich will nicht, dass sie wirklich Angst bekommt. Und außerdem ist sie nett, wir sollten sie nicht zu sehr verärgern.“

„Ach, ich glaube, die nimmt das nicht so ernst“, widersprach Roger.

„Doch, es ist genug.“

„Na gut, wie du meinst“, maulte der Junge.

Die Kinder fassten sich bei der Hand und wollten über die Felsen und das locker umherliegende Geröll zum Seeausgang, wo Jenny war, als Roger ausglitt und stürzte. Kathy schrie auf, und der Griff der beiden Hände löste sich. Roger rutschte auf dem Geröll nach unten, und direkt neben ihm löste sich eine ganze Lawine, die Felsbrocken trafen aber wie durch ein Wunder den Jungen nicht.

Jenny hörte die Schreie, und die Angst verlieh ihr Flügel. Sie fand Roger am Boden liegend. Er hatte nicht einmal einen Kratzer, schimpfte aber sehr malerisch, bis Jenny dazwischenfuhr.

Mittlerweile hatte sich auch Kathryn heruntergetastet, ohne eine erneute Lawine auszulösen, und beide Kinder senkten betreten die Köpfe. Sie sahen jetzt sehr wohl die Richtigkeit von Jenny Warnungen ein.

Aber schließlich hatte die Lehrerin genug geschimpft. Sie vergewisserte sich noch einmal, dass Roger auch wirklich nichts passiert war.

„So, wir sollten jetzt zurückgehen. Ich hab wirklich keine Lust mehr, mit euch ein Picknick zu machen.“

„Es – es tut uns wirklich leid, Jenny, wir werden das nicht wieder tun. Bitte, nicht mehr böse sein.“

Das Mädchen schaute so treuherzig und bittend, dass Jenny dahinschmolz.

„Ich werde darüber nachdenken. Lasst uns jetzt erst einmal aus diesem Höllenschlund herausfinden.“

„Jenny, sieh mal“, sagte Roger einen Augenblick später.

Das Geröll, das ihn beinahe verschüttet hatte, gab jetzt den Zugang zu einer weiteren Höhle frei. Ein muffiger Geruch strömte ihnen entgegen, und Jenny rümpfte die Nase.

„Ich habe keine Lust verfaulte Muscheln, oder was auch immer sich darin befindet, zu untersuchen“, erklärte sie kategorisch.

„Aber die Höhle ist ganz neu. Die kennen wir noch nicht“, protestierte Roger.

„Und heute werdet ihr sie auf keinen Fall kennenlernen“, bestimmte Jenny. „Ich werde mit eurer Mutter darüber reden, ob wir eine richtige Höhlenforschung unternehmen dürfen.“

Den Jubel der Kinder unterband sie mit einer Handbewegung. „So, wir gehen jetzt zurück. Ich habe in einigen Gläsern Wasser gesammelt und auch feuchten Sand. Morgen früh werden wir das unter dem Mikroskop untersuchen.“

Sie ließ sich von den Kindern den Weg hinaus zeigen, und wenig später saßen sie im Sonnenschein im Gras und ließen sich jetzt doch das Essen schmecken.

Doch Jenny ging der fremde Mann nicht aus dem Kopf.

5

Das Abendessen war vorüber, die Kinder im Bett und Jenny saß müde im Salon, wo sie noch etwas las.

Lady Gwendolyn kam herein, sie hatte den Kindern gute Nacht gesagt.

„Die beiden haben gebeichtet“, berichtete sie lächelnd. „Und Sie haben die Sache sehr diplomatisch gelöst. Danke, Miss Tyrone, ich glaube, die Kinder haben Sie schon voll ins Herz geschlossen.“

„Ich mag die beiden auch sehr, Mylady, und ich bin froh, dass ich hier sein darf. Aber da war noch etwas.“ Jenny erzählte von dem Fremden und war erstaunt, dass Lady Gwendolyn auflachte.

„Ihrer Beschreibung nach muss es unser Nachbar gewesen sein. Er war ein Freund meines Mannes. Es gibt hier noch eine Insel, gar nicht weit entfernt auf dem Wasserweg. Dort steht Corrigan Castle. Der jetzige Besitzer ist Sean Sinclair, der das alles geerbt hat. Ich kenne ihn nicht so gut wie Roderick, die beiden haben zusammen studiert. Aber ich weiß, dass er ein netter Mensch sein kann. Er ist Anwalt mit einer Kanzlei in Edinburgh, und man sagt ihm vor Gericht gute Erfolge nach. Es macht nichts, dass er auf der Insel war, er kennt sich hier gut aus.“

„Dann bin ich ja beruhigt“, erklärte Jenny. „Auch wenn ich sein Verhalten merkwürdig fand. Doch ich wollte Sie noch etwas fragen. Die Kinder werden Ihnen vielleicht erzählt haben ...“

„Die neue Höhle?“ Lady Gwen lachte auf. „Ja, ich weiß. Ich habe einen Ansturm an Bitten gerade hinter mir. Wenn Sie keine Angst haben, können Sie mit den Kindern gern auf Schatzsuche gehen.“

„Schatzsuche?“

„Ja, es gibt hier eine Sage, dass einer der Vorfahren der Montgomerys durch Schmuggel einen Schatz angehäuft haben soll. Wo der ist, weiß aber niemand. Außerdem soll eine Art Rätsel oder Prophezeiung dazugehören. Das alles fällt aber wahrscheinlich ins Reich der Fabeln. Spielen Sie eigentlich Schach?“

Verblüfft nickte Jenny.

Aus einer kleinen Kommode nahm die Lady ein Schachspiel, und die Lehrerin schnappte nach Luft. Ebenholz und Elfenbein schimmerten matt, als sie half kostbare Figuren aufzustellen.

„Wie lange ist das her mit Ihrem Verlobten?“, erkundigte sich Lady Gwendolyn, nachdem sich beide Frauen einige Zeit intensiv auf das Spiel konzentriert hatten.

Jenny setzte einen Bauern. „Vier Monate. Und bei Ihnen?“

„Sechs Monate. Ich nehme an, Sie haben damals in den Zeitungen darüber gelesen? Die Presse hat die Sache ziemlich aufgebauscht und dann breitgetreten.“

Jenny überlegte. „Ja, ich erinnere mich. Es hieß allgemein, Ihr Gatte müsste gestürzt sein, sich den Kopf aufgeschlagen haben und dann im Meer ertrunken sein. Es wundert mich, dass Sie keine Angst um die Kinder haben, wenn sie da spielen.“

„Die Umstände um den Tod meines Mannes sind nie ganz geklärt worden. Die Polizei vermutete sogar einen Mord, aber die Akte wurde dann doch als ungeklärter Todesfall zur Seite gelegt. Er ist nicht gestürzt, da bin ich ganz sicher. Roderick kannte jeden Stein. Und auch meinen Kindern geht es so, selbst nach der Rutschpartie von heute denke ich nicht anders. Selbst ich habe keine Angst dort. Es wundert mich allerdings, dass es die neue Höhle gibt.“

Jenny lächelte. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie Sie auf den Felsen herumklettern, Mylady. Sie sind so – damenhaft.“

Gwendolyn Montgomery lachte hell auf, ein verschmitzter Zug erschien auf ihrem Gesicht, während sie einen Läufer von Jenny auf dem Schachbrett umwarf.

„Erst einmal würde ich begrüßen, wenn Sie die steife Anrede weglassen, solange keine auswärtigen Gäste zugegen sind. Ich war nicht immer von Adel, und ich schätze ein offenes Wort. Ich werde Sie gern Jenny nennen, wenn Sie nichts dagegen haben. Mein Name ist Gwendolyn. Sehen Sie, in den wenigen Tagen, seit Sie hier sind, habe ich Sie schon sehr schätzen gelernt. Sie haben die Herzen meiner Kinder erobert, und mein Vertrauen ist eine Art Dank. Aber verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht überfahren mit dieser Bitte.“

Jenny war rot geworden vor Verlegenheit, doch dann reichte sie Lady Gwendolyn die Hand. „Jenny ist schon ganz in Ordnung.“

„Und Gwen gefällt mir auch. Und morgen werden Sie sehen, wie es aussieht, wenn Ihre Ladyschaft Gwendolyn Montgomery mit Jeans über die Felsen klettert.“

„Sie wollen mitkommen?“, fragte Jenny verdutzt.

„Ich bin wahnsinnig neugierig“, gestand die Lady. „Schach, meine Liebe. Sie müssen viel mehr auf die Dame aufpassen.“

6

Der Morgen begann mit Nebel und feinem Nieselregen. Die Kinder waren im Unterricht lustlos, und als Jenny schließlich die Stunde beendete, liefen die beiden erleichtert davon. Sie wussten noch nichts von dem geplanten Ausflug.

Gegen elf brach die Sonne durch, und auf der Treppe erscholl wüstes Gepolter. Higgins kam in unangemessener Hast, Jenny stürzte aus dem Arbeitszimmer, und auch Lady Gwen kam in die Halle.

Am Fuß der Treppe lag eine Ritterrüstung, die sonst im oberen Stockwerk auf dem Flur stand. Einige der Schienen an Armen und Beinen hatten sich gelöst, und darunter kam nackte Haut zum Vorschein.

„Roger? He, hast du dir wehgetan?“, brüllte Kathy und kam die Treppe heruntergestürzt.

„Master Roger!“ Die Stimme des Butlers klang besorgt, und er begann die klappernden Eisenteile von dem Jungen zu lösen.

Nachdem er den Helm abgenommen hatte, kam das betrübte Gesicht des Jungen zum Vorschein.

„Es klappt nicht“, beklagte er sich bitter. „Kathy, es geht nicht. Kein Ritter konnte mit der Rüstung die Treppen hinauf und hinuntersteigen.“

„Das hat auch nie ein Ritter getan“, erklärte Jenny scharf. „Wie kommst du nur auf eine so verrückte Idee? Warum fragt ihr mich nicht vorher? Ich hätte euch das erklärt, ohne dass ihr das halbe Haus in Trümmer legt.“

„Jenny, ich glaube, die beiden haben praktische Geschichtskunde geübt. Roger, du hast eine Schramme, lass dir ein Pflaster draufkleben. Nach dem Essen möchte ich mit euch sprechen.“

Higgins hatte die Augenbrauen indigniert hochgezogen, als er die vertrauliche Anrede unter den beiden Frauen hörte, er schnappte jetzt regelrecht nach Luft, als Jenny antwortete.

„Gwen, wäre das nicht eine nette Idee, wenn sie ihre praktische Übung fortführen? Die beiden können die Rüstung wieder aufbauen, wie ein Puzzle.“

Die beiden Frauen lachten sich an, jedermann konnte spüren, dass sich hier eine Freundschaft anbahnte.

Higgins war im Grunde froh darüber, denn Gwen lebte nach seiner Meinung viel zu sehr zurückgezogen. Und Jenny brachte etwas frischen Wind in ihr Leben.

Zufrieden lächelte er in sich hinein, um nach außen weiter seine undurchdringliche Maske zu tragen, er hatte seinen Berufsstand zu repräsentieren und würde keinesfalls offen eine Gefühlsregung zeigen.

Jenny hatte jetzt den missmutigen Roger aus seinem eisernen Gefängnis befreit und drückte Kathy die ersten Teile in die Hand.

„Du kannst schon mal anfangen, Roger kommt auch gleich. Ich will euch dann etwas helfen, eine Ritterrüstung habe ich auch noch zusammengebaut.“

7

Die Kinder waren während des Mittagessens sehr schweigsam, sie erwarteten eine bitterböse Strafpredigt.

Aber Lady Gwen würde nie während einer Mahlzeit darüber reden. Anschließend verschwand sie dann aber für ein paar Minuten und kam in Freizeitkleidung zurück. Jenny hatte ebenfalls unempfindliche Kleidung angelegt.

Gwen musterte ihre Kinder. „Ich glaube, Jenny, wir können es mit ihnen wagen. Oder haben Sie Einwände?“

„Nein, eigentlich nicht. Aber ich sollte Sie an das Versprechen erinnern, Gwen.“

Die Kinder schauten die beiden Frauen verständnislos an.

„Ich erwarte von euch, Lady Kathryn und Master Roger, dass ihr mir auf der Stelle das Versprechen gebt, nicht auf eigene Faust auf Höhlenforschung zu gehen. Ihr werdet bei uns bleiben und keinen Unsinn anstellen.“

Die Kinder schnappten nach Luft. „Jetzt? Ihr geht beide mit uns? Hurra! – Wir versprechen es!“, jubelten sie und rannten wie der Wind die Treppe hinauf, um sich umzuziehen.

Die Sonne war endgültig durch die Wolkendecke gebrochen, dennoch war es frisch draußen, aber das machte keinem etwas aus.

„Roderick und ich sind oft auf den Felsen herumgeklettert“, sagte Gwen plötzlich sehnsüchtig. „Und Sie, Jenny, hatten Sie und Alistair auch einen Lieblingsplatz?“

„Ja, einen dicken großen Baum an einer verborgen liegenden Quelle. Es war ausgesprochen romantisch ...“

Sie brach ab, aber Gwen lächelte. „Sehen Sie, uns bleiben schöne Erinnerungen. Behalten Sie sie fest im Herzen.“ Sie warf einen Blick zur Uhr. „Es ist Ebbe, wir könnten vielleicht Glück haben und noch ein paar Krebse finden. Das wäre eine Bereicherung für das Abendessen.“

Die vier gingen von der Landseite Herrin die Höhle, um sich unnötige Kletterei zu ersparen. Jenny und Gwen hatten Taschenlampen mitgenommen und in einem kleinen Rucksack etwas Proviant.

Jenny dachte unwillkürlich an Sean Sinclair. Dieser Ort würde sie immer an ihn erinnern, allein schon seine Gestalt hatte sie beeindruckt. Und auch seine fast poetischen Worte hatten sich in ihr Gedächtnis gegraben.

Jetzt aber schob sie diese Gedanken beiseite, Sinclair war nicht nett, er war unverschämt und arrogant gewesen. Aber er hatte ihr auch den Weg zu den Kindern gewiesen, erklärte eine Stimme in ihr. Egal, sie freute sich darauf, dass sie mit Gwen und den Kindern hier war,

Sie hätte es nie so einfach zugegeben, aber in dieser Höhle packte sie ein bisschen die Angst. Ein irrationales Gefühl, schließlich konnte nichts passieren. Doch das mulmige Gefühl hatte sie gestern schon in den Klauen gehabt, und heute hielt es sich nur unter Kontrolle, weil Gwen dabei war.

Rasch hatten sie die Geröllhalde erreicht, wo gestern der Durchbruch zur Höhle entstanden war. Der muffige Geruch hatte sich etwas verflüchtigt, und Gwen leuchtete mit der Taschenlampe hinein.

„Das scheint erst mal eine Art Tunnel zu sein“, stellte sie fest. „Passt auf, wohin ihr tretet.“

Ein paar Minuten gingen alle dicht beieinander weiter, dann erweiterte sich der Gang zu einem Felsendom. Jenny ließ den Strahl der Lampe wandern.

„Wir sind die ganze Zeit aufwärts gegangen. Dies hier liegt über der Wasseroberfläche“, erklärte sie und hielt im nächsten Augenblick die Luft an. Das Licht der Lampe verharrte auf einer Art Tisch, modrig und morsch, aber noch immer konnte man die Beine und die fast ebene Platte erkennen. Gwen schritt neugierig näher und stieß dann einen zischenden Laut aus. Ihre Lampe zeigte plötzlich auf einem grob gezimmerten Stuhl. Und darauf saß – ein Skelett.

„Toll, eine Seeräuberhöhle“, kommentierten die Kinder.

„Eine Kerze“, flüsterte Jenny und kramte in ihrer Handtasche nach einem Feuerzeug, das sie aus reiner Gewohnheit immer bei sich trug.

Es brauchte einige Versuche in der feuchten Luft der Höhle, bis die Flamme auf die Kerze übersprang, dann jedoch wurde es etwas heller.

Die beiden Frauen standen betroffen vor den Überresten eines Lebens. Auf dem Tisch, der den Eindruck machte, jeden Moment in sich selbst zusammenzustürzen, lag neben der nur halb abgebrannten Kerze ein Buch und eine Gänsekielfeder. Ein Glas mit eingetrockneter Tinte stand daneben.

Jenny blickte sich um und schauderte.

„Man hat diesen Menschen lebendig eingemauert“, flüsterte sie, und ihre Stimme klang seltsam hohl.

„Ein Vermächtnis?“, fragte Gwen ebenso erschüttert und deutete auf den Tisch.

An den bleichen Knochen des Skeletts hingen ein paar verrottete Kleiderfetzen, und Kathy griff gerade nach einer Uhrkette, die über den Rippen zwischen den grauen Hemdfetzen durchschimmerte. Dann schrie sie auf, als die Knochen klappernd in sich zusammenfielen. Der Kopf rollte wie ein Ball zur Seite ein paar Schritte weit davon.

Mühsam bewahrten Jenny und Gwen Haltung.

„Stecken Sie das Buch vorsichtig ein, Jenny, bitte. Und dann wollen wir den armen Kerl hier begraben.“

Mit einigem Ekel, dann aber doch eifrig, sammelten die vier die Knochen auf einen Haufen und bedeckten sie mit Geröll und Steinen.

„Ich möchte wissen, wer es war“, murmelte Gwen abschließend. „Aber vielleicht finden wir in dem Buch einen Hinweis. Ach, Jenny, habe ich Ihnen schon gesagt, dass für nächste Woche die Testamentseröffnung angesagt ist?“

Die vier gingen den Weg zurück, wollten jetzt aber zum Wasser, um sich die Hände zu waschen und vielleicht doch noch ein paar Krebse zu finden.

„Testament? Jetzt erst? Sie sagten doch, Ihr Gatte sei schon vor sechs Monaten gestorben?“