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Seitenzahl: 81
Arthur Schnitzler
Lektüreschlüssel XL für Schülerinnen und Schüler
Von Mario Leis
Reclam
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe:
Arthur Schnitzler: Lieutenant Gustl. Hrsg. von Sabine Wolf. Stuttgart: Reclam, 2013 [u. ö.]. (Reclam XL. Text und Kontext, Nr. 19128.)
Diese Ausgabe des Werktextes ist seiten- und zeilengleich mit der in Reclams Universal-Bibliothek Nr. 18156.
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Lektüreschlüssel XL | Nr. 15512
2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2020
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN978-3-15-961771-8
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015512,7
www.reclam.de
1. Schnelleinstieg
2. Inhaltsangabe
3. Figuren
4. Form und literarische Technik
5. Quellen und Kontexte
6. Interpretationsansätze
7. Autor und Zeit
8. Rezeption
9. Prüfungsaufgaben mit Lösungshinweisen
10. Literaturhinweise/Medienempfehlungen
11. Zentrale Begriffe und Definitionen
Autor
Arthur Schnitzler (1862−1931), Studium der Medizin – 1882/83: Militärischer Dienst als Einjährig-Freiwilliger – ab 1885 als promovierter Arzt tätig, auch in der Psychiatrie – am 14. Juni 1901 wird Schnitzler wegen des Lieutenant Gustl sein Offiziersrang abgesprochen
Veröffentlichung
Erstveröffentlichung: 25. Dezember 1900 in der Wiener Tageszeitung Neue Freie Presse
Gattung
Novelle
Epoche
Wiener Moderne (1890–1910) / Fin de Siècle (frz. ›Ende des Jahrhunderts‹), ca. 1890–1914
Werkaufbau
Die Novelle besteht aus einem fortlaufenden inneren Monolog, der allerdings von einem dreistündigen Schlaf Gustls unterbrochen wird.
Ort und Zeit der Handlung
Wien: Die Handlung beginnt am 4. April 1900 um 21.45 Uhr und endet ungefähr um 5.45 Uhr am nächsten Morgen. Der innere Monolog wird durch Gustls rund dreistündigen Schlaf unterbrochen: »muss Mitternacht vorbei sein« (S. 30) bis »Drei« (S. 32)
Die Novelle Lieutenant Gustl des österreichischen Schriftstellers, Mediziners und Reserveoffiziers Arthur Schnitzler erschien am 25. Dezember 1900 in der Weihnachtsbeilage der Neuen Freien Presse. Diese Veröffentlichung sorgte für einen handfesten Skandal, weil der Autor die vermeintlich heilige Standesehre der Offiziere und den Antisemitismus in der Armee der Habsburger-Monarchie kritisierte. Er wurde für diesen Text vom Militär abgestraft, indem ein Ehrenrat ihm seinen Rang als Reserveoffizier aberkannte.
Schon 1896 hatte Schnitzler die Idee zu seiner Novelle notiert, die auf eine reale Begebenheit zurückgeht: »Einer bekommt irgendwie eine Ohrfeige; – niemand erfährts. Der sie ihm gegeben, stirbt und er ist beruhigt, kommt darauf, dass er nicht an verletzter Ehre – sondern an der Angst litt, es könnte bekannt werden. –«1
Leutnant Gustl, alles andere als charakterlich gefestigt, wird in der Novelle von einem Bäckermeister im Zuge einer Drängelei in seine Schranken gewiesen, was der Offizier als schwere Kränkung seiner Ehre empfindet. Da sein Widerpart nicht satisfaktionsfähig ist, also nicht zum Duell gefordert werden darf, kann Gustl seine Ehre nicht durch ein Duell wiederherstellen, weshalb er mit dem SelbstmordgedankenGedanken spielt, sich umzubringen.
Abb. 1: Von Moritz Coschell illustriertes Cover der ersten Buchausgabe des Lieutenant Gustl, erschienen 1901 im S. Fischer Verlag
Vom ersten bis zum letzten Satz des Textes lässt der Autor die Leser an der Gedankenwelt des Leutnants teilnehmen, und zwar in Form des inneren Monologs. Lieutenant Gustl ist der erste literarische Text in der deutschsprachigen Literatur, der fast durchgängig – lediglich durch die wörtliche Rede anderer Figuren kurz unterbrochen – den inneren Monolog aufweist.
Leutnant Gustl, junger Offizier der k. u. k. Armee in Wien, wohnt am 4. April 1900 einem Konzert, einem Oratorium, bei. Sein Kamerad Kopetzky hat ihm dafür ein Billet geschenkt, das er widerwillig angenommen hat: »Hätt’ ich die Karte lieber dem Benedek geschenkt, dem machen solche Sachen Spaß; er spielt ja selber Violine. Aber da wär’ der Kopetzky beleidigt gewesen.« (S. 7)
Ein Singverein führt Felix Mendelssohn Bartholdys Paulus – Oratorium nach Worten der heiligen Schrift (1836) auf. Es stellt Sequenzen aus dem Leben des Apostels Paulus vor und verkündet eine Friedensbotschaft, die sich gegen Intoleranz, Hass und Aggression wendet.
Aber Gustl Gelangweilter Kulturbanauselangweilt sich, das wird schon im ersten Satz der Novelle deutlich: »Wie lang wird denn das noch dauern?« (S. 7) Musik ist dem Offizier fremd, er nimmt als bekennender Kulturbanause keinen Anteil am Vortrag. Obendrein weiß er noch nicht einmal, was er sich dort anhört; erst das Programmheft klärt ihn darüber auf: »Ja, richtig: Oratorium! Ich hab’ gemeint: Messe.« (S. 7)
Gustl sehnt das Ende des Konzertes herbei. Seine Gedanken schweifen derweil nach Art der freien Assoziation mehr oder weniger ziellos umher. Er ergeht sich in der Betrachtung der anderen, insbesondere Gustl und die Damenweltder weiblichen Konzertbesucher: »Das Mädel drüben in der Loge ist sehr hübsch.« (S. 7) Der Leutnant denkt an ehemalige Liebhaberinnen, die er lediglich zum Sex instrumentalisiert hat: »Etelka! … Kein Wort deutsch hat sie verstanden, aber das war auch nicht notwendig … hab’ gar nichts zu reden brauchen! …« (S. 10) Und er zerbricht sich den Kopf über seine aktuelle Geliebte: »Ah, diese ewige Abschreiberei von der Steffi geht mir wirklich schon auf die Nerven!« (S. 9) Eigentlich wollte der Leutnant den Abend mit ihr verbringen, aber einer ihrer Freier hat ihren Dienst gebucht.
Gustl machen zudem seine SpielschuldenSpielschulden zu schaffen. Am Tag zuvor hat er am Spieltisch 160 Gulden verloren, das sind rund drei seiner Monatsgehälter. Man konnte wegen unehrenhafter Schulden, wenn sie einen höheren Betrag ausmachten, zu einem ehrengerichtlichen Verfahren geladen werden, das zum Ausschluss aus der Armee führte. Manche Offiziere sahen dann als einzigen Ausweg den Selbstmord.
Gustl hat sich zwar das »Ehrenwort gegeben« (S. 10), die Finger vom Spiel zu lassen, aber die Leser ahnen, der wankelmütige Offizier wird es mit dem »Ehrenwort« nicht so ernst nehmen. Obendrein erwartet er Hilfe von seiner Familie: »Die Mama wird wieder ein G’sicht machen, wenn Sie meinen Brief bekommt! – Ah, sie soll zum Onkel geh’n, der hat Geld wie Mist; auf die paar hundert Gulden kommt’s ihm nicht an.« (S. 10)
Gustls Vorhaben, sich mit dem Konzertbesuch musisch »zu zerstreuen« (S. 7), ist offenbar misslungen. Zerstreuung sucht der Leutnant auch deshalb, weil er sich am Tag nach dem Konzert ein Das anstehende Duell mit dem RechtsanwaltDuell mit einem promovierten Rechtsanwalt liefern will – dem er jedoch, so behauptet er zumindest, keineswegs ängstlich entgegensieht, sondern eher gespannt wie einem sportlichen Wettkampf: »Heut’ heißt’s: früh in’s Bett, morgen Nachmittag frisch sein! Komisch, wie wenig ich daran denk’, so egal ist mir das!« (S. 10 f.)
Als das Konzert schließlich beendet ist, entspinnt sich – nachdem Gustl schon recht ruppig mit dem Garderobenpersonal umgegangen ist – im Gedränge ein Dialog zwischen ihm und dem Bäckermeister Habetswallner. Es geht darum, wem wohl der Vortritt gebührt. Der Handwerker verweigert ihm, dem Offizier den Vortritt, und damit – wie Gustl glaubt – die ihm angemessene Ehrerbietung. Der Leutnant sieht sich von dem ihm flüchtig bekannten Bäcker in die Schranken gewiesen, obwohl der ihn nur um »Geduld, Geduld!« (S. 15) bittet. Der unbeherrschte Gustl beleidigt den Bäckermeister: »Sie, halten Sie das Maul!« (S. 15)
Daraufhin begeht Habetswallner einen Tabubruch, indem er, der Kleinbürger, die Waffe Gustls, das Statussymbol SäbelSymbol der militärischen Ehre schlechthin, einfach festhält: »er hat den Griff von meinem Säbel in der Hand« (S. 15). Als Höhepunkt der Auseinandersetzung nennt ihn der Bäcker gar »dummer Bub« (S. 15) und droht ihm, er würde seinen Säbel zerbrechen und die Überreste an seinen Regimentskommandanten schicken.
Gustl ist außer sich angesichts dieses Angriffs auf seine Ehre. Sein erster Gedanke, als ihm klar wird, wie ihm geschieht: »Um Gotteswillen, nur kein’ Bloß kein »Skandal!«Skandal« (S. 16). Durch die Körperkraft des Bäckers, »der zufällig stärkere Fäust’ hat« (S. 20), sowie durch seine eigene Verwirrung unfähig zu reagieren, sieht Gustl seinen Beleidiger von dannen ziehen. Völlig verwirrt findet er sich schließlich auf der Straße wieder: »Um Gotteswillen, hab’ ich geträumt? … Hat er das wirklich gesagt?« (S. 16) Den Dialog zwischen den beiden Männern hat keiner gehört, darauf legt der Zivilist wert, weil er dessen »Karriere nicht verderben« (S. 16) will: »So, hab’n S’ keine Angst, ’s hat niemand was gehört« (S. 16).
Die Gedanken des Leutnants überschlagen sich beim Bemühen, den vermeintlichen Skandal einzuordnen und eine Möglichkeit zu finden, um seine beleidigte Offiziersehre wiederherzustellen. Er beginnt eine Wanderung und eine Gustls BewusstseinsodysseeBewusstseinsodyssee durch das nächtliche Wien, in deren Verlauf der Verstörte versucht, Klarheit zu finden.
Das Problem: Sein Kontrahent ist Zivilist und damit nach militärischem Ehrenkodex nicht satisfaktionsfähig. Die Ehrenrettung kann also nicht, wie es unter Angehörigen des Offiziersstandes üblich gewesen wäre, durch Austragung eines Duells erfolgen. Allerdings hat wohl keiner der Konzertbesucher die Ehrverletzung mitbekommen – solange Gustl und sein Kontrahent also darüber schweigen, könnte Gustl die Sache auf sich beruhen lassen. Aber er kommt zu dem Schluss, dass ihm »nichts anderes übrig« (S. 19) bleibt, als sich »eine Kugel vor den Kopf« (S. 18) zu schießen.
Abb. 2: Gustls Weg durch Wien
Auf seinem Weg durch die Stadt legt der Leutnant eine Rast im Prater ein, wo er auf einer Parkbank einschläft (S. 32). Der dreistündige traumlose Schlaf unterbricht den inneren Monolog und bildet somit eine Zäsur für die Novelle wie für den Gedankenstrom des Protagonisten.
Nach dem Erwachen nimmt Gustl seine Wanderung und den Fluss seiner Gedanken wieder auf. Zweites musikalisches IntermezzoOrgelklänge und Gesang, die aus einer Kirche zu ihm dringen, veranlassen ihn zum Besuch der Frühmesse (S. 37 f.). Vielleicht kann ihn die Religion wieder zu Sinnen bringen und Trost spenden: »Möcht’ in die Kirche hineingehn … am End’ ist doch was dran« (S. 38). Die Musik erinnert ihn dann jedoch an die Ereignisse des vergangenen Abends, und so verlässt er fluchtartig die Kirche: »Woran erinnert mich denn nur die Melodie? – Heiliger Himmel! gestern Abend! – Fort, fort! das halt’ ich gar nicht aus!« (S. 38)
Bevor er nach Hause geht, um seinen Entschluss, sich zu töten, wahr zu machen, kehrt er aber in einem Kaffeehaus ein und erfährt dort, dass der Bäckermeister Habetswallner