Lob der Identitätspolitik - Karsten Schubert - E-Book

Lob der Identitätspolitik E-Book

Karsten Schubert

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Beschreibung

Identitätspolitik gefährdet die Demokratie – das ist die in immer neuen Varianten wiederholte Kernbotschaft der Debatten über jenen Politikstil, der sich gegen Diskriminierung wendet, aber angeblich in der Sackgasse des Stammesdenkens landet. Gegen diesen kritischen Chor legt Karsten Schubert nun die erste grundsätzliche Verteidigung der Identitätspolitik in Buchform vor. Mit sachlicher Gelassenheit und ohne jede Polemik setzt er sich mit den wichtigsten Einwänden auseinander und entwickelt einen neuen Blick auf den politischen Kampf um Identitäten. Seine zentrale Einsicht ist klar: Für die laufende Verbesserung unserer Demokratie ist Identitätspolitik unverzichtbar. Warum brauchen wir ein Lob der Identitätspolitik? Weil sie reale Diskriminierungsverhältnisse aufdeckt und darauf bezogene Forderungen artikulierbar macht. Sie versorgt den demokratischen Prozess mit einem Wissen um seine Defizite, die ansonsten verborgen bleiben. Bedroht das unsere Freiheit? Werden dadurch Menschen auf einen starren Identitätskern reduziert? Werden universalistische Werte zerstört? Nein, argumentiert Schubert. Der eigentliche Zweck der Identitätspolitik besteht darin, das universalistische Versprechen der Demokratie – Gleichheit und Freiheit für alle – zu konkretisieren und besser zu verwirklichen. Das heißt selbstredend nicht, dass alles, was als Identitätspolitik daherkommt, auch gut für die Demokratie ist. Schubert geht es nicht darum, Übertreibungen und Sackgassen zu leugnen. Wohl aber darum, sie besser einzuordnen und in ein angemessenes Verhältnis zum Nutzen der Identitätspolitik zu rücken. Damit führt er die Debatte aus dem erkenntnisarmen Kulturkampf heraus und hebt sie auf eine neue, demokratietheoretische Grundlage.

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Karsten Schubert

Lob der Identitätspolitik

C.H.Beck

Übersicht

Cover

Inhalt

Textbeginn

Inhalt

Titel

Inhalt

Einleitung

Angewandte Demokratietheorie

Jenseits der Entmystifizierung

Ein neues Lob der Identitätspolitik

1: Eine kleine Einführung in Identitätspolitik, Diskriminierung und Demokratie

Was ist Identitätspolitik?

Problem gelöst? Zum heutigen Stand der Liberalisierung

Diskriminierung in Zahlen

Die Entwicklung der Demokratie

Radikale Demokratietheorie

Michel Foucault und der Streit um Vernunft

Exkurs: Das Verhältnis von Identitätspolitik und Antisemitismus

2: Freiheitsverständnisse – Was die Debatte um ‹Political Correctness› und ‹Cancel Culture› missversteht

Was ist ‹Political Correctness›?

Die Rechte und Nietzsche: ‹Political Correctness› als Sklavenmoral

Emanzipative Normsetzung und Privilegienkritik

Drei Freiheitsbegriffe

Gibt es ‹Cancel Culture›?

3: Identitätsverständnisse – Die Kreativität des gemeinsamen Protestes

Dreifache Spaltung: Schreckgespenst Essentialismus

Elemente konstruktivistischer Identitätspolitik: Im Maschinenraum der politischen Transformation

Konstruktivistische und regressive Identitätspolitik

Elitenprojekt? Wieso Identitätspolitik Repräsentant_innen braucht

4: Universalismus und Partikularismus – Das Problem der sozialen Positionen

Kritiken am klassischen Universalismus

Privilegierung von unterdrücktem Wissen

Die Gefahr einer Überbetonung von Macht und Konflikt

Partikularistischer Universalismus

Kontinuierliche Demokratisierung

5: Progressive und regressive Identitätspolitik

Freiheit und Gleichheit

Selbstreflexive Kritik

Intersektionale Ausrichtung

Rück- und Ausblick

Mögliche Einwände

Fortschritt oder Regression?

Dank

Quellen- und Lektürehinweise

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Einleitung

1 Eine kleine Einführung in Identitätspolitik, Diskriminierung und Demokratie

2 Freiheitsverständnisse

3 Identitätsverständnisse

4 Universalismus und Partikularismus

5 Progressive und regressive Identitätspolitik

Zum Buch

Vita

Impressum

Einleitung

Identitätspolitik polarisiert. Die Diskussionen darüber spalten die öffentliche Debatte genauso wie politische Parteien und die Wissenschaft. Der politische Streit um ‹Identität› ist in der gesamten westlichen Welt zum Kernthema von neuen Kulturkämpfen geworden, die sich um die Frage drehen, in welche Richtung sich die demokratische Gesellschaft weiterentwickeln sollte. Diese Kämpfe sind daher längst kein reines Feuilleton-Thema mehr, sondern nehmen entscheidenden Einfluss auf Wahlen und Regierungsmacht. Während die konservativen Parteien mit einer klaren Kante gegen Identitätspolitik auf Stimmenfang gehen, ist die Partei Die Linke maßgeblich am Streit über Identitätspolitik zerbrochen.

Wem die Demokratie am Herzen liegt, sollte sich deshalb mit den gegen Identitätspolitik vorgebrachten Argumenten ernsthaft auseinandersetzen. Denn in den oft polemisch und aggressiv geführten Debatten um und gegen Identitätspolitik stecken bei genauerem Hinsehen eine Reihe komplizierter und fundamentaler demokratietheoretischer Fragen, die auch aus einer identitätspolitik-freundlichen Perspektive nicht einfach abgetan werden können. Ein Hauptargument, das immer wieder vorgebracht wird, lautet, dass Identitätspolitik die Demokratie gefährde. Und zwar, weil sie den Kern des Demokratischen zersetze.

Dieser Kern wird von verschiedenen Kritiker_innen allerdings unterschiedlich verstanden. Grob kann man drei verschiedene Strömungen unterscheiden: Liberale befürchten, dass Identitätspolitik den freien Diskurs und die individuelle Freiheit gefährde; sie plädieren deshalb für universelle Rechte auf Meinungs- und Kunstfreiheit sowie für eine Ethik des herrschaftsfreien Diskurses, die sich an Vernunftprinzipien orientiert. Eine andere Befürchtung lautet, dass Identitätspolitik die demokratische Gemeinschaft spalte und die Solidarität im Volk unterlaufe – ich nenne diese Position kommunitaristisch, auch wenn sich heute kaum jemand explizit mit der demokratietheoretischen Schule des Kommunitarismus identifiziert. Und eine genuin linke Kritik an Identitätspolitik argumentiert materialistisch, denn ihr geht es darum, dass Identitätspolitik Emanzipationsbewegungen spalte, indem sie die gesellschaftskritische Aufmerksamkeit von kapitalistischer Ausbeutung und ökonomischer Ungleichheit ablenke. Im öffentlichen Diskurs und teilweise auch in der Wissenschaft findet man oft Kombinationen dieser Argumente, so bedienen sich beispielsweise Feddersen und Gessler (2021) aller drei Topoi.

Kritisiert wird Identitätspolitik also meist mit Bezug auf die Demokratie und deren potentielle Gefährdung. Dass Identitätspolitik eine Frage der Demokratie ist, darüber sind sich die meisten Kritiker_innen der Identitätspolitik also einig – und haben damit auch Recht: Die Debatte um Identitätspolitik ist angewandte öffentliche Demokratietheorie. Deshalb antwortet dieses Buch auch genau auf dieser Ebene und schlägt eine neue Demokratietheorie der Identitätspolitik vor. Dabei geht es um fundamentale Fragen: Was ist eigentlich Demokratie, und welche Rolle spielt soziale Exklusion dabei? Wer ist das demokratische Wir – das ‹Volk› – und wie entwickelt es sich weiter? Wie sollten wir demokratischen Fortschritt verstehen? Und gibt es so etwas wie einen universellen und vernünftigen Standpunkt, von dem aus es möglich wäre, allgemeine Urteile zu fällen, also beispielsweise Fortschritt auf allgemeine Weise und damit für alle zu definieren?

Die Hauptthese dieses Buches lautet, dass Identitätspolitik für die Demokratisierung der Demokratie unverzichtbar ist. Es geht also darum, eine grundsätzlich andere Auffassung von Demokratie und Identitätspolitik zu entwickeln als diejenige, die in den Kritiken artikuliert wird. Diese Auffassung beruht auf einer ganzen Reihe sozialphilosophischer und politiktheoretischer Argumente, die vor allem aus der radikalen Demokratietheorie und der politischen Epistemologie stammen. In diesem Rahmen wird Demokratie nicht (nur) als das institutionelle und rechtliche Gefüge verstanden, das wir normalerweise mit ihr verbinden, sondern der Akzent liegt in erster Linie darin, Demokratie als einen Prozess der weiteren Demokratisierung durch Herrschaftskritik zu denken. Es geht demnach bei Demokratie immer darum, das demokratische Versprechen – tatsächliche gleiche Freiheit für alle Menschen – weiter zu realisieren. Das heißt, das primäre Anliegen dreht sich um die laufende Demokratisierung der Demokratie.

Das vorliegende Buch bemüht sich darum, das Lob der Identitätspolitik so klar und differenziert wie möglich zu begründen. Dabei wird es nicht alle Leser_innen überzeugen können, denn man kann auf Grundlage anderer Theorien und anderer empirischer Einschätzungen bei allen Punkten zu anderen Bewertungen kommen. Aber um Überzeugung geht es mir auch nicht in erster Linie. Mein Anliegen ist vor allem, dass wir in eine differenzierte Debatte zur Identitätspolitik und ihrer Bedeutung für die Demokratie kommen. Und trotz des generellen Lobes von Identitätspolitik ist auch klar: Innerhalb von Identitätspolitiken werden viele Fehler gemacht, und dieses Buch ist keine carte blance für alle möglichen Formen des identitätspolitischen Engagements. Ich werde deshalb auch Vorschläge zur Unterscheidung von ‹guter› und ‹schlechter› Identitätspolitik machen – die komplizierter ist als meist angenommen.

Angewandte Demokratietheorie

Die Demokratisierung der Demokratie ist nötig, weil die real existierenden demokratischen Institutionen ihren eigenen Maßstäben nicht gerecht werden: Viele Gruppen sind diskriminiert und von ökonomischer, sozialer und politischer Teilhabe ausgeschlossen. Das Volk selbst, das Fundament der Demokratie, ist also unvollständig und ausschließend. Bei demokratischem Fortschritt geht es folglich um seine Ausweitung, das heißt, um gerechtere Teilhabe. Dies ist der Ausgangspunkt der Überlegungen des Bandes – und eine Position, die selbst Gegenstand der Kulturkämpfe ist. Ich plausibilisiere diese Position deshalb im ersten Kapitel. Ich zeige dort, dass Identitätspolitik auf real existierende Diskriminierungsstrukturen reagiert, die sich empirisch nachweisen lassen, und erläutere mein Verständnis von Demokratie als eine Art des politischen Engagements, das sich gegen solche Diskriminierungen richtet. Denn genau um diese Diskriminierungen geht es bei den aktuellen Kulturkämpfen. Hier steht der Einsatz für mehr soziale Gerechtigkeit, Teilhabe und Inklusion einer immer aggressiver auftretenden Kritik dieser Ansprüche gegenüber. Identitätspolitik beschreibt eine Seite dieser Kämpfe: Sie kann im Sinne der Geschichte des Konzepts und der aktuellen Debatten als eine politische Praxis marginalisierter Gruppen verstanden werden, die sich in Bezug auf eine kollektive Identität gegen ihre Benachteiligung durch Strukturen, Kulturen und Normen der Mehrheitsgesellschaft wehren. Dabei bauen sie auf geteilten Praktiken, Erfahrungen und Interessen auf, indem sie diese zu etwas Gemeinsamen verknüpfen und damit einen Standpunkt entwickeln, von dem aus sie Exklusion und Diskriminierung kritisieren. Thematisch geht es bei heutiger Identitätspolitik insbesondere um Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit und Klassismus.[1] Und es geht immer auch darum, wie diese mit ungerechter Einkommens- und Vermögensverteilung verstrickt sind, denn Diskriminierung korreliert mit größerem Armutsrisiko – und die Armutsrisiken sind in Deutschland sehr groß, insofern die reichsten 1 % der Deutschen etwas über ein Drittel des Gesamtvermögens besitzen und damit mehr als 90 % der Bevölkerung zusammen (Schröder et al. 2020: 515), wobei insbesondere die Tatsache, dass Erbschaften nur sehr gering und Vermögen z. Z. gar nicht besteuert werden, zu dieser Ungleichheit beiträgt. Die Kritik an Identitätspolitik basiert wiederum auf der gegenteiligen Prämisse: Dass Diskriminierung kein fundamentales Problem unserer Gesellschaft mehr sei. Ich werde im zweiten Kapitel argumentieren, dass sie darauf hinausläuft, die eigene Vormachtstellung, genauer, die eigenen Privilegien, zu erhalten. Während Privilegienverteidigung zwar meist nicht das explizite Anliegen der Kritiker_innen darstellt, so ist sie doch der Effekt des Zurückdrängens von Identitätspolitik.

Identitätspolitik ist notwendig für die Demokratisierung der Demokratie, weil universelle Ansprüche von Gleichheit und Freiheit nur durch identitätspolitische Standpunkte konkret formuliert werden können. Dies liegt daran, dass die Ausschlüsse auch ein Problem der politischen Epistemologie sind, das heißt, sie hängen mit den Möglichkeiten und Blockaden von politisch relevantem Wissen zusammen. Für die Perspektive der Mehrheitsgesellschaft ist es schwer, strukturelle Diskriminierungen zu erkennen und angemessen zu thematisieren ‒ insbesondere, weil sich diese Mehrheitsperspektive oft so versteht, als würde sie eine universelle Auffassung formulieren, bei der die soziale Position gar keine Rolle spiele. Leichter fällt diese Thematisierung vom partikularen Standpunkt von Personen, die von Diskriminierungen direkt betroffen sind. Das heißt nicht, dass es keine universellen Normen gibt – ich beziehe mich ja selbst auf die universellen demokratischen Normen der Gleichheit und Freiheit –, aber wie genau diese abstrakten Begriffe verstanden und politisch konkretisiert werden, hat auch (nicht nur) mit der sozialen Position zu tun, von der ausgehend sie formuliert werden.

Diese These der demokratisierenden Funktion von Identitätspolitik wirft sofort berechtigte Fragen auf, die gleichzeitig Hauptthemen der Identitätspolitik-Kritik sind: Führt identitätspolitische Gesellschaftskritik nicht zu Moralisierung und damit zum Aufbau von neuer Herrschaft und Unfreiheit, die im Widerspruch zur Demokratisierung steht? Ist der Identitätsbezug der Identitätspolitik vielleicht sogar im Kern anti-emanzipatorisch, weil dadurch Menschen auf starre Identitäten festgeschrieben werden und andere ausgeschlossen werden? Oder anders gesagt: Verfährt Identitätspolitik nicht essentialisierend? Und folgt aus der Bevorzugung des identitätspolitischen Wissens nicht tatsächlich eine Gefahr für die öffentliche Vernunft und damit für die Demokratie, weil es so mehr darauf anzukommen scheint, wer etwas sagt, als was gesagt wird? Es sind diese drei Fragen, die in den aktuellen Debatten und Veröffentlichungen zur Identitätspolitik immer wieder diskutiert werden, allerdings mit vielen Missverständnissen, Verzerrungen und Verkürzungen. Ich werde sie deshalb politiktheoretisch diskutieren und damit als wirkliche Probleme der Demokratie ernstnehmen. In meiner Erwiderung auf diese Probleme konturiere und plausibilisiere ich die radikaldemokratische Theorie der Identitätspolitik.

Im zweiten Kapitel geht es um das Problem der Freiheit ‒ genauer: um eine kritische Analyse der Kritik an Identitätspolitik, die dieser vorwirft, Freiheit durch neue ‹Political Correctness› generell einzuschränken. Ich versuche zu zeigen, dass hier ein Missverständnis vorliegt, weil man Freiheit nicht so verstehen sollte, wie es in dieser Debatte geschieht. Mit einem überzeugenderen Freiheitsbegriff, der Freiheit als ein Problem von sozialer Normierung interpretiert, zerfällt diese Kritik. Auf dieser Grundlage lässt sich auch zwischen unterschiedlichen Ebenen unterscheiden, auf denen Meinungs- und Kunstfreiheit Einschränkungen erfahren. Ich argumentiere, dass von solchen Einschränkungen nur auf der Ebene der staatlichen Regulierung von Hassrede, nicht aber bezüglich angeblicher ‹Cancel Culture› in der öffentlichen Debatte und des allgemeinen Kunstbetriebs gesprochen werden kann, und dass auf einer halb-staatlichen Ebene (öffentlich-rechtlicher Rundfunk und Kulturförderung) ein neuer Begriff von Neutralität notwendig ist, der gesellschaftliche Diskriminierungen ernst nimmt.

Nach der Kritik des Anti-Identitätspolitik-Diskurses geht es im dritten Kapitel um den Aufbau einer eigenständigen Konzeption der Funktionsweise und Wirkung von Identitätspolitik. Dabei diskutiere ich das Problem des Essentialismus. Immer wieder wird behauptet, dass Identitätspolitik nicht umhinkomme, die Essenz, also das Wesentliche, von Identitäten festzulegen, und dass dies die Wurzel vieler Probleme sei, die mit Identitätspolitik einhergingen. Ich zeige demgegenüber, dass Identitätspolitik ein komplexer Konstruktionsprozess von Identität ist. Identitätspolitik erzeugt Identität – und genau deshalb ist sie unverzichtbar. Identitätspolitik ist nötig, um überhaupt die Standpunkte zu erarbeiten, von denen aus Diskriminierung kritisiert werden kann.

Im vierten Kapitel geht es dann um das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem, oder philosophisch ausgedrückt: um Universalismus und Partikularismus. Wenn Diskriminierungen nur von identitätspolitischen Standpunkten aus kritisiert werden können, hört sich das so an wie ein «positionaler Fundamentalismus» (Villa Braslavsky 2020: 74), bei dem nur noch die soziale Position zählt, nicht aber die gemeinsame Vernunft. Ich erläutere dagegen, dass der Einbezug von partikularen Standpunkten notwendig ist, um die Vorstellung dessen, was als vernünftig und universell gilt, zu verbessern und zu konkretisieren. Und auch, dass dafür manchmal das ruhige Gespräch nicht ausreicht, sondern Machtmittel wie Protest, ‹Canceln› oder ziviler Ungehorsam notwendig sind, um der Vernunft auf die Sprünge zu helfen. Wichtig ist dabei, dass sich solche Machtmittel selbst an der universellen Vernunft messen lassen müssen. Empirisch lässt sich entsprechend beobachten, dass sie immer dann zurückgewiesen werden, wenn sie sich nicht diskursiv verteidigen lassen. Damit argumentiere ich für zwei auf den ersten Blick widersprüchliche Thesen: dass die Einbeziehung der sozialen Position unverzichtbar ist und dass es dabei darum geht, starke Objektivität und bessere intersubjektive Verständigung zu erreichen. Diese Thesen entwickle ich auch unter Rückgriff auf neue philosophische Theorien zur sozialen und politischen Dimension von Wissen und Nichtwissen.

Die zentrale These dieses Buches lautet, dass Identitätspolitik insgesamt notwendig für die Demokratisierung der Demokratie ist. Das bedeutet natürlich nicht, dass alle einzelnen Praktiken oder Forderungen, die in der öffentlichen Debatte unter das Label der Identitätspolitik subsumiert werden, auch tatsächlich demokratisierend sind. Im Gegenteil, es gibt regressive Tendenzen in der Identitätspolitik, die ich im dritten Kapitel (im Abschnitt «Konstruktivistische und regressive Identitätspolitik») und vierten Kapitel («Universalismus und Partikularismus») einzuordnen versuche. Im letzten Kapitel führe ich diese Überlegungen zusammen, indem ich Maßstäbe vorschlage, an denen sich Identitätspolitiken messen lassen sollten. Und am Schluss diskutiere ich dann noch mögliche Einwände gegen meine Argumente.

Der Ansatz des Buches besteht also darin, die Perspektive auf Identitätspolitik durch die Methoden der politischen Theorie und Sozialphilosophie zu erweitern. Während Identitätspolitik tatsächlich oft missbraucht wird, sollte dies kein Grund für eine Fundamentalkritik (die das Kind mit dem Bade ausschüttet) und eine Rückkehr zu einem platten Universalismus sein, wie sie in den meisten in letzter Zeit erschienenen Büchern zum Thema vertreten wird. Im Gegenteil: Erst wenn anerkannt wird, wie nötig Identitätspolitik für die Demokratisierung der Demokratie ist, kann konkreter und präziser gefragt werden, in welchen Fällen spezifische Identitätspolitiken die demokratischen Normen auch verletzen können.

Jenseits der Entmystifizierung

Mein politiktheoretischer Ansatz geht auch über die typischen Argumente von progressiven Verteidiger_innen der Identitätspolitik hinaus. Die verbreitetste Argumentationsstrategie bemüht sich darum, die mit Identitätspolitik verbundene Panikmache bezüglich ‹Political Correctness› und ‹Cancel Culture› als einen Mythos zu entlarven (siehe z.B. Wilson 1995; Auer 2002; Erdl 2004; Sparrow 2018). Es geht hier also darum, darauf hinzuweisen, dass es sich bei diesen Phänomenen nicht um reale Probleme, sondern nur um eine konservative «moral panic» handele (Daub 2022: 31). ‹Political Correctness› und ‹Cancel Culture› sind demnach nur strategisch eingesetzte Mythen einer konservativen bzw. neurechten Agenda, der es durch geschickte und ständig wiederholte Platzierung gelungen sei, bis weit in den Mainstream und linksliberale Debatten vorzudringen. Es gebe sie aber gar nicht, sondern sie seien nur Konstrukte des konservativen Diskurses.

Die jüngste und detailreichste Version dieser Diskursstrategie findet sich in Adrian Daubs Monographie Cancel Culture Transfer, in der er überzeugend darlegt, dass ‹Cancel Culture› Gegenstand einer moral panic ist, die durch Anekdoten funktioniert. Analysiere man die immer wieder kolportierten Cancel-Geschichten genauer, so würden sie erstens entdramatisiert, weil sich das Geschehen mit zusätzlichen Informationen als banal oder gut nachvollziehbar darstelle und so den Anschein des problematischen Cancelns verliere. Zweitens würde immer wieder eine recht beschauliche Zahl von Cancel-Anekdoten wiederholt, weshalb die Rede von ‹Kultur› irreführend sei. Es gebe schlicht und einfach nicht die Masse an problematischen Phänomenen, die nötig wäre, damit von einer Gefährdung der Demokratie durch Identitätspolitik und einer ganzen ‹Culture› die Rede sein könnte. Drittens gebe es auch keine Zunahme der Phänomene; die gleichen aufgeregten Warnungen vor einer neuen demokratiezersetzenden Identitätspolitik habe es unter dem Schlagwort ‹Political Correctness› schon in den 90ern gegeben. ‹Cancel Culture› bzw. die Angst davor sei also gar nichts Neues, sondern alter Wein in neuen Schläuchen. Dass es diese konservative Agendarhetorik trotzdem schaffe, eine moral panic in der Mehrheitsgesellschaft herbeizuführen, liege also nicht an den tatsächlichen Phänomenen, sondern vielmehr an spezifischen Sorgen und Orientierungslosigkeiten innerhalb der Mehrheitsgesellschaft, die in der moral panic einen verzerrten Ausdruck fänden. Dabei geht es nach Daub vor allem um zweierlei: einerseits um eine Ausweitung der legitimen Stimmen im öffentlichen Diskurs, in dem jetzt beispielsweise auch queere und rassifizierte Menschen das Wort ergriffen, was für viele Menschen in der Mehrheitsgesellschaft ein Unbehagen und eine Angst vor einem Machtverlust auslöse. Andererseits verunsicherten die Umbrüche in der Medienlandschaft das Feuilleton, das durch Social Media seine traditionelle politikkulturelle Deutungshoheit verliere, weshalb Identitätspolitik und ‹Cancel Culture› auch immer dort, aber kaum im Politikteil von Zeitungen verhandelt würden.

Eine sehr gute soziologische Einordnung dieses Unbehagens bietet das Buch Gekränkte Freiheit. Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey (2022) zeigen dort, dass das vorherrschende individualistische Freiheitsverständnis zusammen mit der neoliberalen Aushöhlung der sozialen Sicherheits- und Solidaritätssysteme eine Ausgangslage bildet, in der sich insbesondere ehemalige Mitglieder linksalternativer Milieus zu Querdenker_innen, AfD-Sympatisant_innen und Identitätspolitik-Kritiker_innen entwickeln können.

Diese Argumente sind grundsätzlich richtig: In der Kritik an Identitätspolitik und der damit zusammenhängenden ‹Cancel-Culture›-Panik wird überwiegend mit übertriebener Rhetorik in immer wiederkehrenden Anekdoten dramatisiert. Es spricht empirisch also alles dafür, dass Identitätspolitik kein Problem für die Demokratie darstellt. Doch wer von dieser These nicht schon überzeugt ist, den wird wohl auch Daubs materialreiche Entmystifizierung des Mythos ‹Cancel Culture› nicht überzeugen. Denn natürlich gibt es Verschiebungen in Machtrelationen, insbesondere im öffentlichen Diskurs – das ist das Ziel von Identitätspolitik, und daran zeigt sich ihr Erfolg. Die geänderten Machtverhältnisse führen dazu, dass mehr Stimmen Gehör finden und nun Aussagen und Verhaltensweisen mit sozialen Sanktionen belegt werden, die früher belohnt wurden. Dies ist für viele Menschen eine tatsächliche Einschränkung von Freiheit, weshalb nicht genügt, das damit verbundene Unbehagen nur als Resultat einer moral panic abzutun – vielmehr ist es nötig, darüber zu debattieren, welche spezifischen Freiheitseinschränkungen berechtigt sind, weil sie Freiheit für alle verbessern.

Zu sagen, dass diese Einschränkungen durch ‹Political Correctness› und damit angeblich verbundene Probleme für die demokratische Kultur nur ein Mythos sind, setzt schon eine Unterscheidung von legitimen und illegitimen Regulierungen des öffentlichen Diskurses und der demokratischen Verfahren voraus. Die bleibt bei der Entmystifizierungsstrategie allerdings implizit. Wenn man beispielsweise im Gegensatz zur quasi gesamten deutschen Medienlandschaft argumentiert, dass es sich beim Ersetzen des Gedichtes von Eugen Gomringer an der Fassade der Alice Salomon Hochschule in Berlin (Der Spiegel 2018) nicht um ‹Cancel Culture› handele, weil das Gedicht zu Recht als sexistisch kritisiert worden sei und diese Kritik in einem legitimen Verfahren (öffentliche Kritik, öffentlicher Diskurs und eine Entscheidung durch die dazu berechtigten Entscheidungsgremien der Universität) wirksam geworden sei, basiert das auf substantiellen Annahmen über legitime Kritik, die meist gar nicht expliziert werden. Die Gretchenfrage besteht jedoch darin, wo die Grenze zwischen legitimer und illegitimer Kritik zu ziehen ist – wann wäre es denn problematische ‹Cancel Culture›? – und die lässt sich nicht durch eine Entmystifizierung der Einzelfälle leisten. Dieses Problem findet sich auch in der Monographie Daubs. An keiner Stelle werden die normativen Grundlagen, auf denen die Argumente im Buch implizit basieren, ausgewiesen und gerechtfertigt.

Gleichzeitig ist die Strategie der Entmystifizierung zu zahm, weil sie nur den Status quo verteidigen kann. Wenn das Hauptziel in dem Nachweis liegt, dass es gar keine ‹Cancel Culture› gibt, dann schließt man sich damit implizit der normativen Position an, dass es sie auch nicht geben sollte. Die Frage, welche Art von Neuregelung des Politischen zur Demokratisierung der Demokratie wünschenswert ist, kann so nicht gestellt werden. Dafür ist eine Explikation der zugrundeliegenden ‹Normativität› nötig, also der in Anschlag gebrachten Bewertungsmaßstäbe und ihrer Begründungen. Es bedarf einer Erklärung, warum die politische Neuregelung von Machtverhältnissen grundsätzlich notwendig erscheint und welche spezifischen Arten von Regelung legitim und welche illegitim sind. Und dabei helfen die Ressourcen der politischen Theorie, mit denen Exklusion und Diskriminierung durch die real existierende Demokratie analysiert und die Möglichkeiten ihrer Verbesserung und Weiterentwicklung bewertet werden können. Die politische Theorie kann systematisch und normativ einen Vorschlag dazu machen, welche Art von Identitätspolitik für die Demokratisierung der Demokratie notwendig ist.

Ein neues Lob der Identitätspolitik

Der Streit um Identitätspolitik wird so heftig geführt, weil er sich auch darum dreht, wie wir unsere Gesellschaft und Demokratie grundsätzlich weiterentwickeln wollen. Indem ich diese Dimension der Diskussionen herausarbeite, die die Demokratie im Allgemeinen betrifft, möchte ich einen Schritt von der Debatte zurücktreten und mithilfe der politischen Theorie ihre begrifflichen Hintergründe genauer beleuchten. Meine Interpretation der Identitätspolitik als notwendig für die Demokratisierung der Demokratie wird wahrscheinlich nicht alle Leser_innen überzeugen können, aber ich denke, dass ihre politiktheoretische Herleitung zu einem klareren Verständnis des Streits um Identitätspolitik beiträgt.

Das bedeutet: Ich werde die Frage nach dem demokratischen Wert der Identitätspolitik mit einer theoretischen Verallgemeinerung beantworten. Das ist kein Nachteil, sondern genau die Stärke des vorliegenden Buches. Theoretische Verallgemeinerung erlaubt erst die Entwicklung von Begriffen, mit denen eine angemessenere Interpretation der politischen Gegenwart möglich wird. Und dieser Rahmen kann genutzt werden, um konkrete Situationen neu zu bewerten und politische Strategien zur Demokratisierung zu entwickeln. Ich werde dabei immer wieder Beispiele anführen ‒ vor allem solche, die viel diskutiert wurden, um meine Position zu illustrieren.

Doch eine zentrale Erkenntnis der radikaldemokratischen Perspektive geht über die Bewertung von Einzelfällen hinaus. Sie lautet, dass Identitätspolitik ein nicht bloß vorübergehendes, sondern ein notwendiges Element der Demokratie ist ‒ und zwar einerseits, weil demokratische Institutionen immer wieder neue Ausschlüsse und Diskriminierungen produzieren, und andererseits, weil solche Ausschlüsse auch von Identitätspolitiken selbst hervorgebracht werden können. Auch wenn einzelne identitätspolitische Projekte darin erfolgreich sind, Diskriminierungen zu beenden, entstehen üblicherweise neue Diskriminierungsdynamiken – auf die wiederum identitätspolitisch reagiert wird. Ein Beispiel ist die rassistische Diskriminierung von Iren in den USA des 19. Jh., die damals nicht als Weiß galten. Durch Identitätspolitik (auch wenn es damals nicht so genannt wurde) überwanden sie diese Diskriminierung und waren in der Lage, sich selbst als Weiße zu positionieren. Diese Akzeptanz als Weiße erlangten sie allerdings auch durch die Unterdrückung anderer: Sie distanzierten sich selbst rassistisch von Schwarzen (Ignatiev 1995). Auch innerhalb von Identitätspolitiken kann es also Diskriminierungen geben – beispielsweise gibt es im Feminismus eine lange Diskussion darüber, dass dieser zu stark von der Position Weißer bürgerlicher Frauen ausgehe und deshalb die Interessen von rassistisch diskriminierten Frauen vernachlässige (hooks 1982; Mohanty 1988). Ich werde argumentieren, dass sich demokratische Identitätspolitik dadurch auszeichnet, solche selbstproduzierten Diskriminierungen zu reflektieren und darauf zu reagieren. Ich verstehe identitätspolitische Demokratisierung deshalb als einen im Prinzip nicht endenden Prozess, bei dem immer neue komplizierte Fragen der Diskriminierung eröffnet werden, die von der jeweils aktuellen mehrheitsgesellschaftlichen Position nicht gut verstanden werden können. Streit über Einzelfälle ist also vorprogrammiert – sowohl in der öffentlichen Diskussion über Identitätspolitik als auch in den Diskussionen innerhalb identitätspolitischer Gruppen. Solcher Streit ist sogar notwendig. Und das ist auch gut so.

Die Theorie reflektiert so auch ihre eigene Grenze: Sie kann nach diesen Prämissen gar kein festes Schema für die allgemeine Bewertung von konkreten Fällen entwickeln, weil insbesondere kommende Fälle immer umstritten sind. Entsprechend zurückhaltend sind meine Überlegungen zu den Maßstäben für gute Identitätspolitik. Diese Maßstäbe haben deshalb eher einen heuristischen Charakter: Sie sollen dabei helfen, demokratisierende Identitätspolitik von repressiven Spielarten zu unterscheiden. Zentral für die Interpretation der Gegenwart ist aber weniger, wie eindeutig sich bestimmte Identitätspolitiken bewerten lassen, als das Verständnis, das durch das Vokabular der politischen Theorie über das grundsätzliche Verhältnis von Identitätspolitik und Demokratie gewonnen wird. Die Welt komplizierter und zugleich verständlicher zu machen – das ist die große Stärke der Theorie.

1

Eine kleine Einführung in Identitätspolitik, Diskriminierung und Demokratie

Was ist Identitätspolitik?

Mit Blick auf die Entstehungsgeschichte des Begriffs wie auch auf die aktuelle Debatte verstehe ich unter ‹Identitätspolitik› die politische Praxis marginalisierter Gruppen, die sich in Bezug auf eine kollektive Identität gegen ihre Benachteiligung durch Strukturen, Kulturen und Normen der Mehrheitsgesellschaft wehren (vgl. Combahee River Collective 1979; Susemichel/Kastner 2018: 7). Bei Identitätspolitik agieren Menschen also beispielsweise als Frauen, als Schwule, als Schwarze oder als Jüd_innen zusammen (das ist die kollektive Identität), und zwar gegen eine Diskriminierung, die auf diese Identität bezogen ist. Ein wichtiger Aspekt von Identitätspolitik liegt dabei in der gemeinsamen Aushandlung, wie die entsprechende Identität und Diskriminierung überhaupt zu verstehen sind. Identitätspolitik zielt also auf die Emanzipation solcher Gruppen und damit auf politischen Fortschritt hin zu einer gerechteren und diskriminierungsfreieren Gesellschaft.

Akteure der Identitätspolitik sind vor allem Menschen, die sich entsprechend identifizieren – was aber nicht ausschließt, dass sich auch Menschen, die eine Identität nicht teilen, identitätspolitisch engagieren. In Kapitel 3 werde ich erläutern, wieso diese Identitätspolitik als ein aktiver Konstruktionsprozess von Identitäten verstanden werden sollte, der diese Identitäten nicht essentialistisch festschreibt, sondern vielmehr zu transformieren versucht. Dabei ist nicht jede Politik, die sich gegen Marginalisierung und Diskriminierung wendet, emanzipatorisch. Tatsächlich besteht ein nicht unwesentlicher Streitpunkt in den Debatten um Identitätspolitik darin, dass sehr unterschiedliche Auffassungen dessen, was emanzipatorisch ist, aufeinanderprallen. Ich werde im Verlauf des Buches keine allgemeine Formel dafür liefern können. Aber ich werde erklären, wie Emanzipation demokratietheoretisch verstanden werden kann, und Maßstäbe inhaltlicher und prozeduraler Art plausibilisieren. Diese können als Orientierungspunkte dienen, um zu beurteilen, ob konkrete identitätspolitische Projekte tatsächlich emanzipatorisch sind oder an diesem Ziel und Anspruch scheitern.

Diese Maßstäbe lassen sich allgemein so formulieren: Inhaltlich handelt es sich um einen normativen Bezug auf die Gleichheit und Freiheit aller Menschen und prozeduralistisch um den kontinuierlichen Vollzug einer kritischen Selbstreflexion. Das hört sich recht klar und universalistisch an, wirklich kompliziert wird es aber, sobald klar wird, dass die konkreten Interpretationen dieser abstrakten Maßstäbe von sozialen Positionen abhängig sind. Die Auswirkungen dieser Abhängigkeit des politisch relevanten Wissens von sozialen Positionen, und was das für das Verständnis von ‹Universalismus› bedeutet, werde ich in Kapitel 4 erläutern.

Identitätspolitik ist nicht gleichzusetzen mit Interessenpolitik, denn eine Benachteiligung durch soziale Strukturen bildet keine Voraussetzung für Interessenpolitik. So ist die Forderung von Erzieher_innenverbänden nach besserer Bezahlung noch keine Identitätspolitik, die Kritik an geschlechtsspezifisch segregierten Arbeitsmärkten und damit einhergehender schlechter Bezahlung – die Frauenquote bei Kita-Mitarbeiter_innen liegt bei 92,1 % (Völkerling 2024) und das ganze Feld unterliegt einem Gender-Pay-Gap (Bethke 2022) – aber schon. Gleichzeitig werden durch Identitätspolitik selbstredend Interessen formuliert und vertreten. Ich schlage vor, Identitätspolitik einerseits von einfacher Interessenpolitik (bei der Gruppen für ihre Interessen eintreten, ohne dass dabei eine diskriminierungsbezogene Identität im Fokus steht) und andererseits von exkludierender Interessenpolitik zu unterscheiden. Letztere beschreibt eine Form der Interessenpolitik, die wie einfache Interessenpolitik nicht auf reale Diskriminierungsverhältnisse reagiert (oder solche Diskriminierungsverhältnisse verzerrt darstellt) und darüber hinaus einen exkludierenden Charakter besitzt, weil sie aufgrund eines essentialisierenden Identitätsbezugs mit Ausschlüssen einhergeht. Exkludierende Interessenpolitik ist ein anderer Ausdruck für regressive Identitätspolitik, bei der keine demokratisierende Wirkung erkennbar ist (siehe dazu Kapitel 5). Ein besonders eindeutiger Fall von exkludierender Interessenpolitik stellt rechtsnationale Politik dar, wie beispielsweise die der identitären Bewegung.

Auch von politischem Aktivismus ohne Identitätsbezug sollte Identitätspolitik unterschieden werden. So ist beispielsweise der Protest der Letzten Generation keine Identitätspolitik – weil er nicht auf eigene Diskriminierungen reagiert, sondern sich unabhängig davon für die Verbesserung (bzw. das Überleben) unserer Gesellschaft insgesamt einsetzt. Der disruptive Protest der Letzten Generation kann nach der radikalen Demokratietheorie als demokratisierend verstanden werden. Doch dass sie mit ihren Forderungen in der Politik nicht (genügend) durchdringt, liegt in erster Linie an systemischen Zwängen des Kapitalismus und politischer Institutionen ‒ und nicht an Verständigungsproblemen oder sogar -blockaden, wie es bei Identitätspolitik der Fall ist.[1]

‹Identitätspolitik› hat sich teilweise zu einem Kampfbegriff gegen linke Politik überhaupt entwickelt. Angesichts der aufgeheizten und recht vertrackten Debatte um ‹linke› Identitätspolitik – verstanden als Einsatz von Betroffenen gegen ihre Unterdrückung und strukturelle Benachteiligung –, hat es den Anschein, als wäre der Begriff für eine rationale Debatte schon verloren. Deshalb erscheint die Überlegung nachvollziehbar, den Begriff grundsätzlich anders zu deuten und für die demokratisierende Politik, die ich hier beschreibe, einen anderen Namen zu finden. Man könnte dem Kampfbegriff ‹Identitätspolitik› dann einerseits mit dem Hinweis entgegentreten, dass jegliche Politik mit sozialen Positionen und daraus resultierenden Identitäten verknüpft ist, auch wenn diese häufig nicht benannt werden, und Identitätspolitik deshalb gar nichts spezifisch Linkes ist. Und um insbesondere der rechten Hetze gegen Identitätspolitik etwas entgegenzusetzen, könnte man den Spieß auch umdrehen und argumentieren, dass die Rechten selbst ‹Identitätspolitik› betreiben, weil Identitäten insbesondere in Kämpfen von rechten Bewegungen wie Maskulinisten, der identitären Bewegung oder Pegida im Vordergrund stehen, die auf die Aufrechterhaltung ihrer dominanten oder privilegierten Position als Männer bzw. Weiße Deutsche zielen und gegen eine emanzipative Politik der Gleichheit gerichtet sind (Decker 2018; Müller 2019). Doch eine solche Begriffsverwendung kann wiederum dafür mobilisiert werden, rechte und nationalistische ‹Identitätspolitik› mit linker Identitätspolitik zu vergleichen ‒ auch um damit die angeblichen Auswüchse letzterer zu kritisieren, wie es in der Debatte oft geschieht (Stegemann 2023; Thierse 2021).

Zwar ist es richtig, dass ein Identitätsbezug in nahezu jeglicher Politik ‒ und in besonders essentialistischer Weise in rechtsnationalistischer Politik ‒ zu finden ist. Das Problem an den beiden skizzierten Verständnissen ist aber erstens, dass sie zu weit vom politischen und theoretischen Diskurs entfernt sind. Identitätspolitik wird überwiegend als linke bzw. emanzipatorische Politik von marginalisierten Gruppen verstanden, die sich gegen Diskriminierungsverhältnisse wie Rassismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit engagieren. Mir erscheint es wenig sinnvoll, eine ganz andere Bedeutung etablieren zu wollen. Deshalb halte ich an dem Begriff und dieser Grundbedeutung fest, zeige aber, dass Identitätspolitik, so verstanden, anders funktioniert, als die Kritiker_innen behaupten. Ich stelle mich damit gegen die Umdeutung des Wortes ‹Identitätspolitik› in einen konservativen Kampfbegriff und versuche, ihn als zentralen Grundbegriff für demokratische Politik zu stärken. Zweitens geht mit der These, jegliche Politik sei eigentlich Identitätspolitik, das spezifische Merkmal von Identitätspolitik als einer besonderen Praxis der Demokratisierung verloren. Die zentrale These des vorliegenden Buches besagt nicht nur, dass Identitätspolitik keineswegs so problematisch ist, wie oft behauptet wird; sondern ich will vor allem dafür argumentieren, dass sie notwendig für die laufende Demokratisierung der Demokratie ist. In diesem Sinne sollte Identitätspolitik als eine herausgehobene, fundamentale und insofern demokratietheoretisch ausgezeichnete Art von Politik verstanden werden.

Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass Identitätspolitik ein sowohl altes als auch neues Phänomen darstellt. Einerseits ist sie alt: Die erste Form der modernen Identitätspolitik ist Klassenpolitik, die vor allem Karl Marx und Friedrich Engels beschrieben haben. Klassenpolitik beruht darauf, dass Arbeiter_innen (damals allerdings eine noch fast ausschließlich männliche Gruppe) sich aufgrund ihrer geteilten Unterdrückungserfahrungen zusammentun und eine gemeinsame Identität mit einem gemeinsamen (Klassen-) Standpunkt als Proletarier entwickeln (Marx/Engels 2012). Klassenpolitik ist notwendig, weil der Kapitalismus ohne das spezifische Wissen dieses Klassenstandpunktes nicht hinreichend als problematisch erkannt werden kann (siehe auch Lukács 1968). Aber Arbeiter_innen haben den Klassenstandpunkt nicht automatisch inne, sondern müssen ihn aktiv entwickeln, indem sie sich gemeinsam ihrer Klassenlage bewusstwerden (Thompson 1966). Das Grundproblem des unzureichenden bzw. notwendigerweise falschen Wissens, für dessen Lösung Identitätspolitik notwendig ist, ist also schon bei Marx entwickelt – Stichwort ‹Ideologie›: Bei Identitätspolitik geht es um die Bewusstwerdungsprozesse auf der Seite der Marginalisierten, die erforderlich sind, um partikulare Standpunkte zu entwickeln ‒ die wiederum eine Voraussetzung dafür sind, das Denken einer ganzen Gesellschaft zu ändern.

Identitätspolitik ist aber andererseits neueren Datums und wird oft mit den gesellschaftlichen Umwälzungen der 68er in Verbindung gebracht. Davor hatten soziale Bewegungen überwiegend gleiche Rechte gefordert. Frauen beispielsweise kämpften für das Wahlrecht und Schwarze für Freiheits- und Beteiligungsrechte. Dafür betonten diese Bewegungen die Gleichheit mit Weißen Männern. Sie stritten ab, dass es eine fundamentale und natürliche Ungleichheit zwischen Männern und Frauen bzw. Weißen und Schwarzen gäbe. Dies war entscheidend, denn mit der Behauptung solcher Ungleichheit wurde Sexismus und Rassismus auch durch die damalige Wissenschaft begründet (Nicholson 2008). Die Botschaft der älteren sozialen Bewegungen war: Wir sind gleich, deshalb fordern wir gleiche Rechte.