Lockwood & Co. - Das Flammende Phantom - Jonathan Stroud - E-Book

Lockwood & Co. - Das Flammende Phantom E-Book

Jonathan Stroud

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Beschreibung

Im vierten Abenteuer um die Geisterjägeragentur Lockwood & Co. bekommen Anthony Lockwood und George es mit einem besonders schrecklichen Verbrechen zu tun. Die Spur hinter dessen dunklem Geheimnis führt sie mitten ins Herz der Londoner Gesellschaft. Um diesen Fall zu klären, müssen sie alle Kräfte mobilisieren und so bitten sie die in Geisterdingen hochbegabte Lucy, als Beraterin in die Agentur zurückzukehren. Doch die Freunde ahnen nicht, wie sehr diese Nachforschungen sie selbst in ihren beruflichen und persönlichen Grundfesten erschüttern werden und dass sie damit Kräfte auf den Plan rufen, die selbst sie nicht mehr kontrollieren können ...

Jonathan Stroud schreibt unvergleichlich witzig und ironisch und sorgt mit den spannenden Abenteuern von Lockwood & Co für Gänsehaut und schlaflose Nächte.

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Seitenzahl: 592

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JONATHAN STROUD

DAS FLAMMENDE PHANTOM

Aus dem Englischen von Katharina Orgaß und Gerald Jung

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
© 2016 der deutschsprachigen Ausgabecbj Kinder- und Jugendbuchverlag in derPenguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Straße 28, 81673 München
Übersetzung: Katharina Orgaß und Gerald JungInnenillustrationen: © 2016 Kate AdamsCoverbild und -gestaltung: bürosüd, MünchenMP . Herstellung: UKSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-18714-9V006
www.cbj-verlag.dewww.lockwood-und-co.de

Für Louis, in Liebe

Inhalt

Einleitung

I. Die zwei Köpfe

II. Der Kannibale von Ealing

III. Fundsachen

IV. Das verfluchte Dorf

V. Die Eisenkette

VI. Unerwarteter Besuch

Glossar

Ganz Großbritannien befindetsich in den Fängen einer Geisterepidemie.

Seit nunmehr fünfzig Jahren suchen die ruhelosen Seelen der Toten in ständig wachsender Zahl die Insel und ihre Bewohner heim – keiner weiß, wie oder warum. Bei Einbruch der Dunkelheit verbarrikadieren sich daher die Londoner in ihren Häusern, deren Anwesen mit einer Vielzahl an Geisterabwehrmechanismen bewehrt sind. Dann liegen die Straßen verlassen da – bis die Schatten sich rühren. Nun ist es an den Schemen, Alben und Wiedergängern, die Stadt für die Nacht zu der ihren zu machen.

Manche der Phantome gieren danach, mit den Lebenden in Kontakt zu treten, doch die Folgen sind fatal für die Menschen. Die für das Übernatürliche blinden und tauben Erwachsenen sind besonders wehrlos gegenüber der damit einhergehenden tödlichen Geistersieche. Sie müssen deshalb ganz auf die Jugendlichen der Stadt vertrauen – denn einige von diesen verfügen über eine angeborene übernatürliche Gabe, kraft derer sie die Geister in Schach halten können. Deshalb beschäftigen die zahlreichen zur Abwehr der Plage entstandenen Geisteragenturen Teams jugendlicher Agenten, die mit Degen bewaffnet ausziehen, die tödliche Gefahr zu bekämpfen. Die Begabten unter ihnen kehren heim. Viele andere nicht.

Zwischen diesen zahllosen, von Erwachsenen geführten Agenturen ist Lockwood & Co. die kleinste und außergewöhnlichste. Sie besteht aus genau drei Agenten: ihrem dynamischen Anführer Anthony Lockwood, der so charmant wie genial ist; seinem Stellvertreter George, akribischer Rechercheur und unerschütterlich treuer Freund, wenn es an der Front brenzlig wird; und dem neuesten Mitglied Lucy Carlyle – mutig, gewitzt und mit einem beachtlichen übernatürlichen Talent gesegnet.

Gemeinsam haben die drei Agenten von Lockwood & Co. trotzdem alle Hände voll damit zu tun, dem Horror von London die Stirn zu bieten und dabei zu überleben.

Kapitel 1

Die Anwesenheit der Toten spürte ich, kaum dass ich in das mondbeschienene Büro geschlüpft war und die Tür behutsam hinter mir zugezogen hatte. Ich erkannte es am Kribbeln meiner Kopfhaut, daran, wie sich die Härchen meiner Unterarme aufrichteten und wie kalt die Luft war, die ich einatmete. Die dicken, eingestaubten und vor Raureif glitzernden Spinnweben vor dem Fenster verrieten es mir und natürlich die Geräusche – jene Hunderte von Jahren alten Geräusche, denen ich die Treppe empor und durch die leeren Flure des Hauses gefolgt war. Das Rascheln von Stoff, das Splittern von Glas, das Schluchzen der sterbenden Frau – das alles wurde immer lauter. Nicht zu vergessen das unmissverständliche Ziehen tief in meiner Magengrube; es sagte mir, dass etwas Bösartiges jeden meiner Schritte belauerte.

Aber selbst wenn all das nicht gewesen wäre, hätte mich spätestens die schrille Stimme aus meinem Rucksack alarmiert.

»Iiieeh!«, stieß sie hervor. »Hilfe! Ein Geist!«

Ich warf ungehalten einen Blick über die Schulter. »Halt die Klappe. Wir haben das Phantom lokalisiert. Kein Grund, hysterisch zu werden.«

»Da drüben steht sie und starrt uns aus ihren leeren Augenhöhlen an! Und jetzt – jetzt bleckt sie auch noch grinsend die Zähne!«

»Na und? Kann dir doch egal sein«, erwiderte ich ärgerlich. »Du bist bloß ein Totenschädel. Also krieg dich wieder ein.«

Ich streifte den Rucksack ab, stellte das Ungetüm auf den Boden und öffnete ihn. Ein großer Glasbehälter, der ein milchig grünes Licht ausstrahlte und in dem ein menschlicher Schädel eingesperrt war, kam zum Vorschein. Ein abstoßendes, halb durchsichtiges Gesicht quetschte sich so fest gegen die Glaswand, dass die Nase platt gedrückt wurde. Die hässlichen Glupschaugen zuckten hin und her.

»Du hast gesagt, ich soll dich warnen, schon vergessen?«, beschwerte sich der Schädel. »Hab ich gemacht. Iieeeh! Da drüben steht sie! Ein Geist! Knochen! Haare! Zähne! Uäääh!«

»Bist du endlich still?« Trotzdem verfehlten seine Worte ihre Wirkung auf mich nicht. Ich sah mich mit zusammengekniffenen Augen um und versuchte, in den dunklen Umrissen des Zimmers eine untote Gestalt auszumachen. Ich konnte zwar nichts erkennen, aber das beruhigte mich keineswegs. Dieser spezielle Geist gehorchte seinen eigenen Gesetzen. Ich fing an, fieberhaft in meinem Rucksack zu wühlen, schob das Glas beiseite und kramte zwischen den Salzbomben, Lavendelgranaten und Eisenketten herum.

In meinem Kopf hörte ich den Schädel sagen: »Falls du zufällig deinen Spiegel suchst, Lucy, kleiner Tipp: Du hast ihn mit einer Schnur hinten an den Rucksack gebunden.«

»Ach so. Stimmt ja.«

»Damit du ihn nicht suchen musst.«

»Äh … genau.«

Er sah mir mit spöttischem Blick dabei zu, wie ich die Schnur ungeschickt aufknotete. »Gerätst du etwa in Panik?«

»Quatsch.«

»Vielleicht ein bisschen?«

»Überhaupt nicht!«

»Wie du meinst. Sie kommt übrigens näher.«

Das war’s. Kein Small Talk mehr. Zwei Sekunden später hielt ich den Spiegel in der Hand.

Es gehörte zu den Besonderheiten dieser Besucherin, dass sogar Agenten mit einer ausgeprägten Gabe des Schauens sie nicht direkt sehen konnten. Angeblich handelte es sich um den Geist der mordlustigen Emma Marchment, einer Dame, die im achtzehnten Jahrhundert hier gelebt hatte, als das Gebäude noch kein Büro einer Versicherungsgesellschaft, sondern ein privates Wohnhaus gewesen war. Nachdem sich Emma Marchment mit Hexerei befasst hatte und beschuldigt worden war, mehrere Angehörige umgebracht zu haben, hatte ihr Ehemann sie mit einer spitzen Scherbe aus ihrem zerschlagenen Spiegel erstochen. Deswegen erschien nun ihr Abbild in Spiegeln, Fenstern und blanken Metalloberflächen, und in letzter Zeit waren mehrere Angestellte der Versicherung ums Leben gekommen, weil sich der Geist an sie herangeschlichen und sie berührt hatte. Ihn zur Strecke zu bringen, war eine knifflige Angelegenheit, deshalb war unser Team heute Nacht mit Handspiegeln ausgerüstet. Wir bewegten uns rückwärtsgehend voran und spähten dabei per Spiegel über unsere Schultern in sämtliche dunklen Ecken und Winkel. Das heißt, die anderen gingen so vor. Ich hatte mich bis zu diesem Augenblick auf meine geschärften Sinne verlassen und war den Geräuschen gefolgt.

Doch jetzt griff auch ich zum Spiegel und drehte ihn so, dass ich das Zimmer im Blick hatte.

»Echt hübsch«, sagte der Schädel. »Erstklassiges Plastik. Die rosa Ponys und Regenbogen auf dem Rand sind herzallerliebst.«

»Ich hab ihn im Spielwarenladen gekauft, weil ich nicht mehr dazu gekommen bin, woanders hinzugehen.«

Das Mondlicht blinkte irritierend auf der Glasoberfläche. Ich holte tief Luft und bemühte mich, das Zittern meiner Hand zu unterdrücken. Sofort wurde das Bild wieder scharf und zeigte die helle Fläche des Sprossenfensters und die billigen Vorhänge, die es einrahmten. Unter dem Fenster stand ein Schreibtisch mit dem dazugehörenden Stuhl. Ich drehte mich einmal langsam um die eigene Achse, doch der Spiegel zeigte nur den mondbeschienenen Fußboden, einen weiteren Schreibtisch, Aktenschränke und eine Hängepflanze im Topf, die vor der dunklen Wandvertäfelung baumelte.

Heutzutage diente der Raum einfach nur als Büro, aber früher mochte er das Schlafzimmer gewesen sein. Ein Raum, in dem Gefühlsausbrüche stattfanden, alte Eifersüchteleien aufflammten und Intimität in Hass umschlug. Schlafzimmer bringen mehr Geister hervor als alle anderen Räume. Es überraschte mich nicht, dass auch Emma Marchment in ihrem gestorben sein sollte.

»Ich sehe sie nicht. Jetzt sag schon, wo sie ist.«

»Rechts hinten in der Ecke, halb in dem Sekretär dort, oder was das für ein Möbel sein soll. Sie streckt die Arme nach dir aus, als wollte sie dich an sich ziehen. Puh, sind ihre Fingernägel lang …«

»Hast du heute Abend Quasselwasser getrunken? Hör auf, mir Angst einjagen zu wollen! Wenn sie auf mich zukommt, kannst du mir Bescheid geben, ansonsten halt gefälligst den Rand.«

Ich sprach mit fester, scheinbar selbstbewusster Stimme. Bloß keine Angst zeigen, die der ruhelose Geist anzapfen kann! Trotzdem ging ich kein Risiko ein und hatte die linke Hand immer am Gürtel, zwischen Degenknauf und Leuchtbomben.

Ich blickte kurz vom Spiegel auf. Ja, dort stand ein Sekretär. Aber die Zimmerecke war sehr dunkel, weil das Mondlicht dort kaum hinkam. So angestrengt ich auch spähte, ich konnte nichts erkennen.

Na schön. Den Spiegel in meiner ausgestreckten Hand fixierend drehte ich mich langsam herum, fing die Schreibtische ein, die Hängepflanze, die Wandvertäfelung, bis ich beim Sekretär ankam.

Ich zuckte zusammen, als der Geist plötzlich auftauchte. Da war sie ja.

Obwohl ich damit gerechnet hatte, hätte ich den Spiegel vor Schreck beinahe fallen lassen.

Eine klapperdürre Gestalt, die wie ein Leichnam in weiße Laken gehüllt war. Ein blau angelaufenes, von hellem Haar einer Rauchwolke gleich umwalltes Gesicht. Starr blickende schwarze Augen. Die weiße Haut haftete an den Schädelknochen wie schmelzendes Wachs. Man konnte deutlich den ausgemergelten Hals, die Flecken auf dem Kleid und den unnatürlich aufgerissenen Mund erkennen. Sie streckte die klauenartig gekrümmten Finger nach mir aus.

Ihre Nägel waren wirklich sehr lang.

Ich schluckte. Ohne die Hilfe des Schädels oder des Spiegels wäre ich ihr womöglich direkt in die Arme gelaufen, ohne etwas zu ahnen.

»Ich hab sie!«, sagte ich.

»Echt? Braves Mädchen. Und jetzt frage ich dich: Willst du lieber leben oder sterben?«

»Leben, wenn’s recht ist.«

»Dann ruf die anderen.«

»Noch nicht.« Meine Hand zitterte wieder, der Spiegel wackelte, und ich verlor die blasse Gestalt aus dem Blick. Ich riss mich zusammen und überlegte, was ich machen sollte.

»Ich weiß, dass du sauer auf deine Kollegen bist«, sabbelte der Schädel weiter, »aber die Sache hier ist ’ne Nummer zu groß für dich allein. Vergiss euren kleinen Streit.«

»Hab ich schon.«

»Bloß weil Lockwood …«

»Es geht nicht um Lockwood. Und du sollst endlich die Klappe halten! Ich brauche absolute Ruhe.« Ich holte tief Luft und warf noch einmal einen prüfenden Blick in den Spiegel. Ja, da war das Gesicht wieder: eine zerfranste Kontur, eingerahmt von einem Wust Haare wie aus Zuckerwatte.

Hatte sich der Geist näher herangeschlichen? Möglich. Die Gestalt kam mir eine Spur größer vor als eben noch, doch ich verdrängte den Gedanken sofort.

Der Schädel meldete sich erneut: »Du willst doch wohl nicht wieder diesen albernen Schwachsinn durchziehen? Sie war ein böses altes Weib, ihr Geist will dir nichts Gutes. Es hat keinen Sinn, sich mit ihr verständigen zu wollen.«

»Ich mache, was ich will, und das ist kein alberner Schwachsinn.« Mit lauterer Stimme rief ich: »Emma? Emma Marchment? Ich sehe dich. Ich höre dich. Was willst du? Sag es mir, dann kann ich dir helfen.«

Das war meine übliche Vorgehensweise. Gleich zum Wesentlichen kommen. Die patentierte Lucy-Carlyle-Methode – erprobt und bewährt in den langen, dunklen Nächten des Schwarzen Winters. Sprich sie mit Namen an. Stell die Frage. Drück dich klar und deutlich aus. Es war bis jetzt die effektivste von mir entwickelte Taktik, die Toten zum Sprechen zu bringen.

Was allerdings nicht bedeutete, dass sie immer funktionierte beziehungsweise so funktionierte, wie ich es gern gehabt hätte.

Ich beobachtete das weiße Gesicht im Spiegel. Ich spitzte die Ohren und achtete nicht mehr auf das abfällige Schnauben des Schädels.

Leise Geräusche wehten durch das Schlafzimmer, über den gähnenden Abgrund aus Zeit und Raum hinweg.

Waren es Worte?

Nein. Nur das Flattern eines blutbefleckten Nachthemds und die röchelnden Atemzüge einer Sterbenden. Immer dasselbe.

Ich öffnete schon den Mund, um den Geist noch einmal anzurufen, doch da …

»ICH HABE NOCH IMMER…«

»Hast du das gehört, Schädel?«

»Undeutlich. Sie nuschelt. Aber das kann man ihr nicht verdenken. Im Grunde ist es erstaunlich, dass sie mit aufgeschlitzter Kehle überhaupt ein Wort rausbringt. Aber die Frage ist doch die: Was hat sie noch immer? Hautausschlag? Mundgeruch? Oder etwas ganz anderes?«

»Pst!« Ich vollführte eine weit ausholende, einladende Armbewegung. »Emma Marchment – ich höre dich! Wenn du dich nach Frieden sehnst, musst du mir vertrauen. Wovon sprichst du? Was hast du noch immer?«

»Lucy?«, sagte jemand hinter mir.

Mit einem Aufschrei riss ich meinen Degen aus der Gürtelschlaufe und fuhr mit gezückter Waffe herum. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Die Schlafzimmertür stand offen und im Türrahmen zeichnete sich ein hoher, schlanker, von Taschenlampenlicht und Magnesiumrauch umwogter Schattenriss ab. Er stemmte eine Hand in die Hüfte und hatte die andere am Degen. Sein langer Mantel bauschte sich hinter ihm auf.

»Was zum Teufel treibst du da, Lucy?«

Als ich mich rasch wieder umdrehte und einen Blick in den Spiegel warf, sah ich gerade noch, wie die blasse, verschwommene Gestalt in die Vertäfelung hinter dem Sekretär schlüpfte und verschwand.

Der Geist war in der Wand verschwunden … Interessant.

»Lucy?«

»Ist ja gut, ist ja gut. Kannst kommen.« Ich steckte den Degen wieder weg und winkte ihn herein, worauf Ted Daley, Teambetreuer zweiten Ranges der Agentur Rotwell, das Zimmer betrat.

Versteht mich bloß nicht falsch. Ich will mich echt nicht beschweren. Mein neues Leben als freischaffende Übersinnliche Ermittlerin hatte durchaus seine Vorteile. Ich konnte mir meine Aufträge selbst aussuchen, desgleichen die Arbeitszeiten. Derweil konnte ich mir in der Branche einen gewissen eigenen Ruf erwerben. Einen entscheidenden Haken hatte die Sache jedoch: Meine Kollegen konnte ich mir nicht aussuchen. Bei jedem Einsatz musste ich mit den Angestellten derjenigen Agentur zusammenarbeiten, die mich angeheuert hatte. Einige waren sogar ganz in Ordnung – korrekt, professionell und kompetent. Andere dagegen … waren eher wie Ted.

Aus der Ferne, bei vorteilhaftem Licht und von hinten, war Ted ja noch einigermaßen ansehnlich, betrachtete man ihn jedoch aus der Nähe, war man unweigerlich enttäuscht. Er war ein schlaksiger Jüngling mit traurigen Augen, der aussah, als hätte man ihn an den verschiedensten unpassenden Stellen in die Länge gezogen, und der Mund über seinem dürren Hals stand immerzu halb offen, wodurch er aussah, als hätte er gerade sein Kinn verschluckt. Seine näselnde Stimme passte zu seiner nörgeligen, pingeligen Art. Als Teambetreuer war er in dieser Nacht offiziell mein Vorgesetzter, aber weil er mit wedelnden Armen wie ein aufgescheuchter Gänserich herumrannte, verfügte er ungefähr über so viel Autorität wie eine welke Lauchstange. Da er obendrein über recht wenig übersinnliches Talent zu verfügen schien, konnte ich ihn nicht ernst nehmen und ignorierte ihn mehr oder minder.

»Mr Farnaby will uns sprechen«, näselte er jetzt.

»Schon wieder?«

»Er will wissen, wie wir vorankommen.«

»Jetzt nicht. Ich habe den Geist gerade geortet. Hol die anderen.«

»Aber Mr Farnaby hat gesagt …« Teds Protest kam zu spät, denn ich hatte mir schon gedacht, dass die anderen vor der Tür herumlungern würden. Zwei nervöse Gestalten huschten herein und damit war – Simsalabim! – unser glorreiches Team vollständig.

Die Truppe war nicht gerade der Brüller: Tina Lane, Agentin (dritten Ranges) bei Rotwell, war ein farbloses Mädchen – dermaßen farblos, dass man sich unwillkürlich vorstellte, wie ihre ganze Wärme und Lebhaftigkeit durch ein Loch in ihrem großen Zeh aus ihr herausgesickert war. Ihre Haare waren so hell wie verblichenes Stroh, ihr Teint leichenblass, und sie redete mit leiser, schleppender Stimme, sodass man stehen bleiben und sich vorbeugen musste, um überhaupt ein Wort zu verstehen. Wenn einem dann aufging, dass sie sowieso nichts Hörenswertes zu sagen hatte, richtete man sich am besten unauffällig wieder auf und ging so lange weiter, bis man aus dem Zimmer war.

Der Nächste im Bunde war Dave Eason, Rotwell-Außendienstler (ebenfalls dritten Ranges). Er machte ein kleines bisschen mehr her, aber auch sein Haltbarkeitsdatum schien bereits überschritten. Er hatte dunkle Haut, war untersetzt, muskulös und angriffslustig und erinnerte an einen wütenden Baumstumpf. Seine übersinnlichen Fähigkeiten waren vermutlich gar nicht mal so übel, aber schlechte Erfahrungen mit Besuchern hatten ihn unberechenbar gemacht, und seine Hand zuckte viel zu oft zum Degen. Tina hatte er bereits bei einem früheren Einsatz versehentlich eine Narbe verpasst, und allein an diesem Abend hätte er mich zwei Mal beinahe durchbohrt, als ich im Blickfeld seines Spiegels aufgetaucht war.

Die farblose Tina, der mittelmäßige Ted und der schreckhafte Dave – mit diesem Team musste ich heute zusammenarbeiten. Ein Wunder, dass sich der Geist vor Angst nicht gleich in Luft aufgelöst hatte.

Dave war so angespannt, dass an seinem Hals ein Muskel zuckte. »Wo warst du denn, Carlyle? Wir haben es mit einem gefährlichen TYP ZWEI zu tun, und Mr Farnaby …«

»… hat gesagt, dass wir immer zusammenbleiben sollen«, fiel ihm Ted ins Wort. »Keiner geht auf eigene Faust los. Du kannst dich nicht einfach querstellen und abhauen, Lucy. Und jetzt müssen wir Mr Farnaby Bericht erstatten oder …«

»Oder wir können einfach mit unserer Arbeit fortfahren«, unterbrach ich ihn. Ich hatte mich hingekniet und meinen Rucksack wieder zugemacht. Die anderen wussten nicht, dass ich den Schädel dabeihatte, und das war auch gut so. Jetzt stand ich wieder auf, legte die Hand auf den Degen und drehte mich zu den dreien um. »Dem Berater zwischendurch Meldung zu machen, ist witzlos. Er ist erwachsen, also kann er uns nicht helfen, hab ich recht? Wir müssen allein klarkommen. Ich glaube, ich weiß, wo die Quelle des Geistes ist. Er ist in der Wand dort hinten verschwunden. Hieß es nicht, die verletzte Emma Marchment habe sich vor ihrem Ehemann in ein Geheimzimmer geflüchtet? Als man die Tür aufbrach, lag sie inmitten ihrer Gifttiegel und -töpfe tot da. Daher gehe ich davon aus, dass sich das Geheimzimmer hinter dieser Wand befindet. Wenn ihr mitmacht, können wir der Heimsuchung ein Ende bereiten. Einverstanden?«

»Du bist nicht unser Teambetreuer«, wandte Dave ein.

»Stimmt. Aber anders als er weiß ich, was ich zu tun habe. Das ist doch auch nicht so übel!«

Stille. Tinas Blick war ausdruckslos. Dann meldete sich Ted wie in der Schule mit erhobener Hand. »Aber Mr Farnaby hat gesagt …«

Es fiel mir immer noch schwer, mich zu beherrschen, auch wenn ich mich in den letzten paar Monaten zusehends besser in den Griff bekommen hatte. Ein Verhalten wie das der drei war typisch für die meisten Agenten: Sie waren faul, unfähig oder hatten schlicht Schiss. Und ihr Respekt vor ihren Beratern verhinderte, dass sie je richtig als Team zusammenarbeiteten. »Ich sehe die Sache so«, fuhr ich fort. »Die Geheimtür muss hinter dem Sekretär da drüben sein. Einer von uns macht sie ausfindig und öffnet sie, die anderen halten ihm mit ihren Spiegeln den Rücken frei. Sobald der Geist Sperenzchen macht, fliegen die Salzbomben und Degen. Wir finden die Quelle, verplomben sie und sind wieder draußen, ehe Farnaby seinen Flachmann leer gesüppelt hat. Wer macht alles mit?«

Tina sah sich blinzelnd in dem stillen Zimmer um, Teds blasse, lange Finger betasteten seinen Degenknauf, und Dave starrte einfach nur auf den Boden.

»Ihr schafft das!«, setzte ich noch eins drauf. »Ihr seid ein Superteam.«

»Von wegen!« Das war das Gewisper des Schädels, das nur ich hören konnte. »Die drei sind die letzten Versager, und das weißt du auch! Die Geistersieche wäre noch zu gut für sie.«

Ich ging nicht darauf ein und lächelte unbeirrt meine Kollegen ermutigend an. Die drei sagten zwar nichts, erhoben aber auch keine Einwände mehr und damit war die Sache geritzt.

Nach fünf Minuten weiterem Hin und Her schritten wir endlich zur Tat. Um mehr Bewegungsspielraum zu haben, schoben wir die Tische zur Seite und legten von Wand zu Wand einen Halbkreis aus unseren Eisenketten, der die Ecke mit dem Sekretär umschloss. In den Halbkreis stellten wir drei brennende Petroleumlampen. Außerdem stellte ich mich hinein, den Spiegel am Gürtel, den Degen gezückt und somit bereit, nach Geheimtüren zu fahnden. Meine drei Gefährten blieben außerhalb der Kettenbarriere, wo ihnen der Geist nichts anhaben konnte, und richteten ihre Spiegel so aus, dass sie den ganzen Bereich sehen konnten, in dem sich der Geist zuvor bewegt hatte. Ich drehte mich noch einmal kurz nach ihnen um, weil ich sichergehen wollte, dass sie mir Deckung gaben. Noch war die einzige Gestalt, die in den Spiegeln erschien, meine eigene, und das in dreifacher Ausführung.

»Alles klar«, sagte ich im gleichen aufmunternden Ton wie zuvor. »Ihr macht das toll. Dann fange ich mal an. Ihr behaltet einfach eure Spiegel im Blick.«

»Ich bewundere deinen Optimismus«, meldete sich die Wisperstimme aus meinem Rucksack. »Diese Dorftrottel können ja kaum gleichzeitig laufen und atmen, trotzdem vertraust du ihnen dein Leben an. Ganz schön mutig.«

»Die drei schaffen das schon«, erwiderte ich so leise, dass es sonst keiner hörte, und beleuchtete mit meiner Taschenlampe die altersdunkle Wandvertäfelung. Wie sich die Geheimtür wohl öffnen ließ? Mit einem Hebel? Einem Knopf? Höchstwahrscheinlich indem man gegen ein Brett der Vertäfelung drückte, das die Tür dann per Gegengewicht aufklappen ließ. Sie war schon sehr lange nicht mehr geöffnet worden. Vielleicht war sie damals sogar verplombt worden, sodass wir sie aufbrechen mussten. Ich veränderte den Winkel des Lichtstrahls. An einer Stelle schien das Holz stärker zu glänzen. Ich drückte probehalber darauf, aber es rührte sich nichts.

Zumindest rührte sich die Vertäfelung nicht, doch meine Ohren vernahmen ein leises Knirschen, als sei jemand auf Glasscherben getreten.

Emma Marchment war mit einer Glasscherbe erstochen worden. Mir drehte sich der Magen um, aber ich ließ mir nichts anmerken. »Na, tut sich in euren Spiegeln schon was?«, fragte ich munter und tastete weiter die Vertäfelung ab.

»Nö. Alles in Ordnung.« Daves Stimme klang vor Anspannung ganz tonlos.

»Sehr gut.« Die Temperatur sank. Das Holz wurde eiskalt, aber als ich mit zitternden, verschwitzten Fingern abermals dagegendrückte, bewegte sich etwas.

Glas knirschte.

»Sie löst sich aus der Vergangenheit und kehrt zurück«, raunte der Schädel. »Sie will euch hier nicht haben.«

»Da weint jemand«, kam es von Tina.

Jetzt hörte ich es auch: ein verzweifeltes, zorniges Schluchzen, das an einem einsamen Ort nachhallte. Es war von Stoffrascheln begleitet, dem Geräusch eines blutdurchtränkten Kleidungsstücks …

»Alle in die Spiegel schauen!«, kommandierte ich. »Und schön weiter mit mir reden!«

»Alles in Ordnung.«

»Es wird kälter.«

»Gleich ist sie da.«

Ich drückte noch fester gegen die Vertäfelung und endlich hatte ich Erfolg. Das Brett glitt beiseite und gab einen kleinen, mit staubigen Spinnweben verhängten Durchgang frei.

Und dahinter? Nichts als Dunkelheit.

Ich wischte mir mit klammen Händen den eiskalten Schweiß von der Stirn. »Na also!«, sagte ich, »das Geheimzimmer hätten wir schon mal gefunden! Jetzt müssen wir nur noch reingehen.«

Ich setzte ein strahlendes Lächeln auf, drehte mich nach meinen Teamkameraden um …

… und blickte in ihre Spiegel.

Darin sah ich mein blasses Gesicht in dreifacher Ausführung. Und dicht dahinter noch ein anderes Gesicht, dessen weiße Haut an den Schädelknochen haftete wie schmelzendes Wachs. Ich sah eine Wolke aus hellem Haar. Ich sah gebleckte Zähne, klein und rot wie Granatapfelkerne. Ich sah funkelnde schwarze Augen … und das Letzte, was ich sah, waren fünf gekrümmte Finger mit langen Nägeln, die sich nach meiner Kehle ausstreckten.

Kapitel 2

Wir reagierten alle vier ganz unterschiedlich, jeder auf seine eigene Art und Weise. Tina schrie auf und ließ ihren Spiegel fallen. Ted machte einen Satz nach hinten, wie eine Katze, die sich verbrüht hat. Nur Dave hielt seinen Spiegel weiterhin fest jedenfalls so einigermaßen – und fummelte mit der anderen Hand an seinem Waffengürtel herum. Und ich? Noch ehe Tinas Spiegel auf dem Boden zersplitterte, hatte ich meinen Degen nach hinten gerissen und zugestoßen. Als ich herumfuhr, starrte ich ins Leere, aber von der Mitte der Klinge stieg Rauch auf, und auf dem Metall wand sich ein zischender Ektoplasmafetzen.

Ich hieb einmal kreuz und quer durch die Luft. Dann noch einmal.

»Zeitverschwendung«, kommentierte der Schädel nach einer kleinen Pause. »Sie hat sich schon wieder in die Wand verzogen.«

»Warum hast du das nicht gleich gesagt? Aber ich habe sie erwischt. Habe ich sie richtig getroffen?«

»Das konnte ich nicht erkennen, weil du so rumgefuchtelt hast.«

»Weißt du wenigstens, wo …« Doch in diesem Augenblick fegte mich eine Explosion aus Salz, Eisenspänen und grellweißem Magnesiumlicht von den Füßen. Sie kam von der Wand her, ein Stück links von mir. Einen Sekundenbruchteil war das Zimmer taghell erleuchtet, als hätte uns jemand mitten in die Sonne geschleudert. Dann erloschen die Flammen, die Dunkelheit kehrte zurück, und ich lag mit klingelnden Ohren und zerzaustem, ins Gesicht hängendem Haar auf einem Lager aus glühender Asche.

Ich kam schwerfällig wieder auf die Beine, wobei ich mich auf meinen Degen stützte, und betastete prüfend meine Ohren. Durch den Qualm erspähte ich Ted und Tina, die mit schreckgeweiteten Augen aus der gegenüberliegenden Zimmerecke zu mir herüberstarrten. Dave dagegen stand geduckt wie ein stämmiger kleiner Panther ganz in meiner Nähe und hielt eine zweite Leuchtbombe wurfbereit in der Hand.

»Hab ich sie erwischt?«

Ich schlug eine kleine Flamme aus, die an meinem Ärmel hochzüngelte. »Nein. Du hast sie verfehlt. Trotzdem ein ziemlich guter Wurf, aber den zweiten kannst du dir sparen. Sie hat sich in das Geheimzimmer geflüchtet.« Ich hustete und wischte mir die Asche aus dem Gesicht. »Wir müssen hinterher und die Sache zu Ende bringen. Wir … Ja bitte, Ted?« Ted hatte in seiner Ecke wieder die Hand gehoben.

»Du hast Nasenbluten.«

»Weiß ich.« Ich tupfte mir mit dem Ärmel übers Gesicht. »Trotzdem danke für den Hinweis. Dann wollen wir mal. Wer kommt mit?«

Die drei hätten Marmorstatuen sein können. Ihre Angst war so manifest, dass sie als fünfte Person im Raum hätte durchgehen können. Während ich wartete, breitete sich der Rauch immer mehr aus, sodass ich meine Kollegen schließlich kaum noch erkennen konnte.

»Aber Mr Farnaby hat doch gesagt …«, fing Ted dann wieder an.

»Was Mr Farnaby sagt, ist mir völlig schnurz!«, brüllte ich. »Er ist nicht hier! Er setzt nicht wie wir sein Leben aufs Spiel. Denkt doch ein Mal selber nach!«

Ich wartete wieder, aber es kam nichts mehr. Schließlich gewannen meine Wut und Ungeduld die Oberhand und ich wandte mich zu der offenen Geheimtür um.

Die Kälte, die der Geist wie die Schleppe eines Brautkleides hinter sich herzog, war immer noch zu spüren. Sie verlor sich in der Dunkelheit. Die Seitenwand des Sekretärs war mit einem Muster aus Eiskristallen überzogen, so kunstvoll wie allerfeinste Spitze. Auch die Vertäfelung war mit einer dünnen Eisschicht bedeckt. Ich knipste meine Taschenlampe an.

Hinter der Wandvertäfelung tat sich ein schmaler, mit Spinnweben verhangener Gang auf, der nach wenigen Metern scharf nach links abzweigte, sodass man nicht sah, was hinter der Biegung lag.

Irgendwo dort drin verbarg sich die Quelle der Heimsuchung, der Ort oder Gegenstand, an den der Geist gebunden war. Verplombte man die Quelle mit Silber oder Eisen, saß auch der Geist in der Falle. Ein Kinderspiel. Ich nahm den Spiegel in die eine Hand, Degen und Taschenlampe in die andere und zwängte mich durch die Öffnung in der Wand.

Ich war nicht unbedingt scharf darauf. Natürlich hätte ich weiter auf meine Kollegen warten beziehungsweise weitere zehn Minuten damit verbringen können, sie zum Mitkommen zu überreden. Aber dann hätte auch ich vielleicht die Nerven verloren. Hin und wieder muss man etwas riskieren, so viel hatte ich inzwischen gelernt.

Der Geheimgang war so eng, dass ich auf beiden Seiten die Ziegelwände streifte und die Spinnweben an mir hängen blieben. Jeden Augenblick auf einen Angriff gefasst, setzte ich bedächtig einen Fuß vor den anderen.

»Siehst du sie?«, flüsterte ich.

»Nein. Sie ist schlau, wechselt die ganze Zeit von der jenseitigen Welt in diese und wieder zurück, damit man sie nicht zu fassen kriegt.«

»Was sie wohl für eine Quelle bewacht?«

»Höchstwahrscheinlich irgendeinen Teil ihrer eigenen sterblichen Überreste. Vielleicht ist der Ehemann ja in einen Blutrausch verfallen und hat sie in Stücke zerhäckselt. Und dann ist ein Zeh unter einen Stuhl gerollt oder so. So was soll öfter vorkommen.«

»Wieso höre ich dir überhaupt zu? Du bist widerlich.«

»Abgetrennte Körperteile sind nicht widerlich«, widersprach der Schädel. »Ich bin selber einer. Es ist ein ehrenwerter Stand. Achtung – Sackgasse.«

Dunkelheit suppte um die nächste Biegung herum. Ich hakte eine Salzbombe vom Gürtel und warf sie auf gut Glück. Sie zerplatzte geräuschvoll, aber leider ohne jeden hörbaren übersinnlichen Kontakt. Demnach hatte ich nicht getroffen.

Ich schwenkte den Strahl der Taschenlampe hin und her. »Vielleicht legt sie es ja darauf an, dass wir die Quelle entdecken«, sagte ich halblaut. »Könnte doch sein, oder? Es kommt mir die ganze Zeit vor, als ob sie uns hinführen will.«

»Oder sie will dich ins Verderben locken. Auch eine Möglichkeit.«

Wie auch immer, es war nicht mehr weit – das verrieten mir die Spinnen, die verlässlichen Vorboten eines Besuchers. Die kleine Kammer, die sich nun vor uns öffnete, war über und über mit ihren Netzen zugesponnen. Sie reichten von Wand zu Wand, vom Kamin bis unter die Decke. Übereinander und ineinander verwoben bildeten sie ein Labyrinth aus weichen grauen Hängematten und mit Staub verklumpten Schnittpunkten. Der Strahl meiner Taschenlampe wurde abgelenkt, gebrochen und unerklärlicherweise sogar verschluckt. Ich war in einem Bau voller verwirrender Verzerrungen gelandet, durch den unzählige kleine schwarze Leiber krabbelten und vor dem Licht flüchteten.

Ich wartete einen Augenblick, bis ich mich einigermaßen orientiert hatte. Es handelte sich offenbar um ein ehemaliges Ankleidezimmer, das hinter der Vertäfelung des Schlafzimmers verborgen gewesen war. Ein paar alte Tapetenfetzen erhärteten meine Vermutung. An einer Wand standen lauter leere Regale, an der gegenüberliegenden gab es einen einfachen, gemauerten Kamin. In der rußgeschwärzten Feuerstelle lag ein Vogelskelett. Ein Fenster war nicht vorhanden. Uralter schwarzer Staub waberte gegen meine Arbeitsschuhe. Dieses Gelass hatte schon ewig niemand mehr betreten.

Als ich lauschte, hörte ich ganz in meiner Nähe eine Frau schluchzen.

Außer den Regalen gab es nur noch einen hohen Spiegel, der an der Wand lehnte. Das Glas war gesplittert, die wenigen noch in dem Goldrahmen steckenden Scherben waren dick eingestaubt.

Beim ersten Blick in den Raum hatte ich geglaubt – wenn auch nur einen Sekundenbruchteil lang –, eine verschwommene graue Gestalt vor dem Spiegel stehen zu sehen. Leicht vorgebeugt, als betrachtete sie sich darin. Doch die Erscheinung, wenn es denn eine gewesen war, hatte sich sofort verflüchtigt, sodass ich mir nun mit dem Degen einen Weg durch die Spinnweben bahnte, die hartnäckig an Hand und Klinge kleben blieben. Der Spiegel selbst war wie eine gefangene Riesenfliege von oben bis unten eingesponnen.

In der alten Mordgeschichte hatte es geheißen, Emma Marchment sei mit den Scherben ihres Spiegels erstochen worden, insofern konnte es sich bei diesem Spiegel hier durchaus um die gesuchte Quelle handeln. Ich zog ein Silbernetz aus einer meiner Gürteltaschen, schüttelte es leicht, damit es sich entfaltete, und warf es über den oberen Rand des Spiegels. Dann lauschte ich wieder. Das Schluchzen war nicht verstummt und im ganzen Raum deutlich eine starke Beklemmung zu spüren.

»Fehlanzeige«, sagte ich. »Tut mir leid.« Dann drehte ich mich langsam einmal im Kreis. Der Spiegel – der Kamin – die leeren Regale … Die Spinnweben waren ein echter Albtraum. Manche Winkel des Zimmers waren überhaupt nicht mehr zu erkennen. Leise verfluchte ich meine Rotwell-Mitstreiter. »Immer muss ich die Drecksarbeit allein erledigen.«

»Wie bitte?«, ertönte es empört aus meinem Rucksack. »Von wegen allein! Mit wem redest du denn die ganze Zeit, hä? Das wollen wir doch bitte mal klarstellen!«

Ich verdrehte die Augen. »Okay, ich nehm’s zurück. Abgesehen von einem boshaften sprechenden Totenkopf in einem dreckigen alten Geisterglas, den ich aus krankhaftem Mitleid mit mir herumschleppe, bin ich allein. Das ist natürlich ein Riesenunterschied.«

»Wie kannst du nur so reden? Du und ich – wir beide sind doch Freunde.«

»Freunde? Dass ich nicht lache. Du versuchst doch andauernd, mich umzubringen.«

»Ich bin schließlich auch tot, schon vergessen? Vielleicht bin ich ja einsam. Schon mal daran gedacht?«

»Egal. Hauptsache, du hältst jetzt die Augen offen«, beendete ich das Thema. »Nicht dass mich der Geist plötzlich hinterrücks anspringt.«

»Stimmt, ein Küsschen von dem ollen Gerippe wäre ein bisschen unappetitlich«, stimmte mir der Schädel zu. »Dabei ist sie nicht mal der ekligste Geist, mit dem wir es bis jetzt zu tun hatten. Erinnerst du dich noch an die Blutrippe in Dulwich? Die pausenlos gejammert hat: ›Ich will meine Haut zurück, ich will meine Haut zurück!‹? Tja – Pech, deine Haut ist futschikato!« Er kicherte in sich hinein, verstummte aber plötzlich und sagte: »Äh … Lucy … du fängst doch wohl nicht wieder damit an, oder? Hast du’s denn immer noch nicht kapiert? Das ist doch noch nie gut ausgegangen.«

Was nur teilweise stimmte. Zu meinen übersinnlichen Fähigkeiten gehörte, abgesehen vom Schauen (ziemlich gut) und Hören (überdurchschnittlich gut), auch das Fühlen – eine Gabe, die mal besser und mal schlechter funktionierte und mir oftmals gar keine – beziehungsweise nicht genug – Hinweise lieferte, manchmal aber auch zu viele. Doch da sie sich in letzter Zeit spürbar verbessert hatte, beschloss ich, einen Versuch zu wagen. Ich streckte die Hand nach dem zerbrochenen Spiegel aus und berührte eine der Scherben. Dann verschloss ich meine Sinne für die Gegenwart, öffnete sie weit für die Vergangenheit und wartete darauf, dass mich der Gegenstand in längst verflossene Zeiten zurückversetzte.

Wie so oft drangen die Geräusche als Erstes auf mich ein, gefolgt von verschwommenen Bildern. Das Schluchzen wurde leiser und schließlich vom Knistern und Knacken eines Kaminfeuers ersetzt. Als ich die Augen schloss, sah ich dasselbe Zimmer vor mir, aber diesmal von Farben und Leben erfüllt – ein Unterschied zu seinem heutigen Zustand wie der Unterschied zwischen einem lebendigen Menschen und seinem Leichnam. Im Kamin loderte ein Feuer, in den Regalen standen Gläser, Tiegel und ledergebundene Bücher. Auf einem Tisch waren Kräuter aufgehäuft, dazu andere, blutigere Zutaten.

Am Kamin stand eine Frau mit langem, dunklem Haar. Auf ihrem Kleid spielte rot der Widerschein des Feuers und die feinen Spitzenmanschetten kräuselten sich im warmen Luftstrom. Sie machte sich an einem Stein der Kamineinfassung zu schaffen. Als mein Blick auf sie fiel, zuckte sie zusammen, drehte sich um und schaute zu mir herüber. Ihr Blick hatte etwas derart Bösartiges, Habgieriges, dass ich unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Dabei stieß ich mit der Schulter gegen die Wand hinter mir und war mit einem Schlag wieder in der Gegenwart, in der kalten, dunklen, leeren Kammer.

»Du hast dir ja ganz schön Zeit gelassen«, konstatierte der Schädel.

Ich rieb mir die Augen. Für mich hatte das Ganze nur ein paar Sekunden gedauert. »Wie lange war ich denn weg?«

»Ich hätte in Ruhe ein Pfeifchen rauchen können. Es war sterbenslangweilig. Hast du was entdeckt?«

»Vielleicht.« Als ich die Taschenlampe erst auf die schwarz gähnende Kaminöffnung und dann auf die gemauerte Einfassung richtete, konnte ich den betreffenden Stein unter der schwarzen Schmutzschicht ausmachen.

Ich habe noch immer …, hatte Emma Marchments Geist geraunt.

Der Gegenstand, an den die Tote gebunden war, befand sich noch immer hier.

Ich nahm mein Brecheisen vom Gürtel. Mit zwei Schritten war ich am Kamin und legte die Ränder des Steins frei. Mir war zwar nicht ganz wohl dabei, dem spinnwebverhangenen Zimmer den Rücken zuzukehren, aber ich hatte keine Wahl. Jahrhundertealter Ruß verklebte die Fugen, weshalb sich der Stein nur mit großer Mühe lockern ließ. Ich ärgerte mich, dass ich nicht mehr Kraft hatte. Dass ich kein Mitglied eines richtigen Teams war. Dann hätte sich jemand hinter mich stellen, mir Rückendeckung geben und die Schatten im Zimmer im Auge behalten können, doch dieser Luxus war mir nicht vergönnt.

»Halt dich ran. Jede Maus könnte diesen Stein rausziehen.«

»Ich mach ja schon.«

»Sogar ich wäre schneller, dabei habe ich noch nicht mal Hände. Leg dich ins Zeug, Mädel.«

Meine Erwiderung bestand in einem halblauten Fluch. Inzwischen hatte ich das Brecheisen unter den Stein gezwängt. Er ließ sich bewegen, gleichzeitig wurde das Schluchzen lauter, und ich hörte wieder Schritte über Glasscherben knirschen. Ich drehte mich um. Raureif überzog die Spinnweben im Zimmer.

»Sie kommt«, sagte ich. »Du sollst aufpassen, nicht rummeckern.«

»Kein Problem, bei mir gibt’s immer das volle Programm. Die Sache wird allmählich ganz schön brenzlig, Lucy. Warum lässt du mich nicht raus, damit ich dir aus der Patsche helfen kann?«

»Klar doch. Aber ich bin gleich so weit. Pass einfach auf, ob sich etwas tut.«

»Soll ich dir Bescheid sagen, wenn sich der Geist an dich anschleicht?«

»Nein! Du sollst mich vorher warnen!«

»Wenn sie dich an der Gurgel packt?«

»Sag mir einfach, wann sie ins Zimmer kommt.«

»Zu spät. Sie ist schon hier.«

Meine Nackenhärchen taten, was sie immer tun, wenn ich auf einmal nicht mehr allein bin. Ich nahm eine Hand vom Brecheisen, hakte den Spiegel vom Gürtel und hielt ihn so, dass ich hinter mich spähen konnte. Das Zimmer war eine schwarze Höhle, trotzdem war in der Mitte des Spiegels ein schwaches Leuchten zu erkennen – der Widerschein von kaltem, bläulichem Anderlicht. Das Licht ging von einer klapperdürren Gestalt aus, die durch die Dunkelheit auf mich zugeschwebt kam.

Im selben Augenblick fiel mir ein, dass mein Silbernetz noch über dem Spiegel hing. Der am anderen Ende des Zimmers stand.

Die Verzweiflung gab mir Kraft. Rasch legte ich den Handspiegel weg, nahm eine Salzbombe vom Gürtel und schleuderte sie auf den Geist. Sie zerplatzte und es stank nach versengtem Ektoplasma. Inmitten der herabregnenden Salzkörnchen konnte ich die taumelnde, in grünes Feuer gehüllte Figur einer Frau ausmachen. Die Gestalt teilte sich in zwei schlangenartige Wirbel, die in verschiedene Richtungen strebten, dann erlosch das Salz, und es wurde wieder dunkel. Ich warf mich mit meinem ganzen Gewicht auf das Brecheisen und der Stein gab nach. Wäre ich nicht beiseitegesprungen, wäre er mir auf den Fuß gefallen. Wo war meine Taschenlampe? Dort lag sie, in der Feuerstelle. Ich hob sie auf und richtete den Strahl in die Nische, die hinter dem Stein zum Vorschein gekommen war.

Darin lag etwas Großes, Schwarzes, dessen Form an einen zerdrückten Fußball erinnerte. Das Ding war so dick mit verstaubten Spinnweben überzogen, dass es wie Fell aussah, und jede Menge Spinnen krabbelten darauf herum.

»Huch«, sagte ich. »Ein Kopf.«

»Bingo. Alt. Mumifiziert. Hübsch.«

»Aber nicht ihr Kopf.«

»Nö. Und wenn doch, hatte ihr Gatte einen weiteren guten Grund, sie abzumurksen. Weil sie nämlich einen Bart hatte.«

Tatsächlich. Durch die dicken Spinnweben am Kinn schoben sich drahtige schwarze Haare.

Ich nahm den Kopf in die Hand. Ja, ja, ich weiß. Aber so was gehört nun mal zu unserem Beruf.

»Wo ist sie hin, Schädel?«

»Die Erscheinung hat sich wieder zusammengesetzt und steht jetzt vor dem Spiegel. Oha, sogar in ihren Wunden kleben Spinnweben. Gruselig. Jetzt dreht sie sich um und kommt auf dich zu. Es passt ihr gar nicht, dass du ihre Quelle gefunden hast. Sie streckt wieder die Arme nach dir aus …«

Ich hätte natürlich eine Leuchtbombe werfen können, aber dann hätte mich die Druckwelle ebenfalls erwischt, weil es in dem kleinen Raum keine richtige Deckung gab. Oder ich hätte den Degen ziehen können, aber ich konnte nicht gleichzeitig die Waffe, den Spiegel und die Quelle halten. Also tat ich das, was ich gelernt hatte, als ich noch mit richtigen Agenten zusammenarbeiten durfte – ich improvisierte.

Ich schleuderte den Kopf quer durchs Zimmer. Es war zu spüren, dass die Kälte von mir wegwaberte, und ich sah, wie die Spinnweben sich dort mit Reif überzogen, wohin der Geist dem Kopf instinktiv folgte. Ich machte einen Satz in die andere Richtung, dorthin, wo der Spiegel stand, schnappte mir das Silbernetz und drehte mich rasch wieder um. Als ich zum Handspiegel griff, sah ich gerade noch rechtzeitig, wie der Geist wieder auf mich zukam. Außerdem sah ich jetzt sämtliche grausigen Einzelheiten der Erscheinung, eine scheußlicher als die andere. Such dir was aus: der zerfetzte blutige Körper oder das hassverzerrte Gesicht – doch davon ließ ich mich nicht ablenken, sondern wandte die Toreromethode an, die mir Lockwood beigebracht hatte. Ich tänzelte vor der Erscheinung hin und her und schwenkte dabei das Silbernetz wie das rote Tuch eines Stierkämpfers. Dann ließ ich das Netz unvermittelt sinken und stand ungeschützt da. Sofort ging der Geist mit gekrümmten Krallenfingern auf mich los, doch ich drehte mich geschickt zur Seite und warf ihm das Netz mit einer Drehung des Handgelenks mitten ins Gesicht.

Das Silber tat wie immer seine Wirkung. Die Erscheinung leuchtete noch einmal kurz auf und erlosch.

Ich hob das Netz auf und bückte mich nach dem Kopf, der vor die Wand gerollt war. Als ich das Netz darüberbreitete, knackte es in meinen Ohren, und die unheilvolle Spannung im Zimmer zerbarst und verflog.

Ich drehte mich nach meinem Rucksack um. »Na, wie war ich?«

»Nicht schlecht, das muss ich zugeben.«

Ich ging in die Hocke und betrachtete das Bündel auf dem Boden. »Also wenn das mal keine Quelle ist! Was glaubst du, wem er gehört? Und was wollte sie damit?«

»Wahrscheinlich stammt er von einem zum Tode verurteilten Verbrecher, und sie hat ihn sich vom Richtplatz geholt, so wie es früher alle Hexen gemacht haben. Sie glaubte wohl, mit seiner Hilfe würden ihre albernen Zaubersprüche besser wirken.«

»Puh! Wie kann man nur.«

»Stimmt …« Der Schädel machte eine vielsagende Pause. »Wie kann man sich nur mit einem abgetrennten Kopf abgeben. Das ist doch pervers.«

»Allerdings.« Ich blieb hocken, bis sich mein Atem wieder beruhigt hatte und mein Herz nicht mehr so raste. Dann erhob ich mich schwerfällig, wickelte den Kopf sorgfältig in das Silbernetz ein und ging die anderen suchen, wobei ich mich nicht sonderlich beeilte. Der gefährliche Teil des Abends war gelaufen – aber das Schlimmste stand mir noch bevor.

Kapitel 3

Der Einsatz hätte mit dem Fund des Schädels ja wohl eigentlich zu Ende sein sollen. Geist verduftet, Quelle verplombt, wieder ein Gebäude von einer Heimsuchung befreit – alles in Butter. Aber nein. Denn jetzt kommen wir zum größten Nachteil der Arbeit als freiberuflicher Übersinnlicher Ermittler: dass man hinterher den Erwachsenen Bericht erstatten muss.

Darin bestand das grundlegende Paradox des ganzen Agentursystems. Nur Kinder und Jugendliche besaßen brauchbare übersinnliche Gaben, daher waren Außendienstmitarbeiter wie ich immer jung. Wir waren diejenigen, die es direkt mit den Geistern zu tun bekamen. Diejenigen, die ihr Leben riskierten. Trotzdem hatten die Erwachsenen das Sagen: Sie zahlten die Löhne, sie waren für sämtliche Teams verantwortlich. Dabei besaßen die erwachsenen Berater null übersinnliche Sensibilität und wagten sich nie weiter als ein paar Schritte in eine heimgesuchte Zone hinein, und zwar deshalb, weil sie vor Besuchern total Schiss hatten. Alt und nutzlos standen sie in sicherer Entfernung herum und brüllten irgendwelche Kommandos, die nichts, aber auch gar nichts mit dem tatsächlichen Geschehen zu tun hatten.

So ging es bei allen Agenturen in London zu. Bei allen außer einer.

Mr Toby Farnaby von der Agentur Rotwell, mein Berater in dieser Nacht, war ein typischer Vertreter seiner Gattung: ein dicklicher Typ mittleren Alters, der seit über zwanzig Jahren nichts auch nur ansatzweise Übernatürliches mehr wahrgenommen hatte. Dennoch hielt er sich für unersetzlich. Er hatte es sich in der marmorgefliesten Eingangshalle des Hauses gemütlich gemacht, gut geschützt in einem dreifachen Bannkreis aus Eisenketten und schön in der Nähe der Haustür. Als ich nun auf dem Treppenabsatz im ersten Stock ans Geländer humpelte, sah ich ihn wie eine dickbäuchige Riesenkröte unter mir hocken. Seinen breiten Hintern hatte er in einen Faltstuhl gepflanzt, auf dem Klapptisch daneben erblickte ich einen Flachmann und einen Stapel belegter Brote.

Neben ihm stand ein zweiter Erwachsener. Johnson war schmächtig, gertenschlank und hielt ein Klemmbrett in der Hand. Vor diesem Abend hatte ich ihn noch nie gesehen. Mit seinem weichen Durchschnittsgesicht und den undefinierbar mausbraunen Haaren passte er hervorragend zu Rotwell und war vermutlich der Berater unseres Beraters, jedenfalls hätte mich das nicht gewundert.

Mr Farnaby war gerade dabei, den anderen Mitgliedern unseres Teams einen Vortrag zu halten. Anscheinend waren sie zu ihm zurückgekehrt, während ich mich in der Geheimkammer amüsiert hatte. Tina und Dave standen mit hängenden Schultern und so gelangweilten wie trotzigen Mienen da, anders als Ted, der Haltung angenommen hatte und ein übertrieben aufmerksames Gesicht machte.

»Das Allerwichtigste ist«, sagte Farnaby eben, »dass ihr äußerste Vorsicht walten lasst, wenn ihr wieder hochgeht. Sollte Miss Carlyle tot sein, wovon ich ausgehe, ist das ausschließlich ihre eigene Schuld. Bleibt immer zusammen und gebt einander Deckung. Denkt daran, dass Emma Marchment ihren Stiefsohn vergiftet und versucht hat, ihren Ehemann umzubringen! Wenn sie schon zu Lebzeiten derart grausam und rachsüchtig war, ist sie als Geist bestimmt noch hundertmal bösartiger.«

»Ich glaube, wir sollten uns lieber beeilen, Sir«, warf Dave Eason schüchtern ein. »Lucy ist schon ewig weg. Wir müssen …«

»… die Vorschriften befolgen, die zu eurem Schutz gedacht sind, Eason.« Mr Farnaby faltete die dicklichen Hände und ließ die Knöchel knacken, dann griff er nach einem belegten Brot. »Das Mädchen ist auf eigene Faust losgezogen, statt mir gemeinsam mit dem Team einen Überblick der Lage zu liefern. Es ist doch immer dasselbe mit diesen Freiberuflern. Sie haben einfach keine vernünftige Ausbildung, stimmt’s, Johnson?«

»Stimmt«, sagte Johnson.

»Huhu, Mr Farnaby!«, rief ich von oben und freute mich diebisch, als alle Anwesenden zusammenfuhren.

Farnaby hatte sein Brot in den Schoß fallen lassen und schaute mit blinkenden Knopfäuglein zu mir empor. »Sieh an, Miss Carlyle hat die Güte, uns zu beehren. Man hat mich bereits von Ihrem eigenmächtigen Vorgehen unterrichtet. Bei Rotwell arbeiten wir im Team! Da können Sie nicht einfach aus der Reihe tanzen.«

Ich klopfte bedächtig auf das Geländer und sagte erst mal gar nichts. Farnabys fettiges schwarzes Haar glänzte im Schein der Petroleumlampe, sein Wanst warf einen halbmondförmigen Schatten. Zu seinen Füßen stapelten sich Säcke voller Salz und Eisenspäne. Offiziell passte er auf, dass unseren Vorräten nichts passierte, inoffiziell sorgten die Vorräte dafür, dass ihm nichts passierte. »Ich bin immer für Teamarbeit zu haben«, gab ich dann zurück, »vorausgesetzt, sie ist angebracht. Manchmal muss man aber auch allein vorgehen, um effektiv sein zu können.«

Farnaby verzog das Gesicht. »Ich habe Sie wegen Ihrer herausragenden Gabe des Hörens für diesen Einsatz verpflichtet und nicht, damit Sie uns Ihre abwegigen Ansichten erläutern. Und jetzt kommen Sie bitte herunter und tun das, was Sie schon vor einer Stunde hätten tun sollen, nämlich mir Bericht über das erstatten, was Sie in Erfahrung …«

In meinem Rucksack regte sich etwas. »Was für ein grässlicher Langweiler.«

»Allerdings«, erwiderte ich im Flüsterton.

»Weißt du, was ich an deiner Stelle täte?«

»Weiß ich. Und die Antwort lautet: abgelehnt. Ich bringe ihn nicht um.«

»Spielverderberin. Da drüben steht eine Topfpflanze. Die könntest du ihm auf den Kopf fallen lassen.«

»Pssst.«

Farnaby blickte wieder zu mir hoch. »Entschuldigung – haben Sie etwas gesagt, Miss Carlyle?«

Ich nickte. »Ich habe gesagt, dass ich die Quelle gefunden habe. Ich bringe sie Ihnen runter. Bin gleich da. Lassen Sie mir ein Brot übrig.«

Ich humpelte treppab, bis ich unten in der Eingangshalle stand. Meine Agentenkollegen starrten mich mit großen Augen an, aber ich kümmerte mich nicht um sie, sondern schlenderte mit dem Silberbündel unterm Arm zu Farnaby hinüber. Bei ihm angekommen, ließ ich den Kopf mit großer Geste auf seinen Klapptisch fallen und freute mich über das dumpfe Rums!

Der Berater wich erschrocken zurück. »Ist das die Quelle? Was ist es denn?«

»Schauen Sie selbst nach. Vielleicht schieben Sie dafür Ihren Proviant ein Stück zur Seite.«

Farnaby hob das Netz an einem Zipfel an und sprang auf, wobei er beinahe über seinen Stuhl gestolpert wäre. »Schnell, ein Schutzbehälter! Und legen Sie das Ding auf den Boden – aber nicht in meiner Nähe!«

Ein Behälter aus Silberglas wurde gebracht und der Kopf hineinverfrachtet. Farnaby tupfte sich die schweißbedeckte Stirn ab, setzte sich wieder hin und beäugte den Behälter aus sicherer Entfernung. »Was für ein abscheuliches Ding. War das mal Emma Marchment?«

»Es ist nicht ihr Kopf, wenn Sie das meinen«, antwortete ich. »Aber er muss ihr gehört haben. Ich konnte einen Blick darauf erhaschen, wie es früher in dem Geheimzimmer ausgesehen hat. Es war voller Gefäße und Kräuter. Emma Marchment hat sich dort eindeutig mit irgendwelchem Hexenquatsch beschäftigt. Der mumifizierte Kopf gehörte zu ihren wertvollsten Besitztümern, darum ist ihr Geist so eng damit verbunden.«

»Faszinierend.« Der fade Mr Johnson machte sich auf seinem Klemmbrett Notizen. »Gute Arbeit, Carlyle.«

»Danke, aber das Lob gebührt nicht mir allein. Jeder von uns hat seinen Beitrag geleistet.«

Farnaby gab ein missmutiges Brummen von sich. »Auf jeden Fall ist der Kopf ein ungewöhnliches Fundstück. Ihre Jungs im Institut hätten bestimmt ihre helle Freude daran, Johnson. Wollen Sie ihn mitnehmen?«

Mr Johnson lächelte verkniffen. »Das würde leider gegen die neuesten Vorschriften der BEBÜP verstoßen. Der Kopf muss vernichtet werden. Ich melde der Zentrale, dass das Haus gesäubert ist. Ihr Team hat Beachtliches geleistet, Farnaby, auch wenn Sie Ihre Leute nicht ganz im Griff hatten.« Er klopfte dem Berater auf die Schulter, trat aus dem Bannkreis und ging zur Tür.

Farnaby saß einen Augenblick schweigend und mit umwölkter Miene da, blickte dann auf und wandte sich an Ted, der beklommen von einem Fuß auf den anderen trat. »Ich mache Sie für den Vorfall verantwortlich, Daley«, sagte er. »Sie waren Teamleiter. Sie hätten Miss Carlyle an der kurzen Leine halten müssen. Das gibt fünf Strafpunkte.«

Ich spürte, wie Ted immer kleiner wurde, und das machte mich richtig sauer. »Verzeihung, Sir«, sagte ich energisch, »aber das Team hat den Auftrag korrekt ausgeführt und sein Ziel erreicht.«

»Das sehe ich völlig anders und ich habe hier das Sagen. Wir packen zusammen.« Er griff nach seinem Flachmann und wollte mich mit einer unwirschen Handbewegung wegscheuchen, aber ich rührte mich nicht von der Stelle.

»Ich bin nicht dazu gekommen, vorher Ihren Rat einzuholen«, entgegnete ich. »Ich musste die Quelle orten, bevor sich die Erscheinung wieder verflüchtigte. Es war schlicht die effektivste Vorgehensweise. Und beim ersten Zusammenstoß mit dem Geist hat das Team hervorragend zusammengearbeitet. Die anderen haben mir geholfen, die Geheimtür ausfindig zu machen, und Dave hat zusammen mit mir die Wiedergängerin verjagt. Sie waren doch früher selbst Agent. Bestimmt erinnern Sie sich noch daran, dass man manchmal spontane Entscheidungen vor Ort treffen muss. Dann ist es sehr nützlich, wenn man sich auf seine Mitstreiter verlassen kann, hab ich recht, Ted?«

Als ich mich umdrehte, musste ich feststellen, dass Ted schon dabei war, einen Sack Eisenspäne zur Tür zu schleifen. »Tina?«, fragte ich daraufhin. »Dave?«

Tina packte die nicht benutzten Salzbomben ein und Dave rollte die Ketten zusammen. Alle drei waren schweigend in ihr Tun vertieft und hörten mir nicht mal zu.

Plötzlich legte sich ein Schatten über mich. Farnabys Schmerbauch hatte sich vor die Lampe geschoben, als sich sein Besitzer erhob und damit einen Schlussstrich unter die Debatte zog. Wenn er einigermaßen gut gelaunt war, glichen seine Äuglein verkohlten Rosinen, doch jetzt waren sie zu tückisch glitzernden schwarzen Glassplittern zusammengeschrumpft. Meine Hand legte sich unwillkürlich auf den Degenknauf und ich wich einen Schritt zurück.

»Ich weiß, wo Sie vorher gearbeitet haben, Miss Carlyle«, sagte der Berater, »und ich weiß, warum Sie sich so aufführen. Es ist mir unbegreiflich, dass die BEPÜP diese schäbige kleine Klitsche nicht längst dichtgemacht hat. Eine von Jugendlichen geführte Agentur? Absurd! Damit wird es noch ein böses Ende nehmen, das kann ich Ihnen flüstern. Aber Sie arbeiten jetzt nicht mehr für Lockwood & Co., Miss Carlyle. Sobald Sie Ihre Dienste Rotwell zur Verfügung stellen, haben Sie es mit einer richtigen Agentur zu tun, in der die Minderjährigen ihren Platz kennen. Wenn Sie auch in Zukunft von uns beauftragt werden wollen, müssen Sie lernen, den Mund zu halten und zu tun, was man Ihnen sagt. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«

Ich kniff die Lippen zusammen. »Jawohl, Sir.«

»Und bis dahin – da Ihnen Effektivität anscheinend so wichtig ist – können Sie ja diesen Einsatz hier ordnungsgemäß zu Ende bringen. Wie Sie schon von Mr Johnson gehört haben, hat die BEBÜP angeordnet, dass sämtliche Quellen vom TYP ZWEI unverzüglich vernichtet werden müssen. Für abscheuliche Relikte wie dieses gibt es einen Schwarzmarkt und wir dürfen kein Risiko eingehen.« Er schob den Silberglasbehälter mit dem Fuß in meine Richtung. »Hier ist der mumifizierte Kopf. Bringen Sie ihn in die Entsorgungsanstalt in Clerkenwell, und sorgen Sie dafür, dass er verbrannt wird.«

»Ich soll nach Clerkenwell fahren?«, fragte ich ungläubig. »Um zwei Uhr morgens?«

»Umso besser. Dann sind die Brennöfen hochgefahren. Wenn Sie mir morgen die abgestempelte Bescheinigung bringen, zahle ich Ihnen Ihr Honorar für heute Abend aus. Keine Minute eher.« Er drehte sich zu seinen schwer beschäftigten Untergebenen um. »Eigentlich wollte ich euch die restliche Nacht freigeben, aber da Miss Carlyle von eurer Tatkraft offenbar so eine hohe Meinung hat, können wir ebenso gut einen weiteren Einsatz anschließen. Mir ist eingefallen, dass auf dem Highgate-Friedhof ein Alb sein Unwesen treibt. Ich fahre euch hin. Also ein bisschen Beeilung beim Aufräumen!«

Dann machte er sich daran, seine Verpflegung einzupacken. Meine Kollegen warfen mir giftige Blicke zu, taten aber wie geheißen. Ich bückte mich nach dem Silberglasbehälter.

»He, Schädel«, zischelte ich.

»Was gibt’s?«

»Du hattest recht mit der Topfpflanze.«

»Sag ich doch.«

Ohne ein weiteres Wort klemmte ich mir den mumifizierten Kopf unter den Arm und verließ das Gebäude. Ich war müde, ich war sauer, aber ich ließ mir nichts anmerken. Dass ich mich mit einem Berater zankte, war nichts Neues, das kam fast jede Nacht vor. So was gehörte einfach zu meinem neuen Leben als Freiberuflerin.

* * *

Ich hatte die Sache von Anfang an professionell aufgezogen und mir laminierte Visitenkarten mit schickem silbergrauen Rand drucken lassen, die ich allen meinen Auftraggebern überreichte und die der Grund waren, warum sie mich alle haben wollten, auch wenn sie sich über mich ärgerten.

LUCY CARLYLE

ÜBERSINNLICHE BERATUNGEN & ERMITTLUNGEN

Appartement 4, Tooting Mews, London

Recherchen und Besuchervertreibungen Expertin für akustische Phänomene

Ich hätte mir ein angeberisches Logo entwerfen lassen können, mit gekreuzten Degen, aufgespießten Geistern oder so, aber ich wollte es lieber schlicht. Dass ich mich selbst als »Beraterin« bezeichnete, verschaffte mir bereits die gewünschte Aufmerksamkeit, weil es bedeutete, dass ich unabhängig war. Es gab nicht viele Übersinnliche Ermittler in London, die im Alleingang arbeiteten, was auch daran lag, dass die meisten von uns früh starben.

Als Freie konnte ich für jede Agentur tätig werden, die mich engagierte, und im Lauf des Schwarzen Winters waren das nicht wenige gewesen. Meine besondere Gabe, wie schon gesagt, war das Hören (unter uns gesagt, kannte ich keinen Agenten, der es besser beherrschte als ich – mit vielleicht einer Ausnahme), und damit war ich so gut wie jedem Team von großem Nutzen. Außerdem war ich eine Überlebenskünstlerin. Ich hatte ein feines Gespür dafür, in welcher Situation Hören und Schauen angesagt waren, wann ich lieber den Degen zücken und wann ich schleunigst die Beine unter den Arm nehmen musste. Auf diese drei Möglichkeiten liefen im Grunde alle Einsätze hinaus, außerdem war gesunder Menschenverstand gefragt. Nur so blieb man als Agent am Leben.

Kurzum, ich war ausgesprochen tüchtig. Was sonst? Schließlich hatte ich mein Handwerk bei den Besten gelernt.

Und sie verlassen.

Der Schwarze Winter war ein guter Zeitpunkt gewesen, sich selbstständig zu machen. Inzwischen hatten wir Ende März und wie immer beruhigte sich die Lage um diese Jahreszeit ein bisschen. Das Wetter wurde besser, die Tage wurden länger, bunte Frühlingsblumen reckten die Köpfe aus den letzten Schneehäufchen, und die Gefahr, sich abends beim Milchholen die Geistersieche einzufangen, nahm geringfügig ab. Man durfte hoffen, dass das Schlimmste erst einmal überstanden war.

Trotzdem hatte das Problem im Lauf der letzten Monate mit ihren scheinbar endlosen Nächten unübersehbar zugenommen. Zwar war es nicht noch einmal zu einer solchen Massenheimsuchung gekommen wie seinerzeit in Chelsea, aber der Winter war erbarmungslos gewesen. Sämtliche Agenturen waren mit ihren Kräften am Ende und viele Agenten – junge und noch jüngere – hatten in treuer Ausübung ihrer Pflicht ihr Leben gelassen und waren in der Eisengruft hinter dem Paradeplatz der königlichen Leibgarde beigesetzt worden.

Andererseits hatten die unerfreulichen Begleiterscheinungen des Winters auch zum Aufblühen einiger Agenturen beigetragen. Ein Beispiel dafür war Lockwood & Co., die kleinste übersinnliche Agentur in ganz London. Dort war ich bis zum Winteranfang angestellt gewesen. Damals bestand die Agentur aus nur drei Mitarbeitern: Anthony Lockwood, der die Truppe leitete, George Cubbins, der hauptsächlich für die Recherche zuständig war – und mir. Wir wohnten alle in einem Haus in der Portland Row in Marylebone. Ach ja, später kam noch eine vierte Mitarbeiterin dazu. Sie hieß Holly Munro und war eigentlich nur eine Hilfskraft, trotzdem musste man sie wahrscheinlich mitzählen. Aber nur George und Lockwood hatten mir wirklich etwas bedeutet, und zwar so viel, dass ich mich irgendwann gezwungen sah, mich von ihnen zu trennen und meine eigenen Wege zu gehen.

Vor vier Monaten hatte mich nämlich ein Geist einen Blick auf meine mögliche Zukunft werfen lassen – eine Zukunft, in der mein Handeln Lockwoods Tod verschuldete. Zwar war es ein ausgesprochen bösartiger, in keiner Weise vertrauenswürdiger Geist gewesen, doch was er mir offenbart hatte, passte zu meinen eigenen unguten Ahnungen. Immer und immer wieder hatte Lockwood sein Leben aufs Spiel gesetzt, um das meine zu retten, und von Mal zu Mal war die Grenze zwischen Erfolg und Katastrophe schmaler und ungewisser geworden. Dazu kam, dass meine übersinnlichen Gaben zwar stärker wurden, ich sie aber immer schlechter im Griff hatte. Bei mehreren Einsätzen war es mir nicht gelungen, meine Gefühle zu beherrschen, was den Geistern, mit denen wir es zu tun hatten, zusätzliche Kräfte verlieh. Bei einem Einsatz, während dessen eine Beinahekatastrophe auf die nächste gefolgt war, hatte ich sogar einen Poltergeist entfesselt, und in der anschließenden Schlacht wäre Lockwood (und nicht nur er) beinahe umgekommen. Mir wurde klar, dass beim nächsten Fehler dieser Art, der mir unterlief, die Vorhersage des Geistes eintreffen würde. Weil ich es nicht ertragen hätte, schuld an Lockwoods Tod zu sein, musste ich eine solche Situation unter allen Umständen abwenden. Deshalb war mir nichts anderes übrig geblieben, als die Agentur zu verlassen. Es war meine eigene Entscheidung gewesen. Und sie war richtig.

Da war ich mir ganz sicher.

Und deswegen war ich jetzt, wenn man einen gewissen sprechenden Schädel nicht mitrechnete, auf mich gestellt.

Soweit ich es aufgrund von Zeitungslektüre beurteilen konnte, war meine Kündigung bei Lockwood & Co. mit einem erhöhten Auftragsaufkommen für meine ehemaligen Kollegen zusammengefallen. Vor allem der Fall des Chelsea-Ausbruchs, bei dem sie die Quelle der Heimsuchung in einer unterirdischen Kammer voller Skelette unter dem Kaufhaus der Gebrüder Aickmere aufspürten, hatte ihnen endlich die Bekanntheit eingebracht, die sich der Inhaber der Agentur schon so lange gewünscht hatte.

Immer wieder zierten ihre Fotos die Titelblätter, vor allem Lockwoods Foto. Mal stand er zusammen mit George in den Trümmern der Mortlake-Gruft, dann wieder posierte er allein vor einer rauchschwarzen Silhouette, dem einzigen Überbleibsel des Ghuls von St. Albans. Das Bild, das ich am allerwenigsten mochte, war jenes, auf dem er im Londoner Büro der Times den begehrten Preis »Agentur des Monats« entgegennahm und Holly Munro überaus fotogen neben ihm höchst charmant in die Kamera lächelte.

Ich freute mich für meine ehemaligen Kollegen, dass sie so erfolgreich waren. Aber auch ich hatte Erfolge zu verzeichnen. Meine Rolle im Aickmere-Fall war nicht unbeachtet geblieben, und kaum hatte ich mir ein Zimmer gemietet und eine kleine Anzeige auf der Agenturseite der Times geschaltet, meldeten sich auch schon die ersten Klienten. Erstaunlicherweise waren es von Anfang an überwiegend andere Agenturen. Beim Fall der Melrose-Place-Morde hatte ich für Grimble gearbeitet und beim Fall der Phantomkatze auf dem Cromwell Square für Atkins & Armstrong.

Sogar die große Agentur Rotwell hatte mich etliche Male beschäftigt, und ich ging davon aus, dass sie auch noch öfter auf mich zukommen würde, unabhängig davon, was Farnaby sagte.

Ja, mein Geschäft florierte.

Ich war auch allein erfolgreich.

Ob mir das Alleinsein etwas ausmachte? Eigentlich nicht. Die meiste Zeit kam ich prima zurecht.

Ich hatte viel zu tun. Niemand konnte mir vorwerfen, dass ich nicht unter Leute kam, nur leider waren so viele von ihnen schon tot.

Im Verlauf der letzten Woche zum Beispiel war ich einem schaukelnden Geisterkind begegnet, einer skelettierten Braut vor dem Altar, einem Schaffner, der ohne seinen Bus durch die Straßen schwebte, zwei erschlagenen Arbeitern, einem riesigen schwarzen Phantom, das seinen Geisterhund auf der Putney Street Gassi führte, einer kopflosen Bibliothekarin, einem Koffer mit drei Nimbussen, zwei Auren und einem Irrlicht drin, einer umhergeisternden abgeschlagenen Hand und einem halb nackten Nachbarn.

Letzterer war allerdings nur allzu lebendig gewesen. Leider.

Ja, meine Nächte waren fast zu abwechslungsreich. Dafür fühlte ich mich tagsüber manchmal ein bisschen leer. Vor allem frühmorgens, wenn ich nach einem Einsatz müde und zerschlagen durch die leeren Straßen heimwärts wanderte und das Gewicht der kommenden einsamen Stunden bereits auf mir lastete. Ich konnte mich noch nicht mal darauf verlassen, bei Bedarf mit dem Schädel plaudern zu können, denn der pflegte sich tagsüber oft zu entmaterialisieren. Bei solchen Gelegenheiten kam es manchmal vor, dass ich mich nach der Gesellschaft anderer Menschen sehnte.