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Nun gibt es eine exklusive Sonderausgabe – Fürstenkrone Classic In der völlig neuen Romanreihe "Fürstenkrone" kommt wirklich jeder auf seine Kosten, sowohl die Leserin der Adelsgeschichten als auch jene, die eigentlich die herzerwärmenden Mami-Storys bevorzugt. Romane aus dem Hochadel, die die Herzen der Leserinnen höherschlagen lassen. Wer möchte nicht wissen, welche geheimen Wünsche die Adelswelt bewegen? Die Leserschaft ist fasziniert und genießt "diese" Wirklichkeit. Es war ein heftiges Gewitter, das sich an diesem drückend schwülen Augustnachmittag entlud. Wie tosende Riesenwellen rollten die Donner heran, grelle Blitze schleuderten zuckend ihr bläuliches Licht in die fahle Dämmerung, und auf dem Wachturm von Burg Hoheneck drehte sich ächzend und knirschend die Wetterfahne im Sturm. Anna hatte Kerzen bereitgelegt, wie sie es immer tat, wenn ein Gewitter heraufzog. »Falls es einmal in die Leitung einschlägt«, meinte sie in ihrer betulichen, fürsorglichen Art. »Es hat noch nie eingeschlagen«, lächelte die achtzehnjährige Komtesse Bianca-Maria und kniete auf der Holzbank nieder, die unter dem Fenster in der großen Burgküche stand, wo die blankgeputzten kupfernen Pfannen und Tiegel von dunklen Holzbalken herabhingen. Die Arme aufgestützt, den Kopf mit den nach Pagenart geschnittenen schwarzen Haaren in die Handfläche gelegt, so schaute sie hinaus in das Toben der Elemente. Angst? Bianca-Maria kannte keine Angst, nicht hier, denn sie war ja zu Hause und geborgen. »Hoffentlich hat Vater rechtzeitig das Forsthaus erreicht«, sagte Bianca. »Aber sicher.« Jetzt klang Annas Stimme sorglos. »Wenn einer sich hier mit dem Wetter auskennt, dann ist es doch der Herr Graf.« Bianca nickte vor sich hin. »Er hat ja auch seine Revierförster für halb vier zu Erdmann bestellt. Den Wilderern soll endlich das Handwerk gelegt werden.« Sie zuckte zusammen, als mit einem aufheulenden Windstoß das Klirren und Prasseln wie von zersplitterndem Glas einherging. »Mariaundjosef«
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Es war ein heftiges Gewitter, das sich an diesem drückend schwülen Augustnachmittag entlud. Wie tosende Riesenwellen rollten die Donner heran, grelle Blitze schleuderten zuckend ihr bläuliches Licht in die fahle Dämmerung, und auf dem Wachturm von Burg Hoheneck drehte sich ächzend und knirschend die Wetterfahne im Sturm.
Anna hatte Kerzen bereitgelegt, wie sie es immer tat, wenn ein Gewitter heraufzog.
»Falls es einmal in die Leitung einschlägt«, meinte sie in ihrer betulichen, fürsorglichen Art.
»Es hat noch nie eingeschlagen«, lächelte die achtzehnjährige Komtesse Bianca-Maria und kniete auf der Holzbank nieder, die unter dem Fenster in der großen Burgküche stand, wo die blankgeputzten kupfernen Pfannen und Tiegel von dunklen Holzbalken herabhingen. Die Arme aufgestützt, den Kopf mit den nach Pagenart geschnittenen schwarzen Haaren in die Handfläche gelegt, so schaute sie hinaus in das Toben der Elemente. Angst? Bianca-Maria kannte keine Angst, nicht hier, denn sie war ja zu Hause und geborgen.
»Hoffentlich hat Vater rechtzeitig das Forsthaus erreicht«, sagte Bianca.
»Aber sicher.« Jetzt klang Annas Stimme sorglos. »Wenn einer sich hier mit dem Wetter auskennt, dann ist es doch der Herr Graf.«
Bianca nickte vor sich hin. »Er hat ja auch seine Revierförster für halb vier zu Erdmann bestellt. Den Wilderern soll endlich das Handwerk gelegt werden.« Sie zuckte zusammen, als mit einem aufheulenden Windstoß das Klirren und Prasseln wie von zersplitterndem Glas einherging.
»Mariaundjosef«, flüsterte Anna erschrocken, »ist denn da draußen die Hölle los?«
Bianca wandte sich um. »Irgendwo hat der Sturm ein Fenster eingedrückt. Ich seh’ einmal nach.«
Sie angelte mit den schmalen bloßen Fußen nach den Riemchensandaletten, die sie vorhin abgestreift hatte.
»Aber doch nicht jetzt, Komtesschen, bist du denn närrisch!« wehrte Anna entsetzt ab. »Wirst nicht jetzt
allein durch die Burg laufen! Hier bleibst du, bei mir, damit dir nichts passiert!«
Gehorsam setzte Bianca sich wieder hin. »Du behandelst mich immer noch wie ein Kind, Anna«, bemerkte sie schmollend, aber mit einem kleinen, lieben Lächeln zu der alten Frau hin. Anna gehörte zu Hoheneck, solange sie denken konnte.
»Für mich bleibst du’s«, erklärte Anna kurz und bündig. »Auch wenn ich eigentlich längst Sie zu dir sagen müßte…«
»Das käme mir aber komisch vor«, unterbrach Bianca sie lachend. »Ich würde dann immer denken, du wärst böse mit mir.«
»Böse«, brummelte Anna. »Nie im Leben könnte ich dir böse sein.«
»Doch, einmal warst du’s. Als ich mir meine Zöpfe abschneiden ließ. Weißt du noch?«
Mit schräggeneigtem Kopf blinzelte Bianca sie von unten herauf an.
»Ja, um dein schönes Haar hat es mir leid getan«, gab Anna zu.
»Aber ich hab’ doch immer noch genug davon!«
Lachend fuhr Bianca sich mit beiden Händen in die üppige Fülle ihres glatten, seidigglänzenden Haares.
Annas Blick glitt liebevoll darüber hin. »Du hast es von deiner Mutter«, sagte sie leise. Dann wandte sie sich verlegen ab und machte sich am Herd zu schaffen, obwohl es da jetzt eigentlich gar nichts zu tun gab.
Man sprach auf Burg Hoheneck nicht von der Gräfin Isabella, das war ein ungeschriebenes Gesetz.
Über Biancas Gesicht flog ein Schatten. Stumm drehte sie den Kopf zum Fenster, gegen das der Regen schlug. Die Gewalt des Gewitters schien gebrochen zu sein, Blitz und Donner folgten einander nur noch in größeren Abständen.
Sie hätte so gern mehr von ihrer Mutter gewußt, die – so hatte der Vater es ihr erzählt, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war – kurz nach ihrer Geburt gestorben war. Aber der Name Isabella von Hoheneck war nicht auf der Marmorplatte der Familiengruft eingemeißelt. Warum gab es kein Grab von ihr, das sie mit Blumen schmücken durfte? Einmal, vor langer Zeit, hatte sie ihren Vater danach gefragt. Noch heute erinnerte sie sich an den Ausdruck von Qual, der plötzlich das sonst so beherrschte, stolze Gesicht gezeichnet hatte, als er ihr mit rauher Stimme erwiderte: »Die Antwort werde ich dir geben, wenn du erwachsen bist.« Erschrocken war das Kind damals verstummt vor der Schroffheit dieser Worte.
Bis zu ihrem zehnten Lebensjahr hatte die Großmutter, Margaretha von Hoheneck, jeden ihrer Schritte behütet. Dann hatte ein Herzschlag sie dahingerafft, und Bianca stand bitterlich schluchzend am offenen Grab. Sie weinte um die Großmutter, und sie weinte auch um die Mutter, die sie nie gekannt hatte.
Bald darauf schickte Graf Veidt seine Tochter in ein sehr exklusives Schweizer Töchterpensionat, um ihr eine erstklassige Erziehung angedeihen zu lassen. In den Ferien war Anna da, die der Heranwachsenden Wärme und zärtliche Fürsorge schenkte. Anna führte den Haushalt auf Burg Hoheneck, sie war eine schlichte Frau, doch mit einem guten Herzen, aufrichtig und treu.
Vor einem halben Jahr war Bianca-Maria von Hoheneck heimgekehrt, eine fertige junge Dame und doch noch das gleiche liebenswerte, unverbildete Geschöpf von natürlicher Anmut, das sie immer gewesen war. Sie genoß es sehr, der strengen, fast klösterlichen Zucht des Internats entronnen zu sein, sich so salopp kleiden zu können, wie es der jungen Mode entsprach, und auf ihrer bildschönen weißen Schimmelstute Schneeflocke, die der Vater ihr zum glänzend bestandenen Abitur geschenkt hatte, durch die riesigen Wälder von Hoheneck zu streifen.
»So, jetzt wirst du mich nicht mehr zurückhalten, Anna«, sagte Bianca energisch und knüpfte die Riemchen an ihren Sandaletten fest. »Ich will jetzt wissen, was vorhin passiert ist. Wenn wirklich ein Fenster entzweigegangen ist, wird es dort hereinregnen, und es könnten Möbelstücke beschädigt werden. Dagegen muß man was tun!«
Mit aufmerksamen Augen schritt die Komtesse durch die langen Gänge mit ihren hohen Bogenfenstern. Wo hatte der Sturm ein Unheil angerichtet? Dort, wo die Wendeltreppe mit dem kunstvoll geschmiedeten Eisengeländer hinaufführte in den großen Rittersaal, ging der Blick durchs Fenster auf den Burghof und den anderen Flügel der Burg. Und da entdeckte sie im ersten Stock, gleich neben dem Turm, die zerbrochene Scheibe. Das war Großmamas Zimmer!
Bianca nahm den kürzeren Weg durch den Rittersaal mit seinen mittelalterlichen Rüstungen, den Waffen aus verschiedenen Jahrhunderten und den sich aneinanderreihenden Ahnenbildern, die würdig und mehr oder weniger ausdrucksvoll von den Wänden herabblickten.
Nur mein Ebenbild Charlotte fehlt, dachte Bianca mit flüchtigem Lächeln, als ihr eine leere Fläche zwischen den Bildern ins Auge sprang. In London fand zur Zeit eine Ausstellung des Lebenswerkes des berühmten englischen Malers statt, zu dessen schönsten Gemälden das Bildnis der Gräfin Charlotte von Hoheneck gehörte.
»Wir verleihen keine Bilder«, hatte Graf Veidt ablehnend geäußert, als ein vorsichtig formuliertes Schreiben der Museumsleitung eintraf. Doch einige Wochen später war ein ebenso höflicher wie liebenswürdiger Brief von Lord Argyll gekommen, einem Vetter der Königin, mit der Bitte, das Gemälde für die Dauer der Ausstellung zur Verfügung zu stellen. Widerstrebend hatte Graf Veidt endlich zugesagt. Daraufhin war ein Abgesandter des Lords auf Hoheneck erschienen, um den Transport der kostbaren Fracht persönlich zu überwachen. Und nun konnten also die Londoner in der Tate-Gallery das Bild der Ahnfrau Charlotte bewundern, das beinahe ein Bild der jungen Komtesse Bianca-Maria hätte sein können, denn eine Laune des Schicksals hatte es gefügt, daß diese ihr, die zwei Jahrhundert früher gelebt hatte, auf verblüffende Weise ähnlich sah.
Bianca gelangte über einen schmalen Wendelgang zu den Wohnräumen der Gräfin Margaretha, die hier lange allein gelebt hatte, da sie früh verwitwet war.
Behutsam drückte Bianca die Türklinke nieder und blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen. Ja, ausgerechnet hier, in Großmamas Boudoir, fehlte eine Fensterscheibe. Glassplitter lagen auf dem rosenholzfarbenen Anbussonteppich verstreut, eine Wasserlache hatte sich auf der marmornen Fensterbank und darunter
auf dem Parkettfußboden gebildet, Regenspritzer bildeten häßliche schwarze Flecken auf der Seitenwand des
entzückenden venezianischen Schreibsekretärs, der rechts vom Fenster stand.
Mit einiger Kraftanstrengung gelang es Bianca, das zierliche Möbelstück tiefer ins Zimmer zu rücken, wo es geschützt stand. Dabei entdeckte sie auf dem frei gewordenen Platz, zwischen Fußleiste und Teppichrand, den lang vermißten, kleinen verschnörkelten Schlüssel, mit dem man die Schrägklappe öffnen konnte, die die Schreibplatte abgab. Bianca bückte sich danach und steckte den Schlüssel ins Schloß.
Am Ende des Ganges war hinter einer Tapetentür ein Kämmerchen, in dem sich, ordentlich aufgereiht, allerlei Putzmaterial befand. Bianca bewaffnete sich mit Kehrschaufel und Besen, Eimer und Wischtüchern und schaffte mit flinken, geschickten Bewegungen Ordnung in Großmamas Boudoir. Sie fand, daß sie sich nichts dabei vergab, wenn sie, wo es nottat, rasch einmal selbst zupackte.
Zufrieden sah sie sich nach getaner Arbeit um, schlug den Teppich noch ein Stück weiter zurück. Nun konnte nichts mehr passieren, und gleich morgen wollte sie dem Glaser Bescheid sagen, daß er eine neue Scheibe einsetzte.
Der wolkenbruchartige Regen hatte nachgelassen, die hereinströmende Luft war frisch und würzig.
Mit versunkenem Lächeln stand Bianca da, und Erinnerungen an ihre Kindheit stiegen auf.
Großmama – sie hatte alles Schöne so geliebt, im Gegensatz zu ihrem Sohn, der dem Vater nachschlug und wenig Kunstsinn besaß, auch überfeinerte Kultur ablehnte.
»Wir sind Landjunker, wir Hohenecks«, hatte schon der alte Graf stolz gesagt, und die Großmama hatte einmal lachend geäußert, daß, wenn man auf Hoheneck die Männer regieren ließe, die Burg bald einem Holzfällerlager gleichen würde.
»Und meine Mutter?« hatte das Kind Bianca-Maria gefragt. »Dachte sie auch immerzu nur an das Land und die Wälder – oder fand sie auch noch andere Dinge schön, so wie du, Großmama?«
»Sie fand die anderen Dinge schöner, und das war ihr Unglück.«
Bianca schrak ein wenig zusammen; die Melodie der alten Spieluhr war verklungen, es war plötzlich still im Zimmer geworden, und in dieser Stille hatte sie die Stimme der Großmutter zu hören geglaubt. Seltsame Worte, die sie damals gesprochen hatte. Das Kind hatte sie nicht verstanden und vergessen, aber irgendwo im Unterbewußtsein waren sie haftengeblieben.
So war sie unglücklich gewesen, ihre Mutter?
Bianca trat an den Schreibsekretär, fuhr mit den Fingerspitzen gedankenverloren und wie liebkosend zart über die Lackmalereien, die Blumenmotive, von Blattranken umrahmt, zeigten. Wie oft hatte die Großmama hier davorgesessen und lächelnd aufgeblickt, wenn die Enkelin zu ihr gekommen war. Was sich wohl alles in diesem Schreibsekretär verbergen mochte? Vorsichtig drehte Bianca den kleinen verschnörkelten Schlüssel im Schloß, und mit leisem Knarren ließ sich die Schreibplatte herunterklappen.
Unwillkürlich zog sich Bianca den Polsterstuhl heran und setzte sich. Neugierig zog sie eine der vielen kleinen Schubladen heraus.
Bunte Bänder, ein Elfenbeinfächer mit Inschriften, Papierblüten… Sicherlich Erinnerungen an längst vergangene Bälle.
Das nächste Fach enthielt kindliche Handarbeiten, die Bianca ihrer Großmama früher zu Weihnachten oder zum Geburtstag angefertigt hatte. Mit einem Lächeln sah sie die Lesezeichen, die gemalten Buchhüllen, die Eierwärmer, und was es da alles gab. Liebevoll hatte die Großmama jedes Stück verwahrt.
Wieder zog sie eine der vielen kleinen Schubladen auf, irgendeine. Briefe lagen darin, von einem rosé Seidenband umschlungen, das schon ein wenig grau geworden war. Bianca nahm sie heraus, blickte auf die feine, wie gestochen wirkende Schrift ihrer Großmama. Es waren Briefe, die sie als Verlobte ihrem zukünftigen Mann, dem Grafen Eckardt von Hoheneck, geschrieben hatte. Briefe, die für keines anderen Menschen Auge bestimmt waren. Ein leiser, verwehter Duft wie von Lavendelblüten stieg davon auf.
Behutsam wollte Bianca sie in das Schubfach zurücklegen, als sie darin noch einen größeren, festen Umschlag entdeckte. Sie nahm ihn in die Hand. Seltsam, er war zugeklebt, und es fühlte sich an, als sei ein schmales Buch darin.
Als sie das Päckchen umdrehte, las sie auf dem verschlossenen Umschlag die Aufschrift. Mit großen schwungvollen Buchstaben stand da: »Für meine Tochter Bianca-Maria.« Einen Augenblick saß Bianca wie erstarrt, dann begann ihr Herz dumpf zu klopfen. Das war von ihrer Mutter für sie bestimmt. Warum gelangte es erst jetzt und nur durch Zufall in ihre Hände?
Mit bebenden Fingern riß Bianca den Umschlag auf. Sie hielt ein Tagebuch in der Hand, mit Goldschnitt und in feinstem rotem Saffianleder gebunden. Rechts in der Ecke trug es die verschlungenen Anfangsbuchstaben IM, Isabella Montini. Es stammte also noch aus der Mädchenzeit ihrer Mutter, denn Gräfin Isabella von Hoheneck war eine geborene Montini gewesen. Ihr Vater, Conte Amadeo Montini, hatte eine deutsche Prinzessin aus dem Hause Lüssow geheiratet.
Mit einer fast scheuen Geste schlug sie das Büchlein auf und sah einen Brief darin liegen, den sie voller Spannung entfaltete.
Mein liebes Kind! las sie mit klopfendem Herzen. Dieses Tagebuch soll Dir Deine Großmutter geben, wenn sie die Stunde für gekommen hält. Lies es und verurteile mich nicht zu hart. Was andere Menschen Gnade nennen, kann auch ein Fluch sein. Ich mußte dafür das Liebste hergeben, was ein Mensch besitzen kann: mein Kind.
Gott schütze Dich, Bianca-Maria.
Deine Mutter
Erregt und verwirrt blickte Bianca auf die Zeilen. Sie verstand den Sinn dieser Worte nicht, und eine seltsame, bange Ahnung ergriff sie.
Es gab etwas im Leben ihrer Mutter, was man vor ihr verborgen hatte. Aber was konnte das sein? Eine Schuld? Kaum denkbar.
Doch selbst wenn Gräfin Isabella von Hoheneck in ihrem jungen, kaum einundzwanzig Jahre währenden Leben schuldig geworden war – löschte der Tod nicht alles aus?
Biancas Gesicht hatte einen ernsten, grüblerischen Ausdruck. Das rote Saffianbändchen wog schwer in ihrer Hand.
Verurteile mich nicht so hart, schrieb die Mutter.
Wie durfte sie sich anmaßen, ihre Mutter zu verurteilen?
Ein Geräusch von der Tür her ließ sie herumfahren. Der Diener Rolf stand dort und verbeugte sich.
»Verzeihung, Anna hat mich geschickt, um nach der gnädigsten Komtesse zu sehen.«
»Es ist gut, Rolf.« Geistesabwesend steckte Bianca Brief und Buch in den Umschlag zurück. Dann besann sie sich. »Ist mein Vater schon wieder da?«
»Nein, gnädigste Komtesse.«
Der Diener betrachtete die leere Fensterhöhlung und machte ein besorgtes Gesicht.
»Sollte man da nicht ein paar Bretter davornageln, bis der Glaser kommt? Es sieht doch aus, als würde es noch mehr Regen geben«, meinte er.
»Ja, tun Sie, was Sie für richtig halten, Rolf. Vielleicht hat Martens einige passende Bretter im Schuppen.«
Komtesse Bianca sagte es etwas mechanisch, denn ihre Gedanken waren noch bei dem Brief. Aber sie war nicht böse, daß sie gestört worden war. Sie behielt den Umschlag mit dem Tagebuch in der Hand, während sie mit der Rechten die Platte des Schreibsekretärs hochklappte und den Schlüssel herumdrehte.
Heute abend erst wollte sie sich in das Tagebuch versenken. Wenn alle dachten, sie schliefe schon, würde sie noch beim Schein der Lampe in ihrem Zimmer sitzen und lesen – und glauben, ihre Mutter spräche zu ihr.
*
»Halt – wer ist da? Die Ausstellung ist längst geschlossen!«
Der alte Mann, der in dieser Nacht in der Pförtnerloge Dienst tat, bemühte sich, seine Stimme recht forsch klingen zu lassen. Er war ein wenig eingenickt und hatte, aufschreckend, gerade noch den Schatten des Mannes gesehen, der rasch und zielsicher, als kenne er sich hier aus, durch die weite, halbdunkle Halle schritt.
Der späte Besucher wandte sich um.
»Ich bin’s, Lawson. Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.«
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, daß ich Eure Lordschaft nicht gleich erkannt habe«, stotterte der Alte und blinzelte verwirrt der hochgewachsenen, schlanken und doch kräftigen Gestalt nach. Er kam wirklich zu den unmöglichsten Zeiten – es ging doch schon auf zehn! Nun, niemand konnte es ihm verwehren, dem Vetter der Königin, dem Kunstfreund und Mäzen, die Galerie zu jeder beliebigen Zeit zu betreten, denn das ganze Haus gehörte ihm. Unter anderen – wie viele Häuser die Argylls besaßen, wußten sie wohl selbst nicht genau.
Ja, so ging es im Leben, sinnierte der alte Lawson vor sich hin, die einen wußten nicht, wie sie mit ihrer winzigen Rente zurechtkommen sollten, und die anderen hatten Mühe, ihr Vermögen zu übersehen.
Von den Gedanken des Pförtners ahnte Georg Bernard Argyll nichts. Seine Schritte hallten in den Sälen, in denen nur die Nachtbeleuchtung eingeschaltet war. Sie gab genügend Licht, um die Bilder und Statuen zu erkennen. Alle diese Meisterwerke sahen jetzt anders aus als bei Tag, wenn die Studenten und die Leute mit dem Baedeker hier umherwanderten. Jetzt hüllte sie die Stille ganz ein und ließ sie, seltsam genug, auf eine andere Weise lebendig werden. Und dann stand er endlich vor dem Bild, um dessentwillen er jetzt am Abend noch einmal hergekommen war, weil es ihm keine Ruhe ließ.
Er war doch kein Träumer und kein Phantast – woran lag es also, daß ihm das Gemälde des alten Meisters und das, was es verkörperte, seit Tagen nicht mehr aus dem Sinn ging, genauer gesagt, seit jener Stunde, da Harry Walker das kostbare Stück aus Deutschland vor seinen Augen ausgepackt hatte.
Langsam hob er den Blick zu dem schönen jungen Gesicht unter dem breitrandigen weichen Hut. Die großen dunklen Augen sahen ihn an, fragend, erwartungsvoll, und wieder stand der Mann wie gebannt und vermochte sich nicht zu wehren gegen die starke Faszination, die von diesem zauberhaften Bildnis ausging. War es nicht, als schimmere die zarte Haut wie von pulsierendem Leben, als würden sich die süßen lächelnden Lippen gleich öffnen, um zu ihm zu sprechen?
Gewaltsam riß er seinen Blick los und schüttelte den Kopf über sich selbst.
Mir scheint, du wirst wirklich allmählich ein spleeniger alter Junggeselle, Georg Bernard, wie deine liebe Schwester Dorothy es dir schon prophezeit hat, verspottete er sich.
Ach, Unsinn, es war dieses diffuse und fast gespenstische Dämmerlicht, daß man auf so verrückte Gedanken kommen konnte.
Als Lord Argyll nach einer Weile den Saal verließ, hatte er das Gefühl, als sähen die brunnentiefen schwarzbraunen Augen ihm nach. Er hatte das Gegenteil von dem erreicht, was er mit seinem abendlichen Besuch bezweckte. Das holde, süße Antlitz Charlotte von Hohenecks ließ ihn nicht mehr los.
Draußen schlug er das Verdeck seines Wagens zurück, setzte sich ans Steuer und fuhr langsam durch die warme Nacht. Er hatte Lust, noch eine Stunde mit seinem Freund Thomas zu reden, das würde ihn auf andere Gedanken bringen.