Liebe - Glaube - Russland - Katharina Bauer - E-Book

Liebe - Glaube - Russland E-Book

Katharina Bauer

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Beschreibung

An Aleksej Nikolaevič Tolstoj (1883-1945), einem gebürtigen Grafen und entfernten Verwandten Lev Tolstojs, scheiden sich seit jeher die Geister. So viele anerkennende Aussagen es über sein schriftstellerisches Talent gibt, so zahlreich sind auch die enttäuschten Äußerungen über den von ihm eingeschlagenen künstlerischen Weg in den 1920er- und 30er-Jahren, der ihn zum „Klassiker der Sowjetliteratur“ werden ließ. Der vorliegende Band durchbricht die bislang vorherrschende Reduktion des Autors auf die sowjetische Phase und untersucht Aleksej Tolstojs erzählerisches und publizistisches Werk erstmals systematisch und über einen Zeitraum von knapp 40 Jahren hinweg auf die darin gestalteten Russlandkonzeptionen. Katharina Bauer zeichnet nach, wie sich Aleksej Tolstoj unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs, der Oktoberrevolution und des Bürgerkriegs, der Erfahrung eines Lebens in der Emigration und der verschiedenen Stadien sowjetischer Politik zwischen 1923 und 1945 in seinen Texten mit der Frage nach den Auswirkungen dieser Ereignisse auf das Leben der Menschen in Russland und ihre Beziehung zu Russland auseinandersetzt. Einerseits selbst oft schwankend und ratlos, andererseits in seiner Rolle als Schriftsteller dem Anspruch verpflichtet, stets am Puls der Zeit zu fühlen und einen Beitrag zur kollektiven Sinn- und Identitätsstiftung in Krisenzeiten zu leisten, bewegen sich seine Texte oftmals in einem Spannungsfeld von Untergangsstimmung und selbst verordnetem Zukunftsoptimismus, der aus der Krise eine Chance werden lässt. Aleksej Tolstojs Texte lassen sich somit als eine Art literarische Alltags- und Mentalitätsgeschichte in Zeiten radikaler Umbrüche lesen, für deren Bewältigung der Schriftsteller ein ebenso minimalistisches wie universell einsetzbares ‚Instrumentarium’ offeriert: Liebe und Glaube – die Umsetzung erweist sich allerdings oftmals schwieriger, als es auf den ersten Blick scheinen mag.

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Seitenzahl: 523

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ibidem-Verlag, Stuttgart

 

Inhaltsverzeichnis

Danksagung

1. Einleitung

1.1 Fragestellung der Arbeit

1.2 Methodisches Vorgehen

1.3 Überblick über den Forschungsstand zum Werk Aleksej N. Tolstojs

1.3.1 Die russische Tolstoj-Forschung

1.3.2 Die Tolstoj-Forschung außerhalb Russlands

1.4 Zu den literatur- und kulturgeschichtlichen Rahmenbedingungen der Arbeit

1.5 Zum Aufbau der Arbeit

2. Russland im Werk Aleksej Tolstojs bis 1917

2.1 Poetologische Fundamente aus der Frühphase 1906–1914

2.2 Russland und Europa

2.3 Prosatexte bis 1914: „bytovaja Rossija“

2.4 Russland und Europa im Ersten Weltkrieg

2.5 Annäherung an Russland: der Krieg in Tolstojs Erzähltexten 1914–1917

2.6 Innerer Kampf: Russland zwischen „starinnaja kul’tura“ und Moderne

2.7 Literarische Kämpfe: die zeitgenössische Literatur im Visier

2.8 Kapitelresümee I

3. Von der Revolution bis zur Emigration 1919

3.1 Das Ende?

3.2 Das Ende! Zu den Erzähltexten der Revolutions- und Bürgerkriegsphase bis zur Emigration

3.3 Kapitelresümee II

4. Russland aus der Ferne: Aleksej Tolstojs Emigrationsjahre 1919–1923

4.1 Zur Emigrationswahrnehmung Tolstojs

4.2 Russland lebt: von der Synthese zwischen Ost und West zum Antagonismus

4.2.1 Vom Chaos zur neuen Ordnung

4.2.2 Liebe, Glaube, Russland

4.3 Prophezeiung des Scheiterns in der Fremde: Rückkehr und Gemeinschaft oder Außenseitertum und Untergang

4.3.1 Auf Abwegen

4.3.2 Tolstojs „dritter Weg“

4.4 Literarische Signalfeuer aus Paris und Berlin

4.4.1 „Die letzten Tage der alten Welt“: der Roman Choždenie po mukam

4.4.2 „Es gibt kein Russland mehr“: unmögliche Rückkehr

4.4.3 „Hier ist der Tod“: Alternativlosigkeit der Rückkehr

4.4.4 Kapitelresümee III

5. Arbeit an der Profilierung des ‚neuen‘ Russlands nach der Rückkehr

5.1 Langsame Heimkehr: die Trilogie Choždenie po mukam (1925–1941)

5.2 Von der Parodierung zur Inkriminierung von Flucht und Emigration im Abenteuer- und Detektivroman

5.2.1 Die Revolution als Abenteuer: Pochoždenie Nevzorova ili Ibikus

5.2.2 Im Kampf gegen phantastische Bedrohungsszenarien: Giperboloid inženera Garina

5.2.3 Die Verschwörung der ‚alten‘ gegen die ‚neue‘ Welt: Ėmigranty

5.3 Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Golubye goroda und Gadjuka

5.4 Fremde Heimat: Petr I

5.4.1 Das Petrinische und das Stalinistische Russland

5.4.2 Russland und Europa im Roman

5.5 Kapitelresümee IV

6. Zusammenfassung

7. Überblick über die wichtigsten biographischen Daten Aleksej N. Tolstojs sowie die besprochenen Texte

8. Literaturverzeichnis

8.1 Primärliteratur von Aleksej Tolstoj

8.2 Primärliteratur anderer Autoren

8.3 Forschungsliteratur

Impressum

ibidem-Verlag

Danksagung

 

Die Entstehung des vorliegenden Bandes haben viele Personen auf ganz unterschiedliche Art und Weise begleitet und gefördert, wofür ich mich sehr herzlich bedanken möchte:

Allen voran bei den beiden Betreuern und Gutachtern der Arbeit, Prof. Dr. Reinhard Ibler (JLU Gießen) und Prof. Dr. Wolfgang Kissel (Universität Bremen), die den Arbeitsprozess nicht nur mit ihrer fachlichen Expertise unterstützt haben, sondern insbesondere durch ihre stete Ermutigung und geduldige Zuversicht in das Gelingen des Projekts.

Prof. Ibler sei an dieser Stelle auch für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Literatur und Kultur im mittleren und östlichen Europa gedankt; Frau Lange vom ibidem-Verlag für die freundliche und unkomplizierte Zusammenarbeit.

Einen wichtigen Beitrag zur Entstehung der Arbeit leistete die Aufnahme und Förderung als Stipendiatin am International Graduate Center for the Study of Culture (GCSC; JLU Gießen).

Mein herzlicher Dank gilt allen KollegInnen und FreundInnen aus dem Studium, dem GCSC, dem Gießener Institut für Slavistik sowie dem DFG-Netzwerk Dynamiken interkultureller Begegnungen, die sich die Zeit genommen haben, sich mit meinen Texten, Fragen und Problemen auseinander zu setzen und die mir wertvolles, kritisches Feedback gegeben haben.

Große Unterstützung und Entlastung habe ich von Friedrich von Petersdorff erfahren, der das Dissertationsmanuskript akribisch Korrektur gelesen hat. Elena Hamidy und Tatjana Koch standen mir dankenswerterweise bei Übersetzungsfragen zur Seite.

Unverzichtbar für das Gelingen der Arbeit war schließlich der Rückhalt, den mir Familie und Freunde gegeben haben – ihnen gilt mein größter Dank.

1. Einleitung

1.1 Fragestellung der Arbeit

Wie kommt man heute dazu, eine Dissertation über Aleksej Nikolaevič Tolstoj zu verfassen? Über einen Autor, der außerhalb Russlands kaum mehr einem breiten Publikum bekannt ist und dessen Etikettierung als ‚Klassiker der Sowjetliteratur‘ dazu führt, dass seine Werke aus westlicher literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive als wenig geeignet erscheinen, um innovative Theorien und Methoden anzuwenden oder zu entwickeln?

Denn anders als in der russischsprachigen Forschung, in der Autor und Werk seit einigen Jahren wieder kontinuierlich Gegenstand von Untersuchungen sind, gibt es aus Sicht der nicht-russischsprachigen slavistischen Forschung – bis auf wenige Ausnahmen – offensichtlich nichts wesentlich Neues mehr zu seinen Texten zu sagen. Dies erstaunt umso mehr, als der Schriftsteller schon zu Lebzeiten mit seinen Texten und auch seinem Lebenswandel polarisierte: So viele anerkennende Aussagen es über sein schriftstellerisches Talent gibt, so zahlreich sind auch die enttäuschten Äußerungen über den von ihm eingeschlagenen künstlerischen Weg in den 1920er und 30er Jahren. Die öffentliche Selbstinszenierung des Autors hat sein Umfeld in allen Phasen seines Schaffens gespalten – manche haben Tolstojs Humor geteilt und seine clowneske Selbstironie als künstlerischen Habitus gedeutet, andere sahen in seinem öffentlichen Auftreten das Ringen um Aufmerksamkeit um jeden Preis. All diese Aspekte haben das Bild, das von Aleksej Tolstoj über die Jahrzehnte hinweg entworfen wurde, stark geprägt und eine – um mit Roman Jakobson zu sprechen – auf die poetische Funktion seiner Texte fokussierte Lektüre in den Hintergrund treten lassen. Hinzu kommt eine Werkrezeption, die sich fast ausschließlich auf Tolstojs nachrevolutionäre Texte der 1920er und 30er Jahre konzentriert.

Bemisst man die Bedeutung eines Werkes an seiner Rezeption durch die Zeitgenossen oder aber am Umfang des dazu vorhandenen Forschungsmaterials, so stellen die Trilogie Choždenie po mukam (Der Leidensweg; 1925–1941) oder auch der historische Roman Petr I (Peter der Große; 1930–1945) sicherlich die bedeutendsten Texte in Tolstojs Schaffen dar.

Sowohl seine Auseinandersetzung mit den Auswirkungen von Weltkrieg, Revolution und Bürgerkrieg im Rahmen der Trilogie als auch seine Beschäftigung mit der Petrinischen Epoche beruhen allerdings auf Arbeiten, die Tolstoj noch vor oder während der Revolution begonnen oder verfasst hat und die damit eine Verbindung zu früheren Werkphasen im Kontext der russischen Moderne herstellen.

Ziel dieser Arbeit ist es deshalb, die über Jahre erfolgte Reduktion Aleksej Tolstojs auf die Werke aus den Emigrationsjahren (1919–1923), vor allem jedoch seiner letzten Schaffensperiode im sowjetischen Kontext (1923–1945), aufzubrechen und das vorrevolutionäre Werk als prägende Formierungsphase seiner Schriftstellerlaufbahn ernst zu nehmen, in der die Auseinandersetzung des Autors mit Russland ihren Anfang nimmt. Damit rücken die Diskurse der (russischen) literarischen Moderne stärker ins Blickfeld wie auch die virulenten intellektuellen Debatten zur Frage nationaler Identität nach der Revolution von 1905.

Fokussiert man vor diesem Hintergrund nicht nur einzelne Phasen von Tolstojs Werk, sondern richtet den Blick bewusst auf die zum Teil langjährigen Bearbeitungsspannen einzelner Texte, so wird deutlich, dass es vor allem zwei Erfahrungsfelder sind, die sein Schreiben über einzelne Werkphasen hinweg, in ihren unterschiedlichen historisch-politischen und kulturellen Kontexten, prägen, indem sie den Autor zu einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit Russland bewegen.

Hier ist an erster Stelle ein regelmäßiger, durch zahlreiche Auslandsaufenthalte geprägter Perspektivwechsel zu nennen, der den Schriftsteller immer wieder aus der Ferne auf Russland blicken lässt: Die Reihe seiner Aufenthalte im europäischen Ausland beginnt er zunächst als Privatreisender, danach folgen Aufenthalte als Kriegskorrespondent, dann vier Jahre als Emigrant und in den 1930er Jahren mehrfach als sowjetischer Dienstreisender. Je nach Anlass der Reise und der Dauer des Aufenthalts nimmt die Reflexion über Russland ganz unterschiedliche Formen an und reicht z. B. vom Bedauern über die bald anstehende Rückkehr in den Alltag (Paris 1908) über den Vergleich der Situation ‚hier‘ und ‚dort‘ (London/Paris 1916) bis hin zur Erklärung, dass für jeden, dem die Heimat teuer ist, die Rückkehr aus der Emigration verpflichtend sei (Berlin 1922).

Der zweite bedeutende Faktor, der Aleksej Tolstojs Sicht auf Russland beeinflusst hat, besteht in einer seine gesamte Schriftstellerlaufbahn anhaltenden Konfrontation mit politisch-gesellschaftlichen Umbrüchen und Krisenzeiten wie dem Ersten Weltkrieg, der Oktoberrevolution, dem Bürgerkrieg, bis hin zum Zweiten Weltkrieg.

Es sind gerade die Phasen des z. T. radikalen und forcierten gesellschaftlichen und politischen Wandels, die bei Tolstoj überhaupt erst dazu führen, sich intensiver mit Russland auseinanderzusetzen bzw. zu reflektieren, welche Rolle er als Schriftsteller in diesen Prozessen einnimmt, welche Gestaltungsmöglichkeiten er besitzt oder aber welche Erwartungen von politischer Seite an ihn als Autor gerichtet werden.

Thematisch schlägt sich das vor allem in seinem erzählerischen Werk seit Ausbruch des Ersten Weltkriegs nieder, in dem er sich vermehrt auf Situationen konzentriert, in denen Russland als ‚Heimat‘ prekär wird und eine Trennung vom ‚Eigenen‘, Vertrauten erfolgt. Vor allem anhand längerer Aufenthalte in und der Konfrontation mit einer als ‚anders‘ und ‚fremd‘ empfundenen kulturellen bzw. sprachlichen Umgebung lassen sich in den publizistischen und literarischen Texten die argumentativen Verschiebungen und Veränderungen in der Wahrnehmung Russlands detailliert nachvollziehen.

Aber auch nach der Rückkehr in die Sowjetunion blickt der Schriftsteller immer wieder aus verschiedenen Perspektiven und unterschiedlichen historischen Epochen auf die Reaktionen der Menschen in Umbruchsituationen oder aber inszeniert (phantastische) ökonomische bzw. technische Krisenszenarien, die auf die ideologischen Diskrepanzen zwischen Sozialismus und Kapitalismus rekurrieren und in denen es um die Suche nach einem identitätsstiftenden Kern geht, der die Menschen in ihrer Heimat ausharren, leiden oder kämpfen lässt.

Vor diesem Hintergrund wird im Rahmen dieser Arbeit erstmals Tolstojs erzählerisches Werk systematisch auf die darin gestalteten Russlandkonzeptionen hin untersucht und ihre Bedeutung als zentrales Thema für das Schreiben Tolstojs anhand exemplarischer Analysen herausgearbeitet. Die Analyse und Interpretation der ausgewählten Erzähltexte dient dazu, die Bandbreite der verwendeten Russlandkonzeptionen aufzuzeigen und dabei Kontinuitäten und Verschiebungen bei den verwendeten Themen, Motiven und Symbolen über die einzelnen Werkphasen hinweg zu beschreiben.

Nicht bzw. nur in Einzelfällen berücksichtigt werden die von Aleksej Tolstoj verfassten Märchen, seine frühe Lyrik sowie dramatische Texte, da sie, anders als seine publizistischen Texte, kaum zur öffentlichkeitswirksamen Konturierung der Russlandkonzeptionen des Autors beitragen und darüber hinaus nur diskontinuierlich bedient werden, wodurch eine phasenübergreifende Betrachtung nicht möglich ist.

Der werkimmanenten Kontextualisierung der literarischen Russlandkonzeptionen dient der vergleichende Blick in Tolstojs publizistische und diaristische Texte. Mit einer grundsätzlich anderen kommunikativen Funktion versehen, geht es darum, Parallelen und Unterschiede zur literarischen Darstellung herauszuarbeiten und sie hinsichtlich ihrer Funktion zu hinterfragen. Besonderes Interesse gilt dabei den Verbindungen in der sowjetischen Schaffensphase zum vorrevolutionären Werk, die in der Forschung bislang kaum systematisch untersucht wurden.

Dies mag daran liegen, dass Aleksej Tolstoj sich in mehreren Äußerungen aus den 1930er und 40er Jahren von seiner „beschämenden Frühphase in einem dekadenten Schriftstellerkreis“ (Tolstoj 1985, 142) distanziert hat, was in der sowjetischen Forschung weitgehend unhinterfragt als Argument aufgenommen wurde, um die nicht nur wegen der Zugehörigkeit des Autors zu symbolistischen Kreisen wenig sozialismustaugliche Frühphase Tolstojs – immerhin trägt er einen Adelstitel und zeigt kaum Interesse an politischen, geschweige denn revolutionären Ideen – im Rückblick als ‚Irrweg‘ zu charakterisieren.

Dagegen lag der Fokus des Interesses stets auf den Texten der sowjetischen Phase, die zumeist mit der Rückkehr 1923, als Zäsur verstanden, angesetzt wurde. Indem sich der Schriftsteller zur Rückkehr entschließt, auf seinen Grafentitel verzichtet und mit der Emigration bricht, die symbolisch für das vor- bzw. das konterrevolutionäre Russland steht, ist der Weg frei für seine Etablierung als sowjetischer Autor. Im Unterschied zu diesem – zugegebenermaßen hier etwas vereinfacht dargestellten – monolithischen Bild, wie es über Jahrzehnte perpetuiert wurde, wird ein differenzierteres Bild entworfen, das sich weniger an Tolstojs politisch-ideologischer Orientierung und ihrer Widerspiegelung im künstlerischen Werk abarbeitet, als primär an den thematischen Zusammenhängen, Motiven und Symbolen, die im Werkkontext für ‚Russland‘ eingesetzt werden.

Da sich Tolstojs literarisches wie publizistisches Schreiben nicht im luftleeren Raum bewegt, sondern, im Gegenteil, schon sehr früh darauf ausgerichtet ist, seiner Leserschaft Themen zu präsentieren, die sich aus deren gegenwärtiger Lebenserfahrung speisen, finden zeitgenössische ästhetische und ideologische Diskurse als Resonanzraum für seine Russlandkonzeptionen ebenfalls ihre Berücksichtigung.

1.2 Methodisches Vorgehen

Während die literarischen Texte und publizistischen Äußerungen Aleksej Tolstojs über einen langen Zeitraum hinweg stets nach ihrem Verhältnis zur herrschenden Ideologie befragt und gedeutet wurden und dabei das Leben Tolstojs in nächster Nähe zum Kreml ein wichtiger Anhaltspunkt war, stehen im Rahmen dieser Arbeit Tolstojs erzählerische Texte sowie die zur Kontextualisierung notwendigen publizistischen und diaristischen Texte im Mittelpunkt und werden auf ihre Russlandkonzeptionen hin untersucht.1 Durch die breite Textbasis soll ein umfassender Blick auf die genrespezifische Bearbeitung der Russlandkonzeptionen gewährleistet werden: So lassen sich beispielsweise argumentative Parallelen, Spannungen oder Widersprüche zwischen den fiktionalen und diskursiven Texten aufdecken und auf ihre Funktion hinterfragen.

Unter „Russlandkonzeptionen“ werden Motive, Symbole, Topoi, Auto- und Heterostereotype zusammengefasst, die in den Texten verwendet werden und dazu dienen, ‚Russland‘ zu charakterisieren bzw. Vorstellungen von Russland oder ein Verhältnis zu Russland auszudrücken. Wie bereits eingangs geschildert erhalten die Russlandkonzeptionen bei Tolstoj erst vor dem Hintergrund einer geistig-kulturellen Krise ihre Bedeutung, indem es nötig wird, Russland im Sinne von Heimat (neu) zu konturieren.

Die Begriffe „Krise“ und „Heimat“ sind als Produkte narrativer, literarischer oder argumentativ-rhetorischer Verfahren zu verstehen, die zur Einordnung und Sinnstiftung dienen. Dabei kann an die umfangreichen kulturwissenschaftlich-historisch orientierten Arbeiten angeschlossen werden, die sich mit dem „literarischen Krisenbewusstsein“ als einem der „grundlegenden Perzeptions- und Produktionsmuster des 20. Jahrhunderts“ (Nünning 2007, 50) facettenreich beschäftigen (Bullivant/Spies 2001; Grunwald/Pfister 2007) und mögliche analytische Zugänge für literarische Texte entwickelt haben (Nünning 2012; Nünning/Sicks 2012; Meyer et al. 2013).

Anschlussfähig für die Untersuchung von Tolstojs Texten sind zum einen die differenzierten Dimensionen der Krisendeutungen, wie sie Rüdiger Graf (2005, 92–96) herausgearbeitet hat, sowie die damit verbundene – und oftmals selbst zugewiesene – Autorität des Sprechers, die Krise nicht nur identifizieren, sondern auch einen Ausweg benennen zu können (Grunwald/Pfister 2007, 9). In Bezug auf die verwendete bildhafte Sprache spielt eine religiöse bzw. quasireligiöse Fundierung der Krisenrhetorik durch Anspielungen auf die Apokalypse keine unwichtige Rolle (Bluhm 2013; Schipper 2008; Vondung 2008). Diese Feststellung findet nicht zuletzt in den Artikeln Tolstojs zum Verlauf der Revolution ihre Bestätigung. In ihnen zeigt sich die transnationale Dimension der verwendeten Krisenrhetorik.

Wenn Aleksej Tolstoj versucht, in seinen Erzählungen und Romanen vor dem Hintergrund von Krieg, Revolution oder dem Leben in der Fremde, ‚den russischen Charakter‘ zu ergründen, nach etwas sucht, das in einer Situation tiefgreifender Verunsicherung Hoffnung, Identität und Gemeinschaft stiften kann, geschieht dies meist im Rückgriff auf Erzählmuster, die im kulturellen Gedächtnis gespeichert sind.2 Tolstojs Versuch der narrativen Welterklärung soll deshalb im Anschluss an Wolfgang Müller-Funk als literarische Kommunikation innerhalb einer spezifischen Erzählgemeinschaft aufgefasst werden. Diese zeichnet sich u. a. dadurch aus, dass

[...] unerfahrbare, ‚transzendentale‘ Größen wie Gesellschaft und Nation dadurch in den Status der Erfahrbarkeit versetzt werden, daß sie ‚körpernah‘ und alltagsgerecht konstruiert werden; von ihrer kulturellen Seite als ‚Nation‘ werden diese als Megasubjekte imaginiert, die eine ähnliche stürmische Geschichte durchlaufen wie in Märchen, Bildungsromanen, Entdeckerfahrten und Abenteuergeschichten. (Müller-Funk 2008, 13)

Mit der anthropomorphisierten Darstellung eines solch abstrakten „Megasubjekts“ haben wir es im Hinblick auf das imperiale und sowjetische Russland bei Tolstoj immer wieder zu tun, vor allem im Revolutionskontext, wenn der Schriftsteller ‚Russland‘ wiederholt als weibliches Subjekt personifiziert. Ebenso vorhanden ist ein ausgeprägtes Bewusstsein für die kulturelle Spezifik einzelner nationaler Erzählgemeinschaften: Wie er nicht zuletzt in der Emigration immer wieder betont, bilden für ihn allein die Zugehörigkeit und aktive Teilhabe an der russischen sprachlich-kulturellen Gemeinschaft, auf deren Traditionen, Werte und Selbstbeschreibungsmuster er rekurrieren kann, den einzig dauerhaft funktionierenden Kommunikationsraum für seine Werke.

Im Rahmen der Analyse aussagekräftiger Textbeispiele wird deshalb vor dem Hintergrund des gesamten erzählerischen Werks der Frage nachgegangen,

[...] was zu bestimmten Zeiten Heimat war bzw. was als Heimat vorgestellt wurde. ‚Heimat‘ würde mithin als eine historische und dementsprechend zu historisierende Semantik begriffen, die ihre Plausibilität aus je spezifischen historischen Umständen gewinnt. ‚Heimat‘ fungiert in der jeweiligen Verwendung als Behältnis, das Ordnungsmodelle und Grenzziehungen, soziale und politische Utopien, Erinnerungen, Prognosen, und Versprechen aufzunehmen und zu transportieren vermag. (Gebhard et. al. 2007, 12)

Der Literatur kommt dabei die Rolle zu,

[...] die menschlichen Wertorientierungen und die daraus resultierenden Verhaltensweisen [zu erhellen]. Literatur ist somit Widerspiegelung der eine 'Haltung' bestimmenden und durch sie bestimmten Perspektive des Menschen auf seine Umwelt und zugleich Repräsentation eines kulturellen Stils, der die Bedürfnisse formulieren und auch überlagernd verdrängen kann. (Greverus 1979, 35)

Konkret auf den Begriff der ‚Heimat‘ bezogen, versteht Ina Maria Greverus im Sinne einer literaturanthropologischen Perspektive darunter eine „internalisierte subjektive Wirklichkeit“ (Greverus 1979, 96), die eine „subjektive Mensch-Territoriums-Bezogenheit“ (ebd., 40) zum Ausdruck bringt. „Territorium“ bezieht sich dabei weniger auf einen konkreten geographischen Raum, sondern wird im Sinne eines individuell empfundenen Schutzraums verwendet, der die Möglichkeit bietet, „[...] eine Rolle als anerkanntes und sich erkennendes Mitglied eines soziokulturell gegliederten Raumes innezuhaben.“ (ebd., 52) Dies ist z. B. in Tolstojs Erzählungen, die sich mit der Emigrationssituation beschäftigen, nicht gegeben. Die Sinnhaftigkeit des Lebens der Protagonisten, das an Russland im Sinne der von Greverus beschriebenen territorialen Bezogenheit gekoppelt ist, wird dadurch in Frage gestellt.

Indem das Sprechen von ‚Heimat‘ als spezifisches diskursives Konstrukt durch eine intertextuelle und zitathafte Struktur geprägt ist, funktioniert es darüber hinaus auch oftmals als „Assoziationsgenerator“ (Gebhardt et al. 2007, 2). Sofern die Assoziationen dazu bestimmt sind, gemeinschafts- oder identitätsstiftend zu wirken, rekurrieren sie auf ein spezifisches kulturhistorisches Archiv, das von den Rezipienten aktiviert werden kann.

Die Vielfalt der semantischen Bezüge, welche im russischen Kontext über die Verwendung von rodina(Heimat) oder otečestvo(Vaterland) entfaltet werden können, wurde bereits in mehreren Arbeiten untersucht. Neben der diskursanalytischen Untersuchung Irina Sandomirskajas (2001) liegen der Arbeit mehrere begriffsgeschichtliche Beiträge von Ingrid Schierle zur Genese des otečestvo-Begriffs zugrunde (2004/2006/2007) sowie die Analyse von Melissa Stockdale (2010), in der sie sich unter anderem mit der ideologischen Aneignung der Begriffe im frühsowjetischen Kontext auseinandersetzt. Auf den Einfluss religiöser Diskurse auf zentrale Begrifflichkeiten des nationalen Diskurses (rodina, matuška Rossija) weist Stefan Rohdewald hin (2008/2013).

Neben dem auf das Dienstethos abzielende Begriffsrepertoire spielt in den Texten Tolstojs auch die weibliche Konnotierung Russlands eine zentrale Rolle, wie sie grundlegend bei Joanna Hubbs (1988) beschrieben und analysiert wurde. Elizabeth Hemenway (1997) geht in ihrer Studie zur ‚Krise der nationalen Familie‘ auf die Spannungsfelder in Bezug auf die Identifikationskraft der traditionellen Begrifflichkeiten ein, die durch veränderte Rollenzuschreibungen im Umfeld der Oktoberrevolution auftreten.

Aleksej Tolstoj greift bei seinen Russlandkonzeptionen jedoch nicht nur auf das Instrumentarium der russischen Selbstbeschreibungsmuster zurück, wie es vor allem durch die Diskussionen zwischen den so genannten Westlern und Slavophilen geprägt wurde, sondern erzeugt seit Ausbruch des Ersten Weltkriegs, vor allem aber ab den 1920er Jahren, Kontraste und Polaritäten, um Russland/den Osten von Europa/dem Westen – nicht selten polemisch – abzusetzen, in denen deutliche Bezüge zu zeitgenössischen Krisen- und Untergangsdiskursen zutage treten, z. B. im Zusammenhang mit Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (1918/1922).3

Der Schriftsteller bedient sich z. B. intensiv der für Krisendiskurse typischen organischen Metaphorik, mit der historische oder ökonomische Vorgänge umgedeutet werden.4 Auch die anthropomorphisierende Darstellung des Staates oder der Gesellschaft als Körper, der sich in einem Krankheitszustand befindet, trifft auf Tolstojs Texte zu. Diese konkretisierende und subjektivierende Wahrnehmung, welche eine Krisendiagnose ermöglicht,5 bildet das Gegengewicht zu einem – ebenfalls üblichen – eher abstrakt gehaltenen Sprechen über einen Krisenzustand:

Dieses Muster, das die Wirklichkeitserfahrung prägt, umfaßt zwei konstituierende Elemente: zum einen die (woher auch immer gewonnene) Gewißheit, daß etwas allgemein Wichtiges, daher für alle Unverzichtbares in Gefahr und womöglich zum Untergang bestimmt sei; zum zweiten die Auffassung dieser Gefahr als wäre sie ein säkularisiertes Gottesurteil, d.h. ein dingliches selbständiges Geschehen, das doch zugleich ein Urteil über die Gültigkeit des Gefährdeten ausspricht. (Bullivant/Spies 2001, 15)

Dabei werden Krisen, ebenso wie ‚Heimat‘, erst durch die Versprachlichung greifbar und analysierbar:

From the point of view of literary and cultural studies, catastrophes and crisis can only become tangible and are only observable, in their textual or medial manifestations, i.e. in the discursive presentation as a catastrophe or crisis narrative in a concrete text or another media product. (Nünning 2012, 70)

In Bezug auf die uns interessierenden Russlandkonzeptionen werden dabei die rhetorischen und argumentativen Mechanismen herausgearbeitet, mit denen Tolstoj seine Krisenwahrnehmung begründet und die daraus resultierenden Konsequenzen bzw. Auswege formuliert.

Neben diesen verallgemeinerbaren Charakteristika des westlichen Krisendiskurses existieren jedoch auch Aspekte des Krisen-Vokabulars, die, ebenso wie das Beschreibungsrepertoire für die Darstellung von ‚Heimat‘, kulturspezifisch vorgeprägt sind:

[Die Krise; K.B.] resultiert aus einer Diagnose bzw. Zuschreibung von Beobachtern, aus dem Rückgriff auf bestimmte Erzählschemata bzw. kulturell verbreitete Plots (Präfiguration) und aus einer analogen Konfiguration bzw. einem emplotment von Ereignissen zu Krisenerzählungen. (Nünning 2007, 63)

Für die russische Moderne kann ein seit der Jahrhundertwende verbreiteter und vor allem durch den Symbolismus geprägter apokalyptisch-eschatologischer Diskurs von Untergang und Erneuerung angeführt werden (Kissel 2002), der sich auch nach der Revolution als „Grundmuster russischen Kulturverhaltens“ fortsetzt (Ebert 1995, 14).

Weniger in Bezug auf die Beschreibung einer Krise als in Bezug auf die Überwindung derselben erhält die im 19. Jahrhundert von Vertretern slavophiler Ansichten entworfene ‚russische Idee‘6 auch im 20. Jahrhundert immer wieder großes Gewicht als ein nationales, identitätsstiftendes Narrativ (Geier 1996, 116):

Die Suggestivkraft der ‚russischen Idee‘ hat alle zivilisatorischen, d.h. kosmopolitischen Denkansätze der Moderne überlebt: Wie die Symbolisten landeten auch die anderen Modernerichtungen wieder bei einer nationalen Orientierung […] der Futurismus stützte seine kosmopolitischen Positionen auf russisch-slawische Mythologeme, und selbst die Kultur des sozialistischen Realismus gab ihren ursprünglichen Internationalismus zugunsten einer nationalistischen ‚völkischen‘ Orientierung in den dreißiger Jahren wieder auf. (Ebert 1995, 12)

Unabhängig von den z. T. sehr heterogenen Ausgestaltungen des Konzepts bei den einzelnen Autorinnen und Autoren eint sie der Versuch, die kulturelle Einzigartigkeit, gesellschaftliche Geschlossenheit und moralische Überlegenheit Russlands gegenüber Europa herauszustellen. Als Kern der ‚russischen Idee‘ lässt sich dementsprechend festhalten: „[T]he conviction that Russia has its own independent, self-sufficient, and eminently worthy cultural and historical tradition that both sets it apart from the West and guarantees its future flourishing.“ (McDaniel 1996, 11)

Für die kollektive identitäre Selbstversicherung in Russland stellt die implizite Bezugnahme auf Europa/den Westen als akzeptierten oder aber als zu hinterfragenden normativen Maßstab ein zentrales Verfahren dar. Wie die kulturgeschichtliche Forschung unter dem Stichwort der „kulturellen Übersetzung“ in einer Fülle von Arbeiten gezeigt hat,7 beruhen gerade russische Autostereotype oftmals auf über unterschiedliche Mechanismen erzeugte „Spiegelreflexe, die – faktisch richtig oder falsch – das Selbstbild aus Fremdbildern und das Fremdbild aus Selbstbildern projizieren.“ (Hansen-Löve 1999, 168)

Aleksej Tolstoj nutzt diesen Spiegelmechanismus in seinen Texten mehrfach, um Russland aus einer ‚fremden‘ Perspektive darzustellen und diese mit der ‚russischen‘ Sicht zu konfrontieren. Dabei dient der Rückgriff auf das Repertoire des russischen kulturellen Gedächtnisses dazu, die Entschlüsselbarkeit seitens der Rezipienten zu gewährleisten und den angestrebten gemeinschaftsbildenden Effekt zu bekräftigen.

1 Persönliche Aufzeichnungen wie Tagebuchnotizen und Briefe, die herangezogen werden, werden als „literarisches Faktum“ im Sinne Boris Tomaševskijs verstanden, d.h. als Informationen, die vom Autor bewusst zur Selbstinszenierung eingesetzt werden (Tomaševskij 1923). Dieser Aspekt erscheint gerade auch im Umgang mit Tolstojs umfangreicher Publizistik im sowjetischen Kontext relevant, die als Form einer offiziell geforderten Selbstinszenierung verstanden werden kann (Fitzpatrick 2005).

2 Die Wechselwirkung zwischen Literatur und kulturellem Gedächtnis lässt sich folgendermaßen beschreiben: „Verallgemeinernd könnte man sagen, dass [...] zwischen dem kulturellen Gedächtnis und der Literatur eine Art dynamisch-statische Beziehung herrscht, die einerseits darin besteht, den Zustand des Gedächtnisses im gegebenen Moment aufzuzeichnen und andererseits darin, das kulturelle Gedächtnis mitzugestalten.“ (Żytyniec 2004, 215)

3 Die literarische Auseinandersetzung Aleksej Tolstojs mit den Thesen Oswald Spenglers wird in der Tolstoj-Forschung vielfach thematisiert; vgl. unter anderem Chalil Chadil (2009), Fotinych (2000), Freeborn (1982), Kratochvil (1998), Schwartz (2002). Zur über die Literatur hinausreichenden Rezeption Spenglers in Russland vgl. z. B. Time (2006a) oder Gasimov/Lemque Duque (2013).

4 „Ebenso wie andere organische Metaphern unterstützt die Krisenmetaphorik eine bestimmte Erklärung und Interpretation historischer oder ökonomischer Zusammenhänge, indem sie diese als Krankengeschichte umdeutet. Das Bild der Krise impliziert ein entwicklungsgeschichtliches Erklärungsschema, das das jeweilige Geschehen als einen organischen Prozess darstellt und das dazu tendiert, ‚das Gemachte als gewachsen hinzustellen‘.“ (Nünning 2013, 139; Hervorheb. i. Orig.)

5 „Die Rede von der Krise setzt stillschweigend eine Körperlichkeit des Phänomens voraus, an dem diagnostiziert wird, und impliziert eine (wie auch immer geartete) ‚Gesundheit‘ oder Normalität, die der Krisis gegenübersteht.“ (Grunwald/Pfister 2007, 8)

6 Einen Überblick über die Genese des Begriffs, seine geistigen Fundamente sowie die Wirkungsmechanismen in verschiedenen Diskursen des 19. und 20. Jahrhunderts gibt Tim McDaniel (1996).

7 Zu verschiedenen Konzeptualisierungen des Begriffs der „kulturellen Übersetzung“ im Kontext der russischen Kulturgeschichte siehe unter anderem Groys (1995), Ingold (2009), Kissel/Uffelmann (1999), Lehmann-Carli (2011).

1.3 Überblick über den Forschungsstand zum Werk Aleksej N. Tolstojs

1.3.1 Die russische Tolstoj-Forschung

Die Erforschung von Leben und Werk Aleksej N. Tolstojs hat bis heute in der russischen literaturwissenschaftlichen Forschung einen festen Platz. Seit der Publikation der Polnoe sobranie sočinenij(Vollständige Werkausgabe) 1945–1953 mit einleitenden Bemerkungen Vladimir Ščerbinas (I, 7–76), auf die immer wieder Bezug genommen wird, vergeht fast kein Jahrzehnt, in dem keine biographische Studie erschienen ist.1 Grundlegend und in der sowjetischen Forschung viel zitiert ist neben Ščerbina auch der Band A.N. Tolstoj. Žizn’ i tvorčestvo. Kratkij očerk (A.N. Tolstoj. Leben und Werk. Eine kurze Skizze) von Jurij Krestinskij aus dem Jahr 1960, der ab Mitte der 1930er Jahre Tolstojs Sekretär war.

Die Analysen aus den 1960er bis Anfang der 1990er Jahren sind dem historischen Materialismus verpflichtet und folgen dem Muster einer „žizn’ i tvorčestvo“(Leben und Werk) überblendenden Herangehensweise, die davon ausgeht, dass die Weltanschauung des Autors weitgehend ungebrochen im literarischen Text wiederzufinden ist bzw. sein soll. Mit Blick auf Themen- und Gattungswahl, die Zugehörigkeit zu einschlägigen Künstlerkreisen sowie auf das familiäre und soziale Milieu, werden Anhaltspunkte zu seinem Verhältnis als Künstler zum „Volk“, zum „historischen Prozess“, zur Revolution und schließlich zur postrevolutionären sowjetischen Wirklichkeit gesucht und deren „Widerspiegelung“ im künstlerischen Text nicht nur beschrieben, sondern auch bewertet. Sieht man von der normativen Beurteilung und der Verabsolutierung der sozioökonomischen Einflüsse auf den künstlerischen Schaffensprozess ab, halten die Studien vielfältige biographische Informationen bereit und widmen sich der zeitgenössischen Rezeption oder der Orientierung an der ‚klassischen‘ Literatur des 19. Jahrhunderts.

Ab den 1980er Jahren werden schließlich Tolstojs Briefwechsel (Tolstoj 1989 I/1989 II) sowie seine umfangreich kommentierten Notizbücher herausgegeben (Krjukova 1985). Zwei weitere Sammelbände, die von Aliza Krjukova publiziert werden (1990/1995), versuchen eine erste, vorsichtige Neubewertung Tolstojs und beleuchten das Verhältnis des Autors zu Schriftstellerkollegen, die bis dato unberücksichtigt geblieben waren.

Wenngleich das Frühwerk bzw. die Texte Tolstojs bis zur Revolution auch in sämtlichen biographisch angelegten Forschungsarbeiten aus der sowjetischen Ära erwähnt werden (Baranov 1983; Čarnyj 1961; Poljak 1964; Ščerbina 1951a; Skobelev 1981), konzentriert sich die Mehrheit der Autorinnen und Autoren auf die Texte nach der Rückkehr, die einhellig als ‚ideologische Wende‘ interpretiert wird.

Der Schwerpunkt der Forschung lag und liegt auf der Trilogie Choždenie po mukam(Der Leidensweg) (Gura 1950; Skobelev 2004; Sorokina 2010) und anderen Werken zur Revolutionsthematik, z. B. Chleb (Brot) sowie seinem historischen Roman Petr I(Peter der Große) (Alpatov 1958; Akimova 2014; Pleškova 2014); verstärkt Beachtung findet auch Tolstojs kurzer Ausflug in die Welt der phantastischen Literatur mit Aėlita(Aelita) (1923) oder Giperboloid inženera Garina(Der Hyperboloid des Ingenieurs Garin) (1925) (Grigor’eva 2005: Revič 2002; Sitnikova 1976/1977/1978; Skobelev 1995; Praškevič 2005; Nikolaev 2002).

Seit Beginn der 2000er Jahre findet eine intensivere Beschäftigung mit Tolstojs Frühwerk statt (Vorob‘eva 2002), womit jene Lücke gefüllt wird, die in der sowjetischen Ära durch die Konzentration auf das Schreiben nach der Emigration entstanden ist. Dezidiert einer Neubewertung bzw. einer differenzierteren Darstellung ihres Verwandten sind zwei Bände Elena D. Tolstajas gewidmet, die in Jerusalem forscht. Im Jahr 2006 erschien unter dem Titel Dëgot’ ili mëd. Aleksej N. Tolstoj kak neizvestnyj pisatel’ 1917–1923(Teer oder Honig. Aleksej N. Tolstoj als unbekannter Autor 1917–1923) erstmals eine äußerst facettenreiche und mit bis dato unveröffentlichtem Material aufwartende Studie zu Tolstojs literarischen Aktivitäten während der Revolution und in der Emigration. Sie erschließt mit dieser umfänglichen Publikation die von der sowjetischen Forschung nur punktuell bearbeitete Emigrationsphase des Autors, indem sie nicht nur ausführlich die Publikationsgeschichte der in Paris und Berlin verfassten Werke rekonstruiert, sondern auch aufschlussreiche Informationen zum künstlerischen Umfeld Tolstojs gibt.

Im Zuge der Rekonstruktion von Tolstojs veränderter Revolutionswahrnehmung während der Emigration bietet insbesondere das inkludierte Quellenmaterial eine aussagekräftige Basis für die Analyse der verwendeten Motive und Symbole. Durch die breite Kontextualisierung von Tolstojs Publikationen im ‚russischen‘ Paris und in Berlin lassen sich die Aussagen darüber hinaus besser in die entsprechenden literarischen oder auch politischen Diskurse einordnen – dies gilt insbesondere für die Diskussionen um eine Rückkehr aus der Emigration.

In Ključi ščast’ja(Schlüssel zum Glück) (Tolstaja 2013), das sich ausführlich mit Aleksej Tolstojs literarischem Debüt beschäftigt, d. h. mit der Zeit zwischen 1907 und 1912, und darüber hinaus einzelne Schaffensepisoden fokussiert, geht die Verfasserin im Vorwort kritisch auf die klischeehafte Darstellung des Autors ein, wie sie sich über die Jahrzehnte gefestigt hat, aber auch in zeitgenössischen Publikationen entworfen wird.2

Sie spielt dabei vor allem auf populärwissenschaftliche, wenn nicht gar stark belletristisch ausgerichtete Bücher an (Petelin 2001; Okljanskij 2007/2009), kritisiert darüber hinaus aber auch das Bild, das Aleksej Varlamov in seiner vergleichsweise umsichtig differenzierenden Biographie (2008) entwirft, als „mythologisierend“.3 Ihrer Meinung nach würden bei diesen Charakterisierungen die „Masken“, die der Autor verwendet habe, zu seinem ‚Gesicht‘ gemacht:

В итоге маска стала репутацией.[...] Это давно уже был другой человек. Но изменить несерьезное к себе отношение не получалось: для этого потребовалось вернуться в Союз и в конце концов превратиться в такого, каким его 'хотел видеть новый читатель', в советского цельнометаллического классика.4 (Tolstaja 2013, 8)

Letztlich wurde die Maske zur Reputation. […] Er war lange schon ein anderer Mensch. Aber es gelang ihm nicht, die unernste Haltung sich selbst gegenüber zu ändern: dafür war es nötig, in die Sowjetunion zurückzukehren und sich letztendlich in denjenigen zu verwandeln, den der ‚neue Leser sehen wollte‘, einen sowjetischen, gänzlich metallenen Klassiker.5

Für die angestrebte differenziertere Zeichnung der Persönlichkeit Aleksej Tolstojs zieht sie – wie schon in dem Band zur Emigration – eine beeindruckende Zahl an zeitgenössischen Aussagen über den Schriftsteller und seine Werke heran, beleuchtet bislang unberücksichtigt gebliebene künstlerische Einflüsse und Bekanntschaften im Kontext der russischen Moderne und entfaltet dadurch ein bedeutend facettenreicheres Panorama, in dem sich Tolstojs literarische Arbeit bewegt. Den wertvollen Hinweisen auf intertextuelle Bezugnahmen Tolstojs, denen zuvor niemand nachgegangen war und die alternative Lektüren ermöglichen, stehen allerdings auch häufig primär biographisch orientierte sowie mehr oder weniger spekulative Aussagen über Einflüsse und Intentionen gegenüber.

Wie die Auswahl zeigt, erfreut sich auch nach dem Ende der Sowjetunion eine an der Persönlichkeit des Künstlers orientierte Betrachtung nach wie vor großer Beliebtheit. So trägt die jüngste Tolstoj-Konferenz, die im November 2014 im Moskauer Tolstoj-Museum stattfand, den Titel „Aleksej Tolstoj: Ličnost‘ v kontekste ėpochy“.6 Der Blick ins Programm zeigt allerdings doch vermehrt Fragestellungen, die auf der textuellen Ebene angesiedelt sind, nach einzelnen Motiven fragen und vor allem Texten gewidmet sind, die bislang nur marginal beachtet wurden. Unter den Teilnehmenden waren sämtliche Expertinnen und Experten der russischsprachigen Tolstoj-Forschung vertreten7 und darüber hinaus noch eine beträchtliche Anzahl weiterer Forschender, die die Aktualität des Autors und seines Werks für die zeitgenössische literatur- und kulturwissenschaftliche Erforschung in Russland nachdrücklich unterstreichen.8

Eine Beschäftigung mit bislang kaum berücksichtigten Texten Tolstojs findet im Rahmen zweier umfangreicher Sammelbände (Polonskij 2013/2014) zur Rolle der russischen Literatur und Kultur im Kontext des Ersten Weltkriegs statt. Mehrere Beiträge beschäftigen sich mit Aleksej Tolstojs literarischen wie publizistischen Texten als Frontkorrespondent zwischen 1914 und 1918 (Bogdanova 2014; Tolstaja 2014) sowie mit dem Kriegsmotiv in seinen Erzählungen dieser Jahre (Voroncova 2014a). Anlässlich des 100-jährigen Jubliäums des Revolutionsjahrs 1917 und des 30-jährigen Jubiläums des Tolstoj-Museums in Moskau findet im Dezember 2017 erneut eine thematisch breit gefächerte Konferenz statt, die sich neben literatur- und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen zum Werk Tolstojs auch intensiv der musealen Vermittlung von Leben und Werk des Autors widmet.9

Galina Voroncova ist 2012 bereits als Herausgeberin der ursprünglichen Romanversion von 1922 des später für die gesamte Trilogie Titel gebenden Romans Choždenie po mukam in Erscheinung getreten und zeichnet für eine umfangreiche Kommentierung bezüglich der Entstehungs- und Versionsgeschichte verantwortlich. Zuletzt (2014) erschien von ihr eine Monographie zum Roman, die sich erneut intensiv mit dessen Entstehungsgeschichte in der Emigration auseinandersetzt und unter anderem die philosophischen, religiösen und literaturgeschichtlichen Bezüge, die im Roman verhandelt werden, detailliert herausarbeitet. Die Autorin vertieft die Lektüre des Romans in seiner ursprünglichen Fassung vor dem Hintergrund des vorrevolutionären Werks, die schon bei Tolstaja (2006) entworfen wird, und untermauert die Einordnung des Textes in die Reihen der Emigrationsliteratur. Auf einer fundierten Analyse beruhend, grenzt sie den Emigrationstext deutlich von dem Romantext ab, der 1925 unter dem Titel Sestry(Die Schwestern) den ersten Band der Trilogie bildet und im Zusammenhang mit dem langwierigen Entstehungsprozess der beiden anderen Bände (1927 und 1941) mehrfach verändert wird.

Die stärkere Betonung der Rolle des Frühwerks für Tolstojs Texte der 1920er Jahre sowie der intertextuellen Verwobenheit mit literarischen Traditionen des 19. Jahrhunderts zeichnet sich auch an einigen der thematisch wie methodisch vielfältigen Beiträge ab, die Tat’jana Radomskajas Band Aleksej Tolstoj: Dialogi so vremenem (2014) versammelt.

Angesichts der seit einigen Jahren wiederbelebten, intensiven Erforschung von Aleksej Tolstojs Leben und Werk erstaunt es, dass sich sämtliche Publikationen primär auf das epische und publizistische Werk des Schriftstellers konzentrieren, seine frühe Lyrik, die Märchen und insbesondere die Dramen jedoch nach wie vor ein Schattendasein führen. Dies gilt auch für die nicht wenigen filmischen Adaptionen von Tolstojs Texten bis in die 1980er Jahre hinein oder aber die Drehbücher, die Aleksej Tolstoj selbst verfasst hat.

1.3.2 Die Tolstoj-Forschung außerhalb Russlands

Dem ungebrochenen Interesse der russischsprachigen Forschung an Aleksej N. Tolstoj steht im internationalen Kontext eine fast ausschließliche Fokussierung auf Tolstojs Trilogie Choždenie po mukam (1925–1941) sowie den unvollendet gebliebenen historischen Roman Petr I (1929–1945) gegenüber, die sich zum Großteil auf eine punktuelle, lexikonartige Darstellung im literaturgeschichtlichen Rahmen beschränkt10 (Brown 1969; Cockrell/ Pospíšil 1998; Flaker 1988; Kasper 1993; Dobrenko 2011; Guski 2002; Schäfer 1986). Darüber hinaus findet ebenso wie in der sowjetischen Literaturwissenschaft auch im internationalen Rahmen Aleksej Tolstojs kurzes Experimentieren mit phantastischen Sujets im Zuge der Diskussionen um eine sowjetische science fiction (naučnaja fantastika) bzw. der sowjetischen Adaption von Nat Pinkerton-Abenteuern phasenweise etwas stärkere Beachtung (Dralyuk 2012; Huber 1998; Russell 1982; Schwartz 2002/2014; Stephan 1983; Striedter 1982/1983; Suvin 1971/1972).

Das Frühwerk wird dagegen lediglich in Forschungen aus der ehemaligen DDR berücksichtigt (Jünger 1969; Ebert 1977; Tolstoi 1982). Auf der Suche nach deutschen Übersetzungen der bekanntesten Erzähltexte und Romane Tolstojs ist man nach wie vor auf die Bände angewiesen, die ab Ende der 1970er Jahre im Aufbau Verlag erschienen sind und von Nyota Thun jeweils mit einem ausführlichen Nachwort versehen wurden.11

Zahlreiche Erwähnungen Tolstojs finden sich im Kontext der umfangreichen Forschungen zu Emigration und Exil im Zuge der Oktoberrevolution. In einschlägigen kulturhistorischen12 bzw. literaturgeschichtlichen13 Arbeiten zu den russischen Diasporazentren im Ausland hat Aleksej Tolstoj stets seinen festen Platz, meist im Zusammenhang mit der Programmatik von smena vech(Wechsel der Wegzeichen) und Tolstojs Rolle bei der Herausgabe der unter den Emigranten umstrittenen Zeitschrift Nakanune (Am Vorabend), deren literarische Beilage er betreut hat.

Der 1922 erschienene Roman Choždenie po mukam, der die Grundlage für den ersten Band (Sestry) der gleichnamigen Trilogie wird, wird dabei nicht gesondert als Emigrationstext betrachtet, sondern stets in seiner mehrfach überarbeiteten ‚sowjetischen‘ Fassung, im Zusammenhang mit den beiden übrigen Bänden Vosemnadcatyj god (1927; Das Jahr Achtzehn) sowie Chmuroe utro (1942; Trüber Morgen) untersucht (Clark 2000; Freeborn 1982; Guski 2002; Jünger 1958/1960). Die Auseinandersetzung mit Tolstojs Emigrationszeit konzentriert sich oftmals weniger auf das literarische Werk als auf seine provokativen publizistischen Aussagen im Zuge der Diskussionen über die Anerkennung der Sowjetunion und eine mögliche Rückkehr nach Hause oder die Etablierung einer Rossija za rubežom (Russland jenseits der Grenzen).

Einige jüngere Publikationen zur russischen Emigration, in denen die dichotome Gegenüberstellung von Heimat und Exil aufgebrochen wird, zeichnen ein weitaus komplexeres Bild der in den Diskussionen um die Zukunft der russischen Literatur und Kultur eingebrachten Argumente und Haltungen (Bugaeva/Hausbacher 2006; Burchard 2001; Hardeman 1994; Kissel 2009). Dabei rücken Figuren der Transformation, des Oszillierens oder aber der Ellipse in den Vordergrund, anstelle vermeintlich klarer ideologischer und künstlerischer Zäsuren, die oftmals einer differenzierteren Einschätzung von Tolstojs Äußerungen – vor allem zur Frage der Rückkehr14 – entgegenstanden. Weitere Ansätze für eine Re-Lektüre vermeintlich eindeutiger oder eindimensionaler literarischer Texte bietet die komplexe Aėlita-Lektüre von Matthias Schwartz (2002) sowie Christine Gölz’ (2005) Beitrag zu Tolstojs wahrscheinlich populärster Märchen-Adaption: Zolotoj ključik ili priključenija Buratino (Das goldene Schlüsselchen oder die Abenteuer des Buratino; 1935).

1.4 Zu den literatur- und kulturgeschichtlichen Rahmenbedingungen der Arbeit

Im Hinblick auf die Zeit zwischen Tolstojs Eintritt in die russische Literaturszene um 1906 und seinem Tod 1945 ist vor allem ein bedeutender ästhetischer wie weltanschaulicher Paradigmenwechsel zu nennen – der Übergang von der „Periode der Moderne“ zur „Periode der totalitären Kultur“ (Ebert 1995, 9). Zentral für die Wahrnehmung dieses Paradigmenwechsels im Rahmen dieser Arbeit sind seine Heterogenität und das Moment der Prozessualität, das heißt die Gleichzeitigkeit verschiedener ästhetischer Ausrichtungen, die um die Vorherrschaft ringen und zu einer äußerst ambivalenten künstlerischen Diagnose der Gegenwart gelangen. Aleksej Tolstoj ist damit von Beginn seiner literarischen Laufbahn an im Kontext der russischen Moderne mit der Herausforderung konfrontiert, seine Stellung inmitten der künstlerischen Strömungen und Stile oder aber der literaturpolitischen Vorgaben zu finden – und zu behaupten.

Es gelingt dem jungen Schriftsteller sowohl, in den 1910er Jahren in den elitären literarischen Kreisen Fuß zu fassen, als auch nach der Revolution die damit verbundenen Umbrüche zu überstehen und sich trotz zeitweise scharfer Attacken von unterschiedlichen Seiten Ende der 1920er Jahre erfolgreich im sowjetischen Literatursystem zu etablieren, in dem er nach dem Tod Maksim Gor’kijs 1936 schließlich die höchste Autorität erhält, als Vorsitzender des Sowjetischen Schriftstellerverbandes.

Für seine erfolgreiche Adaption an den Literaturbetrieb in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts profitiert Tolstoj nicht zuletzt von der Prominenz seines Familiennamens – allerdings spielen darüber hinaus auch noch andere Faktoren eine Rolle, die im Folgenden kurz skizziert werden.

Der großstädtische Literaturbetrieb um die Jahrhundertwende lässt sich als äußerst heterogenes künstlerisches Umfeld beschreiben, das stark von bohème-artigen, d.h. nicht-institutionalisierten Lebensmodellen geprägt ist und in regem Austausch mit europäischen Künstlerkreisen steht.15 Aleksej Tolstoj taucht von Beginn seines künstlerischen Werdegangs an in diese Strukturen ein und ist als Gründungsmitglied des Kabaretts Brodjačaja sobaka (Der streunende Hund) zeitweise engagierter Akteur im „Laboratorium der Moderne“ – so Karl Schlögels Charakterisierung Sankt Petersburgs zwischen 1909 und 1921. Der junge Autor kommt dabei allerdings auch mit den für die körperliche wie geistige Gesundheit problematischen Aspekten dieses Lebensstils in Berührung und thematisiert diese mehrfach in seinen literarischen Werken unter den für die damalige Zeit typischen Begriffen der „Neurasthenie“ und vereinzelt auch der „Hysterie“ (Hank 2014, 32).

An erster Stelle stehen für den Schriftsteller allerdings solche Ideen, die sich der Erneuerung der russischen Kultur verschreiben. In diesem Sinne formuliert er von den frühesten theoretischen Äußerungen an eine scharfe Ablehnung gegenüber der Beschwörung des fin de siècle, der Dekadenz oder aber apokalyptisch-eschatologischer Szenarien, wie sie unter anderem im russischen Symbolismus vertreten wurden. Zugleich schätzt er aber seine poetische Schulung durch Vertreter des späten Symbolismus bis ans Lebensende.

Ähnlich wie die Futuristen in Moskau und Sankt Petersburg tritt er vehement für eine Erneuerung der russischen Sprache ein, kann ihnen jedoch die künstlich-künstlerischen Wortexperimente und den provokativ proklamierten Bruch mit den Größen der russischen Literatur lange nicht verzeihen. Jeglicher Ästhetik des Hässlichen, des Schocks und der Provokation setzt er das Schöne und Erhabene entgegen, von denen die Kunst durchdrungen sein soll. So sehr er die Lust an der Selbstinszenierung und Maskerade teilt – Il’ja Ėrenburg spricht von Tolstoj als grandiosem Schauspieler seiner selbst16 – so wenig kann er den künstlerischen Transzendierungsversuchen der Realität oder etwa dem „žiznetvorčestvo“ (Lebenskunst) etwas abgewinnen.17 Auch den religionsphilosophischen Ideen seiner Zeit steht er zunehmend skeptisch gegenüber, wenngleich er sich durchaus religiöser Rhetorik und Semantik zu bedienen weiß.

Der junge Schriftsteller lässt sich dementsprechend als selbstbewusstes ‚Kind seiner Zeit‘ bezeichnen, das sich als neugieriger Eklektiker Sprache und Habitus seiner Zeitgenossen vorübergehend aneignet, um sie zu einem späteren Zeitpunkt ironisch gebrochen, satirisch überspitzt oder auch offen-polemisch anzuprangern.

Im Rahmen des eingangs konstatierten Paradigmenwechsels überschneiden sich, wie Klaus Städtke zeigt, sowohl selbstkritische und selbstreflexive Erneuerungsbestrebungen in der Selbstwahrnehmung der Künstlerinnen und Künstler mit Anforderungen, die von gesellschaftlicher Seite an die Literatur bzw. ihre Produzentinnen und Produzenten gestellt werden (Städtke 1996, 6). Die Diskussionen um den 1909 veröffentlichten Band Vechi sind das prominenteste Beispiel für den Versuch, die Rolle der russischen Intelligencija – und damit auch der künstlerischen Elite – in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft und dem politischen System nach der Revolution von 1905 zu definieren.18 Die Kritik der Autoren19 des Bandes richtet sich auf z. T. sehr unterschiedliche Aspekte: Dazu zählt die Selbststilisierung zu Märtyrern aufgrund der Verfolgung durch die Regierung ebenso wie die künstlerische Realitätsflucht durch die Ablehnung gesellschaftlichen Engagements. Das zentrale Zerrbild des Intellektuellen bildet allerdings die „Mode gewordene Gestalt des Revolutionärs, die – umgeben vom Nimbus fragloser Autorität – das Bild der Intelligencija in der Öffentlichkeit prägt […]“ (Schlögel 2009, 109). Zwar engagiert sich Aleksej Tolstoj in den Diskussionen um Vechi nicht explizit – er ist noch zu sehr mit seinem schriftstellerischen Selbstverständnis beschäftigt – allerdings finden sich in seinen literarischen Texten der 1910er Jahre deutliche Spuren der dort geäußerten Kritik am zeitgenössischen Bild des Intellektuellen bzw. Künstlers.20 Versteht man, wie Karl Schlögel, die Vechi-Publikation von 1909 als den Beginn eines „Diskussionsraums“ bzw. „Verdichtungsraums“ (2009, 94) von 12 Jahren, der vom Ausbruch der Künstler aus einer Welt zwischen dem „Kanon der ‚Akademie der Künste‘ und dem Forderungskatalog einer ‚dem Volke dienenden‘ Kunst“ (ebd., 151) geprägt ist, kommt auch Aleksej Tolstoj wieder ins Spiel.

Denn als letzten signifikanten Diskussionszusammenhang bestimmt Schlögel 1921 die Auseinandersetzungen um die Publikation des Bandes Smena vech(Wechsel der Wegzeichen), der nicht zuletzt mit der Titelwahl seinen Stellenwert als selbstkritische Redefinition der Rolle der Intelligencija in der Vechi-Tradition zum Ausdruck bringt.

Bei den 1921/1922 in der Emigration wie in Sowjetrussland ausgetragenen Diskussionen um die Ideen der gleichnamigen Gruppierung gehört der Schriftsteller zu den zentralen Protagonisten. Bei der öffentlichen Verteidigung der von smena vech vertretenen Ansichten propagiert er zum Wohle Russlands die unbedingte Notwendigkeit, sich mit der Revolution und der Herrschaft der Bol’ševiki abzufinden.21

Tolstojs konkrete Ausrichtung seines Schreibens auf Russland als kulturelle Einheit und imperiale Größe, die es zu bestätigen, zu stärken oder – im Hinblick auf die Zeit nach der Revolution – neu zu begründen gilt, wird deshalb im Wechselspiel mit dem beschriebenen Paradigmenwechsel analysiert und die Wahrnehmung dieser Veränderungsprozesse in der Deutung Tolstojs herausgearbeitet.

Der Bezug der Literatur zum zeitgenössischen, alltäglichen Leben ist Aleksej Tolstoj schon sehr früh ein Anliegen, wenngleich er stets Wert auf die künstlerische Bearbeitung der Lebenswirklichkeit legt und sich nicht etwa als Historiker, Chronist oder Anhänger naturalistischer literarischer Darstellungen verstanden wissen will. Ist er am Beginn seiner Schriftstellerlaufbahn noch stärker am delectare seiner Leserschaft interessiert, erhält die zweite Komponente von Horaz’ Diktum, das prodesse, erst dann größeres Gewicht, als Tolstoj beginnt, das Schicksal seiner Figuren zu dem ihres Landes in Bezug zu setzen, d.h. etwa ab Ausbruch des Ersten Weltkriegs (Tolstoj 2002, 195). Noch ein wenig später, in der Emigration bzw. kurz nach seiner Rückkehr formuliert Aleksej Tolstoj dann erstmals explizit seine Vorstellungen darüber, worin die Relevanz von Literatur für die Gesellschaft besteht: Der Schriftsteller sieht sie darin, mithilfe literarischer Texte das Typische seiner Zeit zum Ausdruck zu bringen: verallgemeinerbare Erfahrungen, Verhaltensweisen, Handlungsoptionen und Weltanschauungen. Er setzt dabei auf eine Sprache, die „ehrlich, klar, einfach, erhaben“ (Tolstoj 1985, 78) sein soll, und nimmt mit dieser Forderung bereits Mitte der 1920er Jahre zentrale Darstellungskonventionen vorweg, die wenige Jahre später für den Sozialistischen Realismus charakteristisch sein sollten.

Dass es ihm dabei nicht um die Erfüllung ideologischer Vorgaben geht,22 sondern darum, eine der neuen Situation nach Revolution und Bürgerkrieg angemessene literarische Sprache zu finden, die der Erneuerung der russischen Kultur Rechnung trägt und sie in eine vielversprechende Zukunft führt, wurde in der zeitgenössischen Rezeption ebenso marginalisiert wie in der sowjetischen Forschungsliteratur zu Tolstoj. Dies gilt auch für die Tatsache, dass Tolstoj diesen kulturellen Erneuerungsdiskurs bereits seit Ausbruch des Ersten Weltkriegs thematisiert und nicht erst seit Ausbruch der Revolution bzw. noch später, durch den öffentlichen Bruch mit der Emigration 1922, als er seine Entscheidung zur Rückkehr bekannt gibt.23

Aleksej Tolstojs Anspruch, in der Literatur repräsentative Aussagen über das zeitgenössische Leben in Russland machen zu können und dadurch nicht zuletzt in Krisenzeiten einen zentralen Beitrag für die kulturelle Identität der russischen Gesellschaft zu leisten,24 zeigt den Schriftsteller in einem Bewusstsein verwurzelt, das in Russland besonders ausgeprägt ist. Nach diesem Verständnis wird der Literatur gegenüber Philosophie, Kunst oder Wissenschaft ein privilegierter Status eingeräumt (Städtke 1996, 3) und Literatur und Autor werden als „wichtigste Symbolträger kultureller Identität“ (Ebert 1995, 8) ausgewiesen.25 Dies gilt nicht nur für den Zeitraum der künstlerischen Moderne, die prägend für die Anfangsphase von Aleksej Tolstojs Schriftstellerkarriere ist. Ulrich Schmid weist darauf hin, dass der Literatur gerade auch als semantische Kodierung der Revolutionserfahrung zentrale Bedeutung zukommt, indem sie oftmals zur Grundlage existentieller Entscheidungen wurde:

Die literarische Kodierung der Oktoberrevolution ist für einen Großteil der russischen Intellektuellen direkt handlungsrelevant geworden. Je nach Deutung entschlossen sich Intellektuelle zur Emigration; dieser Entschluss konnte durchaus beim Eintreten einer neuen Deutung wieder rückgängig gemacht werden. (Schmid 2006, 17)

Aleksej Tolstojs Texte aus der Emigrationsphase bieten für den von Schmid beschriebenen Prozess einer sich wandelnden Semantisierung der Revolution und ihrer Konsequenzen für Russland geradezu ein Paradebeispiel.26

Christa Ebert formuliert schließlich im Hinblick auf den von ihr angesprochenen kulturellen Paradigmenwechsel: „Die Literatur bleibt zweifellos auch oder gerade in der Zeit des Totalitarismus die bedeutendste Autorität in Rußland, die mißtrauische und eifersüchtige Verfolgung durch den Staat legt dafür beredtes Zeugnis ab.“ (Ebert 1995, 14) Die mit der zunehmend rigiden Normierung des öffentlichen Sprechens einhergehenden fundamentalen Veränderungen im kulturellen Feld hat Klaus Städtke unter dem Schlagwort der „Enteignung des Autors“ nachgezeichnet.27

Die Schriftstellerlaufbahn Aleksej Tolstojs verläuft aus dieser Perspektive in einem „Spannungsfeld von (freier) Sprachverwendung und institutioneller Sprach- und Diskursregelung“ (Städtke 1998, 5). Die unterschiedlichen Pole in diesem Feld bekommt Tolstoj einerseits dadurch zu spüren, dass versucht wird, auf seinen zum Revolutionsjubiläum 1927 erscheinenden zweiten Band der Trilogie, Vosemnadcatyj god, Einfluss zu nehmen,28 andererseits bestätigt die Kanonisierung des Autors im Hinblick auf seine Darstellung der russischen Intelligencija vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Bürgerkriegs in der Trilogie Choždenie po mukam gerade das offizielle Anerkennen des Potentials von Tolstojs Texten, auf der Ebene des kulturellen Bewusstseins identitätsstiftend zu wirken.29

So ambivalent Tolstojs Beziehung zum literarischen Leben der russischen Moderne ist, so eindeutig knüpft er bei der Verwendung eines nach Einheit und Gemeinschaft strebenden, homogenisierenden, ethnisch-nationalen Kulturbegriffs an den zeitgenössischen kulturellen Diskurs an.30 Das heißt, dass auch wenn in den literarischen Texten lediglich von der abstrakt bleibenden Rossija die Rede ist, in der Regel nicht das politische Gebilde gemeint ist. ‚Russland‘ erweist sich bei Tolstoj dagegen vielmehr als eine homogenisierend gedachte national-kulturelle Gemeinschaft, deren ethnische Pluralität meist keine Rolle spielt, und die stattdessen über klare territoriale Grenzen und kulturelle Charakteristika bestimmt werden kann.

Bei Tolstoj zählt dazu unter anderem ein geheimnisvoller und rätselhafter „Geist“ – duch, der vor allem in Krisenzeiten zum wichtigsten Impulsgeber für (patriotisches) Handeln zum Schutz der Heimat wird. Im Kontext von Tolstojs Texten, die er ab dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verfasst, offenbart sich darüber hinaus die Tendenz, Russland respektive die russische Kultur als eine dem Westen, d. h. vor allem Deutschland und Frankreich, überlegene darzustellen. Er greift dafür sowohl ausgiebig auf das im russischen Kontext kulturhistorisch verankerte Reservoir an Auto- und Heterostereotype zurück, um das Verhältnis zwischen (Sowjet-)Russland und Europa zu charakterisieren, bedient sich darüber hinaus aber auch der Topoi eines zeitgenössischen kulturellen Krisendiskurses, wie er in ganz Europa verbreitet war.

1.5 Zum Aufbau der Arbeit

Die Arbeit ist chronologisch und nach diesem einleitenden Teil in vier größere Abschnitte gegliedert, die sich an den verschiedenen Werkphasen orientieren: zunächst Tolstojs vorrevolutionärem Werk ab 1906 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Schon in dieser frühen Phase ist der Wechsel zwischen einer Innen- und einer Außenperspektive auf Russland ebenso angelegt, wie die Verknüpfung einzelner Wertungen mit den Kategorien von Dynamik und Statik, alt und neu, Vergangenheit und Zukunft.

Im Mittelpunkt stehen zunächst Tolstojs Überlegungen zur Rolle der russischen Literatur und seinem eigenen Beitrag zu ihrer Stärkung als einem zentralen Element nationaler Größe. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs erweitert sich das Textkorpus um Tolstojs Artikel als Frontkorrespondent, in denen er die Bedeutung der Kriegssituation für Russland reflektiert und in denen oftmals Themen und Motive vorweggenommen werden, die der Autor auch in seinen erzählenden Texten wieder aufgreift, um Russland als nationale Gemeinschaft zu konturieren.

Als Verbindungsstück zwischen den Texten der Kriegs- und der Emigrationsphase fungiert der Abschnitt über Aleksej Tolstojs publizistische und literarische Reaktionen auf die Ereignisse ab Februar 1917 bis hin zur Ausreise aus Russland im Frühjahr 1919. Diese Phase ist von einer stärker publizistischen als literarischen Auseinandersetzung mit den aus der Sicht Tolstojs sowohl bedrohlichen als auch Geschichte schreibenden Vorgängen geprägt. Unentschlossen über die Bewertung bringt er in einer expressiven und drastischen Darstellungsweise seine Zweifel und Hoffnungen gleichermaßen zum Ausdruck, ehe er sich zur Flucht aus Russland gezwungen sieht.

Daran anschließend ist der dritte Teil der Rekonstruktion des sich sukzessive wandelnden Verhältnisses zum Bürgerkriegsrussland in den Jahren seiner Emigration gewidmet. Der Blick gilt hier vor allem Tolstojs veränderter Europawahrnehmung, die maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidung zur Rückkehr nimmt. Auch für diesen Prozess haben Tolstojs publizistische Äußerungen eine herausragende Bedeutung, denn die Resultate seiner intensiven Um- und Neubewertung der Situation in Russland bringt er zunächst weniger in literarischen Texten zum Ausdruck als vielmehr in apodiktisch-provokativen publizistischen Beiträgen. Allerdings bilden die jüngsten Erfahrungen innerhalb und außerhalb Russlands auch für die Erzählungen und Romane den zentralen thematischen Fokus.

Im letzten Teil der Arbeit stehen Tolstojs literarische Texte im Mittelpunkt, die nach der Rückkehr 1923 entstanden sind, und in denen der Autor versucht, das ‚neue Russland‘ im Kontrast zum ‚alten Europa‘ zu profilieren. Zum anderen geht es aber auch um die ‚kulturinterne‘ Rekonstruktion spezifisch russischer Verhaltens- und Denkmuster durch den Rückgriff auf historische Themen aus der Petrinischen Epoche. Die letzte Schaffensphase ist zudem durch Tolstojs Beitrag zum sowjetischen Gründungsmythos in Form der Trilogie geprägt.

1 Seit den 1950er Jahren konnten mehr als 15 russischsprachige Titel eruiert werden.

2 Gängige Charakterisierungen Tolstojs sind z. B. ‚krasnyj šut‘ (roter Hofnarr), ‚besputnyj klassik‘ (wüster Klassiker), ‚chudožnik-buratino‘ (Künstler-Tunichtgut) (Tolstaja 2013, 8).

3 „[...]правда, сама варламовская концепция личности писателя как шута, несомненно, мифологична.“ (Tolstaja 2013, 7)

4 Die Autorin bezieht sich dabei auf einen Artikel des Schriftstellers, in dem er selbstkritisch zur Rolle des Autors schreibt: „Думаю, что психическая организация писателя такова, что, способный превращаться и актерствовать, любящий пеструю суету, он утрачивает в себе негнущийся, сверхмужской, стальной стержень, свойственный герою, высокоположительному персонажу, он с трудом надевает на себя эту ледяную маску, глядящую пощады не знающими глазами поверх суеты - на высокую цель... Писателю удобнее маски попроще […]“ (XIII, 562) „Ich glaube, der Schriftsteller ist psychisch so veranlagt, daß er mit seiner Fähigkeit, sich zu verwandeln und zu schauspielern, mit seiner Liebe zum bunten Getriebe nichts mehr an sich hat von dem unbeugsamen, stählernen Kern eines Superman, der einem Helden, einer durch und durch positiven Gestalt eigen ist; nur mit Mühe legt er diese eisige Maske an, die erbarmungslos über das Alltagsgetriebe hinwegblickt – auf ein hohes Ziel…Dem Schriftsteller sind einfachere, reizvollere Masken bequemer […]“ (Tolstoi 1985, 123).

5 Die deutschen Übersetzungen stammen, sofern nicht anders angegeben, von der Verfasserin.

6 http://mayak-parnasa.livejournal.com/191287.html

7 Allen voran die bereits genannte Elena Tolstaja sowie Sergej Golubkov, Dmitrij Nikolaev, Natal’ja Primočkina, Galina Voroncova, Tat’jana Radomskaja.

8 Das Werk Aleksej Tolstojs war auch immer wieder Gegenstand von Dissertationen: Chalil Chadil (2009), Lynova (2006), Sorokina (2010).

9 http://imli.ru/index.php/konferentsii/anons/2326-alexeytolstoy.

10 Eine Ausnahme bieten die Dissertationen von Han Yeakyung zu Tolstojs Märchen (1989) sowie von Silke Dreger zum Roman Petr I (1994).

11 Tolstoi (1976/1979/1985/1987/1988/1988a). Die erste deutsche Übersetzung der Trilogie stammt von 1946/1947, mit einer zweiten Auflage 1974; die deutsche Ausgabe des Romans Brot von 1948. Vereinzelt sind noch Erstübersetzungen aus den 1920er und 30er Jahren erhältlich, so z. B. Die Höllenfahrt (o.J. [1922]) eine gekürzte Variante von Choždenie po mukam, Aėlita (1924) sowie der erste Band des Romans Peter der Große (1931). Bis auf die Komödie Die Liebe. Das goldene Buch liegen keine Übersetzungen der übrigen Dramen Tolstojs vor. Das Stück Rasputin oder die Verschwörung der Zarin, ein Gemeinschaftswerk mit Pavel Ščegolev, das von letzterem und S. Arnold 1927 übersetzt und für Erwin Piscator adaptiert wurde, basiert auf der Erzählung Zagovor imperatricy von 1925 (Loup 1972).

12 Zum Beispiel die Arbeiten von Flejšman (2003), Glad (1990), Hardeman (1994), Mierau (1987), Raeff (1990).

13 Vgl. Burchard (2001), Drews (1981), Kasack (1992), Urban (2003).

14 Die systematische und/oder vergleichende Untersuchung der Rückkehr aus der Emigration/dem Exil als biographisches Faktum und literarisches Motiv im Kontext der 1920er und 30er Jahre stellt nach wie vor ein Desiderat dar. In der umfangreichen, zahlreiche geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen einschließenden Forschung zu den Emigrationszentren nach der Oktoberrevolution ist der Aspekt der Rückkehr bislang sowohl aus (kultur)historischer als auch aus literaturwissenschaftlicher Sicht nur vereinzelt in den Blick genommen worden. Einige wenige Beispiele sind Rainer Goldts Studie über die Rückkehr des smena vech-Mitbegründers Nikolaj Ustrjalov (2005); Anja Tippners Beitrag zu Viktor Šklovskij (2006) oder Wolfgang Stephan Kissels Überlegungen zu einer „Poetik der Permeabilität“ (2009). Insbesondere, wenn es sich um die Rückkehr vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges handelt, stößt man bei der Recherche auf große Lücken. In einschlägigen Überblicksdarstellungen zur ersten Emigration zwischen 1918 und 1940 (Glad 1999; Schlögel 1994; Ioncev 2001) finden sich lediglich verstreute Hinweise auf zurückkehrende Intellektuelle und vereinzelt auch Angaben zum quantitativen Umfang der Gruppe der Rückkehrer. John Glad gibt für den gesamten Zeitraum zwischen 1921 und 1931 mehr als 180.000 Rückkehrer an, wobei der überwiegende Teil aus Armeeangehörigen besteht (1999, 145). Konkret zur Rückkehr von Armeeangehörigen vgl. Basik (2002). Vladimir Ioncev spricht für den Zeitraum von 1921 bis 1925 von 300 Rückkehrern aus intellektuellen Kreisen, die aufgrund ihres professionellen Know-hows für den Wiederaufbau des Landes sehr wichtig gewesen seien (2001, 374). Eine sowjetische Quelle vom Anfang der 1980er Jahre führt Beispiele für rückkehrwillige Arbeiter und Bauern aus Amerika an und beziffert sie auf ca. 7700 zwischen 1922 und 1925 (Fajngar 1983, 5).

15 „Auf Grund ihrer hohen Mobilität und geistigen Beweglichkeit konnten gerade die Angehörigen der russischen Bohème zu Vermittlern zwischen westlicher und östlicher Kunst und Kultur werden. Weiterhin trieb die Bohème die Theatralisierung des urbanen Raums voran: Theater, Kinos, Galerien, die Verlage von Kunst- und Literaturzeitschriften, aber auch Restaurants, Cafés, Bars, Cabarets wurden zu „Szenen“, auf denen die Künstler verschiedenartige Formen von Lebenskunst ausagierten.“ (Kissel 2004, 9)

16 Auch in dem Erinnerungsband Vospominanija ob A.N. Tolstom (Nikitina 1982) zählt der Hang zur theatralischen Selbstinszenierung zu den Charakteristika, die von vielen der Beitragenden angeführt werden. Das Hervorheben des spielerischen, selbstironischen und durchaus provokativen Auftretens des Autors im engeren oder weiteren Freundeskreis steht oftmals dem gleichermaßen bezeugten Bild des disziplinierten und ungemein akribischen Arbeiters am Schreibtisch gegenüber.

17 Zu den verschiedenen Ausprägungen der Lebenskunst vgl. Schahadat (1998).

18 Der vollständige Titel der Originalausgabe lautet Vechi. Sbornik statej o russkoj intelligencii (Berdjaev 1909).Unter dem Titel „Wegzeichen. Zur Krise der russischen Intelligenz“ hat Karl Schlögel die Essays aus dem Russischen übersetzt und mit einer ausführlichen Einleitung versehen (1990).

19 Nikolaj Berdjaev, Sergej Bulgakov, Michail Geršenzon, Aleksandr Izgoev, Bogdan Kistjakovskij, Petr Struve und Semen Frank.

20 Kurze Resümees der einzelnen Beiträge aus Vechi bietet Karlheinz Kasper (1993, 8 – 10). Aleksej Tolstoj teilt die Kritik an Formen der Opposition oder auch der revolutionären Rhetorik, die nur deshalb geäußert wird, weil sie in Mode ist. Zudem stimmt er mit den Autoren des Bandes darin überein, dass die gesellschaftlichen Probleme nicht ‚von außen‘ oder durch Dritte gelöst werden können, sondern aus eigener Kraft bewältigt werden müssen. Den Rückzug auf sich selbst, im Sinne einer religiösen Selbstvervollkommnung, betrachtet er ebenfalls skeptisch.

21 Ausführlich dazu Kapitel 4.3.

22 Zwar bringen sich Anatolij Lunačarkskij oder Leo Trockij durch verschiedene Publikationen durchaus in die Richtungskämpfe um eine künstlerische Vorherrschaft Mitte der 1920er Jahre ein. Von einer umfassenden direktiven oder gar normativen Verordnung in Bezug auf die Kunst lässt sich vor 1925 allerdings kaum sprechen, vgl. Eimermacher 1994. Zum Literaturbetrieb während und nach der NEP vgl. auch Clark (1991).

23 Bei der Betonung der Ausrichtung Tolstojs auf das literarische/kulturelle Feld und nicht das politische, soll keineswegs ein Kulturverständnis formuliert werden, das Kunst von der realen Lebenswelt trennt und sie als „antiseptische Sphäre [begreift], abgeschottet gegen alle Berührungen mit der Welt“ (Said 1994, 17), sondern lediglich die primäre Wahrnehmung als literarische Texte mit einer dominant poetischen Funktion in den Vordergrund rücken.

24 Aus der Perspektive der jüngeren kulturwissenschaftlich geprägten Narratologie macht Ansgar Nünning gerade in Bezug auf den Konstruktcharakter von Krisen auf die zentrale Rolle von Literatur in diesem Prozess aufmerksam (Nünning 2007, 63). Er rekurriert dabei auf eine weite Auslegung von Paul Ricoeurs Mimesis-Modell. Der von ihm beschriebene Dreischritt von Präfiguration des Themas in der realen Lebenswelt, seiner narrativen Konfiguration im literarischen Text sowie schließlich der Möglichkeit, in Form der Refiguration wieder auf jene Lebenswirklichkeit zurück zu wirken, erscheint auch geeignet, um die von Tolstoj intendierte kommunikative Funktion seiner literarischen Texte zu beschreiben.

25 Dennoch geht auch im russischen Kontext in Folge der Oktoberrevolution eine Verschiebung der Deutungshoheit vor sich, wie sie von Keith Bullivant und Bernhard Spies ausgehend vom westlichen Krisendiskurs beschrieben wird: „Im 20. Jahrhundert verliert die Kultur und damit auch die Literatur die Definitionshoheit über die Frage, was Normalität und was Krise sei und wann jene in diese umschlage. [...] Die Geschichte der literarischen Krisenwahrnehmung partizipiert hier an einer generellen Tendenz, die z. B. darin ihren Ausdruck findet, daß spätestens mit dem Expressionismus die ideengeschichtlichen bzw. ästhetischen Epocheneinteilungen ersetzt werden durch eine an den politischen Umbrüchen orientierte Unterteilung der kulturellen Entwicklung.“ (Bullivant/Spies 2001, 14f)

26 Zwei weitere Beispiele für eine literarische Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Revolution für Russland, Europa und die dort lebenden russischen (intellektuellen) Emigranten sind Andrej Belyjs Skizzen Odna iz obitelej carstva tenej(Im Reich der Schatten) und Viktor Šklovskijs Briefroman Zoo ili pis’ma ne o ljubvi(Zoo oder Briefe nicht über die Liebe).

27 „Im Jahrzehnt zwischen Lenins Tod und den Schauprozessen der dreißiger Jahre wurde nicht nur in der Literatur, sondern auch in den Künsten und in der Wissenschaft, selbst im Bereich des Marxismus-Leninismus, der Kernzone der offiziellen Ideologie, der individuelle Autor enteignet. Die Autorität des öffentlichen Wortes geht an die politische Führung über, an die Partei und die Person Stalins.“ (Städtke 1998, 20) Aufschlussreiche Einblicke in die Prozesse der Reglementierung, Instrumentalisierung und Kontrolle öffentlichen Schreibens und Sprechens in den 1920er und 30er Jahren bietet auch der 2012 erschienene Band Schrift und Macht, herausgegeben von Tomáš Lipták und Jurij Murašov.

28 Tolstoj tritt diesen Versuchen der Beeinflussung denkbar selbstbewusst entgegen, indem er darauf hinweist, Literatur für ein Massenpublikum zu verfassen und dabei Werke zu kreieren, die auch in 50 Jahren und über die Grenzen Russlands hinaus ihre Wirkungskraft noch nicht verloren hätten. Siehe dazu z. B. den Brief an Vjačeslav P. Polonskij (Tolstoj 1989 II, 42) bzw. die detaillierteren Erläuterungen in Kapitel 5. dieser Arbeit.

29 Vgl. dazu Clark (2000). Die Kanonsierung bezieht sich bei Clark auf die Rolle der Romane als modellbildende Texte für den idealen sozrealistischen Roman. In den Materialien von Erna Malygin, die sie für ihre Untersuchung der Kanonbildung im sowjetischen Literaturunterricht der 1920er und 30er Jahre zusammengetragen hat, taucht insbesondere Tolstojs Roman Chleb(Brot) als Konstante des literarischen Kanons auf (2012, 493ff). Chleb ist zwar auch aus dem Material entstanden, das Tolstoj für die Trilogie bearbeitet hat, hebt sich als Auftragswerk jedoch durch die explizite – und geschichtsverfälschende – Hervorhebung der Rolle Stalins bei der Verteidigung von Caricyn während des Bürgerkriegs deutlich von der Trilogie ab. Die „programmatische Lobhudelei“, von der Schäfer (1986, 1954) in Bezug auf Chleb spricht, wird in der Trilogie durch die stärkere Marginalisierung der politischen Akteure zurückhaltender eingesetzt. Neben Chleb waren die Erzählung Detstvo Nikity sowie der Roman Petr I in den späten 1930er Jahren obligatorische (außer)schulische Lektüre (Malygin 2012, 493ff).

30 „‚Kultur‘ [wird] vor allem als Signum nationaler, ethnischer, religiöser Identität, als ein kollektives Ideal betrachtet [...] Gemeinschaftssinn wurde nicht nur von den offiziellen Machtinstanzen der orthodoxen Kirche, später den Bolschewiki propagiert, sondern auch von der kulturellen Elite, der Intelligencija, vertreten.“ (Ebert 1995, 10)

2. Russland im Werk Aleksej Tolstojs bis 1917

2.1 Poetologische Fundamente aus der Frühphase 1906–1914

Aleksej Tolstojs Werdegang vom (ohne Abschluss) absolvierten Ingenieursstudium am Sankt Petersburger Polytechnikum zum Schriftsteller wird von den ersten Reflexionen an sehr stark als ein Weg charakterisiert, der durch außerliterarische Ereignisse geprägt ist. So ist Tolstoj große Teile seiner Schriftstellerlaufbahn mit politisch-gesellschaftlichen Umbrüchen und Krisenzeiten, wie dem Ersten Weltkrieg, der Oktoberrevolution, dem Bürgerkrieg bis hin zum Zweiten Weltkrieg, konfrontiert. Nicht lange vor seinem literarischen Debüt gehört er zu den protestierenden Studenten im Vorfeld der Revolution von 1905 und verfasst, wie er selbst konstatiert, als einer von vielen, revolutionäre Gedichte (I, 83).1