Lieber Feind - Jean Webster - E-Book

Lieber Feind E-Book

Jean Webster

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Beschreibung

Ein Waisenhaus leiten? Sally McBride erklärt ihre beste Freundin Judy für komplett verrückt, als diese ihr die Leitung des John-Grier-Heims übertragen will. Hätte ihr Verlobter nicht schallend gelacht und damit ihren Ehrgeiz geweckt, Sally hätte niemals eingewilligt. Plötzlich einhundert Kinder zu haben, ist keine leichte Aufgabe! Und die Zustände im Heim sind haarsträubend. Mit Verve geht Sally an die Arbeit, um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Doch dabei macht sie sich nicht nur Freunde. Ihr liebster Feind allerdings ist und bleibt der betreuende Kinderarzt Dr. Robin MacRae. Mit "Lieber Feind" knüpft Jean Webster an "Lieber Daddy-Long-Legs" an. Im Unterschied zu den Briefen von Judy an Daddy-Long-Legs, schreibt Sally an mehrere Adressaten, auch an Judy, so dass wir so auch erfahren, wie deren Geschichte weitergeht. Geistreich, anrührend und voller Charme, sollte man sich auch diesen wunderbaren Briefroman nicht entgehen lassen!

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Stone Gate, Worcester, Massachusetts27. Dezember

Liebe Judy:

Dein Brief ist angekommen. Ich habe ihn zweimal mit großer Verwunderung gelesen. Verstehe ich das richtig, dass Jervis Dir zu Weihnachten die Umwandlung des John-Grier-Heims in eine moderne Anstalt schenkt und dass Ihr mich erwählt habt, die Verwendung des Geldes zu verwalten? Ich – ich, Sallie McBride, als Leiterin eines Waisenhauses! Ihr armen Menschen, habt Ihr ganz und gar den Verstand verloren? Oder seid Ihr opiumsüchtig geworden, und dies sind die wuchernden Auswüchse fiebrig berauschter Fantasie? Ich bin genauso geeignet, mich um einhundert Kinder zu kümmern, wie einen Zoo zu leiten.

Und als Köder bietest Du mir einen interessanten schottischen Arzt? Meine liebe Judy – und gleichermaßen mein lieber Jervis – ich durchschaue Euch! Ich weiß genau, was der Familienrat da am Pendleton’schen Kamin besprochen hat.

»Ist es nicht ein Jammer, dass Sallie so wenig zustande bekommen hat seit dem Ende ihres Studiums? Sie sollte doch etwas Nützliches tun, anstatt ihr Leben mit albernen gesellschaftlichen Verpflichtungen in Worcester zu verplempern. Außerdem (nun spricht Jervis) scheint sie Interesse an diesem verflixten jungen Burschen Hallock zu finden, der viel zu attraktiv und faszinierend und unberechenbar ist; ich konnte Politiker noch nie leiden. Wir müssen ihre Gedanken auf andere Dinge lenken, eine aufmunternde und ausfüllende Beschäftigung, bis die Gefahr vorüber ist. Ha! Ich habs! Wir lassen sie das John-Grier-Heim leiten.« Ach, ich höre ihn so deutlich, als stünde er neben mir. Bei meinem letzten Besuch in Eurem reizenden Heim haben Jervis und ich ein sehr ernstes Gespräch über a) die Ehe, b) die zweifelhafte Moral von Politikern und c) das leichtfertige, nutzlose Leben einer Dame der Gesellschaft geführt.

Bitte richte Deinem moralischen Gatten aus, dass ich mir seine Worte sehr zu Herzen genommen habe und dass ich seit meiner Rückkehr nach Worcester einen Nachmittag in der Woche in der Trinkerinnen-Heilanstalt verbringe, wo ich mit den Patientinnen Gedichte lese. Mein Leben ist nicht so ziellos, wie es scheinen mag.

Außerdem kann ich Euch versichern, dass vom Politiker keine unmittelbare Gefahr droht und er ohnehin ein höchst schätzenswerter Politiker ist, auch wenn seine Ansichten zu Zöllen und Einheitssteuer und Gewerkschaften nicht genau mit jenen von Jervis übereinstimmen.

Euer Wunsch, mein Leben dem öffentlichen Wohl zu weihen, ist höchst löblich, aber Ihr solltet die Angelegenheit auch aus der Warte des Waisenhauses betrachten.

Habt Ihr kein Mitleid mit den armen, wehrlosen kleinen Waisenkindern?

Anscheinend nicht, aber ich schon und muss die angebotene Stellung mit allem gebotenen Respekt ablehnen.

Sehr gern hingegen nehme ich Eure Einladung zum Besuch bei Euch in New York an, auch wenn ich einräumen muss, dass mich die Liste der Vergnügungen, die Ihr für mich geplant habt, nicht unbedingt in Vorfreude versetzt.

Bitte ersetzt das Waisenhaus New York und das Findlingshospital durch ein paar Theater- und Opernbesuche und vielleicht ein Abendessen. Ich besitze zwei neue Abendkleider und einen blaugoldenen Mantel mit weißem Pelzkragen.

Ich eile sogleich, sie einzupacken; telegrafiert also rasch, wenn Ihr mich nicht nur um meiner selbst sehen wollt, sondern nur als Nachfolgerin von Mrs Lippett.

Immer die Eure

ganz und gar leichtfertige

und so zu bleiben entschlossene

Sallie McBride

PS: Eure Einladung kommt gerade zur rechten Zeit. Ein bezaubernder junger Politiker namens Gordon Hallock soll sich nächste Woche ebenfalls in New York aufhalten. Ich bin sicher, Ihr werdet ihn mögen, wenn Ihr ihn erst näher kennenlernt.

PPS: Sallie bei ihrem Nachmittagsspaziergang, wie Judy sie gern sähe:

Ich frage noch einmal: Seid Ihr beide verrückt geworden?

John-Grier-Heim,15. Februar

Liebe Judy,

um elf Uhr gestern Abend sind wir im Schneesturm hier angekommen, Singapur und Jane und ich. Es scheint für Leiterinnen von Waisenhäusern nicht üblich, zum Dienstantritt eine eigene Zofe und einen Chow-Chow mitzubringen. Der Nachtwächter und die Haushälterin, die aufgeblieben waren, um mich zu empfangen, waren vor Aufregung ganz außer sich. So etwas wie Sing hatten sie noch nie gesehen und glaubten, ich wolle einen Wolf unter ihre Herde Schäfchen setzen. Ich beruhigte sie, dass er ganz und gar Hund sei, und nachdem der Nachtwächter seine schwarzblaue Zunge betrachtet hatte, wagte er einen Scherz: Er wollte wissen, ob ich den Hund mit Heidelbeerkuchen füttere.

Es war nicht leicht, für meinen Haushalt Unterkunft zu finden. Der arme Sing wurde winselnd in einen unbekannten Holzschuppen gezerrt, wo man ihm ein Stück Sackleinen hinlegte. Jane erging es kaum besser. Es gab im ganzen Gebäude kein freies Bett mehr außer einem ein Meter sechzig langen Kinderbett im Krankenzimmer. Sie ist jedoch, wie Ihr wisst, eher eins achtzig groß. Wir legten sie hinein, und sie schlief zusammengefaltet wie ein Klappmesser. Heute ist sie den ganzen Tag herumgehumpelt und sah aus wie ein ziemlich mitgenommenes großes S. Sie beklagt die neuesten Eskapaden ihrer launischen Herrin und sehnt die Zeit herbei, wenn wir endlich wieder zur Besinnung kommen und an den elterlichen Herd in Worcester zurückkehren.

Ich weiß, sie nimmt mir alle Chancen, mich beim Rest der Belegschaft beliebt zu machen. Sie mit hierherzubringen, ist die albernste Idee, die je ausgedacht wurde, aber Du kennst ja meine Familie. Ich habe ihre Einwände Schritt für Schritt entkräftet, aber was Jane angeht, waren sie unnachgiebig. Wenn ich sie mitnahm, damit sie darauf achtet, dass ich nahrhaft esse und nicht die ganze Nacht aufbleibe, durfte ich herkommen, jedenfalls vorübergehend; doch wenn ich das ablehnte – du meine Güte, ich weiß nicht, ob ich jemals wieder die Schwelle von Stone Gate hätte überschreiten dürfen! So sind wir nun also beide hier, und beide nicht sonderlich willkommen, fürchte ich.

Heute Morgen um sechs weckte mich ein Gong. Ich blieb eine Weile im Bett liegen und lauschte dem Radau, den fünfundzwanzig Mädchen über mir im Bad veranstalteten. Es scheint, als würden sie nicht baden oder duschen, sondern sich nur das Gesicht waschen, aber sie planschen herum wie fünfundzwanzig Welpen in einem Schwimmbecken. Ich stand auf, zog mich an und erkundete das Haus ein wenig. Es war ein kluger Schachzug von Dir, dass ich mir das Haus nicht ansehen konnte, bevor ich zusagte.

Ich hielt es für eine günstige Gelegenheit, mich meinen Anvertrauten beim Frühstück vorzustellen, also machte ich mich auf die Suche nach dem Speisesaal. Ein Schrecken jagte den nächsten – diese kahlen, öden Wände, das Wachstuch auf den Tischen, das Blechgeschirr, die Holzbänke, und als Dekoration nur ein illustrierter Bibeltext: »Der Herr wird es richten!« Wer auch immer im Stiftungsrat für diese Nuance verantwortlich war, hat damit einen düsteren Humor bewiesen.

Ehrlich, Judy, ich hatte bisher keine Ahnung, dass es auf der Welt einen so ganz und gar hässlichen Ort geben kann; und als ich die vielen Reihen bleicher, lustloser Kinder in blauen Uniformen sah, traf mich die ganze Trostlosigkeit meiner Aufgabe plötzlich mit voller Härte, und ich wäre beinahe zusammengebrochen. Es schien mir ein unmögliches Vorhaben, dass ein Mensch allein Sonnenschein auf hundert kleine Gesichter zaubern soll, wo sie doch eigentlich alle eine eigene Mutter brauchen.

Ich habe mich recht leichtfertig in diese Sache hineingestürzt, teilweise, weil Ihr beiden so überzeugend wart, vor allem aber, wenn ich ganz ehrlich bin, weil dieser niederträchtige Gordon Hallock bei der Vorstellung, dass ich ein Waisenhaus leiten sollte, so brüllend gelacht hat. Alle zusammen habt Ihr mich irgendwie hypnotisiert. Und nachdem ich mich dann in das Thema eingelesen und alle siebzehn Institutionen besucht hatte, war ich natürlich ganz eingenommen von den Waisen und wollte meine Ideen unbedingt in die Praxis umsetzen. Doch jetzt bin ich recht fassungslos, mich in dieser Position wiederzufinden; es ist so ein ungeheures Unternehmen. Die zukünftige Gesundheit und Zufriedenheit von einhundert jungen Menschen liegt in meiner Hand, gar nicht zu reden von den drei- oder vierhundert Kindern, die sie haben werden, und den tausend Enkelkindern. Die Sache verhält sich geometrisch progressiv. Schrecklich. Wer bin ich, diese Aufgabe zu übernehmen? Sucht bitte, oh bitte, nach einer anderen Leiterin!

Jane sagt, das Abendessen ist fertig. Nachdem ich zwei Mahlzeiten in Eurer Einrichtung verzehrt habe, erfüllt mich der Gedanke an die nächste mit wenig Vorfreude.

Später

Die Belegschaft hatte Lammfrikadellen mit Spinat und zum Nachtisch Tapiokapudding. Was die Kinder bekommen haben, möchte ich mir gar nicht vorstellen.

Ich habe ja angefangen, von meiner ersten offiziellen Ansprache heute Morgen beim Frühstück zu berichten. Sie drehte sich um all die wundervollen Veränderungen, die dem John-Grier-Heim bevorstehen, dank der Großzügigkeit von Mr Jervis Pendleton, dem Vorsitzenden des Stiftungsrates, und von Mrs Pendleton, für alle Jungen und Mädchen hier die liebe »Tante Judy«.

Ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen, dass ich die Familie Pendleton so in den Mittelpunkt gestellt habe. Das hatte taktische Gründe. Da die gesamte Belegschaft der Einrichtung anwesend war, nutzte ich die Gelegenheit, deutlich zu betonen, dass all diese beunruhigenden Umwälzungen direkt vom Hauptquartier angeordnet sind und nicht meinem leicht erregbaren Hirn entstammen.

Die Kinder hörten auf zu essen und starrten mich an. Meine auffällige Haarfarbe und meine frivole Nasenspitze sind für eine Heimleiterin offenbar ganz neue Attribute. Meine Mitarbeiter ließen übrigens offen durchblicken, dass sie mich für zu jung und zu unerfahren halten, mit solcher Autorität ausgestattet zu werden. Jervis’ wundervollen schottischen Arzt habe ich noch nicht zu Gesicht bekommen, aber ich kann Euch versichern, er müsste schon SEHR wundervoll sein, um den Rest der Mannschaft aufzuwiegen, vor allem die Kindergartenleiterin. Miss Snaith und ich sind gleich zu Beginn beim Thema Frischluft aneinandergeraten; aber ich bin fest entschlossen, dem Haus den grässlichen Institutionsgeruch auszutreiben, und wenn ich dabei jedes Kind in eine kleine Eisstatue verwandeln muss.

Weil der Schnee in der Nachmittagssonne gleißte, ordnete ich an, das Verlies von einem Spielzimmer zu schließen und die Kinder im Freien spielen zu lassen.

»Sie jagt uns nach draußen«, hörte ich einen kleinen Bengel grummeln, als er sich in einen zwei Jahre zu kleinen Mantel zwängte.

Und dann standen sie einfach auf dem Hof herum, alle mit hochgezogenen Schultern in ihre dicken Kleider gewickelt, und warteten geduldig darauf, wieder hineinzudürfen. Kein Gerenne oder Geschrei oder Rutschen oder Schneeballwerfen. Stell Dir mal vor! Diese Kinder wissen nicht, wie man spielt.

Noch später

Ich habe mich bereits der angenehmen Aufgabe gewidmet, Euer Geld auszugeben. Heute Nachmittag habe ich elf Wärmflaschen gekauft (den gesamten Bestand der dörflichen Drogerie), dazu ein paar Wolldecken und Steppdecken. Und jetzt sind die Fenster im Säuglingszimmer sperrangelweit offen. Die armen kleinen Knirpse werden das ganz neue Gefühl kennenlernen, nachts atmen zu können.

Ich möchte noch über eine Million Dinge murren, aber es ist schon halb elf, und Jane sagt, ich MUSS ins Bett.

Deine befehlshabende

Sallie McBride

PS: Bevor ich mich endgültig hinlegte, bin ich noch einmal durch den Flur geschlichen, um zu überprüfen, ob alles in Ordnung ist, und was glaubst Du, was ich da entdeckte? Miss Snaith, die leise alle Fenster im Säuglingszimmer schloss! Sobald ich eine passende Stellung in einem Altenheim für sie finde, werde ich diese Frau entlassen.

Jane nimmt mir den Füllfederhalter aus der Hand.

Gute Nacht.

John-Grier-Heim,20. Februar

Liebe Judy:

Dr. Robin MacRae kam heute Nachmittag zu Besuch, um die Bekanntschaft der neuen Heimleiterin zu machen. Bitte lade ihn bei seinem nächsten Besuch in New York zum Abendessen ein, damit Du selbst sehen kannst, was Dein Ehemann angerichtet hat. Als er mich glauben machte, einer der großen Vorzüge meiner Stellung hier sei der tägliche Austausch mit einem brillanten, glänzenden, gelehrten und charmanten Mann wie Dr. MacRae, hat er die Fakten aufs Übelste verbogen.

Der Doktor ist groß und ziemlich dünn, hat sandblondes Haar und kalte graue Augen. In der ganzen Stunde, die er in meiner Gesellschaft verbrachte (und ich war sehr lebhafte Gesellschaft), hat nicht der leiseste Anflug eines Lächelns seine schnurgeraden Lippen gekräuselt. Kann ein Anflug kräuseln? Vielleicht nicht, aber wie dem auch sei, was ist bloß LOS mit dem Mann? Bereut er ein schreckliches Verbrechen oder ist seine Schweigsamkeit nur seinem schottischen Charakter geschuldet? Er ist ungefähr so gesellig wie ein Grabstein aus Granit!

Und übrigens fand unser Doktor an mir genauso wenig Gefallen wie ich an ihm. Er hält mich für leichtfertig und inkonsequent und vollkommen ungeeignet für eine derartige Vertrauensstellung. Ich vermute stark, dass Jervis bereits einen Brief von ihm in Händen hält, in dem er um meine Abberufung ersucht.

Im Gespräch fanden wir überhaupt nicht zueinander: Er dozierte lang und breit über die schädlichen Auswirkungen institutioneller Erziehung auf minderjährige Kinder, während ich mich in heiterem Ton über die reizlose Frisur beklagte, die den meisten unserer Mädchen verpasst wird.

Zum Beweis ließ ich Sadie Kate hereinrufen, mein Waisenmädchen für besondere Aufträge. Ihre Haare sind so straff zurückgebunden, als hätte man sie mit dem Schraubenschlüssel festgezogen, und hinten zu zwei drahtigen Zöpfen geflochten. Die Ohren unserer Waisen müssen auf jeden Fall weicher umspielt werden. Doch Dr. Robin MacRae schert es keinen Deut, ob ihre Ohren ansprechend wirken oder nicht; ihn interessiert ganz allein ihr Magen. Auch beim Thema »rote Unterröcke« kamen wir nicht zusammen. Mir will nicht einleuchten, wie ein Mädchen auch nur eine Spur von Selbstachtung bewahren kann, wenn sie einen roten Flanell-Unterrock tragen muss, der zwei oder drei Zentimeter unter ihrem blau karierten Baumwollkittel hervorschaut; er jedoch findet rote Unterröcke fröhlich, warm und hygienisch. Ich sehe kriegsähnliche Zustände für die Herrschaft der neuen Leiterin voraus.

Nur ein Aspekt an diesem Arzt ist uneingeschränkt zu begrüßen: Er ist beinahe ebenso neu wie ich und kann mir keine Vorträge über die Traditionen des Waisenhauses halten. Ich glaube, mit dem alten Arzt hätte ich GARNICHT arbeiten können, denn wenn ich mir die hier verbliebenen Beispiele seiner Heilkunst anschaue, verstand er von Säuglingen in etwa so viel wie ein Tierarzt.

Was nun die Waisenhausbräuche angeht, hat sich die gesamte Belegschaft meiner Aufklärung angenommen. Selbst die Köchin hat mir heute Morgen nachdrücklich versichert, dass es im John-Grier-Heim am Mittwochabend immer Maisbrei gibt.

Sucht Ihr schon eifrig nach einer neuen Heimleiterin? Ich werde bleiben, bis sie eintrifft, aber bitte beeilt Euch mit dem Finden.

Deine unwiderruflich entschlossene

Sallie McBride

Büro der HeimleiterinJohn-Grier-Heim,21. Februar

Lieber Gordon,

bist Du immer noch beleidigt, weil ich Deinen Ratschlag nicht annehmen wollte? Weißt Du denn nicht, dass ein rothaariger Mensch mit irischen Vorfahren – mit einem Schuss Schottland darin – sich niemals zu etwas treiben lässt, sondern sanft geleitet werden muss? Hättest Du weniger unangenehm gedrängt, hätte ich Dir brav zugehört und wäre gerettet worden. So aber habe ich, das gebe ich freimütig zu, die letzten fünf Tage unseren Streit bereut. Du hattest recht, ich nicht, und wie Du siehst, räume ich meinen Irrtum gern ein. Sollte ich aus meiner derzeitigen Notlage je wieder entrinnen, werde ich mich in Zukunft (fast immer) von Deinem Urteil leiten lassen. Einen so weitreichenden Widerruf macht eine Frau so gut wie nie!

Der romantische Glanz, den Judy diesem Waisenhaus verliehen hat, existiert nur in ihrer poetischen Fantasie. Das Haus ist GRAUENHAFT. Es lässt sich in Worten kaum ausdrücken, wie trostlos und trübselig es ist, und wie es riecht! Lange Flure, kahle Wände; kleine Insassen in blauen Uniformen und mit teigbleichen Gesichtern, die nicht im Geringsten wie kleine Menschenkinder wirken. Ach ja, und der grässliche Geruch solcher Einrichtungen! Ein Gemisch aus feuchten, geschrubbten Fußböden, ungelüfteten Zimmern und Essen für hundert Leute, das ständig auf dem Herd köchelt.

Nicht nur das ganze Waisenhaus muss umgebaut und hergerichtet werden, auch jedes einzelne Kind braucht neuen Schliff, und diese Herkulesaufgabe ist zu viel für eine so selbstsüchtige, verwöhnte und faule Person wie Sallie McBride. Ich trete von meinem Posten zurück, sobald Judy eine geeignete Nachfolgerin gefunden hat, doch ich fürchte, das wird nicht so bald geschehen. Sie ist in den Süden gereist und lässt mich hier hängen, und nachdem ich es ihr versprochen habe, kann ich ihr Waisenhaus natürlich nicht einfach im Stich lassen. Doch ich kann Dir immerhin versichern, dass ich großes Heimweh habe.

Schreib mir einen aufmunternden Brief, schick mir ein paar Blumen, um meine Privatgemächer fröhlicher zu machen. Die habe ich möbliert von Mrs Lippett geerbt. Die Wände sind braunrot tapeziert; davor stehen leuchtend blaue Plüschmöbel, abgesehen vom Kaffeetisch, der ist vergoldet. Beim Teppich dominieren Grüntöne. Wenn Du mir also ein paar rosarote Rosenknospen schicken würdest, wäre die Farbpalette komplett.

Ich habe mich an jenem letzten Abend wirklich widerwärtig benommen, aber das hat sich gerächt.

Deine reuevolle

Sallie McBride

PS: Wegen des schottischen Arztes hättest Du nicht zu murren brauchen. Der Mann ist genau so, wie man sich einen Schotten vorstellt. Ich habe ihn auf den ersten Blick verabscheut, und er mich ebenso. Ach, wir werden aufs Erfreulichste zusammenarbeiten.

John-Grier-Heim,22. Februar

Mein lieber Gordon,

Deine energische und teure Botschaft ist angekommen. Ich weiß, Du hast genug Geld, aber das ist kein Grund, es so leichtfertig aus dem Fenster zu werfen. Wenn Dir das Herz so voll ist, dass nur ein Telegramm von hundert Worten es vor der Explosion bewahren kann, dann mach daraus wenigstens einen Übernacht-Expressbrief. Meine Waisen könnten das Geld gebrauchen, wenn Du es schon nicht benötigst.

Außerdem, mein werter Herr, könnten Sie vielleicht ein wenig gesunden Menschenverstand walten lassen. Natürlich kann ich das Waisenhaus nicht einfach so sorglos seinem Schicksal überlassen, wie Du das vorschlägst. Das wäre nicht fair Judy und Jervis gegenüber. Wenn Du mir die direkte Bemerkung verzeihst: Sie sind schon viele Jahre länger als Du meine Freunde, und ich habe nicht die Absicht, sie so hängen zu lassen. Ich bin hier voller – nun, nennen wir es Abenteuerlust eingetroffen, und nun muss ich das Projekt auch weiterführen. Als Drückebergerin würdest Du mich nicht mögen. Das soll nicht heißen, dass ich mich zu einer lebenslangen Haft in dieser Institution verurteile; ich habe immer noch vor, bei der ersten Gelegenheit zurückzutreten. Aber ich sollte auch ein wenig dankbar sein, dass die Pendletons mir eine solch verantwortungsvolle Aufgabe zugetraut haben. Auch wenn Du, mein Lieber, nicht damit gerechnet hast, verfüge ich doch über beträchtliche administrative Fähigkeiten und mehr Urteilsvermögen, als der äußere Anschein vermuten lässt. Würde ich mich entschließen, die Sache hier mit ganzem Herzen zu betreiben, könnte ich die herrlichste Heimleiterin werden, die einhundertelf Waisen je bekommen könnten.

Ich nehme an, Du findest das amüsant? Aber es ist die Wahrheit. Judy und Jervis wissen es, und darum haben sie mich auch gebeten, den Posten zu übernehmen. Du siehst also: Wenn die beiden so viel Vertrauen in mich setzen, kann ich auf keinen Fall so sang- und klanglos das Handtuch werfen, wie Du andeutest. Solange ich hier bin, werde ich so viel bewerkstelligen, wie ein einzelner Mensch vierundzwanzig Stunden am Tag nur bewerkstelligen kann. Wenn ich den Laden an meine Nachfolgerin übergebe, wird sich alles schon rapide in die richtige Richtung bewegen.

Doch inzwischen lass mich hier nicht verschmachten, weil Du meinst, ich sei ohnehin zu beschäftigt für jeden Anflug von Heimweh; so ist es nämlich nicht. Jeden Morgen, wenn ich erwache, starre ich Mrs Lippetts Tapete wie durch eine Art Nebel an, so als wäre es nur ein schlechter Traum und ich gar nicht wirklich hier. Was habe ich mir um Himmels willen dabei gedacht, als ich mein fröhliches kleines Zuhause und die schönen Tage hinter mir gelassen habe, die mir doch eigentlich rechtmäßig zustehen? Ich teile Deine Einschätzung meines Geisteszustands immer häufiger.

Aber warum machst Du, wenn ich fragen darf, so einen Aufstand? Du würdest mich doch ohnehin nicht zu Gesicht bekommen. Worcester ist von Washington ebenso weit weg wie das John-Grier-Heim. Und zu Deinem Trost möchte ich noch hinzufügen, dass es in der Umgebung dieses Waisenhauses keinen Mann gibt, der von roten Haaren verzückt ist, während es in Worcester einige sind. Darum, Du schwierigster aller Männer, sei beruhigt. Ich bin nicht bloß hierhergekommen, um Dich zu ärgern. Ich wollte auch einmal ein Abenteuer erleben, und oje! Es ist tatsächlich eins! Bitte, schreib mir bald und heitere mich auf.

In Sack und Asche,

Deine Sallie

John-Grier-Heim,24. Februar

Liebe Judy,

sag Jervis bitte, dass ich nicht vorschnell urteile. Ich bin von Natur aus liebenswürdig, heiter und arglos, ich mag so gut wie jeden Menschen. Aber diesen Schottendoktor KANN niemand mögen. Er lächelt NIE.

Heute Nachmittag hat er mir wieder einen Besuch abgestattet. Ich forderte ihn auf, in einem von Mrs Lippetts leuchtend blauen Sesseln Platz zu nehmen, und setzte mich sodann ihm gegenüber, um harmonisch zu plaudern. Er trug einen Anzug aus ockerfarbenem Wollstoff mit einer Spur Grün und ein wenig Gelb hineingewebt, eine Art »Heidemischung«, die wohl einem trüben, braungrauen schottischen Moor Farbe verleihen soll. Lilafarbene Socken und eine rote Krawatte mit einer Nadel aus Amethyst vervollständigten das Bild. Euer Musterknabe von einem Arzt wird mir bei der Behebung der ästhetischen Mängel dieser Einrichtung kaum eine Hilfe sein.

In den fünfzehn Minuten seiner Anwesenheit erläuterte er in prägnanten Worten, welche Veränderungen er in diesem Waisenhaus umsetzen will. ER, wohlgemerkt! Und was, wenn ich fragen darf, sind die Aufgaben einer Heimleiterin? Ist sie bloß eine Galionsfigur, die ihre Anweisungen vom gelegentlich hereinschneienden Gastarzt erhält?

Auf zum Streite, McBrides und MacRaes!

Deine empörte

Sallie

John-Grier-Heim,Montag

Lieber Dr. MacRae:

Ich sende Ihnen diese Nachricht durch Sadie Kate, weil es anscheinend unmöglich ist, sie telefonisch zu erreichen. Ist die Person, die sich Mrs McGur-r-rk mit schottisch rollendem R nennt und mitten im Satz auflegt, Ihre Haushälterin? Wenn sie oft ans Telefon geht, kann ich mir nicht vorstellen, dass Ihre Patienten noch lange Langmut mit Ihnen haben werden.

Da Sie heute Vormittag nicht wie vereinbart erschienen sind, die Maler aber schon, habe ich mir erlaubt, ein fröhliches Gelb für die Wände Ihres neuen Labors zu wählen. Ich nehme doch an, dass an Maisgelb nichts Unhygienisches ist.

Wenn Sie außerdem an diesem Nachmittag einen Augenblick erübrigen könnten, fahren Sie doch bitte zu Dr. Brice an der Water Street und nehmen sie den Zahnarztstuhl nebst Zubehör in Augenschein, der dort zum halben Preis zum Verkauf steht. Hätten wir all die reizenden Requisiten seiner Kunst hier – in einer Ecke ihres Labors –, könnte Dr. Brice seine 111 neuen Patienten viel zügiger behandeln, als wenn wir sie alle einzeln in die Water Street schaffen müssen. Finden Sie das nicht eine höchst praktische Idee? Ist mir mitten in der Nacht eingefallen, aber da ich noch nie einen Zahnarztstuhl gekauft habe, würde ich mich über professionelle Beratung freuen.

Mit freundlichen Grüßen

Ihre

S. McBride

John-Grier-Heim,1. März

Liebe Judy,

hör auf, mir Telegramme zu schicken!

Ich weiß natürlich, dass Du alles wissen willst, was hier passiert, und ich würde Dir ja auch Tagesberichte senden, aber ich finde wahrhaftig keine freie Minute. Wenn die Nacht anbricht, bin ich so müde, dass ich ohne Janes strenge Überwachung in meinen Kleidern ins Bett gehen würde.

In einiger Zeit, wenn alles hier etwas regelmäßiger läuft und ich sicher sein kann, dass meine Mitarbeiterinnen alle ihre Aufgaben vollständig erledigen, werde ich die verlässlichste Brieffreundin werden, die Du je gehabt hast.

Fünf Tage ist es her, dass ich Dir geschrieben habe, richtig? In diesen fünf Tagen ist einiges passiert. Dr. MacRae und ich haben einen Schlachtplan ausgearbeitet und kehren in dieser trägen Institution das Unterste zuoberst. Ich mag ihn immer weniger, aber wir haben eine Art Waffenstillstand geschlossen. Und ARBEITEN kann der Mann wirklich. Ich habe immer geglaubt, selbst genug Energie zu haben, aber wenn hier im Heim eine Verbesserung eingeführt werden soll, dann kann ich ihm nur hinterherhecheln. Er ist so stur und hartnäckig und dickköpfig, wie nur ein Schotte sein kann, aber von Kleinkindern versteht er was. Das ist ganz wörtlich gemeint: Er versteht, wie sie körperlich funktionieren; persönliche Gefühle hat er für sie ebenso wenig wie für Frösche, die er womöglich seziert.

Erinnerst Du Dich, wie Jervis eines Abends eine geschlagene Stunde lang über die hehren humanitären Ideale unseres Herrn Doktor doziert hat? Zum Totlachen! Der Mann betrachtet das Waisenhaus als sein privates Labor, wo er seine wissenschaftlichen Experimente durchführen kann, ohne dass ihm liebende Eltern dazwischenfunken. Es würde mich nicht überraschen, wenn ich ihn eines Tages dabei erwische, wie er den Kindern Scharlacherreger in den Haferbrei mischt, um ein neu entwickeltes Gegenmittel zu testen.

Von der Belegschaft des Hauses scheinen mir nur zwei wirklich etwas zu taugen: die Grundschullehrerin und der Mann, der den Heizkessel betreut. Du solltest mal sehen, wie die Kleinen Miss Matthews entgegenlaufen und um Liebkosungen betteln, und wie ausgesucht höflich sie sich den anderen Lehrern gegenüber benehmen. Kinder erkennen einen Charakter besonders rasch. Es wäre mir sehr peinlich, wenn sie mir gegenüber allzu höflich wären.

Sobald ich mich ein bisschen besser zurechtfinde und genau weiß, was wir brauchen, werde ich umfassende Entlassungen vornehmen. Am liebsten würde ich bei Miss Snaith anfangen; aber ich habe entdeckt, dass sie die Nichte eines unserer großzügigsten Stifter ist und daher mehr oder weniger unkündbar. Sie ist eine formlose, kinnlose, blassäugige Kreatur, die durch die Nase redet und durch den Mund atmet. Nie kann sie entschlossen etwas sagen und dann schweigen; ihre Sätze versanden alle in unverständlichem Gemurmel. Jedes Mal, wenn ich die Frau sehe, packt mich der unwiderstehliche Drang, sie an den Schultern zu packen und ihr ein bisschen Entschiedenheit ins Hirn zu schütteln. Und diese Miss Snaith hat die alleinige Aufsicht über siebzehn kleine Würmchen zwischen zwei und fünf Jahren gehabt! Aber wenn ich sie schon nicht entlassen kann, so habe ich sie doch immerhin auf einen untergeordneten Posten verschoben, ohne dass sie es gemerkt hat.

Der Arzt hat ein reizendes Mädchen für mich gefunden, die ein paar Kilometer von hier wohnt und jeden Tag kommt, um den Kindergarten zu leiten. Sie hat große, sanfte, braune Augen wie eine Kuh und wirkt sehr mütterlich (dabei ist sie erst neunzehn), und die Kleinen lieben sie.

Die Leitung der Kinderkrippe habe ich einer fröhlichen, zufriedenen Frau mittleren Alters übertragen, die selbst schon fünf Kinder großgezogen hat und ein Händchen für Babys hat. Die hat unser Herr Doktor auch gefunden. Du siehst, er ist also doch ganz nützlich. Streng genommen untersteht sie Miss Snaith, aber sie reißt schon sehr zufriedenstellend die Führung an sich. Jetzt kann ich nachts ruhig schlafen, ohne fürchten zu müssen, dass meine Kleinen aus Ahnungslosigkeit umgebracht werden.

Du siehst also, die Reformen kommen in Gang; und wenn ich auch mit aller mir zu Gebote stehenden Klugheit nachgebe, wenn es um die grundlegenden wissenschaftlichen Umwälzungen unseres Herrn Doktor geht, so lassen sie mich doch gelegentlich kalt. Mir geht immer und immer wieder die Frage im Kopf herum: Wie kann ich genug Liebe und Wärme und Sonnenschein in das trübselige Leben dieser kleinen Menschen bringen? Und ich bin nicht überzeugt, dass die Wissenschaft des Herrn Doktor das schaffen kann.

Eine unserer dringendsten GEISTIGEN Aufgaben ist die Neuordnung unserer Unterlagen. Die Bücher sind empörend unordentlich geführt worden. Mrs Lippett hatte ein großes schwarzes Haushaltsbuch, in das sie wahllos alle Fakten gestreut hat, die ihr zufällig zu Herkunft, Verhalten und Gesundheit der Kinder über den Weg liefen. Manchmal jedoch hat sie sich wochenlang zu keinem Eintrag herabgelassen. Wenn eine Adoptionsfamilie etwas über die Herkunft eines Kindes wissen will, können wir in der Hälfte der Fälle nicht einmal sagen, wo wir das Kind herhaben!

»Wo bist du denn hergekommen, liebes Kind?«

»Der blaue Himmel hat sich aufgetan, und hier bin ich.«

So lautet die exakte Beschreibung ihrer Ankunft.

Wir brauchen jemanden im Außendienst, eine Frau, die über Land fährt und alle Herkunftsdaten sammelt, die sie über unsere kleinen Küken finden kann. Das dürfte leichtfallen, denn die meisten haben Verwandtschaft. Was hältst Du davon, Janet Ware den Job zu geben? Du weißt doch noch, was für ein Fuchs sie in Wirtschaftskunde war? Von Tabellen und Diagrammen und Untersuchungen konnte sie nie genug kriegen.

Ich muss Dir außerdem mitteilen, dass unsere Waisen sich einer äußerst gründlichen körperlichen Untersuchung unterziehen müssen, und die schockierende Wahrheit ist, dass von den bisher untersuchten achtundzwanzig kleinen Würmern nur fünf allen Anforderungen genügt haben. Und die fünf sind noch nicht sehr lange hier.

Erinnerst Du Dich an den hässlichen grünen Empfangsraum im ersten Stock? Ich habe so viel Grün wie möglich daraus entfernt und ihn als Arztlabor hergerichtet. Es enthält Waagen und Medizin und, das ist das professionellste Detail, einen Zahnarztstuhl sowie eine dieser wundervollen Bohrmaschinen. (Habe ich aus zweiter Hand von Dr. Brice im Dorf gekauft, der seine Patienten mit Emaille und Nickellegierung versorgt.) Der Bohrer wird allgemein als Höllenmaschine betrachtet, und ich als wahre Teufelin, weil ich ihn installiert habe. Doch jedes kleine Opfer, das mit Füllungen entlassen wird, darf eine Woche lang jeden Tag in mein Büro kommen und sich zwei Stückchen Schokolade abholen. Unsere Kinder sind zwar nicht besonders tapfer, aber sie sind Kämpfer, stellen wir fest. Der junge Thomas Kehoe hat dem Zahnarzt beinahe den Daumen abgebissen, nachdem er einen Tisch voller Instrumente umgetreten hatte. Man braucht sowohl Körperkraft als auch Talent, im John-Grier-Heim Zähne zu versorgen.

~

Wurde gerade unterbrochen, weil ich einer wohltätigen Dame unsere Einrichtung zeigen musste. Sie hat fünfzig irrelevante Fragen gestellt, eine Stunde meiner Zeit gestohlen, schließlich eine Träne weggewischt und mir einen Dollar für »meine armen kleinen Mündel« dagelassen.

Bisher sind meine armen kleinen Mündel von den Reformen gar nicht begeistert. Sie mögen die plötzlich hereinströmende frische Luft nicht, die Wasserflut ebenso wenig. Ich habe nämlich noch zwei Mal Baden in der Woche eingeführt, und sobald wir genug Wannen besorgt und ein paar zusätzliche Wasserhähne installiert haben, werden es SIEBEN Bäder sein.

Eine Änderung, die ich angestoßen habe, ist immerhin sehr beliebt. Unser täglicher Speiseplan ist ausgeweitet worden, was von der Köchin als Quell unnötigen Ärgers und vom Rest der Belegschaft als unmoralische Kostenerhöhung beklagt wird. SPARSAMKEIT in Großbuchstaben war so viele Jahre das leitende Prinzip dieser Institution, dass sie zu einer Art Religion geronnen ist. Ich versichere meinen furchtsamen Mitarbeitern zwanzig Mal am Tag, dass sich unsere finanzielle Ausstattung dank der Großzügigkeit unseres Stiftungsvorsitzenden exakt verdoppelt hat und dass mir außerdem von Mrs Pendleton enorme Summen für notwendige Ausgaben wie Eiscreme zur Verfügung gestellt wurden. Aber sie können das Gefühl einfach nicht unterdrücken, dass es sündhafte Verschwendung ist, diese Kinder satt zu machen.

Der Herr Doktor und ich haben die Speisepläne der Vergangenheit gründlich studiert, und wir staunen über den Geist, der sie ersonnen haben mag. Hier ist eines ihrer häufig wiederkehrenden Abendmenüs:

GEKOCHTEKARTOFFELN

GEKOCHTERREIS

PUDDING

Geradezu ein Wunder, dass die Kinder nicht bloß hundertundelf kleine Stärkeklöße geworden sind.

Wenn man sich in dieser Einrichtung umschaut, möchte man am liebsten den Dichter Robert Browning falsch zitieren:

»Vielleicht gibts den Himmel; die Hölle bestimmt;

dazwischen das John-Grier-Heim – wie man’s nimmt!«

S. McB.

John-Grier-Heim,Samstag

Liebe Judy,

Dr. Robin MacRae und ich haben gestern wieder einen Streit über eine Belanglosigkeit ausgefochten (wobei ich im Recht war), und seither verwende ich einen ganz besonderen Kosenamen für unseren Herrn Doktor. »Guten Morgen, Feind!«, lautete meine heutige Begrüßung, worüber er ganz ernsthaft verärgert war. Er sagt, er möchte nicht als Feind betrachtet werden. Er ist nämlich kein bisschen feindselig – solange ich meine Strategie ganz nach seinen Wünschen ausrichte!

Wir haben zwei neue Kinder, Isador Gutschneider und Max Yog, die uns vom Frauenhilfswerk der Baptisten übergeben wurden. Wie sind diese Kinder um Himmels willen an eine derartige Konfession geraten? Ich wollte sie zuerst gar nicht nehmen, aber die armen Baptistinnen waren sehr überzeugend und zahlen die fürstliche Summe von vier Dollar fünfzig pro Woche pro Kind. Damit sind wir 113 und ziemlich überfüllt. Ich habe ein halbes Dutzend Kinder abzugeben. Finde mir ein paar freundliche Familien, die welche adoptieren wollen.

Weißt Du, es ist recht peinlich, wenn man nicht gleich aus dem Kopf sagen kann, wie groß die eigene Familie ist, aber meine variiert offensichtlich von Tag zu Tag, wie die Börse. Ich würde sie gern ungefähr im Gleichgewicht halten. Wenn eine Frau mehr als einhundert Kinder hat, kann sie ihnen nicht mehr die individuelle Aufmerksamkeit widmen, die sie verdienen.

Montag

Dieser Brief liegt schon seit zwei Tagen auf meinem Schreibtisch, und ich habe einfach keine Zeit gefunden, eine Marke daraufzukleben. Aber jetzt habe ich offenbar einen freien Abend vor mir, darum füge ich noch ein oder zwei Seiten hinzu, ehe ich ihn auf die erfreuliche Reise nach Florida schicke.

Ich fange gerade erst an, mir einzelne Gesichter aus der Masse der Kinder zu merken. Zuerst hatte ich das Gefühl, ich würde sie nie auseinanderhalten können, sie schienen mir alle so gleich mit ihren unsagbar hässlichen Uniformen. Und antworte mir jetzt bitte nicht, dass Du die Kinder sofort neu eingekleidet haben möchtest. Das weiß ich doch; Du hast es mir schon fünf Mal gesagt. In ungefähr einem Monat werde ich mir darüber Gedanken machen können, aber im Augenblick ist ihr Innenleben noch wichtiger als ihr Äußeres.

Keine Frage: Massenhaft auftretende Waisen sprechen mich nicht an. Ich mache mir allmählich Sorgen, dass dieser berühmte Mutterinstinkt, von dem wir so viel hören, meinem Wesen fremd ist. Kinder an sich sind schmutzige, spuckende kleine Wesen, denen ausnahmslos die Nase geputzt gehört. Hier und da entdecke ich ein verschmitztes kleines Wesen, das es faustdick hinter den Ohren hat und mein Interesse vorübergehend weckt; doch meist sind sie bloß eine verschwommene Masse aus bleichen Gesichtern und blauen Karos.

Mit einer Ausnahme. Sadie Kate Kilcoyne ist schon am ersten Tag aus der Masse aufgetaucht und scheint für immer daraus hervorstechen zu wollen. Sie ist meine erwählte Botengängerin und versorgt mich täglich mit bester Unterhaltung. In diesem Waisenhaus ist in den letzten acht Jahren nichts angestellt worden, was nicht ihrem abnormen Hirn entsprungen ist. Die Geschichte dieses Kindes scheint in meinen Augen höchst außergewöhnlich, doch in Findlingskreisen ist sie offenbar recht normal. Sie wurde vor elf Jahren auf der untersten Eingangsstufe eines Wohnhauses in der 39th Street gefunden, in einem Pappkarton mit dem Etikett »Altman & Co.« schlafend.

»Sadie Kate Kilcoyne, fünf Wochen alt. Seien Sie freundlich zu ihr.«

Der Polizist, der sie aufsammelte, brachte sie ins Bellevue-Krankenhaus, wo Findlinge in der Reihenfolge ihres Eintreffens abwechselnd für »katholisch, protestantisch, katholisch, protestantisch« erklärt werden, ganz neutral und unparteiisch. Unsere Sadie Kate wurde trotz ihres Namens und ihrer blauen irischen Augen zur Protestantin gemacht. Und hier wird sie nun jeden Tag irischer, obwohl sie ihrer Taufe gemäß stets gegen jedes Detail ihres Lebens laut protestiert.

Ihre beiden kleinen schwarzen Zöpfe ragen in gegensätzliche Richtungen; ihr kleines Affengesichtchen steckt voller Schalk; sie ist energiegeladen wie ein Terrier, und man muss sie jeden Augenblick beschäftigen. Ihr Katalog an Missetaten nimmt in den Aufzeichnungen des Waisenhauses mehrere Seiten ein. Der letzte Eintrag im großen Buch lautet:

»Hat Maggie Geer überredet, einen Türknauf in den Mund zu nehmen – Bestrafung: Nachmittag im Bett, zum Abendbrot nur Cracker.«

Offenbar hatte Maggie Geer, deren dehnbarer Mund über ein erstaunliches Fassungsvermögen verfügt, den Türknauf hineinbekommen, aber nicht wieder heraus. Der Arzt wurde gerufen und löste das Problem raffiniert durch Einsatz eines gebutterten Schuhanziehers. »Monstermaul-Meg« nennt er die Patientin seither.

Du verstehst sicher, dass ich sorgsam bedacht bin, jeden Freiraum in Sadie Kates Alltag zu füllen.

Ich müsste den Stiftungsvorsitzenden wegen einer Million Probleme ansprechen. Ich finde es sehr unfreundlich von Dir und ihm, mir ein Waisenhaus aufzuhalsen und dann zum Amüsement nach Süden abzuzwitschern. Es geschähe Euch nur recht, wenn ich alles falsch anpacken würde. Wenn Ihr also in Euren Privatabteilen herumgondelt und an palmgesäumten Stränden im Mondlicht flaniert, denkt bitte an mich im nieselnassen März in New York, wo ich 113 Kindlein betreue, die eigentlich Eure sind – und seid dankbar.

Ich verbleibe

(für eine begrenzte Zeit)

S. McBride

John-Grier-HeimLeiterin

Lieber Feind,

hiermit sende ich Ihnen (im separaten Umschlag) Sammy Spier, der verlegt worden war, als Sie Ihre Morgenvisite abhielten. Miss Snaith hat ihn ans Tageslicht gebracht, nachdem Sie gegangen waren. Bitte untersuchen Sie seinen Daumen. Ich habe noch nie eine Nagelbettentzündung gesehen, doch ich würde eine solche diagnostizieren.

Mit freundlichen Grüßen

S. McBride

John-Grier-HeimLeiterin

Liebe Judy,

ich weiß noch nicht, ob die Kinder mich lieben werden oder nicht, aber meinen HUND lieben sie. Kein Lebewesen war in diesen Hallen jemals so beliebt wie Singapur. Jeden Abend dürfen drei Kinder, die sich tadellos benommen haben, ihn bürsten und kämmen, und drei andere brave Kinder dürfen ihm Essen und Trinken servieren. Doch der Höhepunkt der Woche kommt jeden Samstagmorgen, wenn die drei bravsten aller Kinder ihm ein schönes Schaumbad mit heißem Wasser und Flohseife verpassen. Das Privileg, Singapurs persönlichen Diener spielen zu dürfen, ist ein ausreichender Anreiz, um die Disziplin zu wahren.

Aber ist es nicht jammervoll unnatürlich, dass all diese Kleinen hier auf dem Land leben und doch nie ein Haustier besitzen? Dabei brauchen ausgerechnet sie doch noch mehr als andere Kinder jemanden zum Liebhaben. Ich werde ihnen irgendwie Haustiere besorgen, und wenn ich unser neues Stiftungsgeld für einen Streichelzoo ausgeben muss. Könntet Ihr nicht ein paar kleine Alligatoren und einen Pelikan aus Florida mitbringen? Jedes Lebewesen wird mit Freuden empfangen werden.

Eigentlich sollte dies mein erster »Treuhändertag« werden. Ich bin Jervis zutiefst dankbar, dass er stattdessen eine schlichte Geschäftssitzung in New York anberaumt hat, denn wir sind hier oben noch nicht auf Kleiderparade eingerichtet; wir hoffen aber, dass wir am ersten Mittwoch im April etwas vorzuzeigen haben werden. Sollten sich alle Ideen des Herrn Doktor und ein paar von mir sich in die Tat umsetzen lassen, werden unsere Treuhänder ziemlich die Augen aufsperren, wenn wir ihnen das Haus zeigen.