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Je früher im Lebensverlauf gesundheitsfördernde Maßnahmen wirksam werden, desto größer ist die Chance auf mehr gesunde Lebensjahre im Alter. In den letzten Jahren hat der von der WHO als Life Course Approach to Health bezeichnete Public-Health-Ansatz, der sich mit der «Gesundheit im Verlauf des Lebens» beschäftigt, zunehmend an Bedeutung gewonnen. Er beschreibt biologische, psychologische und soziale Prozesse, die während des Lebens auf die Gesundheit des Menschen einwirken und so die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung bestimmter, meist chronischer Erkrankungen erhöhen. Die Faktoren, die insbesondere vor der Geburt und während der ersten Lebensjahre - etwa während «kritischer Phasen» -, aber auch im weiteren Lebensverlauf auf ein Individuum einwirken, können einen kumulativen Effekt auf die Gesundheit des Menschen haben. Es ist daher von großer Bedeutung, den Einfluss dieser Faktoren zu kennen, um frühzeitig Maßnahmen ergreifen zu können. Auf diese Weise kann chronischen Erkrankungen schon früh im Lebensverlauf vorgebeugt werden, sodass die Chance auf mehr gesunde Lebensjahre im Alter ansteigt. Das Buch beschäftigt sich u.a. mit •den Faktoren und Mechanismen, die unsere Gesundheit im Verlauf des Lebens prägen •den Formen des sozialen Zusammenlebens in den verschiedenen Lebensaltern •den wichtigsten biologischen, psychologischen und sozialen Risikofaktoren in den einzelnen Lebensphasen •den epidemiologischen Grundlagen zu den wichtigsten Erkrankungen in den unterschiedlichen Lebensaltern •darauf aufbauenden gesundheitsfördernden und präventiven Maßnahmen Das vorliegende Buch wendet an Studierende im Gesundheitsbereich und alle, die einen schnellen Einstieg in das Thema suchen.
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Seitenzahl: 478
Lotte Habermann-Horstmeier
Nicole Bender
Kompaktreihe Gesundheitswissenschaften
Life Course Approach to Health – Gesundheit im Verlauf des Lebens
Kompakte Einführung für alle interdisziplinären Studienfächer
Kompaktreihe Gesundheitswissenschaften
Life Course Approach to Health – Gesundheit im Verlauf des Lebens
Lotte Habermann-Horstmeier, Nicole Bender
Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Gesundheit
Ansgar Gerhardus, Bremen; Klaus Hurrelmann, Berlin; Petra Kolip, Bielefeld; Milo Puhan, Zürich; Doris Schaeffer, Bielefeld
Dr. med. Lotte Habermann-Horstmeier, MPH
Leiterin des Villingen Institute of Public Health (VIPH)
Klosterring 5
78050 Villingen-Schwenningen
Deutschland
E-Mail: [email protected]
PD Dr. Dr. med. Nicole Bender
Institut für Evolutionäre Medizin
Winterthurerstrasse 190
8057 Zürich
E-Mail: [email protected]
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Lektorat Gesundheit
Länggass-Strasse 76
3012 Bern
Schweiz
Tel. +41 31 300 45 00
www.hogrefe.ch
Lektorat: Susanne Ristea
Bearbeitung: Thomas Koch-Albrecht, Münchwald/Hunsrück
Herstellung: René Tschirren
Umschlag: Claude Borer, Riehen
Illustrationen (Innenteil): Angelika Kramer, Stuttgart
Satz: Claudia Wild, Konstanz
Format: EPUB
1. Auflage 2021
© 2021 Hogrefe Verlag, Bern
(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96176-7)
(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76176-3)
ISBN 978-3-456-86176-0
https://doi.org/10.1024/86176-000
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Vorwort
Grundlagen und Fragen
1 Faktoren und Mechanismen, die unsere Gesundheit im Laufe des Lebens prägen
1.1 Geschichtliche Entwicklung hin zum Life Course Approach to Health
1.2 Modelle und Mechanismen
1.2.1 Modelle der Anhäufung von Risikofaktoren
1.2.2 Kritische-Phasen-Modelle
1.2.3 Mechanismen, die das Krankheitsrisiko beeinflussen können
1.3 Möglichkeiten für Früherkennung und Prävention
1.4 Aktuelle Entwicklungen im Bereich des Life Course Approach to Health
2 Vorgeburtliches Leben
2.1 Epidemiologie und Risikofaktoren
2.1.1 Gesundheitsrelevante Einflüsse auf die Keimzellen von Mann und Frau
2.1.2 Fehlerhafte Teilungs- und Differenzierungsvorgänge des Embryos
2.1.3 Umwelt-Risikofaktoren während der Schwangerschaft
2.1.4 Ernährung während der Schwangerschaft
2.1.5 Stress in der Schwangerschaft
2.1.6 Totgeburten
2.2 Gesundheitsförderung und Prävention
2.2.1 Schwangerschaftsberatung
2.2.2 Früherkennungsuntersuchungen
2.2.3 Pränataldiagnostik
3 Säuglingsalter und frühe Kindheit
3.1 Epidemiologie
3.1.1 Frühgeburt
3.1.2 Säuglingssterblichkeit
3.1.3 Gewichtszunahme nach der Geburt
3.1.4 Ernährung und intestinales Mikrobiom
3.1.5 Krankheiten im Säuglings- und Kleinkindesalter
3.1.6 Sozioökonomischer Status
3.2 Gesundheitsförderung und Prävention
3.2.1 Apgar-Score
3.2.2 Neugeborenen-Screening
3.2.3 Säuglings- und Kleinkinder-Vorsorgeuntersuchung
3.2.4 Gesundheitsförderungs- und Präventionsprogramme
4 Kindheit
4.1 Subjektiver Gesundheitszustand
4.2 Risikofaktoren
4.2.1 Soziale Verhältnisse und Bildung
4.2.2 Ernährung
4.2.3 Bewegung
4.3 Epidemiologie alterstypischer Erkrankungen
4.3.1 Akute Erkrankungen
4.3.2 Chronische Erkrankungen
4.4 Gesundheitsförderung und Prävention
4.4.1 Schuleingangsuntersuchung
4.4.2 Früherkennungsuntersuchungen U10 und U11
4.4.3 Gesundheitsförderungsprogramme
5 Jugendalter
5.1 Subjektiver Gesundheitszustand
5.2 Risikofaktoren
5.2.1 Soziale Verhältnisse, Bildung und Beruf
5.2.2 Eigenes Körperbild
5.2.3 Ernährung
5.2.4 Bewegung
5.2.5 Substanzgebrauch und nicht stoffgebundene Suchtmittel
5.2.6 Sexualität
5.3 Epidemiologie alterstypischer Erkrankungen
5.3.1 Akute Erkrankungen
5.3.2 Chronische Erkrankungen
5.4 Gesundheitsförderung und Prävention
5.4.1 Gesundheitsuntersuchung J1
5.4.2 Gesundheitsförderungsprogramme
6 Erwachsenenalter
6.1 Formen des sozialen Zusammenlebens
6.1.1 Familie oder Single-Dasein?
6.1.2 Kinderwunsch
6.1.3 Schwangerschaft
6.1.4 Leben mit Kindern
6.1.5 Scheidung
6.1.6 Mehrfachbelastung
6.2 Berufstätigkeit, soziale Verhältnisse und Umwelt
6.2.1 Erwerbstätigkeit und Erwerbsquote
6.2.2 Geschlechtsabhängige Unterschiede bei Ausbildung, Beruf und Einkommen
6.2.3 Erwerbstätigkeit nach Familiengründung
6.2.4 Krankschreibungen
6.2.5 Verlängerung der Lebensarbeitszeit
6.2.6 Erwerbslosigkeit und Armutsgefährdung
6.2.7 Menschen mit Behinderung
6.2.8 Umwelt und soziale Verhältnisse
6.3 Akute und chronische Krankheiten, Behinderung
6.3.1 Risikofaktoren
6.3.2 Morbidität, Behinderung und Mortalität
6.3.3 Chronische Krankheit
6.4 Gesundheitsförderung und Prävention
6.4.1 Verhinderung von Übergewicht und Bewegungsmangel
6.4.2 Suchtprävention
6.4.3 Stressprävention
6.4.4 Verhinderung von Einsamkeit
6.4.5 Tumorprävention – Maßnahmen der Früherkennung
6.4.6 Unfall- und Suizidprävention
6.4.7 Gesundheitsförderung und Prävention im Arbeitsbereich
7 Die Jungen Alten
7.1 Anstieg der Lebenserwartung und Verlängerung des Alter(n)s
7.2 Der Übergang zum Alter – die Jungen Alten
7.3 Der Gesundheitszustand der Jungen Alten
7.3.1 Subjektiver Gesundheitszustand
7.3.2 Risikofaktoren
7.3.3 Morbidität und Mortalität
7.3.4 Auswirkungen des Gesundheitszustandes auf Arbeit und Familie
7.4 Gesundheitsförderung und Prävention
7.4.1 Verhinderung von Übergewicht und Bewegungsmangel
7.4.2 Tumorprävention – Maßnahmen der Früherkennung
7.4.3 Altersgerechtes Betriebliches Gesundheitsmanagement
7.4.4 Unterstützung von Pflegenden
7.4.5 Aufbau und Unterhalt sozialer Kontakte
7.4.6 Präventive Maßnahmen bei Menschen mit chronischen Erkrankungen und Behinderung
7.4.7 Medizinische Maßnahmen als Teil der Prävention
8 Alter
8.1 Subjektiver Gesundheitszustand und ADL-Einschränkungen
8.2 Risikofaktoren
8.2.1 Über- und Untergewicht
8.2.2 Flüssigkeitskonsum
8.2.3 Mobilität
8.2.4 Rauchen und Alkohol
8.2.5 Schlaf- und Beruhigungsmittel
8.2.6 Einsamkeit
8.3 Morbidität und Mortalität
8.3.1 Chronische Erkrankungen, Multimorbidität und Behinderung
8.3.2 Seh- und Hörbehinderungen, Mundgesundheit
8.3.3 Bewegungseinschränkungen, Stürze
8.3.4 Harninkontinenz
8.3.5 Tumorerkrankungen
8.3.6 Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen
8.3.7 Demenz und Depression
8.3.8 Die häufigsten Todesursachen
8.3.9 Auswirkungen des Gesundheitszustandes auf Familie und eigenständiges Leben
8.4 Gesundheitsförderung und Prävention
8.4.1 Erhaltung von Beweglichkeit und Mobilität
8.4.2 Altersgerechte Ernährung
8.4.3 Soziale Kontakte, soziale Netzwerke und sinnstiftende Tätigkeiten
8.4.4 Verbesserte Versorgung bei chronischer Erkrankung, Multimorbidität und Behinderung
8.4.5 Alters- und behindertengerechtes Wohnen, Healing Architecture
9 Hochaltrigkeit, Sterben und Tod
9.1 Gesunde Hoch- und Höchstaltrige
9.2 Subjektiver Gesundheitszustand und Lebenszufriedenheit
9.3 Risikofaktoren
9.3.1 Über-, Unter- und Fehlernährung, Flüssigkeitskonsum
9.3.2 Bewegung
9.3.3 Kognitive, emotionale und soziale Fähigkeiten
9.3.4 Soziales Eingebundensein
9.3.5 Multimedikation
9.4 Morbidität und Multimorbidität im hohen Alter
9.4.1 Chronische Gesundheitsprobleme
9.4.2 Gebrechlichkeit – Frailty
9.4.3 Auswirkungen auf eigenständiges Leben und soziale Kontakte
9.5 Sterben und Tod
9.5.1 Letzte Aufenthaltsorte
9.5.2 Orte des Sterbens
9.5.3 Todesursachen
9.5.4 Suizid
9.6 Gesundheitsförderung und Prävention bei Hochaltrigen
Lösungsvorschläge zu den Aufgaben
10 Lösungsvorschläge zu den Aufgaben
10.1 Antwort zu Aufgabe 1
10.1.1 Antwort zu Aufgabe 1a
10.1.2 Antwort zu Aufgabe 1b
10.2 Antwort zu Aufgabe 2
10.3 Antwort zu Aufgabe 3
10.4 Antwort zu Aufgabe 4
10.4.1 Antwort zu Aufgabe 4a
10.4.2 Antwort zu Aufgabe 4b
10.5 Antwort zu Aufgabe 5
10.5.1 Antwort zu Aufgabe 5a
10.5.2 Antwort zu Aufgabe 5b
10.6 Antwort zu Aufgabe 6
10.6.1 Antwort zu Aufgabe 6a
10.6.2 Antwort zu Aufgabe 6b
10.7 Antwort zu Aufgabe 7
10.7.1 Antwort zu Aufgabe 7a
10.7.2 Antwort zu Aufgabe 7b
10.8 Antwort zu Aufgabe 8
10.8.1 Antwort zu Aufgabe 8a
10.8.2 Antwort zu Aufgabe 8b
10.9 Antwort zu Aufgabe 9
10.9.1 Antwort zu Aufgabe 9a
10.9.2 Antwort zu Aufgabe 9b
Anhang und Serviceteil
11 Glossar
12 Literaturverzeichnis
13 Abkürzungsverzeichnis
Sachwortverzeichnis
In den letzten Jahren gewann der von der WHO als Life Course Approach to Health bezeichnete Public-Health-Ansatz, der sich mit der „Gesundheit im Verlauf des Lebens“ beschäftigt, zunehmend an Bedeutung. Im Lebensverlauf wirken mannigfache biologische, psychologische und soziale Faktoren auf den Menschen ein, die seine Gesundheit in positiver oder negativer Weise beeinflussen und damit auch die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung bestimmter, meist chronischer Erkrankungen erhöhen können. Von besonderer Bedeutung sind dabei die frühen Phasen des Lebens, wie etwa die Zeit vor der Geburt und während der ersten Lebensjahre. Aber auch im weiteren Lebensverlauf können Risikofaktoren auf ein Individuum einwirken, sodass es dann mit zunehmendem Lebensalter zu kumulativen Effekten auf die Gesundheit des Menschen kommen kann. Insbesondere in den frühen Lebensphasen spielen genetische und epigenetische Mechanismen eine bedeutende Rolle. Nach der Theorie der Fetalen Programmierung bereitet sich das Ungeborene bereits während der Schwangerschaft epigenetisch auf die ihn erwartende Umwelt vor, die entweder als positiv oder negativ vorausgesehen wird. Stimmt die vorhergesehene Umwelt nicht mit der später tatsächlich angetroffenen Umwelt überein, kommt es zu einem Mismatch. Dies kann physiologische Auswirkungen haben, die dazu führen, dass das Risiko für die Entwicklung chronischer Erkrankungen (z. B. Adipositas, Diabetes mellitus Typ II) im späteren Leben deutlich ansteigt. Neben den „kritischen Phasen“ der Kindheit und Jugend, in denen verschiedenste Umwelteinflüsse das langfristige Gesundheitspotenzial stärker schädigen können als zu anderen Zeiten, beeinflussen auch die in diesem Lebensabschnitt erworbenen sozialen, sozioemotionalen und kognitiven Fähigkeiten, Bewältigungsstrategien, Gewohnheiten, Einstellungen und Werte das weitere Leben in erheblichem Maße. Im frühen und mittleren Erwachsenenalter erhöhen bereits bestehende chronische Erkrankungen und Behinderungen sowie zusätzliche biologische, psychologische und soziale Faktoren das Risiko für die Entstehung weiterer (chronischer) Erkrankungen, sodass dies langfristige gesundheitliche Auswirkungen zur Folge haben kann.
Der Life Course Approach betont somit die zeitliche und soziale Perspektive deutlich stärker als frühere Public-Health-Ansätze. Er berücksichtigt die Lebenserfahrungen von Einzelpersonen und gesellschaftlichen Gruppen in ihren jeweiligen kulturellen Kontexten. Gleichzeitig schaut er auch zeitlich zurück, um Hinweise auf die Ursachen aktueller Gesundheits- und Krankheitsmuster zu erhalten. Auf diese Weise können Faktoren frühzeitig erkannt werden, die ihren Einfluss bereits vor und während der Schwangerschaft, in der Kindheit oder Jugend, aber auch bis ins frühe und mittlere Erwachsenenalter hinein ausüben können, um dann zu Risikofaktoren für chronische Krankheiten im späteren Lebensalter zu werden. Es ist daher von großer Bedeutung, den Einfluss dieser Faktoren zu |12|kennen, um frühzeitig Maßnahmen ergreifen zu können. Auf diese Weise kann chronischen Erkrankungen schon früh im Lebensverlauf vorgebeugt werden, sodass die Chance auf mehr gesunde Lebensjahre im Alter ansteigt. Darüber hinaus identifiziert der Lebenslauf-Ansatz in Public Health aber auch wichtige gesundheitliche Risikofaktoren während der letzten Lebensphase des Menschen. Hier sollen geeignete Public-Health-Maßnahmen ein gesünderes, lebenswerteres Lebensende mit möglichst wenig gesundheitlichen Beeinträchtigungen sowie einen gesunden Umgang mit Sterben und Tod ermöglichen.
Die nach Kalache und Kickbusch (1997)* modifizierte und von uns ins Deutsche übersetzte Abbildung (oben) zeigt eindringlich die potentiellen Möglichkeiten, die früh im Lebensverlauf einsetzende Public-Health-Maßnahmen haben können, deren Ziel es ist, gesundheitlichen Beeinträchtigungen vorzubeugen und bis zum Lebensende ein gesünderes Leben zu ermöglichen.
Der vorliegende Band Gesundheit im Verlauf des Lebens – Life Course Approach to Health ist der siebte Band der Kompaktreihe Gesundheitswesen. Er wendet sich an ein breites Publikum im deutschsprachigen Raum. Als Adressaten kommen nicht nur Studierende im Gesundheitsbereich in Frage, sondern auch Akteure im Gesundheitswesen, die einen schnellen Einstieg in das Thema suchen.
Als Autorinnen dieses Buches wünschen wir uns für die Zukunft eine größere Verbreitung des Lebenslauf-Ansatzes in den Gesundheitsbereichen der deutschsprachigen Länder - insbesondere auch ein deutlich breiteres Lehr-Angebot an den Universitäten und Hochschulen. Darüber hinaus hoffen wir auf mehr Grundlagen- und angewandte Forschung zu den Möglichkeiten, chronischen Erkrankungen und Behinderungen bereits im frühen Lebensverlauf durch Public-Health-Maßnahmen vorzubeugen.
Villingen-Schwenningen und Zürich, im Mai 2021
L. Habermann-Horstmeier und N. Bender
* Abbildung modifiziert nach Kalache, A. & Kickbusch, I. (1997). A global strategy for healthy ageing. World Health. 50(4): 4-5. Geneve: World Health Organization. Verfügbar unter https://apps.who.int/iris/handle/10665/330616
Wir werden immer älter, gleichzeitig werden wir im Durchschnitt immer gesünder. Diese Aussage stimmt im Allgemeinen, sie muss jedoch je nach Lebensabschnitt differenziert werden. Denn durch die zunehmende Alterung unserer Gesellschaft nehmen sowohl die Krankheitslast im höheren Alter als auch die mit Krankheit oder Behinderung gelebten Jahre (DALYs) kontinuierlich zu. Vor allem die nicht übertragbaren Krankheiten wie Adipositas, Diabetes mellitus Typ II, Krebs, Muskel-Skelett-Erkrankungen und psychische Krankheiten nehmen einen immer größeren Stellenwert ein und belasten auch zunehmend die Gesundheitskassen weltweit.
Es ist daher wichtig, die Gesundheit des Menschen in den verschiedenen Lebensabschnitten anzuschauen, aber auch den Einfluss der vorherigen auf die nächsten Abschnitte zu kennen, um die Zusammenhänge und die Auswirkungen dieser Zusammenhänge zu verstehen. Man geht heute davon aus, dass verschiedene soziale und biologische Faktoren in jüngeren Jahren und im Laufe des Lebens einen kumulativen Effekt auf verschiedene Gesundheitsparameter haben und so zur Entstehung von Krankheiten im Erwachsenenalter beitragen können. Besonders anfällig für negative Einflüsse scheinen dabei die vorgeburtliche Zeit und die ersten Lebensjahre zu sein.
Diese Betrachtungsweise wird in der Epidemiologie und im Bereich Public Health „Lebenslauf-Ansatz“ oder Life Course Approach genannt. In der Vergangenheit wurden bereits theoretische Modelle zur Erklärung der hieran beteiligten Prozesse entwickelt, bei denen verschiedene Risiko- und Schutzfaktoren (wie z. B. Umweltfaktoren) eine Rolle spielen. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berücksichtigt den Life-Course-Ansatz in der Health 2020-Strategie mit dem Ziel, die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen weltweit zu verbessern.
Die geschichtliche Entwicklung zum Life Course Approach erfolgte aus zwei unterschiedlichen Richtungen. Bereits in den 1920er-Jahren bemerkte der amerikanische Soziologe William Isaac Thomas, dass es wichtig ist, die Lebensgeschichten und die vergangenen Erfahrungen von Menschen festzuhalten und diese in die Zukunft hinein zu verfolgen. Das Thema wurde jedoch erst ab den 1950er- und 1960er-Jahren wieder aufgegriffen, als sich nicht nur die Soziologie, sondern zunehmend auch die Psychologie für die geschichtlichen Zusammenhänge des Lebenslaufes der Menschen interessierte. In dieser Zeit wurden wichtige Prinzipien erkannt. So entdeckte man, dass die Entwicklung eines Men|16|schen ein Leben lang andauert und nicht mit dem Erreichen des Erwachsenenalters beendet ist. Verschiedene Studien konnten zeigen, dass die Lebensentscheidungen eines Individuums von seinem sozialen und geschichtlichen Umfeld abhängen (Elder, Kirkpatrick Johnson & Crosnoe, 2003).
Heutzutage kommt der Life Course Approach vor allem in den Sozial- und Erziehungswissenschaften zur Anwendung. Dabei wird zwischen drei Hauptperspektiven unterschieden. In der Biografieforschung wird der Lebenslauf von Individuen in ihrem Umfeld analysiert. Dagegen geht es in der Transitionsforschung vor allem um die Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den persönlichen Entwicklungsprozessen von Individuen, während die Lebensbewältigung Wechsel und Erweiterungen im Lebenslauf von Individuen analysiert (Alheit & von Felden, 2009). Die Deutsche Lebensverlaufsstudie (German Life History Study – GLHS) ist eines von zahlreichen Forschungsprojekten, über die derzeit weitere Daten gesammelt werden. Sie erfasst seit mehr als 20 Jahren Lebensverlaufsdaten von etwa 8500 Frauen und Männern in Westdeutschland und mehr als 2900 Frauen und Männern aus dreizehn ausgewählten Geburtsjahrgängen in Ostdeutschland und wertet sie anschließend aus.
Eine zweite, medizinisch-biologische Richtung des Life Course Approach entwickelte sich in den 1980er-Jahren. Sie geht davon aus, dass äußere Einflüsse auf das werdende Kind oder das Neugeborene bleibende gesundheitliche Veränderungen bewirken können, die sich erst sehr viel später im Laufe des Erwachsenenlebens manifestieren. Diese Hypothesen wurden unter Namen wie Fetal Origins of Adult Disease Hypothesis, Fetal Programming Hypothesis oder Developmental Origins of Adult Disease Hypothesis bekannt. So stellte der britische Epidemiologe David Barker beispielsweise einen direkten Zusammenhang zwischen ungenügender intrauteriner Ernährung und der Häufigkeit von Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Erwachsenenalter in England fest (Barker & Osmond, 1986). Seine Beobachtungen wurden seither in vielen Teilen der Welt bestätigt.
Unterstützt werden diese Hypothesen auch durch die Untersuchung verschiedener historischer Ereignisse, während derer große Menschengruppen – und damit auch schwangere Frauen – über eine längere Zeit hungerten. Das bekannteste Beispiel ist der holländische Hungerwinter 1944. Während des zweiten Weltkrieges verhinderte die deutsche NS-Regierung von November 1944 bis April 1945 als Reaktion auf einen Streik der Niederländer Nahrungslieferungen insbesondere in die westlich gelegene Provinz Holland. Die tägliche Kalorienmenge sank sukzessive bis auf 580 Kilokalorien pro Kopf und Tag, die Nahrung bestand am Schluss fast ausschließlich aus Brot und Kartoffeln. Militärische Rekrutierungsdaten der Mitte der 1960er-Jahre erlaubten eine Analyse der Auswirkungen des Hungers auf die damaligen Neugeborenen. Männer, die während des Hungerwinters geboren wurden, zeigten je nach Geburtsdatum unterschiedliche Auffälligkeiten. Diejenigen, deren Mütter sich während der dreimonatigen Belagerung im ersten Trimester der Schwangerschaft befanden, wurden im Durchschnitt normalgroß geboren. Sie entwickelten jedoch später im Leben häufiger Bluthochdruck, Fettleibigkeit und einen Diabetes mellitus. Im Gegensatz zu dieser Gruppe wurden diejenigen, deren Mütter sich während der Belagerung im dritten Trimester befanden, eher klein geboren. Sie blieben ihr ganzes Leben lang klein, entwickelten aber keine Fettleibigkeit oder entsprechende Folgekrankheiten (Ravelli, Stein & Susser, 1976).
|17|Ein ähnlicher Effekt wurde bei der Analyse der Daten aus der Zeit nach der Spanischen Grippe 1918 beobachtet, an der geschätzte 20 % der Weltbevölkerung erkrankten und ca. 50 Mio. Menschen starben. In einer Studie von 2008 wurde festgestellt, dass die Menschen, die während der Pandemie geboren wurden, ein höheres Risiko für koronare Herzkrankheiten und Nierenerkrankungen im späteren Leben aufwiesen. Dabei lag die Wahrscheinlichkeit einer koronaren Herzkrankheit bei den im vierten Quartal 1918 Geborenen um 51 % und bei den im ersten Quartal 1919 Geborenen um 11,8 % höher als bei den Ende 1919 Geborenen. Bemerkenswert ist auch, dass diejenigen, die während der Exposition bereits geboren, aber erst zwischen einem und fünf Jahre alt waren, im späteren Leben nicht merklich häufiger an koronaren Herzkrankheiten oder Nierenerkrankungen litten (Garthwaite, 2008).
Zwei epidemiologische Studien aus England hatten bereits früher gezeigt, dass niedrige Wachstumsraten während der Schwangerschaft und im Säuglingsalter mit einer erhöhten späteren Sterberate durch kardiovaskuläre Erkrankungen verbunden sind. In einer dieser Studien wurden 1586 Männer, die 1907–1925 in einer Geburtsklinik in Sheffield geboren worden waren, über die Zeit beobachtet. Diese Studie bestätigte, dass die spätere Sterblichkeitsrate durch kardiovaskuläre Erkrankungen mit zunehmendem Geburtsgewicht, Kopfumfang und Ponderal-Index (Gewicht/Körpergröße3) bei der Geburt zurückging. In der anderen Studie wurden 5654 Männer über die Zeit beobachtet, die zwischen 1911 und 1930 in Hertfordshire geboren worden waren. Die spätere Sterberate infolge koronarer Herzerkrankung war bei denen, die im Alter von einem Jahr 8 kg oder weniger wogen, fast dreimal so hoch wie bei denen, die 12 kg oder mehr wogen (Barker et al., 1993).
Heute nimmt der Life Course Approach eine wichtige Rolle in vielen Public-Health-Rahmenprogrammen ein, wie z. B. bei der WHO-Strategie Health 2020. Aber auch nationale Public-Health-Programme haben den Lebenslauf-Ansatz übernommen. Ein Beispiel hierfür sind Programme der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz, deren Aufgabe es ist, die Strategie des Schweizer Bundesrates Gesundheit 2020 mit der nationalen Strategie zur Bekämpfung nicht übertragbarer Krankheiten zu verbinden.
Um Life-Course-Strategien im Bereich Public Health zielführend entwickeln zu können, muss man genau verstehen, wie Risikofaktoren, die während des frühen Lebens auf den sich entwickelnden Menschen einwirken, und Gesundheitsparameter oder Krankheiten, die im späteren Leben Einfluss auf ihn nehmen, miteinander verbunden sind. Zur Erklärung dieser komplexen Zusammenhänge wurden verschiedene theoretische Modelle entwickelt. Dabei haben sich zwei Kategorien von Erklärungsmodellen herauskristallisiert. Dies sind zum einen Modelle, die von einer Anhäufung von Risikofaktoren während des gesamten Lebens ausgehen, und andererseits Modelle, die eine oder mehrere kritische Phasen zu Beginn des Lebens annehmen, in denen der Mensch besonders empfindlich auf äußere Einflüsse reagiert. Beide schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich bei der Erklärung des komplexen Zusammenspiels von Faktoren, die zur |18|Entstehung von Krankheiten beitragen. Es ist davon auszugehen, dass bei der Entstehung von chronischen Krankheiten sowohl kritische Zeitabschnitte zu Beginn des Lebens wie auch eine Anhäufung von Risikoereignissen während des gesamten Lebens eine Rolle spielen. Trotzdem macht es Sinn, diese Modelle getrennt anzuschauen, um ihre Stärken und Schwächen sowie ihren Beitrag zum Verständnis des Life Course Approach besser zu verstehen.
Einige dieser Erklärungsmodelle gehen davon aus, dass sich Risikofaktoren im Laufe des Lebens anhäufen. Dies kann zu verschiedenen Zeitpunkten geschehen. Dabei können auch besonders vulnerable Abschnitte – wie sehr frühe Entwicklungsperioden – mit eingeschlossen sein. Die verschiedenen Risikofaktoren können unabhängig voneinander wirken, aber auch einander verstärken oder gar bedingen.
Die Modelle, die die Summierung von Risikoereignissen voraussetzen (Abbildung 1-1, Modelle A und B), werden auch als kumulative Modelle bezeichnet. Verschiedene, während des Lebens auf den Menschen einwirkende Risikofaktoren wie Rauchen oder Stress erhöhen unabhängig voneinander das Gesamtrisiko, im späteren Leben einen Herzinfarkt zu erleiden. In Modell B wird dabei noch ein vorgeschalteter gemeinsamer Risikofaktor (z. B. ein niedriger sozialer Status) vorausgesetzt. Dieser erhöht das Risiko zu rauchen und Stress zu erleiden und trägt somit indirekt zum Risiko bei, im späteren Leben einen Herzinfarkt zu erleiden (Kuh, Ben-Shlomo, Lynch, Hallqvist & Power, 2003).
Abbildung 1-1: Kausale Modelle des Life Course Approach. Modell A: akkumulatives Modell; Modell B: akkumulatives Modell mit gemeinsamer Basis; Modell C: Verkettung mit unabhängiger Komponente; Modell D: Verkettung von Faktoren. Quelle: modifiziert nach Kuh, Ben-Shlomo, Lynch, Hallqvist & Power, 2003.
|19|Andere Modelle gehen von einer Verkettung von Ereignissen aus, die sich gegenseitig beeinflussen oder gar bedingen (Abbildung 1-1, Modelle C und D). Hier hängen die verschiedenen Risikofaktoren also nicht nur zusammen, sie können auch einen unabhängigen Einfluss auf das Ergebnis haben. Dieser Einfluss kann je nach Modell unterschiedlich aussehen. Dabei können Umweltfaktoren (z. B. die Ernährung) als modifizierende Faktoren auftreten und das Risiko in eine positive oder negative Richtung abwenden. Im genannten Beispiel kann eine gesunde Ernährung über eine schützende Wirkung einen positiven Einfluss auf die langfristige Gesundheit des Menschen haben, eine ungesunde Ernährung kann jedoch die Risiken verstärken. Wenn bei der Verkettung von Risiken ein bestimmter Faktor nötig ist, damit der nächste Faktor überhaupt eintreten kann, spricht man auch von einem Trigger-Effekt. Eine solche Verkettung von Ereignissen und Risikofaktoren, oft verbunden mit verschiedenen modifizierenden Umweltfaktoren, wird häufig bei der Entstehung von Krebserkrankungen angenommen (Kuh et al., 2003).
Im Gegensatz zu den Modellen, die von einer Anhäufung von Risikofaktoren ausgehen, nehmen die Kritische-Phasen-Modelle an, dass es durch ein oder mehrere Ereignisse zu einem frühen Zeitpunkt der menschlichen Entwicklung (Schwangerschaft oder erste Lebensjahre) zu bleibenden Einflüssen auf die Gesundheit des Menschen kommt, die dann zu einem späteren Zeitpunkt zur Entstehung von Krankheiten beitragen können. Diese Kritische-Phasen-Modelle sind auch bekannt unter Namen wie biologische Programmierung, fetale Programmierung (Abbildung 1-2) oder Latenzmodelle. Sie unterscheiden sich von den vorherigen Modellen vor allem dadurch, dass sie von einem frühen Zeitfenster der Vulnerabilität ausgehen, in dem der Mensch für negative äußere Einflüsse besonders anfällig ist, und nicht von einer kontinuierlichen, konstanten Empfänglichkeit für solche Einflüsse während des gesamten Lebens.
Diese auf biologischen Studien basierenden Modelle wurden umfassend anhand von Tiermodellen untersucht. Sie gehen davon aus, dass es sich hierbei um eine evolutive Anpassung handelt, die das Überleben der Nachkommen an die zu erwartende Umwelt nach der Geburt verbessern soll. Hiernach empfängt der Fetus während der Schwangerschaft über die Plazenta Hinweise von seiner Mutter und nutzt diese, um seine eigene Entwicklung so zu modulieren, dass sein nachgeburtlicher Phänotyp1 möglichst auf die Umwelt abgestimmt ist, auf die er später voraussichtlich treffen wird.
Ist die zu erwartende Umwelt für ihn positiv, wird sich der Fetus physiologisch so darauf vorbereiten, dass er möglichst viel Energie aus der zukünftigen Umgebung für sein eigenes Wachstum und seine eigene Gesundheit nutzen kann. Erhält der Fetus jedoch Signale, die einen Nährstoffmangel in der Umgebung widerspiegeln, wird er seine metabolische Entwicklung auf eine zukünftige Umgebung mit begrenzter Verfügbarkeit von |20|Energie abstimmen. Ist der vorgeburtliche (pränatale) Ernährungsmangel besonders gravierend, kann das fetale Wachstum sogar eingeschränkt werden. Der Fetus nimmt damit für das spätere Leben ein begrenztes Wachstum und eine eingeschränkte gesundheitliche Situation in Kauf, um eine frühere Fortpflanzung (Reproduktion) zu ermöglichen. Die begrenzten Reserven werden daher – nach der Theorie der natürlichen Selektion – zum Zweck der Weitergabe der Gene eingesetzt. Nach dieser Theorie ist die Weitergabe von Genen das oberste Ziel aller Lebewesen und nicht Langlebigkeit oder Gesundheit. Dies müssen wir uns immer wieder vor Augen halten, wenn wir anscheinend widersprüchliche Gesetzmäßigkeiten und Anpassungen verstehen wollen, die auch uns Menschen betreffen. Wenn der Fetus nach der Geburt stattdessen in eine aus ernährungsphysiologischer Sicht reichere Welt geboren wird als vorausgesagt wurde, wird seine Physiologie nicht an dieses Umfeld angepasst sein, sodass er anfälliger für metabolische Erkrankungen sein wird. Die Anpassung während der Schwangerschaft (in utero) erhöht seine Überlebenschancen kurzfristig. Er „erkauft“ dies jedoch mit einem erhöhten Risiko für chronische Krankheiten im Erwachsenenalter. Dabei ist zu beachten, dass die Diskrepanz zwischen vorhergesagter und tatsächlicher Umwelt keine Krankheiten verursachen kann, sie erhöht lediglich das Risiko einer Erkrankung im späteren Leben. Da dieses Phänomen eine Fehlanpassung darstellt, wird es in der Literatur auch „Mismatch“ genannt (Gluckman, Hanson & Low 2011).
Abbildung 1-2: Schematische Darstellung der fetalen Programmierung je nach vorausgesagter Umwelt. Ist die vom Fetus wahrgenommene, vorausgesagte Umwelt für ihn positiv, wird er auf Langlebigkeit, Wachstum und Gesundheit „programmiert“. Ist die vorausgesagte Umwelt für ihn negativ, wird der Fetus all seine (beschränkte) Energie in eine möglichst rasche Reproduktion fließen lassen – auf Kosten von Wachstum und Gesundheit. Quelle: modifiziert nach Gluckman, Beedle, Buklijas, Low & Hanson, 2009.
Bei alldem muss berücksichtigt werden, dass wir Menschen unsere Umwelt schon seit einigen Tausend Jahren durch Technologie und Kultur aktiv verändern. Die Ge|21|schwindigkeit dieser Veränderung nimmt dabei stets zu. So haben wir zum Beispiel unsere Ernährung durch Zuchtauswahl stark verändert, sodass die Pflanzen und Tiere, die wir heute essen, wenig mit ihren wilden Vorfahren gemein haben. Zudem konsumieren wir seit einigen Jahrzehnten vermehrt industriell verarbeitete Nahrungsmittel, die ebenfalls nur noch wenig an natürliche Nahrung erinnern. Diese Veränderungen haben das natürliche Gleichgewicht zwischen unseren genetischen Anpassungen, unserem Mikrobiom2 und unserer Nahrung so stark gestört, dass Übergewicht und Folgekrankheiten weltweit erheblich zugenommen haben. Mangelnde Bewegung, Umweltchemikalien, Stress und weitere moderne Umweltfaktoren tragen mit zu dieser Entwicklung bei.
Unser Genom kann mit diesen schnellen Veränderungen schon lange nicht mehr Schritt halten. Auch die Anpassungsmöglichkeiten eines Fetus reichen nicht mehr aus. Man bezeichnet die Gesamtheit der Anpassungsmöglichkeiten eines Individuums innerhalb seiner genetischen Grenzen auch als Plastizität. Da die menschliche Plastizität in der modernen Welt sichtbar an ihre Grenzen stößt, ist die Hypothese der Entstehung chronischer Krankheiten durch Mismatch mittlerweile in Fachkreisen weitgehend anerkannt.
Es gibt nicht nur verschiedene Modelle zur Erklärung des Einflusses von Umweltfaktoren auf die Gesundheit des Menschen, sondern auch Aufschlüsselungen der verschiedenen biologischen Mechanismen hinsichtlich der Wirkweisen solcher Einflüsse. Nur wenn diese Mechanismen verstanden werden, können wirksame Ansätze zur Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention entwickelt werden.
Direkten Einfluss auf ein werdendes Leben können alle Chemikalien, Strahlen und Viren haben, die die Organentwicklung eines Embryos direkt beeinträchtigen und dadurch Fehlbildungen hervorrufen können. Wichtige Beispiele für solche Teratogene sind ionisierende Strahlung und bestimmte Medikamente wie das Schlafmittel Thalidomid (Contergan), das 1957 bis Anfang der 1960er-Jahre schwangeren Frauen verabreicht wurde. Die Einnahme führte bei zahlreichen Kindern zu Fehlbildungen an den Armen und Beinen (Phokomelie)3.
Direkte negative Einflüsse während der weiteren Schwangerschaft haben aber auch andere Substanzen wie z. B. Alkohol, Tabak, Umweltgifte und verschiedene Medikamente. Das Rauchen von Tabak durch die Mutter kann zu einem niedrigeren Geburtsgewicht des Kindes führen. Dieses ist wiederum ein Risikofaktor für verschiedene nachgeburtliche Komplikationen sowie für zahlreiche Erkrankungen im späteren Lebensverlauf. |22|Der mütterliche Alkoholkonsum während der Schwangerschaft kann ein fetales Alkoholsyndrom beim Neugeborenen zur Folge haben, das durch eine Vielzahl von lebenslang bestehenden körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen gekennzeichnet ist.
Die meisten der direkten Einflüsse auf den Fetus sind relativ einfach zu erkennen. Auf dieser Basis können dann wirksame Präventionsprogramme erarbeitet werden. Allerdings ist der Embryo in den ersten Schwangerschaftswochen am empfindlichsten gegenüber äußeren Einflüssen – also dann, wenn eine Frau oft noch gar nicht weiß, dass sie schwanger ist. Es ist deshalb sehr schwierig, den Embryo schon in dieser frühen Entwicklungsphase vor schädlichen Einflüssen zu schützen.
Zu den mütterlichen Effekten gehören Phänomene, die von der Mutter ausgehend über die Plazenta auf den Embryo und den Fetus einwirken. Auch sie können das Krankheitsrisiko im späteren Lebenslauf beeinflussen. Ein Beispiel für ein solches Phänomen ist die Menge an verschiedenen Hormonen, die die Mutter auf ihr Kind überträgt. Nicht nur Sexualhormone, sondern auch Insulin, Schilddrüsenhormone und Kortisol werden von der Mutter an das Kind weitergegeben und beeinflussen dessen Entwicklung.
Bekannt ist auch, dass sich die psychische Verfassung der Mutter auf diese Weise auf das Ungeborene auswirken kann. Stress, Depression oder Angstgefühle können einen negativen Einfluss auf das werdende Kind haben, insbesondere über den Austausch von Stresshormonen. Stresshormone spielen auch im Zusammenhang mit einer Frühgeburt eine erhebliche Rolle. Sowohl das Stressgeschehen als auch die Frühgeburt selbst können sich negativ auf den weiteren Lebensverlauf auswirken. Zu den mütterlichen Effekten gehört auch die Nahrungsmenge, die von der Mutter an das Kind weitergegeben werden kann. Diese bestimmt das Wachstum des Kindes und beeinflusst es auch über epigenetische Effekte.
Die Epigenetik ist einer der wichtigsten Mechanismen, die das Krankheitsrisiko im späteren Leben beeinflussen. Wissenschaftler, die in dem seit einigen Jahren intensiv beforschten Gebiet arbeiten, beschäftigen sich damit, auf welche Weise Gene reguliert werden können, ohne dass dabei die Abfolge der Gene (Gensequenz) selbst verändert wird. Dies geschieht durch verschiedene Prozesse, wie z. B. mithilfe der DNA-Methylierung, der Histon-Modifizierung oder Modifizierung von Mikro-RNA, die dafür sorgen, dass Gene an- oder abgeschaltet werden. Besonders empfänglich für solche Prozesse sind die Zellen von Embryonen, Feten und Kindern in den ersten Lebensjahren. Die Prozesse können durch eine Vielzahl an Umweltfaktoren ausgelöst werden, wie z. B. durch die Menge der zugeführten Nahrung, aber auch durch Umweltchemikalien, Stress der Mutter etc. (Busch et al., 2015).
Die auf diese Weise epigenetisch veränderte Genfunktion kann sich dann – je nachdem, welches Gen betroffen ist – auf die Gesundheit des Menschen im weiteren Lebensverlauf auswirken. So kann die Ernährung im frühen Leben beispielsweise langfristige Veränderungen der DNA-Methylierung induzieren, die sich dann auf die individuelle Gesundheitssituation während des gesamten Lebens auswirken und im höheren Lebens|23|alter zur Entstehung chronischer Krankheiten beitragen können. Nährstoffe können entweder direkt durch die Hemmung von Enzymen epigenetisch wirken oder durch eine Änderung der Verfügbarkeit von Substraten, die für die jeweiligen enzymatischen Reaktionen notwendig sind. Dies wiederum verändert (modifiziert) die Expression4 kritischer Gene und wirkt sich so auf verschiedene Gesundheitsfaktoren aus (Tiffon, 2018). In den letzten Jahren hat man beispielsweise eine Reihe von Nährstoffen (Folsäure, Vitamin B6, Vitamin B12, Methionin, Cholin) untersucht, die über epigenetische Mechanismen zum Schutz vor Tumorerkrankungen beitragen können. Sie sind vor allem in Gemüse, Nüssen, Samen, Fisch und Fleisch zu finden. Tabelle 1-1 gibt einen Überblick über diese Nährstoffe, ihre Quellen und die jeweiligen epigenetischen Mechanismen, die hier wirken können.
Tabelle 1-1: Die wichtigsten Nährstoffe und ihre Nahrungsmittelquellen, die einen epigenetischen gesundheitlichen Effekt haben. Quelle der Daten: Tiffon, 2018.
Nährstoff
Nahrungsmittel
epigenetische Rolle
Methionin
Sesamsamen, Paranüsse, Fisch, Paprika, Spinat
S-Adenosyl-Methionin-Synthese
Folsäure
Blattgemüse, Hefe, Sonnenblumenkerne, Leber
Methionin-Synthese
Vitamin B12
Fleisch, Leber, Muscheln, Milch
Methionin-Synthese
Vitamin B6
Fleisch, Vollkornprodukte, Gemüse, Nüsse
Methionin-Synthese
SAM*
Nahrungsergänzung
Enzyme transferieren Methylgruppe von SAM* auf DNA
Cholin
Eigelb, Leber, Soja, Fleisch
spendet Methylgruppe an SAM
Betaine
Weizen, Spinat, Muscheln, Zuckerrüben
Abbau der toxischen Nebenprodukte der SAM-Synthese
Resveratrol
Rotwein
entfernt Acetylgruppen aus Histonen
Genistein
Soya
erhöhte Methylierung, Krebsprävention
Sulforaphan
Brokkoli
erhöhte Histon-Acetylierung, schaltet Anti-Krebs-Gene ein
Butyrat
eine Verbindung, die im Darm entsteht, wenn Ballaststoffe fermentiert werden
erhöhte Histon-Acetylierung schaltet schützende Gene ein
Diallylsulfid
Knoblauch
erhöhte Histon-Acetylierung, schaltet Anti-Krebs-Gene ein
* S-Adenosyl-Methionin
Aber nicht nur einzelne Nährstoffe, sondern auch ganze Ernährungsmuster der Mutter beeinflussen den Phänotyp des werdenden Kindes. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist die „westliche Ernährungsweise“. Diese besteht hauptsächlich aus einem hohen Anteil an gesättigten Fettsäuren, rotem Fleisch und raffinierten Kohlenhydraten sowie einem |24|geringen Anteil an frischem Obst und Gemüse, Vollkorn, Meeresfrüchten und Geflügel. Diese Ernährungsweise wurde mit verschiedenen Erkrankungen wie Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus Typ II, Adipositas und einem erhöhten Krebsrisiko in Verbindung gebracht.
Im Gegensatz zur „westlichen Ernährung“ haben zahlreiche Studien gesundheitliche Vorteile der „mediterranen Ernährung“ gezeigt, die mit einem reduzierten Risiko für Herzkrankheiten, einer niedrigeren kardiovaskulären Mortalität und Gesamtmortalität verbunden ist. Die mediterrane Ernährung umfasst traditionell viel Obst, Gemüse, Nudeln und Reis, Fisch und Geflügel, Vollkorngetreide und empfehlenswerte Fette (einfach ungesättigte Fettsäuren und mehrfach ungesättigte Fettsäuren wie die Linolensäure), dafür wenig rotes Fleisch und weniger gesättigte Fettsäuren. Es gibt Hinweise auf epigenetische Zusammenhänge zwischen der mütterlichen Ernährung während der Schwangerschaft und der Gesundheit ihres Kindes (bzw. dem Auftreten von Krankheiten) im Erwachsenenalter.
Da Nährstoffe und bioaktive Lebensmittelkomponenten die DNA-Methylierung, Histon-Modifikation und Chromatin-Remodellierung reversibel verändern können, was anschließend wiederum Auswirkungen auf die Genexpression und die allgemeine Gesundheit der betroffenen Menschen haben kann, kann die Zufuhr bestimmter Lebensmittelkomponenten und spezifischer Nährstoffe bzw. der Umstieg auf „gesunde“ Ernährungsmuster die negativen Auswirkungen eines gesundheitsschädlichen Lebensstils abschwächen. Dies konnte beispielsweise bei Menschen gezeigt werden, die sich bisher ungesund ernährten, rauchten oder bestimmten Umweltchemikalien ausgesetzt waren.
Nicht nur die Ernährung hat also eine epigenetische Wirkung auf unsere Gesundheit, auch verschiedenste Umweltschadstoffe können eine solche Wirkung hervorrufen (Abbildung 1-3). Als epigenetisch wirksame Toxine werden z. B. Arsen, bestimmte organische Verbindungen, Feinstaubimmissionen, Pestizide und andere hormonell wirksame Stoffe angesehen (Tiffon, 2018).
Abbildung 1-3: Äußere Einflussfaktoren auf die Genexpression über epigenetische Mechanismen. Quelle: modifiziert nach Busch et al., 2015.
|25|Es gibt Hinweise darauf, dass sich epigenetische Markierungen im Genom von einer Generation zur nächsten weitervererben können. Dies bedeutet, dass sich auch die damit verbundenen Krankheitsrisiken über mehr als eine Generation vererben können, obwohl die zweite Generation die negativen Erfahrungen gar nicht selbst gemacht hat. Hinweise auf einen solchen Mechanismus fand man wiederum bei der Untersuchung historischer Populationen, wie z. B. den Nachfahren der niederländischen Hungerwinter-Population. Die Nachkommen der Frauen, die damals Hunger gelitten hatten, brachten selbst nicht nur wieder häufiger untergewichtige Kinder zur Welt, diese Kinder der zweiten Generation waren als Erwachsene auch wieder häufiger übergewichtig, litten überdurchschnittlich häufig an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus und Schizophrenie (Lumey, Stein & Susser, 2011).
Inzwischen wurden Vererbungen von epigenetischen Markierungen in Tierstudien bestätigt. Trotzdem wird das Thema in Fachkreisen noch immer kontrovers diskutiert, da die genannten Ergebnisse gerade bei menschlichen Populationen nicht immer reproduziert werden konnten. Derzeit werden die genauen Umstände untersucht, unter welchen Bedingungen epigenetische Informationen weitervererbt bzw. nicht weitervererbt werden (Xavier, Roman, Aitken & Nixon, 2019). Solche Resultate sind für die Krankheitsprävention extrem wichtig und werden in Zukunft eine immer größere Rolle spielen.
Es gibt zahlreiche einfache und leicht umsetzbare Methoden, die Gesundheit des sich entwickelnden Menschen bereits während der Schwangerschaft sowie dann auch im Verlauf des späteren Lebens positiv zu beeinflussen. Maßnahmen, die sich bereits bewährt haben, sind zum Beispiel eine gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung. Verschiedene Nährstoffe, wie z. B. die Folsäure, können höchstwahrscheinlich das Risiko, später an Darmkrebs zu erkranken, über epigenetische Mechanismen senken. Ähnliche Zusammenhänge vermutet man zwischen körperlicher Bewegung und der Verhinderung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Zahlreiche spezifische Präventivmaßnahmen können während der Schwangerschaft direkt auf das werdende Kind Einfluss nehmen. Hierzu gehört, dass die werdende Mutter so gut wie möglich vor Armut, Stress und Umweltgiften geschützt werden sollte. Zudem sollte sie Zugang zu gesunder Ernährung in ausreichender Menge haben. Bestimmte Nährstoffe wie Folsäure und Jod sollten zusätzlich verabreicht (supplementiert) werden. Während der Schwangerschaft sollten regelmäßige Untersuchungen stattfinden, bei denen die schwangere Frau auch über mögliche Schädigungen des Kindes durch Rauchen und Alkoholkonsum während der Schwangerschaft sowie über das Thema Schwangerschaftsdiabetes aufgeklärt werden sollte.
Säuglinge sollten gestillt werden, bei Kleinkindern sollte auf eine möglichst gesunde erste Kost geachtet werden. Flaschennahrung führt im Vergleich zum Stillen zu einer schnelleren Gewichtszunahme und einem höheren Körpergewicht, dies erhöht wiederum das Risiko von Übergewicht und Folgekrankheiten im späteren Leben.
|26|Bis individuell abgestimmte und bevölkerungsweit wirksame Präventions- und Therapiemöglichkeiten auf der Basis des Life Course Approach verfügbar sind, ist ein gesunder Lebensstil die beste verfügbare gesundheitsfördernde bzw. präventive Strategie. In den folgenden Kapiteln werden nun die derzeit angebotenen Früherkennungs- und Präventionsmaßnahmen in den jeweiligen Lebensabschnitten genauer betrachtet.
In Deutschland gibt es derzeit eine ganze Reihe von Initiativen zur Lebensverlaufsforschung. Neben der bereits erwähnten Deutschen Lebensverlaufsstudie untersucht das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin seit 1984 mehr als 20 000 Deutsche, Ausländer und Zuwanderer in den alten und neuen Bundesländern. Dabei werden unter anderem Haushaltszusammensetzung, Erwerbs- und Familienbiografie, Einkommensverläufe, Gesundheit und Lebenszufriedenheit erfragt.
Der seit 2009 eingerichtete Forschungsbereich Bildung, Qualifizierung und Erwerbsverläufe des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung analysiert Zusammenhänge von Bildung und Erwerbstätigkeit, ebenfalls insbesondere aus der Lebensverlaufsperspektive. Seit 2009 untersucht auch das Nationale Bildungspanel (NEPS) Bildungsprozesse und Kompetenzentwicklung im Längsschnitt von früher Kindheit an bis ins hohe Erwachsenenalter. Das Ziel dieses Panels ist es, Daten zu Kompetenzentwicklungen, Bildungsprozessen, Bildungsentscheidungen und Bildungsrenditen über die gesamte Lebensspanne zu erheben.
Neben diesen sozialwissenschaftlichen Projekten gibt es auch eine große Zahl an biomedizinischen Forschungsprojekten. Hier sollen insbesondere im Rahmen der sogenannten personalisierten Medizin präventive Maßnahmen erarbeitet werden, die individuell auf die ganz persönlichen Eigenschaften eines jeden Menschen abgestimmt sind. Hierzu soll nicht nur das Genom5 eines Individuums entschlüsselt werden, sondern auch sein Epigenom6, sein Mikrobiom7 und weitere Biomarker. Ein Biomarker kann z. B. eine Substanz sein, die als Früherkennungsmarker bereits vor dem eigentlichen Ausbruch einer Erkrankung (d. h. in einer noch symptomlosen Phase) im Blut gemessen werden kann. Durch die Entschlüsselung dieser persönlichen Eigenschaften der Menschen verspricht man sich ein besseres Verständnis der Frühphase der Krankheitsentstehung und damit auch neue Möglichkeiten der Früherkennung und Prävention. Diese Maßnahmen sollen also nicht wie bisher auf der Bevölkerungsebene geschehen, sondern auf der Ebene des Individuums. Sie sollen damit sehr viel präziser und somit auch viel effizienter werden (Relton & Davey Smith, 2012). Es muss sich allerdings noch zeigen, ob diese Strategie wie geplant umsetzbar und v. a. ob sie auch zielführend ist.
|27|Eine weitere wichtige Forschungsrichtung in diesem Bereich geht der Frage nach, ob epigenetische Markierungen, die sich negativ auf die Gesundheit auswirken, wieder gelöscht werden können. Im Tierversuch ist dies bereits gelungen. Dort wurden neugeborene Ratten nicht fürsorglicher Mütter, die sich wenig um ihre Nachkommen kümmerten, mit einer Kontrollgruppe verglichen, die mit fürsorglichen Müttern aufwuchs. Die Ratten mit nicht fürsorglichen Müttern zeigten als Erwachsene ein auffälliges Verhalten und wiesen Markierungen in Genen auf, die bei Menschen mit dem Auftreten von Depressionen assoziiert sind. Die Kontrollgruppe zeigte ein normales Verhalten und keine epigenetischen Markierungen an diesen Genen. Durch die Gabe von Antidepressiva konnten die epigenetischen Markierungen bei der Interventionsgruppe wieder gelöscht werden (Roth, Lubin, Funk & Sweatt, 2009).
Beim Menschen konnten solche Löschungen von epigenetischen Markierungen noch nicht erreicht werden. Es besteht aber die Hoffnung, dass aus diesem Ansatz eines Tages in gesundheitlicher Hinsicht Nutzen gezogen werden kann. Bereits heute ist es jedoch möglich, über gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung positiven Einfluss auf das Epigenom zu nehmen. Hier gibt es derzeit schon Hinweise darauf, dass die positiven gesundheitlichen Auswirkungen einer gesunden Ernährung und von Bewegung nicht nur durch direkte Effekte zustande kommen, sondern auch durch epigenetische Veränderungen (Whayne, 2015). Diese Zusammenhänge müssen jedoch noch im Detail untersucht werden, um später daraus auch in präventiver und therapeutischer Hinsicht Nutzen ziehen zu können. Eine gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung gehören jedoch auch heute schon aufgrund ihres direkten positiven Effektes zu den grundlegenden Public-Health-Strategien.
Aufgabe 1
a)Schauen Sie sich bitte in Abbildung 1-1 die verschiedenen Modelle zur Anhäufung von Risikofaktoren an. Stellen Sie sich für jedes Modell ein konkretes Beispiel vor. Orientieren Sie sich dabei bitte an den im Text erwähnten Beispielen.
b)In Kap. 1.2.3 wurden verschiedene Mechanismen besprochen, die das Krankheitsrisiko beeinflussen können. Finden Sie zusätzliche, im Text noch nicht erwähnte Einflüsse, die auf die Entwicklung oder die Gesundheit eines werdenden Kindes einwirken können. Ordnen Sie diese Einflüsse den drei Kategorien direkte Einflüsse, mütterliche Effekte und epigenetische Effekte zu.
Als Phänotyp oder Erscheinungsbild bezeichnet man die Summe aller Merkmale eines Organismus. Dies beinhaltet nicht nur die sichtbaren Merkmale, sondern auch physiologische Eigenschaften und Verhaltensmerkmale.
Das Mikrobiom ist die Gesamtheit aller Mikroorganismen, die den Menschen auf seiner Oberfläche und im Inneren natürlicherweise (d. h. ohne Auslösung von Krankheiten) besiedeln.
Typisch für eine Phokomelie sind stark verkürzte und fehlgebildete Arme und Beine bzw. Hände und Füße, die direkt an Schulter- und Hüftgelenk ansetzen.
Als Genexpression bezeichnet man die Bildung von Proteinen mithilfe der genetischen Information einschließlich aller hierfür nötigen biochemischen Prozesse.
Genom: Gesamtheit der Träger der vererbbaren Informationen einer Zelle (DNA, RNA)
Epigenom: Gesamtheit von epigenetischen Zuständen bei einem Individuum
Mikrobiom (hier): Gesamtheit aller Mikroorganismen, die auf/in einem Individuum leben
Aus der Perspektive des Life Course Approach in Public Health ist der Lebensabschnitt vor der Geburt wahrscheinlich der wichtigste. In dieser Phase ist das werdende Kind am empfänglichsten für positive, aber auch für negative Einflüsse, die sich später im Leben als Krankheiten äußern können. Bereits auf die Keimzellen des Menschen (Eizelle der Frau und Spermien des Mannes) können äußere Einflüsse einwirken und so die Gesundheit des späteren Kindes mitbestimmen. Aus Sicht des Life Course Approach ist die Gesundheit von jungen Erwachsenen in der Phase der Familiengründung daher von großer Bedeutung. Die Lebensphase des frühen Erwachsenenalters – mit ihren gesundheitlichen, umweltbedingten und sozialen Voraussetzungen und den daraus resultierenden Einflüssen auf ihren Nachwuchs – wird in Kap. 8 behandelt. Das vorliegende Kapitel beschränkt sich darauf, die potenziellen Einflüsse auf die Keimzellen und das noch ungeborene Kind darzustellen.
In den ersten acht Wochen der Schwangerschaft wird das Ungeborene Embryo genannt. In dieser Zeit entwickeln sich die Gliedmaßen, das Gehirn und die inneren Organe. Das werdende Kind ist dann besonders anfällig für schädliche äußere Einflüsse. Störungen dieser Entwicklung können zu Fehlbildungen (Embryopathien) oder gar zu einer Fehlgeburt führen. Nach Abschluss der Organentwicklung wird das Ungeborene Fetus genannt. Nun sind die Auswirkungen schädigender Einflüsse meist nicht mehr unmittelbar sichtbar. Der Fetus kann jedoch weiterhin negativen Einflüssen ausgesetzt sein, die ihn v. a. über die Plazenta erreichen. Die auf diese Weise entstehenden Schädigungen nennt man Fetopathien. Während bei den Embryopathien in der Regel Anatomie und Physiologie betroffen sind, stehen bei den Fetopathien Funktionseinschränkungen im Vordergrund. Auch diese können zu lebenslangen Beeinträchtigungen führen. Anders als die meisten anderen Organe entwickelt sich das Gehirn noch weit über die Geburt hinaus und ist daher auch während der Fetalphase besonders anfällig für Schädigungen.
Während der vorgeburtlichen Entwicklung spielen jedoch nicht nur äußere, sondern auch mütterliche Faktoren eine wichtige Rolle im Hinblick auf die Gesundheit des Ungeborenen. In den letzten Jahrzehnten hat die Bedeutung verschiedener mütterlicher Faktoren deutlich zugenommen. Negative Auswirkungen auf das sich entwickelnde Kind können z. B. das zunehmende Alter der Mutter bei der ersten Schwangerschaft, Hormontherapien, die die Chancen für eine Schwangerschaft erhöhen sollen, sowie assistierte Reproduktionsverfahren wie die In-vivo- und die In-vitro-Fertilisation (s. Kap. 6.1.3) haben. Die genannten Fertilisationsverfahren können das Frühgeburtsrisiko und das Sterberisiko für Mutter und Kind erhöhen. Derzeit werden zudem mögliche epigenetische Einflüsse untersucht, die die assistierten Reproduktionsverfahren auf das werdende Kind haben könnten. Bislang ist die Studienlage hier jedoch noch unklar.
Seit einigen Jahrzehnten sinken die Geburtenraten in der westlichen Welt deutlich ab. Derzeit liegt die Anzahl der Kinder pro Frau (Fertilitätsrate) in Deutschland bei durchschnittlich 1,57. Während der Zeit des „Babybooms“ (etwa 1955 bis 1966) wurden deutlich mehr Kinder geboren. 1966 lag die Fertilitätsrate beispielsweise bei durchschnittlich 2,53 Kindern pro Frau. Die zunehmende Verbreitung der Verhütungspille („Antibaby-Pille“) auch in Deutschland führte dann zu einem deutlichen Rückgang der Geburten. Seither liegt die Fertilitätsrate unter 2.
Nicht immer ist die geringe Anzahl an Kindern jedoch freiwillig. Etwa 17 % der Erwachsenen zwischen 25 und 59 Jahren in Deutschland sind aus medizinischen Gründen ungewollt kinderlos. Die Ursachen liegen dabei zu jeweils 30 % bei der Frau, beim Mann bzw. bei beiden Partnern. In etwa 10 % der Fälle ist der Grund unbekannt. Ähnliche Zahlen finden sich in anderen Ländern der westlichen Welt. Als Gründe für die zunehmenden Fruchtbarkeitsprobleme werden vor allem Umweltverschmutzung, hormonell aktive Substanzen, Strahlung sowie die Belastung von Nahrungsmitteln durch Pestizide und Mikroplastik genannt. Die angegebenen Faktoren können sowohl auf die Keimzellen von Mann und Frau als auch auf das ungeborene Kind, den Säugling und den Menschen im weiteren Leben einwirken. Art und Umfang der Auswirkungen dieser Umweltfaktoren auf die Gesundheit hängen dabei nicht nur vom Alter des Menschen ab, sondern auch von der jeweiligen Substanz, der Dosis und der Dauer der Einwirkung. Auch hier gilt, je jünger der Mensch ist, desto empfänglicher ist er für diese Einflüsse. Neben medizinisch-biologischen Gründen der Kinderlosigkeit gibt es auch mehr und mehr Frauen, die unfreiwillig kinderlos bleiben, weil sie keinen passenden Partner finden.
Es gibt eine Vielzahl von möglichen Einflüssen auf die Keimzellen des Menschen, vor allem über die Ernährung, über Medikamente, Umwelteinflüsse etc. In der Folge sollen einige Themen vorgestellt werden, die derzeit in der Forschung diskutiert werden.
Das Einfrieren von Keimzellen (Kryokonservierung von Spermien bzw. Eizellen) wurde bisher vor allem vor Tumorbehandlungen durchgeführt, die die Fruchtbarkeit beeinträchtigen. Spermien können mithilfe einer Hodenpunktion gewonnen werden. Geeignete Eizellen zu erhalten ist deutlich aufwendiger. Um Eizellen heranreifen zu lassen, ist eine vorausgehende Hormontherapie nötig. Die reifen Eizellen werden schließlich endoskopisch entnommen. Mithilfe der verschiedenen Reproduktionsverfahren können dann auch junge Krebspatienten, deren Fruchtbarkeit durch eine Chemotherapie oder Bestrahlung beeinträchtigt ist, ihren Kinderwunsch erfüllen.
Darüber hinaus ist die Kryokonservierung von Spermien ein wichtiger Schritt im Rahmen der künstlichen Befruchtung von Frauen mit Kinderwunsch, deren Partner |31|aktuell nicht in der Lage sind, auf natürlichem Weg ein Kind zu zeugen, bzw. von Frauen ohne passenden Partner. Inzwischen gibt es weltweit jahrelange Erfahrungen mit entsprechenden Samenbanken. In der Regel gelingt die Konservierung von Sperma problemlos. Die künstliche Befruchtung kann dann auf verschiedenen Wegen erfolgen. Bei In-Vivo-Methoden wird das Sperma in den Geschlechtstrakt der Frau injiziert, sodass die Befruchtung dann auf natürlichem Weg geschieht (Insemination). Bei der Befruchtung im Reagenzglas wird entweder das Sperma direkt zu einer Eizelle dazugegeben (In-Vitro-Fertilisation) oder in die Eizelle hineingespritzt (intrazytoplasmatische Spermieninjektion; ICSI). Auf mögliche negative epigenetische Auswirkungen der Verfahren wurde bereits zu Beginn des Kapitels hingewiesen. Diese Verfahren bergen zudem ein erhöhtes Risiko für Fehlbildungen beim Kind. Eine Studie aus der Schweiz zeigte vermehrte Herz-Kreislauf-Auffälligkeiten bei Kindern, die mithilfe der In-Vitro-Fertilisation gezeugt wurden (Scherrer et al., 2012). Andere Studien konnten diese Befunde bislang nicht bestätigen.
Nicht nur Spermien, auch Eizellen werden zunehmend zur späteren Verwendung eingefroren, ohne dass dies aus medizinischen Gründen notwendig wäre. Häufig handelt es sich um Frauen, die aus beruflichen Gründen ihren Kinderwunsch auf einen späteren Zeitpunkt verschieben wollen, ohne die Risiken von gealterten Eizellen in Kauf nehmen zu müssen. Man nennt die Kryokonservierung von Eizellen aus diesem Grund auch Social Freezing (s. a. Kap. 6.1.2). Genaue Zahlen liegen für Deutschland nicht vor. Reproduktionsmediziner gehen jedoch davon aus, dass diese Methode nicht sehr häufig genutzt wird. Die Kosten des Verfahrens sowie die Belastung durch die Hormontherapie sind hoch. Zudem können bei der Entnahme der Eizellen Komplikationen auftreten.
Zu den häufigsten Ursachen einer reduzierten Fruchtbarkeit aufgrund von Keimzell-Schädigungen beim Menschen gehören die Luftverschmutzung und das Rauchen. Dieselabgase enthalten beispielsweise eine Vielzahl von Substanzen (z. B. Ozon [O3], Stickstoffdioxid [NO2] und andere Stickstoffderivate, Schwefelderivate, Schwermetalle wie Blei und Arsen, Feinstaub und polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe wie Benzol), die an die Rezeptoren für männliche und weibliche Geschlechtshormone binden und dadurch die Fertilität negativ beeinflussen können (Menezo, Dale & Elder, 2019).
Mehrere Studien haben gezeigt, dass eine immer wieder auftretende Luftverschmutzung zu einer Fragmentierung der Spermien-DNA führen kann. Folgen dieser Fragmentierung könne männliche Unfruchtbarkeit, Fehlgeburten sowie weitere Einschränkungen bei der Fortpflanzung sein. Zudem können Feinstaub, Stickoxide und Kohlenmonoxid den Testosteronspiegel im Blut senken (Radwan et al., 2016; Rubes et al., 2005