Lieutenant Gustl. Novelle. Textausgabe mit Anmerkungen/Worterklärungen, Editorischer Notiz, Literaturhinweisen und Nachwort - Arthur Schnitzler - E-Book

Lieutenant Gustl. Novelle. Textausgabe mit Anmerkungen/Worterklärungen, Editorischer Notiz, Literaturhinweisen und Nachwort E-Book

Arthur Schnitzler

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Beschreibung

Schnitzlers Meisterwerk von 1900 führt - erstmals in der deutschsprachigen Literatur - die konsequente Anwendung des Inneren Monologs vor. Der Leser erhält unvermittelten Einblick in das Bewusstsein des (Anti-)helden, der von Standesdünkel und Vorurteilen gesteuert den autoritäten Charakter der späten Habsburgermonarchie verkörpert. Text aus Reclams Universal-Bibliothek mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe.

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Seitenzahl: 69

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Arthur Schnitzler

Lieutenant Gustl

Novelle

Herausgegeben von Konstanze Fliedl

Reclam

Zu Arthur Schnitzlers Lieutenant Gustl gibt es in Reclams Universal-Bibliothek

• einen Lektüreschlüssel für Schülerinnen und Schüler (Nr. 15427, PDF 978-3-15-950466-7)

• Erläuterungen und Dokumente (Nr. 16017)

2002, 2009, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, StuttgartDurchgesehene Ausgabe 2009Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Made in Germany 2017RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Markender Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, StuttgartISBN 978-3-15-960043-7ISBN der Buchausgabe 978-3-15-018156-0

www.reclam.de

[7] Wie lang wird denn das noch dauern? Ich muss auf die Uhr schauen … schickt sich wahrscheinlich nicht in einem so ernsten Konzert. Aber wer sieht’s denn? Wenn’s einer sieht, so passt er gerade so wenig auf, wie ich, und vor dem brauch’ ich mich nicht zu genieren … Erst viertel auf Zehn? … Mir kommt vor, ich sitz’ schon drei Stunden in dem Konzert. Ich bin’s halt nicht gewohnt … Was ist es denn eigentlich? Ich muss das Programm anschauen … Ja, richtig: Oratorium! Ich hab’ gemeint: Messe. Solche Sachen gehören doch nur in die Kirche! Die Kirche hat auch das Gute, dass man jeden Augenblick fortgehen kann. – Wenn ich wenigstens einen Ecksitz hätt’! – Also Geduld, Geduld! Auch Oratorien nehmen ein End’! Vielleicht ist es sehr schön, und ich bin nur nicht in der Laune. Woher sollt’ mir auch die Laune kommen? Wenn ich denke, dass ich hergekommen bin, um mich zu zerstreuen … Hätt’ ich die Karte lieber dem Benedek geschenkt, dem machen solche Sachen Spaß; er spielt ja selber Violine. Aber da wär’ der Kopetzky beleidigt gewesen. Es war ja sehr lieb von ihm, wenigstens gut gemeint. Ein braver Kerl, der Kopetzky! Der einzige, auf den man sich verlassen kann … Seine Schwester singt ja mit unter denen da oben. Mindestens hundert Jungfrauen, alle schwarz gekleidet; wie soll ich sie da herausfinden? Weil sie mitsingt, hat er auch das Billet gehabt, der Kopetzky … Warum ist er denn nicht selber gegangen? – Sie singen übrigens sehr schön. Es ist sehr erhebend – sicher! Bravo! bravo! … Ja, applaudieren wir mit. Der neben mir klatscht wie verrückt. Ob’s ihm wirklich so gut gefällt? – Das Mädel drüben in der Loge ist sehr hübsch. Sieht sie mich an oder den Herrn dort mit dem blonden Vollbart? … [8] Ah, ein Solo! Wer ist das? Alt: Fräulein Walker, Sopran: Fräulein Michalek … das ist wahrscheinlich Sopran … Lang’ war ich schon nicht in der Oper. In der Oper unterhalt’ ich mich immer, auch wenn’s langweilig ist. Übermorgen könnt’ ich eigentlich wieder hineingeh’n, zur »Traviata«. Ja, übermorgen bin ich vielleicht schon eine tote Leiche! Ah, Unsinn, das glaub’ ich selber nicht! Warten S’ nur, Herr Doktor, Ihnen wird’s vergeh’n, solche Bemerkungen zu machen! Das Nasenspitzel hau’ ich Ihnen herunter …

Wenn ich die in der Loge nur genau sehen könnt’! Ich möcht’ mir den Operngucker von dem Herrn neben mir ausleih’n, aber der frisst mich ja auf, wenn ich ihn in seiner Andacht stör’ … In welcher Gegend die Schwester vom Kopetzky steht? Ob ich sie erkennen möcht’? Ich hab’ sie ja nur zwei oder drei Mal gesehen, das letzte Mal im Offizierskasino … Ob das lauter anständige Mädeln sind, alle hundert? O jeh! … »Unter Mitwirkung des Singvereins«! – Singverein … komisch! Ich hab’ mir darunter eigentlich immer so was Ähnliches vorgestellt, wie die Wiener Tanzsängerinnen, das heißt, ich hab’ schon gewusst, dass es was anderes ist! … Schöne Erinnerungen! Damals beim »Grünen Tor« … Wie hat sie nur geheißen? Und dann hat sie mir einmal eine Ansichtskarte aus Belgrad geschickt … auch eine schöne Gegend! – Der Kopetzky hat’s gut, der sitzt jetzt längst im Wirtshaus und raucht seine Virginia! …

Was guckt mich denn der Kerl dort immer an? Mir scheint, der merkt, dass ich mich langweil’ und nicht herg’hör … Ich möcht’ Ihnen raten, ein etwas weniger freches Gesicht zu machen, sonst stell’ ich Sie mir nachher im Foyer! – Schaut schon weg! … Dass sie alle vor meinem Blick so eine Angst hab’n … »Du hast die schönsten Augen, die mir je vorgekommen sind!« hat neulich die Steffi gesagt … O Steffi, Steffi, Steffi! – Die Steffi ist eigentlich schuld, dass ich dasitz’ und mir stundenlang [9] vorlamentieren lassen muss. – Ah, diese ewige Abschreiberei von der Steffi geht mir wirklich schon auf die Nerven! Wie schön hätt’ der heutige Abend sein können. Ich hätt’ große Lust, das Brieferl von der Steffi zu lesen. Da hab’ ich’s ja. Aber wenn ich die Brieftasche herausnehm’, frisst mich der Kerl daneben auf! – Ich weiß ja, was drinsteht … sie kann nicht kommen, weil sie mit »ihm« nachtmahlen gehen muss. … Ah, das war komisch vor acht Tagen, wie sie mit ihm in der Gartenbaugesellschaft gewesen ist, und ich vis-à-vis mit’m Kopetzky; und sie hat mir immer die Zeichen gemacht mit den Augerln, die verabredeten. Er hat nichts gemerkt – unglaublich! Muss übrigens ein Jud’ sein! Freilich, in einer Bank ist er, und der schwarze Schnurrbart … Reservelieutenant soll er auch sein! Na, in mein Regiment sollt’ er nicht zur Waffenübung kommen! Überhaupt, dass sie noch immer so viel Juden zu Offizieren machen – da pfeif ich auf’n ganzen Antisemitismus! Neulich in der Gesellschaft, wo die G’schicht’ mit dem Doktor passiert ist bei den Mannheimers … die Mannheimer selber sollen ja auch Juden sein, getauft natürlich … denen merkt man’s aber gar nicht an – besonders die Frau … so blond, bildhübsch die Figur … War sehr amüsant im ganzen. Famoses Essen, großartige Zigarren … Na ja, wer hat’s Geld? …

Bravo, bravo! Jetzt wird’s doch bald aus sein? – Ja, jetzt steht die ganze G’sellschaft da droben auf … sieht sehr gut aus – imposant! – Orgel auch? … Orgel hab’ ich sehr gern … So, das lass’ ich mir g’falln – sehr schön! Es ist wirklich wahr, man sollt’ öfter in Konzerte gehen … Wunderschön ist’s g’wesen, werd’ ich dem Kopetzky sagen … Werd’ ich ihn heut’ im Kaffeehaus treffen? – Ah, ich hab’ gar keine Lust, in’s Kaffeehaus zu geh’n; hab’ mich gestern so gegiftet! Hundertsechzig Gulden auf einem Sitz verspielt – zu dumm! Und wer hat alles gewonnen? Der Ballert, grad’ der, der’s nicht notwendig hat … Der Ballert ist eigentlich [10] schuld, dass ich in das blöde Konzert hab’ geh’n müssen … Na ja, sonst hätt’ ich heut’ wieder spielen können, vielleicht doch was zurückgewonnen. Aber es ist ganz gut, dass ich mir selber das Ehrenwort gegeben hab’, einen Monat lang keine Karte anzurühren … Die Mama wird wieder ein G’sicht machen, wenn sie meinen Brief bekommt! – Ah, sie soll zum Onkel geh’n, der hat Geld wie Mist; auf die paar hundert Gulden kommt’s ihm nicht an. Wenn ich’s nur durchsetzen könnt’, dass er mir eine regelmäßige Sustentation giebt … aber nein, um jeden Kreuzer muss man extra betteln. Dann heißt’s wieder: Im vorigen Jahr war die Ernte schlecht! … Ob ich heuer im Sommer wieder zum Onkel fahren soll auf vierzehn Tag’? Eigentlich langweilt man sich dort zum Sterben … Wenn ich die … wie hat sie nur geheißen? … Es ist merkwürdig, ich kann mir keinen Namen merken! … Ah, ja: Etelka! … Kein Wort deutsch hat sie verstanden, aber das war auch nicht notwendig … hab’ gar nichts zu reden brauchen! … Ja, es wird ganz gut sein, vierzehn Tage Landluft und vierzehn Nächt’ Etelka oder sonstwer … Aber acht Tag’ sollt’ ich doch auch wieder beim Papa und bei der Mama sein … Schlecht hat sie ausg’seh’n heuer zu Weihnachten … Na, jetzt wird die Kränkung schon überwunden sein. Ich an ihrer Stelle wär’ froh, dass der Papa in Pension gegangen ist. – Und die Klara wird schon noch einen Mann kriegen … Der Onkel kann schon was hergeben … Achtundzwanzig Jahr’, das ist doch nicht so alt … Die Steffi ist sicher nicht jünger … Aber es ist merkwürdig: die Frauenzimmer erhalten sich länger jung. Wenn man so bedenkt: die Maretti neulich in der »Madame Sans-Gêne« – siebenunddreißig Jahr ist sie sicher, und sieht aus … Na, ich hätt’ nicht nein g’sagt! – Schad’, dass sie mich nicht g’fragt hat …