Lockwood & Co. - Der Wispernde Schädel - Jonathan Stroud - E-Book
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Lockwood & Co. - Der Wispernde Schädel E-Book

Jonathan Stroud

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Beschreibung

Wenn Londons Geisterwelt erwacht

Dank des spektakulären Erfolgs im Fall der seufzenden Wendeltreppe ist Lockwood & Co. nun eine der angesagtesten Geisteragenturen Londons. Doch inzwischen wird die Metropole bereits von einer Reihe neuer grausiger Ereignisse erschüttert: In einer beispiellosen Diebstahlserie werden mächtige magische Artefakte entwendet und deren Hüter grausam ermordet. Als dann auch noch auf einem Friedhof ein schauerlich eiserner Sarg geborgen wird, dessen Inhalt unter mysteriösen Umständen verschwindet, steht fest: Ein klarer Fall für Lockwood & Co.! Nur wenn das Team um Anthony Lockwood, Lucy und George ihre ganze Genialität im Umgang mit übernatürlichen Ereignissen in die Wagschale wirft, kann es ihnen gelingen, die Verschwörung, die hinter all dem steckt, aufzudecken.

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Seitenzahl: 588

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JONATHAN STROUD

DER WISPERNDE SCHÄDEL

Aus dem Englischen vonKatharina Orgaß und Gerald Jung

Kinder- und Jugendbuchverlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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© 2014 für die deutschsprachige Ausgabe, cbj Kinder- und Jugendbuchverlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München. © 2014 Jonathan StroudDie englische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel»Lockwood & Co. – The Whispering Scull«bei Doubleday, einem Imprint von Random House Children’s Books, LondonÜbersetzung: Katharina Orgaß und Gerald JungDas Interview führte Julia Kniep.Innenillustrationen: © 2014 Kate AdamsUmschlagbild und -gestaltung: bürosüd, MünchenMP · Herstellung: UKSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-12183-9V006
www.cbj-verlag.dewww.lockwood-und-co.de

Für Laura und Georgia

Inhalt

I. Die Albe von Wimbledon

Kapitel 1

Kapitel 2

II. Das seltsame Grab

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

III. Der verschwundene Spiegel

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

IV. Die sprechenden Toten

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

V. Eine denkwürdige Nacht

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

VI. Hinter dem Spiegel

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Glossar

BonusmaterialEin paar Fragen an Jonathan Stroud zu Lockwood & Co.

Ganz Großbritannien befindetsich in den Fängen einer Geisterepidemie.

Seit nunmehr fünfzig Jahren suchen die ruhelosen Seelen der Toten in ständig wachsender Zahl die Insel und ihre Bewohner heim – keiner weiß, wie oder warum. Bei Einbruch der Dunkelheit verbarrikadieren sich daher die Londoner in ihren Häusern, deren Anwesen mit einer Vielzahl an Geisterabwehrmechanismen bewehrt sind. Dann liegen die Straßen verlassen da – bis die Schatten sich rühren. Nun ist es an den Schemen, Alben und Wiedergängern, die Stadt für die Nacht zu der ihren zu machen.

Manche der Phantome gieren danach, mit den Lebenden in Kontakt zu treten, doch die Folgen sind fatal für die Menschen. Die für das Übernatürliche blinden und tauben Erwachsenen sind besonders wehrlos gegenüber der damit einhergehenden tödlichen Geistersieche. Sie müssen deshalb ganz auf die Jugendlichen der Stadt vertrauen – denn einige von diesen verfügen über eine angeborene übernatürliche Gabe, Kraft derer sie die Geister in Schach halten können. Deshalb beschäftigen die zahlreichen zur Abwehr der Plage entstandenen Geister-Agenturen Teams jugendlicher Agenten, die mit Degen bewaffnet ausziehen, die tödliche Gefahr zu bekämpfen. Die Begabten unter ihnen kehren heim. Viele andere nicht.

Zwischen diesen zahllosen von Erwachsenen geführten Agenturen ist Lockwood & Co. die kleinste und außergewöhnlichste. Sie besteht aus genau drei Agenten: ihrem dynamischen Anführer Anthony Lockwood, der so charmant wie genial ist; seinem Stellvertreter George, akribischer Rechercheur und unerschütterlich treuer Freund, wenn es an der Front brenzlig wird; und dem neuesten Mitglied Lucy Carlyle – mutig, gewitzt und mit einem beachtlichen übernatürlichen Talent gesegnet.

Gemeinsam haben die drei Agenten von Lockwood & Co. trotzdem alle Hände voll damit zu tun, dem Horror von London die Stirn zu bieten und dabei zu überleben.

Kapitel 1

»Nicht hinsehen«, sagte Lockwood. »Es sind sogar zwei.«

Ich warf einen raschen Blick über die Schulter und stellte fest, dass er recht hatte. Nicht weit von uns entfernt, auf der anderen Seite der Lichtung, war ein zweiter Geist der Erde entstiegen. Wie schon der erste war es ein bleicher Nebel in Menschengestalt, der über dem dunklen, nassen Gras schwebte. Auch bei ihm hing der Kopf in schiefem Winkel, als sei das Genick gebrochen.

Ich starrte ihn an, aber nicht, weil ich erschrocken, sondern weil ich sauer war. Ein ganzes Jahr lang arbeitete ich nun schon für Lockwood & Co. und war gegen geisterhafte Besucher der verschiedensten grässlichen Gestalten und Größen angetreten. Ein gebrochenes Genick imponierte mir längst nicht mehr so sehr wie zu Anfang. »Na toll«, sagte ich. »Wo kommt der denn jetzt auf einmal her?«

Ratsch! machte es, als Lockwood den Degen aus der Gürtelschlaufe zog. »Keine Sorge. Ich behalte ihn im Auge. Pass du auf deinen auf.«

Ich drehte mich wieder um. Die erste Erscheinung schwebte immer noch gut drei Meter von unserem Bannkreis entfernt in der Luft. Dort verharrte sie jetzt schon fast fünf Minuten und wurde dabei immer deutlicher sichtbar. Inzwischen konnte ich bereits die Arm- und Beinknochen und die Gelenke dazwischen erkennen. Die fransigen Konturen der Gestalt hatten sich verdichtet, sodass man Fetzen vermoderten Stoffs ausmachen konnte: ein weites Hemd und zerrissene dunkle, bis zum Knie reichende Reithosen.

Der Geist verströmte eisige Kältewellen. Trotz der warmen Sommernacht war der Tau unter den lose baumelnden Zehenknochen zu funkelnden Frostsplittern gefroren.

»Eigentlich logisch«, rief Lockwood über die Schulter. »Wenn man einen Verbrecher an einer Wegkreuzung aufhängt, kann man genauso gut zwei aufhängen. Damit hätten wir rechnen müssen.«

»Und warum haben wir dann nicht damit gerechnet?«

»Das musst du George fragen.«

Meine Hand war ganz glitschig vor Schweiß. Ich packte den Degenknauf fester und fragte: »George?«

»Was ist?«

»Warum haben wir nicht vorher gewusst, dass es zwei sind?«

Ich hörte, wie sich ein Spaten knirschend in feuchte Erde grub. Wie eine Schaufelladung meine Stiefel traf. Eine mürrische Stimme antwortete aus dem Abgrund: »Weil ich mich nur an die alten Dokumente halten kann, Lucy. Darin stand, dass hier ein Mann hingerichtet und begraben wurde. Keine Ahnung, wer der andere ist. Will einer von euch weitergraben?«

»Ich nicht« sagte Lockwood. »Du machst das wunderbar, George. Diese Art Arbeit liegt dir. Wie kommt die Ausgrabung denn voran?«

»Ich bin müde, ich bin verdreckt, und ich habe bis jetzt null Komma nix gefunden. Abgesehen davon läuft es bestens.«

»Keine Gebeine?«

»Nicht mal eine Kniescheibe.«

»Mach weiter. Die Quelle kann nur dort sein. Du suchst jetzt allerdings nach zwei Leichen.«

Eine Quelle ist ein Gegenstand, in dem ein Geist gefangen ist. Hat man die Quelle erst mal entdeckt, bekommt man auch die Heimsuchung durch diesen Geist rasch in den Griff. Leider sind Quellen meist nicht leicht zu finden.

George brummelte irgendwas vor sich hin und machte sich wieder an die Arbeit. Im spärlichen Licht der Petroleumlaternen, die wir neben unseren Taschen aufgestellt hatten, glich er einem Riesenmaulwurf mit Brille. Er stand jetzt brusttief in der Grube, und der Erdhaufen, den er aufgeworfen hatte, füllte schon fast den ganzen Bannkreis aus. Den großen, quadratischen, moosbewachsenen Stein, der unserer Meinung nach die Grabstätte markierte, hatte er längst ausgebuddelt und beiseitegeräumt.

»Du, Lockwood«, sagte ich plötzlich, »meiner kommt näher.«

»Keine Panik. Verscheuch ihn einfach. Mit ganz einfachen Aktionen, so wie wir es zu Hause am Schwebenden Joe geübt haben. Wenn er das Eisen wittert, lässt er dich in Ruhe.«

»Bist du sicher?«

»Klar doch. Da brauchst du dir wirklich keine Sorgen zu machen.«

Lockwood hatte gut reden. An einem sonnigen Nachmittag im Fechtkeller an einer Strohpuppe zu üben, war etwas ganz anderes, als mitten in einem heimgesuchten Waldstück einen Alb abzuwehren. Ohne rechte Überzeugung hob ich meinen Degen. Der Geist schwebte unbeirrt auf mich zu.

Er war jetzt ganz deutlich zu erkennen. Langes schwarzes Haar flatterte um den Schädel, und in der linken Augenhöhle sah man noch die Überreste eines Augapfels, die andere Augenhöhle war leer. An den vorspringenden Wangenknochen hingen verweste Hautfetzen und der Unterkiefer baumelte schief über dem Schlüsselbein. Der Körper war steif, und die Arme waren so eng an den Brustkorb gedrückt, als wären sie festgebunden. Fahles, dunstiges Anderlicht umgab die Erscheinung. Ab und zu erbebte sie, als baumelte sie immer noch am Galgen und würde von Wind und Regen gebeutelt.

»Er nähert sich dem Bannkreis«, sagte ich.

»Meiner auch.«

»Er ist echt gruselig.«

»Gib nicht so an. Meiner hat keine Hände mehr.«

Lockwood klang ganz entspannt, aber das war nichts Neues. Er klingt immer entspannt. Jedenfalls fast immer: Als wir Mrs Barretts Gruft geöffnet hatten … also da war er eindeutig nervös gewesen, allerdings hauptsächlich wegen der Krallenspuren auf seinem schönen neuen Mantel. Ich schielte zu ihm hinüber. Er stand mit gezücktem Degen da: groß, schlank und lässig wie eh und je beobachtete er, wie der zweite Besucher langsam näher kam. Der Laternenschein spielte auf seinem schmalen, blassen Gesicht und zeichnete den eleganten Schwung seiner Nase und seinen zerzausten Haarschopf nach. Auf seinen Lippen lag das leise Lächeln, das heiklen Situationen vorbehalten war, ein Lächeln, das besagte, dass er alles im Griff hatte. Sein Mantel flatterte leicht im Nachtwind. Wie üblich flößte mir sein bloßer Anblick neues Selbstvertrauen ein. Ich packte meinen Degen noch fester und wandte mich wieder meinem Geist zu.

Er schwebte bereits ganz dicht vor dem Bannkreis aus Eisenketten. Geräuschlos und flink wie ein Gedanke war er herangehuscht, sobald ich mich weggedreht hatte.

Ich holte mit dem Degen aus.

Der Mund klaffte auf, in den Augenhöhlen loderte grünliches Feuer. Blitzartig stürzte er sich auf mich. Ich schrie auf und sprang zurück. Nur Zentimeter von meinem Gesicht entfernt berührte der Geist den Bannkreis. Es knallte laut, Ektoplasma spritzte auf. Lodernde Batzen von dem Zeug regneten ins schlammige Gras außerhalb des Kreises. Die bleiche Gestalt war drei Meter zurückgewichen. Sie bebte und qualmte.

»Pass doch auf, Lucy«, schimpfte George. »Du bist mir auf den Kopf getreten.«

Lockwoods Stimme klang barsch und besorgt. »Was ist los? Was war das?«

»Alles in Ordnung«, antwortete ich. »Meiner hat mich angegriffen, aber das Eisen hat ihn verjagt. Beim nächsten Mal setze ich eine Leuchtbombe ein.«

»Das wäre Verschwendung. Degen und Ketten reichen fürs Erste völlig. George, munter uns mal ein bisschen auf. Du hast doch inzwischen bestimmt etwas gefunden.«

Statt einer Antwort flog der Spaten durch die Luft. Eine lehmverschmierte Gestalt krabbelte aus der Grube. »Schön wär’s«, sagte George. »Das hier ist die falsche Stelle. Ich buddele jetzt schon stundenlang. Hier ist niemand begraben. Wir haben uns geirrt.«

»Nein«, widersprach ich. »Es ist ganz bestimmt die richtige Stelle. Genau hier habe ich die Stimme gehört.«

»Tut mir leid, Luce. Da unten ist niemand.«

»Ach, auf einmal? Du hast doch behauptet, dass wir hier richtig sind!«

George putzte mit dem letzten noch sauberen Zipfel seines T-Shirts seine Brille und musterte dann gelassen meinen Geist. »Hey, das ist ja ein echter Hingucker«, sagte er. »Was hat sie denn mit ihrem Auge angestellt?«

»Sie ist ein Mann«, fauchte ich. »Bekanntlich haben früher auch Männer die Haare lang getragen. Und lenk gefälligst nicht ab! Deine Recherchen haben uns hierher geführt!«

»Meine Recherchen und deine Gabe«, erwiderte George knapp. »Ich habe die Stimme schließlich nicht gehört. Krieg dich lieber wieder ein und lass uns überlegen, was jetzt zu tun ist.«

Na gut, vielleicht war ich ein bisschen zu giftig gewesen, aber wenn mir verweste Leichen ins Gesicht springen, hört für mich der Spaß auf. Außerdem war ich im Recht: George hatte uns tatsächlich versprochen, dass hier eine Leiche zu finden war. Er hatte einen Bericht über einen Mörder und Schafdieb aufgestöbert, einen gewissen John Mallory, der im Jahre 1744 beim Gänsemarkt in Wimbledon gehängt und dessen Hinrichtung in einem der damals beliebten Balladenbüchlein verewigt wurde. Man hatte ihn auf einem Schinderkarren an die Wegkreuzung bei Earlsfield gebracht und dort an einem zehn Meter hohen Galgen aufgeknüpft.

Anschließend hatte man ihn »den Krähen und Aasvögeln überlassen«, bevor seine zerfledderten Überreste ganz in der Nähe vergraben wurden. Das passte alles wunderbar zu unserem derzeitigen Auftrag, der dem plötzlichen Erscheinen eines Albs auf dem Gemeindeanger galt, das der Beliebtheit des örtlichen Kinderspielplatzes schadete. Der Geist war in der Nähe eines Waldstücks gesichtet worden. Als wir herausfanden, dass das Gehölz früher unter dem Namen »Mallorys Ende« bekannt gewesen war, schien klar, dass dies eine heiße Spur war. Jetzt galt es nur noch, die exakte Lage der Grabstätte ausfindig zu machen.

Am Abend hatte in dem Wäldchen eine seltsam beklemmende Stimmung geherrscht. Die Bäume, überwiegend Eichen und Birken, waren knorrig und verkrüppelt, die Stämme von graugrünen Moospolstern überzogen. Nicht ein einziger Baum schien von gesundem Wuchs zu sein.

Jeder von uns dreien hatte seine besondere Gabe eingesetzt – die übersinnliche Fähigkeit in Bezug auf geisterhafte Phänomene. Ich hatte ein seltsames Flüstern gehört, dazu das Knarren von Balken so dicht neben mir, dass ich erschrocken zusammengezuckt war, aber weder Lockwood noch George hatten irgendetwas davon mitbekommen. Lockwood, der von uns allen die ausgeprägteste Gabe des Schauens besitzt, hatte gemeint, er könne aus dem Augenwinkel einen Umriss weit hinten zwischen den Bäumen erkennen. Aber jedes Mal, wenn er richtig hinsah, verschwand die Gestalt.

Mitten im Wald waren wir auf eine kleine Lichtung gestoßen, auf der keine Bäume wuchsen. Dort schwoll das Flüstern an, und ich hatte es vorsichtig kreuz und quer durchs lange Gras verfolgt, bis ich einen bemoosten Stein entdeckt hatte, der mitten auf der Lichtung halb in der Erde versunken war. Ein Kältefeld hing über der Stelle, der Stein selbst war über und über mit Spinnweben bedeckt. Wir spürten alle drei das typische Gefühl, das einen bei der Präsenz eines Geistes erfasst: Kälte und eine Art Lähmung. Zudem hörte ich ein-, zweimal ganz in der Nähe eine körperlose Stimme murmeln.

Es passte alles zusammen, und wir kamen zu dem Schluss, dass der Stein Mallorys Grab bezeichnete. Also legten wir unsere Eisenketten aus und gingen an die Arbeit, fest damit rechnend, den Fall in einer halben Stunde abgeschlossen zu haben.

Nach zwei Stunden sah die Bilanz folgendermaßen aus: zwei Geister, null Gebeine. Die Sache hatte sich nicht ganz so entwickelt wie erwartet.

»Erst mal müssen wir uns alle wieder abregen«, sagte Lockwood und erlöste George und mich davon, uns weiter böse anzufunkeln. »Wir sind anscheinend auf dem Holzweg. Weitermachen hat keinen Zweck. Lasst uns zusammenpacken und ein andermal wiederkommen. Aber vorher müssen wir noch diese Albe loswerden. Was meint ihr, was am besten hilft? Leuchtbomben?«

Er kam zu uns hinüber, ließ dabei aber den zweiten Geist, der inzwischen ebenfalls dicht vor dem Bannkreis schwebte, nicht aus den Augen. Genau wie mein Exemplar erschien auch dieser Alb in Gestalt einer verwesten Leiche, die in seinem Fall einen langen Gehrock und fesche, leuchtend rote Kniehosen trug. Ein Teil des Schädels fehlte und aus den mit Rüschen besetzten Manschetten ragten die nackten Armknochen. Wie Lockwood schon erwähnt hatte, fehlten ihm die Hände.

»Ich bin für Leuchtbomben«, sagte ich. »Salzbomben sind zu schwach für Geister vom TYP ZWEI.«

»Ich fänd’s schade, zwei gute Magnesiumbomben zu vergeuden, wenn wir noch nicht mal die Quelle gefunden haben«, wandte George ein. »Ihr wisst doch, wie sauteuer die Dinger sind.«

»Wir könnten die Burschen auch mit unseren Degen verjagen«, schlug Lockwood vor.

»Ziemlich riskant bei zwei Alben.«

»Oder wir bewerfen sie mit Eisenspänen.«

»Ich bin immer noch für Leuchtbomben.«

Während dieser kleinen Diskussion hatte sich der handlose Geist Zentimeter für Zentimeter an den Bannkreis herangeschoben. Den halbierten Schädel legte er dabei ein wenig schief, als lausche er unserer Unterhaltung. Jetzt stieß er mit dem Fuß sanft die Eisenketten an. Eine Fontäne von Anderlicht schoss empor, Plasmapartikel bohrten sich zischend in den Boden. Wir drei wichen einen halben Schritt zurück.

Daraufhin wagte sich auch mein Geist wieder näher heran. So ist das mit Alben: Sie sind hungrig, sie sind bösartig und sie sind unglaublich stur.

»Meinetwegen, Lucy«, sagte Lockwood seufzend. »Dann eben Leuchtbomben. Du erledigst deinen, ich meinen, und dann ist Feierabend.«

Ich nickte grimmig. »Sag ich doch.« Griechisches Feuer im Freien einzusetzen, ist immer besonders befriedigend. Draußen kann man alles Mögliche in die Luft jagen, ohne Angst vor den Folgen haben zu müssen. Und weil Albe nun mal zu den widerlichsten Besuchertypen gehören (auch wenn Blutrippen und Schlackerer eine echte Konkurrenz sind), macht es einfach total Spaß, sie auf diese Weise loszuwerden. Ich nahm eine Büchse vom Gürtel und schleuderte sie auf den Boden unter meinem Geist. Der Glasdeckel zersprang und die explodierende Mischung aus Eisen, Salz und Magnesium erleuchtete grell die umstehenden Bäume – dann wurde es wieder finster. Der Alb war verschwunden, nur ein paar helle Wölkchen hingen noch in der Luft und schwebten nun zu Boden. Auf der dunklen Lichtung glichen sie fremdartigen Blumen. Hier und dort erloschen kleine Magnesiumflammen im Gras.

»Gut gemacht«, sagte Lockwood und nahm seinerseits eine Leuchtbombe vom Gürtel. »Bleibt nur noch Nummer … Was ist denn, George?«

Erst jetzt fiel mir auf, dass George mit offenem Mund dastand, was ihn seltsam und ein bisschen trottelig aussehen ließ. An sich war das nichts Ungewöhnliches und es hätte mich normalerweise auch nicht beunruhigt. Gleichzeitig schienen seine Augen herauszuquellen, als würden sie von innen herausgedrückt – aber auch das kam durchaus mal vor. Was mich tatsächlich beunruhigte, war die Art, wie er die Hand hob und mit bebendem Finger auf die Bäume zeigte.

Lockwood und ich folgten seiner Blickrichtung – und dann sahen wir es auch.

Zwischen den verkrüppelten Stämmen und Ästen waberte ein geisterhaftes Licht, das eine starre, menschenähnliche Gestalt umgab. Sie hatte ein gebrochenes Genick und ihr Kopf hing schief. Langsam, aber stetig glitt sie auf uns zu.

»Ausgeschlossen«, sagte ich. »Ich habe ihn doch eben erst in die Luft gejagt. So schnell kann er sich nicht wieder materialisiert haben.«

»Anscheinend doch«, entgegnete Lockwood. »Hier wird es ja wohl keine ganzen Schwärme von Galgenalben geben, oder?«

George stieß einen unartikulierten Laut aus. Sein Finger änderte die Richtung und deutete auf eine andere Stelle des Wäldchens. Mein Herz setzte einen Schlag aus, der Magen drehte sich mir um: Dort schwebte ein zweiter grünlich leuchtender Schemen. Und dahinter, fast schon außerhalb unserer Sichtweite, ein dritter. Und dahinter …

»Es sind fünf Stück«, sagte Lockwood. »Fünf weitere Albe.«

»Sechs«, kam es von George. »Da drüben ist noch ein kleiner.«

Ich schluckte. »Wo kommen die bloß auf einmal alle her?«

Lockwoods Ton blieb gelassen. »Wir sind abgeschnitten. Wie sieht es hinter uns aus?«

Da ich gleich neben Georges Erdhaufen stand, kletterte ich hinauf und drehte mich einmal dreihundertsechzig angespannte Grad um mich selbst.

Von hier oben blickte man auf unseren kleinen Kreis aus Laternen, eingerahmt von den zuverlässigen, silbrig schimmernden Eisenketten. Jenseits der Kettenglieder warf sich der verbliebene Geist immer noch gegen den Bannkreis wie eine Katze gegen den Vogelkäfig. Ringsum erstreckte sich die schwarze Nacht samten und unendlich unter den Sternen und durch den schemenhaften mitternächtlichen Wald bewegte sich ein ganzer Trupp stummer Gestalten. Sechs, neun, zwölf oder noch mehr … zerlumpte, von fahlem Anderlicht umflossene Gerippe, und alle strebten auf uns zu.

»Von allen Seiten«, sagte ich. »Sie kommen von allen Seiten …«

Es blieb einen Augenblick lang still.

Dann fragte George: »Hat noch jemand einen Schluck Tee in seiner Thermoskanne? Mein Mund ist ein bisschen trocken.«

Kapitel 2

Unsereiner gerät in brenzligen Situationen nicht in Panik. Das gehört mit zu unserer Ausbildung. Wir sind Agenten für übersinnliche Ermittlungen. Es braucht schon mehr als fünfzehn unversehens auftauchende Besucher, um unsereinen aus der Ruhe zu bringen.

Was nicht heißen soll, dass wir nicht nervös geworden wären.

»Also ehrlich, George!« Ich schlitterte den Erdhaufen wieder herunter und sprang mit einem Satz über den moosbewachsenen Stein. »Du hast gesagt, dass hier ein Mann begraben liegt! Ein gewisser Mallory. Dann sei doch mal so nett und zeig ihn uns. Oder hast du etwa Schwierigkeiten, ihn unter den vielen anderen herauszupicken, hm?«

George, der gerade seine Gürteltaschen überprüfte, warf mir einen wütenden Blick zu und zog sorgfältig die Schlaufen um jede einzelne Leuchtbombe nach. »Wie schon gesagt, ich habe mich an die historische Überlieferung gehalten! Ich kann nichts dafür.«

»Ach nein?«

»Keine Schuldzuweisungen«, sagte Lockwood streng. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt, ließ nur den Blick über die Lichtung wandern. Dann kam er offensichtlich zu einem Entschluss. »Plan F«, verkündete er. »Wir befolgen Plan F, und zwar sofort.«

Ich schaute ihn an. »Ist das der, bei dem wir einfach wegrennen?«

»Keineswegs. Plan F ist der, bei dem wir notgedrungen den geordneten Rückzug antreten.«

»Du hast Plan F mit Plan G verwechselt, Luce«, brummte George. »Die beiden sind ziemlich ähnlich.«

»Hört zu«, fuhr Lockwood fort. »Wir können nicht die ganze Nacht in diesem Bannkreis rumstehen. Außerdem hält er womöglich nicht stand. Im Osten sehe ich bloß zwei Besucher, also rennen wir bis zu der großen Ulme dort und dann durch den Wald bis auf den Gemeindeanger. Wenn wir schnell genug laufen, kriegen sie uns nicht. George und ich haben noch unsere Leuchtbomben. Wenn uns die Besucher zu sehr auf die Pelle rücken, setzen wir sie ein. Einverstanden?«

Der Plan klang nicht geradeumwerfend, war aber immer noch besser als jede Alternative, die mir selbst einfiel. Ich nahm eine Salzbombe vom Gürtel, George hielt eine Leuchtbombe griffbereit. Wir warteten auf das Kommando zum Losrennen.

Der Handlose war auf die Ostseite des Bannkreises geschwebt. Bei seinen Versuchen, ihn zu durchbrechen, hatte er viel Ektoplasma verloren und sah noch jämmerlicher aus als zu Anfang. Warum suchen sich Albe aber auch immer derart abstoßende Manifestationen aus? Warum erscheinen sie nicht einfach als die Männer und Frauen, die sie einst waren? Dazu gibt es die verschiedensten Theorien, aber wie bei so vielen anderen Fragen in Bezug auf die Geisterepidemie, die uns befallen hat, weiß niemand die Antwort. Darum nennt man die Geisterplage ja auch »das Problem«.

»Los geht’s«, sagte Lockwood und trat aus dem Kreis.

Ich warf die Salzbombe nach dem Geist.

Sie zerplatzte, Salz spritzte heraus und flammte smaragdgrün auf, als es auf das Plasma traf. Der Alb zerstob wie ein Spiegelbild in einem Teich, wenn man einen Stein ins Wasser wirft. Fahles Licht waberte bogenförmig nach hinten, weg von dem Salz, weg von dem Bannkreis, und sammelte sich in einiger Entfernung, um sich abermals zu einer zerlumpten Gestalt zu materialisieren.

Wir hielten uns nicht damit auf, dem Geist dabei zuzusehen, sondern stürmten über den dunklen, unebenen Waldboden davon.

Nasses Gras schlug mir gegen die Beine, der Degen in meiner Hand peitschte hin und her. Bleiche Umrisse glitten durch die Bäume und änderten die Richtung, um uns zu verfolgen. Schon kamen die beiden Ersten auf die Lichtung geschwebt. Ihre gebrochenen Halswirbelsäulen knackten, die Köpfe rollten nach hinten, sodass die Augenhöhlen zu den Sternen emporblickten.

Sie waren schnell, aber wir waren noch schneller und hatten den gegenüberliegenden Saum der Lichtung schon beinahe erreicht. Vor uns ragte die Ulme auf. Lockwood, der die längsten Beine hatte, hatte mich überholt, George war mir dicht auf den Fersen. Noch ein paar Sekunden, dann waren wir im dunklen Teil des Waldes angekommen, fern der lauernden Geister.

Alles würde gut ausgehen.

Ich stolperte. Mein Fuß blieb an irgendetwas hängen und ich schlug der Länge nach hin. Ich spürte kaltes, zerdrücktes Gras im Gesicht, Tau spritzte auf meine Haut, dann stieß etwas gegen mein Bein und George landete fluchend auf mir.

Ich hob den Kopf: Lockwood hatte den Baum erreicht und drehte sich um. Erst jetzt merkte er, dass wir nicht mehr bei ihm waren. Er stieß einen Warnruf aus und machte kehrt.

Kalte Luft umfing mich plötzlich und ich wandte mühsam den Kopf – neben mir schwebte ein Alb.

Man musste ihm eine gewisse Originalität zugestehen: weder Totenschädel noch leere Augenhöhlen, auch keine Knochenstummel – nein, dieser hier hatte die Gestalt des Leichnams vor der Verwesung gewählt. Das Gesicht war vollständig, die starren Augen waren weit aufgerissen und funkelten. Die Haut schimmerte matt, so wie die Fische, die vor den Marktbuden im Covent Garden ausliegen. Der Geist war erstaunlich scharf umrissen. Ich konnte jede Faser des Stricks um seinen Hals erkennen, die glitzernde Feuchtigkeit auf den blendend weißen Zähnen …

Und ich lag immer noch auf dem Bauch, konnte weder meinen Degen hochreißen noch an meinen Gürtel greifen.

Der Besucher beugte sich zu mir herunter, streckte die bleiche Hand aus und …

… zerstob in sengend heißer Helligkeit und einem Regen aus Salz, Asche und glühenden Eisenspänen, die auf meine Kleider prasselten und mir ins Gesicht pikten.

Die Leuchtbombe erlosch. Ich rappelte mich mühsam auf. »Danke, George«, sagte ich.

»Das war ich nicht.« Er zog mich auf die Füße. »Guck mal.«

Das Waldstück und die Lichtung wimmelten von Lichtern, den schmalen grellweißen Kegeln von Magnesiumtaschenlampen, die Geistermaterie durchtrennen konnten. Dunkle, massive, lärmende Gestalten brachen aus dem Unterholz. Stiefel zertraten Zweige und Blätter, Äste wurden mit Tritten aus dem Weg befördert und brachen knackend. Man hörte gedämpfte Befehle, gefolgt von gezischelten Antworten, lebhaft, wachsam und auf der Hut. Die Angriffsfront der Albe war durchbrochen. Völlig konfus stoben sie in alle Himmelsrichtungen davon. Salz loderte auf, zwischen den Baumstämmen explodierten Magnesiumbomben und ein Gewirr von Ästen leuchtete kurz auf, brannte sich hell in meine Netzhaut ein. Einer nach dem anderen wurden die Albe zügig niedergemacht.

Lockwood war unterdessen zu uns gestoßen und über diese unerwartete Einmischung genauso fassungslos wie George und ich. Dann traten mehrere Gestalten auf die grasbewachsene Lichtung hinaus und kamen auf uns zugestapft. Im Schein ihrer Taschenlampen und der Explosionen schimmerten ihre Degen und Jacken unwirklich und makellos silbern.

»Fittes-Agenten«, sagte ich.

»Na super«, knurrte George. »Da waren mir die Albe ja noch lieber.«

* * *

Es kam sogar noch schlimmer. Es waren nicht irgendwelche Agenten der Agentur Fittes. Es war das Team von Kipps.

Wir erkannten sie nicht gleich, denn in den ersten zehn Sekunden bestanden die Ankömmlinge darauf, uns mit ihren Taschenlampen direkt ins Gesicht zu leuchten und uns zu blenden. Als sie die Lampen schließlich wieder herunternahmen, verriet uns die Kombination aus höhnischem Gelächter und billigem Deodorant, mit wem wir es zu tun hatten.

»Tony Lockwood«, sagte jemand belustigt. »Und George Cubbins, und … äh … Julie? Entschuldigung, aber ich kann mir einfach nicht merken, wie das Mädel heißt. Was in aller Welt treibt ihr denn hier?«

Ein anderer knipste eine Nachtlaterne an, deren Licht nicht so grell wie das der Mag-Lampen war und die Gesichter ringsum sanft anstrahlte. Drei der Agenten hatten sich vor uns aufgebaut, während weitere Graujacken kreuz und quer über die Lichtung liefen und Salz und Eisen verstreuten. Zwischen den Bäumen hing silbriger Rauch.

»Ihr seht echt zum Schreien aus«, sagte Quill Kipps.

Kipps leitet ein Team bei der Londoner Zentrale von Fittes. Fittes ist bekanntlich die älteste und renommierteste Agentur für übersinnliche Ermittlungen in ganz Großbritannien. In ihrem prunkvollen Firmensitz in der Londoner Innenstadt arbeiten über dreihundert fest angestellte Agenten. Die meisten sind nicht mal sechzehn Jahre alt, einige sind sogar erst acht. Sie sind zu Teams zusammengefasst, die jeweils einem älteren Betreuer unterstellt sind. Einer davon ist Quill Kipps.

Diplomatisch ausgedrückt, könnte man sagen, Kipps ist ein schmächtiger junger Mann Anfang zwanzig, mit kurzem rotbraunem Haar und einem schmalen, sommersprossigen Gesicht.

Drückt man sich weniger diplomatisch (und dafür zutreffender) aus, müsste man ihn als himmelfahrtsnasigen Winzling mit Karottenhaaren und einem Minderwertigkeitskomplex so groß wie Big Ben beschreiben. Eine wandelnde Witzfigur. Ein bösartiger Hanswurst. Er ist schon zu alt, um noch etwas gegen Geister auszurichten, was ihn jedoch nicht davon abhält, den protzigsten Degen der Welt spazieren zu tragen, der so viele billige Strasssteine auf dem Knauf hat, dass der Ärmste von der Last beinahe zu Boden gezogen wird.

Wo war ich doch gleich stehen geblieben? Ach ja, Kipps. Er verabscheut Lockwood & Co. zutiefst.

»Ihr seht echt zum Schreien aus«, wiederholte er. »Noch runtergekommener als sonst.«

Erst jetzt fiel mir auf, dass wir alle drei von der Leuchtbombe ordentlich was abgekriegt hatten. Lockwoods Kleidung war auf der Vorderseite versengt und sein Gesicht streifig von verbranntem Salz. Von meiner Jacke und meinen Leggings rieselten bei jeder Bewegung Ascheflöckchen. Mein Haar hing mir zerzaust ins Gesicht und von meinen Stiefeln stieg der Geruch nach verbranntem Leder auf. Auch George war rußverschmiert, sonst jedoch einigermaßen unversehrt – was er womöglich der dicken Lehmschicht zu verdanken hatte, die ihn von Kopf bis Fuß bedeckte.

Lockwood klopfte sich den Ruß von den Hemdmanschetten und sagte lässig: »Vielen Dank für eure Hilfe, Kipps. Wir steckten ein bisschen in der Klemme, aber wir hatten alles im Griff. Trotzdem …«, er holte tief Luft, »… kam eure Leuchtbombe im rechten Augenblick.«

Kipps grinste. »Keine Ursache. Als wir gesehen haben, wie drei panische Einheimische um ihr Leben laufen, blieb unserer Kat gar nichts anderes übrig, als auf gut Glück eine Bombe zu werfen. Wir konnten ja nicht ahnen, dass es sich bei diesen Schwachköpfen um euch handelt.«

Das Mädchen neben ihm verzog keine Miene. »Die drei haben unseren ganzen Einsatz vermasselt«, sagte sie. »Ich kann hier überhaupt nichts mehr hören. Viel zu viel übernatürlicher Aufruhr jetzt.«

»Wir sind eindeutig dicht an der Quelle«, besänftigte Kipps sie. »Es dürfte nicht schwer sein, sie zu orten. Vielleicht können Lockwood und sein Team ja zur Abwechslung mal uns behilflich sein.«

Das Mädchen zuckte die Achseln. »Das glaub ich eher nicht.«

Kat Godwin, Kipps’ rechte Hand, ist eine Hörende wie ich, aber das ist auch schon unsere einzige Gemeinsamkeit. Sie ist blond, schlank und schmallippig, was für mich schon drei gute Gründe gewesen wären, sie nicht zu mögen, selbst wenn sie abgesehen davon ein nettes Mädel gewesen wäre, das sich in seiner Freizeit um kranke Igel kümmerte. Stattdessen ist sie gnadenlos ehrgeizig und kaltschnäuzig und hat noch weniger Sinn für Humor als eine Sumpfschildkröte. Auf Witze reagiert sie gereizt, als spüre sie, dass etwas um sie herum geschieht, das zu hoch für sie ist. Sie sieht gut aus, auch wenn ihr Kinn ein bisschen zu spitz ist. Man könnte damit bequem Pflanzlöcher in Beete bohren. Ihr Haar ist am Hinterkopf kurz geschnitten, aber vorn trägt sie einen langen, schrägen Pony wie eine Pferdemähne. Ihre graue Fittes-Uniform – Jacke, Rock und Leggings – ist stets tipptopp, was mich bezweifeln lässt, dass sie jemals einen Schornstein hochklettern musste, um einem Wiedergänger zu entkommen, oder in der Kanalisation von Shadwell mit einem Poltergeist gekämpft hatte – wie es mir schon passiert war (unbestritten mein ÜEÜ – Übelster Einsatz Überhaupt). Blöderweise begegneten wir uns immer nach dieser Art Zwischenfälle. So auch diesmal.

»Wonach seid ihr denn heute Nacht auf der Pirsch?«, erkundigte sich Lockwood. Im Gegensatz zu George und mir, die sich in verdrießliches Schweigen hüllten, gab er sich Mühe, höflich zu bleiben.

»Nach der Quelle dieses Geisterschwarms«, antwortete Kipps. Er deutete auf die Bäume, wo sich der letzte Besucher soeben in einer Explosion aus smaragdgrünem Licht verflüchtigt hatte. »Ein Großeinsatz.«

Lockwood schaute zu den Reihen von jungen Agenten hinüber, die das Waldstück durchkämmten und mit Salzpistolen, Schleudern und Bombenwerfern ausgerüstet waren. Lehrlinge hatten Kettenrollen auf den Rücken geschnallt, andere Mitarbeiter schleppten Bogenlampen und große Pumpkannen mit heißem Tee oder rollten Kisten mit Silberplomben vor sich her. »Verstehe …«, sagte er. »Bist du sicher, dass ihr wirklich ausreichend geschützt seid?«

»Im Gegensatz zu euch«, antwortete Kipps, »war uns klar, worauf wir uns einlassen.« Sein Blick glitt über die spärliche Ausrüstung an unseren Gürteln. »Wie seid ihr bloß auf die Idee gekommen, dass ihr mit dem bisschen Kram eine Horde Albe bezwingen könnt? Ja, bitte, Gladys?«

Ein vielleicht achtjähriges Mädchen mit Zöpfen kam herbeigehüpft und salutierte zackig. »Ach, bitte, Mr Kipps, wir haben mitten auf der Lichtung einen möglichen übernatürlichen Nexus entdeckt. Dort sind ein Erdhaufen und eine große Grube …«

»Um diese Stelle macht ihr lieber einen Bogen«, unterbrach Lockwood sie. »Da arbeiten wir. Genau genommen ist das hier nämlich unser Auftrag. Der Bürgermeister von Wimbledon hat ihn uns vorgestern erteilt.«

Kipps zog die rötliche Augenbraue hoch. »Tut mir leid, Tony … uns auch. Es ist eine öffentliche Ausschreibung. Jeder kann den Auftrag übernehmen. Und derjenige, der die Quelle zuerst ausfindig macht, kriegt die Kohle.«

»Tja, das sind dann wohl wir«, entgegnete George mit steinerner Miene. Er hatte seine Brille sauber gerieben, doch sein restliches Gesicht war immer noch braun von Lehm und er sah aus wie eine Eule.

»Wenn ihr die Quelle bereits entdeckt habt«, warf Kat Godwin ein, »warum habt ihr sie dann nicht verplombt? Warum laufen diese ganzen Geister dann immer noch durch die Gegend?« Trotz ihrer blöden Frisur und ihres Kinns war das eine berechtigte Frage.

»Wir haben das Grab entdeckt«, antwortete Lockwood. »Und waren gerade dabei, die Überreste zu bergen.«

Schweigen. Dann sagte Kipps: »Grab?«

Lockwood zögerte. »Allem Anschein nach. Die Stelle, wo alle diese hingerichteten Verbrecher verscharrt wurden …« Er sah die beiden Fittes-Agenten an.

Die Blonde lachte wie ein Rassepferd, das hinter drei vorbeizuckelnden Eseln herwiehert.

»Ihr seid wirklich hoffnungslose Nieten«, sagte Kipps.

»Ich fass es nicht«, setzte Kat Godwin abfällig hinzu. »Das ist echt der Witz des Jahrhunderts.«

»Was denn?«, fragte Lockwood pikiert.

Kipps rieb sich das Auge. »Diese Lichtung ist keineswegs die Grabstätte, ihr Pfeifen. Es ist die Hinrichtungsstätte. Hier hat damals der Galgen gestanden. Wartet mal …« Er drehte sich um und brüllte quer über die Lichtung. »He, Bobby! Komm doch mal her!«

»Bin schon da, Mr Kipps!« Eine kleine Gestalt trabte von der Mitte der Lichtung heran, von wo aus sie den Einsatz beaufsichtigt hatte.

Ich ächzte innerlich. Bobby Vernon war der neueste und nervigste von Kipps’ Agenten. Er war erst seit ein, zwei Monaten dabei. Vernon war sehr klein und vermutlich auch noch sehr jung, wirkte aber auf eine seltsame Art alt, sodass es mich nicht gewundert hätte, wenn sich plötzlich herausgestellt hätte, dass er in Wirklichkeit ein Mann von fünfzig Jahren war. Sogar verglichen mit seinem schmächtigen Vorgesetzten ist Vernon klein. Als er so neben Kipps stand, reichte er dem Betreuer gerade mal bis zur Schulter, bei Godwin wäre es sogar nur die Brust gewesen. Auf welche Höhe er bei Lockwood gekommen wäre, wagte ich mir nicht vorzustellen, und zum Glück habe ich die beiden nie dicht nebeneinander gesehen. Vernon trug eine kurze graue Hose, aus der dürre Beine wie behaarte Bambusstangen ragten. Seine Füße waren praktisch nicht vorhanden und das Gesicht leuchtete blass und nichtssagend unter einem mit Pomade gebändigten Lockenschopf hervor.

Vernon war intelligent und genau wie George auf Recherchen spezialisiert. Heute Nacht hatte er ein Klemmbrett mit einer Stiftlampe dabei, in deren Licht er eine Karte des Gemeindeangers betrachtete, die in einer wasserfesten Hülle steckte.

»Unsere Freunde scheinen nicht ganz im Bilde zu sein, was diesen Ort hier betrifft«, sagte Kipps. »Ich habe ihnen soeben von dem Galgen erzählt. Würdest du sie bitte aufklären?«

Vernons Grinsen war dermaßen selbstgefällig, dass man Sorge haben musste, dass seine Mundwinkel am Hinterkopf zusammenstießen. »Gewiss doch, Mr Kipps. Ich habe mir die Mühe gemacht und die Bibliothek von Wimbledon aufgesucht. Dort habe ich mich in die Kriminalgeschichte dieser Gegend eingelesen und bin dabei auf den Bericht über einen gewissen Mallory gestoßen, der …«

»… auf dem Gemeindeanger gehängt und anschließend dort verscharrt wurde«, fiel ihm George barsch ins Wort. »So schlau bin ich auch schon.«

»Soso. Aber hast du auch die Bibliothek der Allerheiligen-Kirche in Wimbledon zu Rate gezogen?«, fragte Vernon. »Dort habe ich eine interessante Ortschronik aufgetrieben. Mallorys sterbliche Überreste wurden nämlich wiederentdeckt, als die Straßenkreuzung verbreitert wurde … ich glaube, das war 1824. Man hat alles, was noch von ihm übrig war, erst exhumiert und dann woanders begraben, darum ist sein Geist auch nicht an seine Gebeine gebunden, sondern an den Ort, an dem er gestorben ist. Das Gleiche gilt für die anderen Leute, die hier hingerichtet wurden. Mallory war einfach nur der Erste. Die Chronik verzeichnet im Lauf der Jahre Dutzende weiterer Verurteilter, die alle hier am Galgen aufgeknüpft wurden.« Vernon tippte auf sein Klemmbrett und grinste uns affektiert an. »Das wär’s im Großen und Ganzen. Die entsprechenden Unterlagen sind ganz leicht zu finden – wenn man weiß, wo man nachschauen muss.«

Lockwood und ich warfen George einen Seitenblick zu. George sagte nichts.

»Der Galgen selbst steht natürlich schon lange nicht mehr«, fuhr Vernon fort. »Daher sind wir auf der Suche nach einem Holzpfosten oder einem auffälligen Stein, der die Stelle bezeichnet, wo früher der Galgen war. Höchstwahrscheinlich ist das dann auch die Quelle, die sämtliche Geister beherbergt, die wir vorhin gesehen haben.«

»Und, Tony?«, fragte Kipps. »Ist einem von euch ein Stein aufgefallen?«

»Ja, da war einer«, antwortete Lockwood widerstrebend. »In der Mitte der Lichtung.«

Bobby Vernon schnalzte mit der Zunge. »Na bitte! Halt … nichts verraten … Quadratisch, ein bisschen unregelmäßig, und mit einer breiten, tiefen Kerbe drin, stimmt’s?«

Keiner von uns hatte sich die Mühe gemacht, den bemoosten Stein näher zu untersuchen. »Äh … kann schon sein.«

»Volltreffer! Das ist der Galgenstein – dort war die Hinrichtungsstätte. Über diesem Stein haben die Gehenkten gebaumelt, bis sie zerfallen sind.« Er musterte uns misstrauisch. »Erzählt mir bitte nicht, dass ihr irgendetwas an dem Stein verändert habt!«

»Nein, nein«, sagte Lockwood. »Wir haben ihn nicht angerührt.«

Von der Lichtung ertönte ein Ausruf. »Ich habe einen quadratischen Stein entdeckt!«, rief ein Agent. »Offenbar ein Galgenstein. Sieht aus, als hätte ihn jemand erst kürzlich ausgegraben und hier hingeworfen.«

Lockwood zuckte zusammen. Vernon lachte selbstgefällig. »Ach herrje. Anscheinend habt ihr die Primärquelle des Geisterschwarms ausgebuddelt und euch dann nicht mehr damit befasst. Kein Wunder, dass so viele Besucher zurückgekehrt sind. Genauso gut könnte man beim Waschbeckenfüllen einfach den Wasserhahn aufgedreht lassen. Dann braucht man sich über die Bescherung nicht zu wundern! Tja, dann geh ich wohl mal wieder und kümmere mich darum, dass dieses Andenken an frühere Zeiten fachgerecht verplombt wird. War nett, mit euch zu plaudern.« Schon tänzelte er durch das Gras davon. Wir blickten ihm finster nach.

»Ein begabter Knabe«, bemerkte Kipps. »Den hättest du bestimmt auch gern in deiner Truppe.«

Lockwood schüttelte den Kopf. »Nein danke. Ich würde bloß dauernd über ihn stolpern oder ihn in der Sofaritze vergessen. Also, Quill, da eindeutig wir die Quelle entdeckt haben und deine Leute sie jetzt verplomben wollen, liegt es auf der Hand, dass wir uns das Honorar teilen. Ich schlage vor, wir einigen uns auf sechzig zu vierzig. Wollen wir uns morgen beim Bürgermeister treffen und ihm diesen Vorschlag unterbreiten?«

Kipps und Godwin lachten, allerdings nicht besonders freundlich. Kipps klopfte Lockwood auf die Schulter. »Tony, Tony – ich würde dir liebend gern helfen, aber du weißt so gut wie ich, dass nur die Agenten, die die Quelle tatsächlich verplomben, das Honorar einstreichen. So lauten nun mal die BEBÜP-Regeln, tut mir leid.«

Lockwood trat einen Schritt zurück und legte die Hand auf den Degenknauf. »Ihr wollt die Quelle mitnehmen?«

»Allerdings.«

»Das kann ich nicht zulassen.«

»Dir wird wohl nichts anderes übrig bleiben.« Kipps stieß einen Pfiff aus, worauf vier kräftige Agenten herbeikamen, die aussahen wie Berggorillas. Sie stapften mit gezückten Degen aus dem Dunkel heran und bauten sich neben Kipps auf.

Lockwood ließ die Hand wieder sinken. Auch George und ich, die ebenfalls kurz davor gewesen waren, zu den Waffen zu greifen, sahen davon ab.

»Na also«, sagte Quill Kipps. »Akzeptier es, Tony – du hast nun mal keine ernst zu nehmende Agentur. Drei Agenten? Und kaum mehr als eine einzige Leuchtbombe? Was für eine traurige Veranstaltung! Du kannst dir ja nicht mal Uniformen leisten! Jedes Mal, wenn ihr es mit einer renommierten Agentur zu tun bekommt, zieht ihr den Kürzeren. Also, findet ihr allein den Rückweg über den Anger oder soll ich Gladys mitschicken, damit sie euch Händchen hält?«

Mit übermenschlicher Anstrengung hatte Lockwood seine Fassung wiedererlangt. »Vielen Dank, wir brauchen keinen Geleitschutz«, sagte er. »George, Lucy – wir gehen.«

Ich setzte mich bereits in Bewegung, doch George, dessen Augen hinter den runden Brillengläsern blitzten, rührte sich nicht von der Stelle.

»George!«, wiederholte Lockwood.

»Ist ja gut. Aber das ist doch mal wieder typisch Fittes«, murrte George. »Bloß weil ihre Agentur die größere ist und ihre Leute besser ausgerüstet sind, glauben sie, sie können jeden einschüchtern, der ihnen in die Quere kommt. Ich hab’s echt satt! Wenn wir die gleichen Voraussetzungen hätten wie sie, würden wir sie fertigmachen.«

»Schon klar«, erwiderte Lockwood milde, »aber das ist nun mal nicht der Fall. Komm jetzt.«

Kipps kicherte in sich hinein. »Das hört sich verdächtig nach sauren Trauben an, Cubbins. So kenn ich dich gar nicht.«

»Ich wundere mich, dass du mich hinter deiner Armee aus bezahlten Lakaien überhaupt noch hören kannst, Kipps«, konterte George. »Bleib du nur immer schön in Deckung. Vielleicht begegnen wir uns ja mal im fairen Wettstreit. Dann werden wir sehen, wer gewinnt.« Er wandte sich zum Gehen.

»Soll das eine Kampfansage sein?«, rief Kipps.

»Komm weiter, George«, sagte Lockwood.

»Lass nur, Tony …« Kipps drängte sich an seinen Agenten vorbei. Er grinste. »Ich finde das großartig! Cubbins hat einmal in seinem Leben eine gute Idee. Ein Wettkampf! Ihr drei gegen eine Auswahl aus meinem Team! Das könnte lustig werden. Was meinst du, Tony – oder hast du etwa Schiss?«

Es war mir noch nie aufgefallen, aber wenn Kipps lächelte, sah er ähnlich wölfisch aus wie Lockwood – allerdings eine kleinere, prahlerischere und aggressivere Version, eher eine Fleckenhyäne als ein Wolf. Aber gerade eben lächelte Lockwood nicht. Er hatte sich hoch aufgerichtet und schaute Kipps mit funkelnden Augen an. »Keineswegs. Ich finde die Idee sogar ausgezeichnet«, sagte er. »Ich bin ganz Georges Meinung. Unter fairen Bedingungen würden wir euch mit links besiegen. Es müsste allerdings ohne Einschüchterungsversuche und irgendwelche krummen Touren zugehen. Ich stelle mir eine Art Prüfung in sämtlichen Agentur-Disziplinen vor – Recherche, die Bandbreite der Gaben, Geisterbannung und -beseitigung. Aber was könnte es dabei zu gewinnen geben? Es muss etwas sein, wofür sich die Anstrengung lohnt.«

Kipps nickte. »Das finde ich auch. Leider hast du nichts zu bieten, worauf ich scharf wäre.«

»Da bin ich anderer Meinung.« Lockwood strich sich über den Mantel. »Wie wär’s damit: Falls wir irgendwann wieder gemeinsam an einem Fall arbeiten sollten, ist dasjenige Team Sieger, welches ihn löst. Der Verlierer setzt eine Anzeige in die Times, in der er seine Niederlage öffentlich eingesteht und erklärt, wie haushoch das andere Team seinem eigenen überlegen ist. Was meinst du? Das könnte doch ausgesprochen amüsant werden, oder, Kipps? Allerdings nur, falls ihr gewinnt.« Er musterte seinen Rivalen mit fragend hochgezogener Augenbraue. Kipps hatte nicht sofort geantwortet. »Aber wenn du natürlich unsicher bist …«

»Unsicher?«, schnaubte Kipps. »Das hättest du wohl gern! Die Wette gilt. Kat und Julie sind unsere Zeugen. Wenn sich unsere Wege das nächste Mal kreuzen, heißt es Auge um Auge – zu gleichen Bedingungen. Ich habe nur eine Bitte, Tony – sorg dafür, dass dein Team bis dahin am Leben bleibt.«

Damit ging er davon. Kat Godwin und die anderen folgten ihm über die Lichtung.

»Äh … ich heiße übrigens Lucy«, murmelte ich.

Keiner hörte mich. Sie hatten zu tun. Im Schein der Bogenlampen legten die Agenten nach Bobby Vernons Anweisungen versilberte Kettennetze über den bemoosten Stein. Andere zogen einen Handwagen durchs Gras, mit dem sie den Stein anschließend abtransportieren wollten. Jubelrufe waren zu hören, Beifall und hier und da Gelächter.

Wieder ein Triumph für die berühmte Agentur Fittes. Wieder ein Fall, der Lockwood & Co. vor der Nase weggeschnappt worden war.

Wir drei standen eine Zeit lang schweigend im Dunkeln.

»Es musste einfach mal raus«, sagte George dann. »Tut mir leid. Sonst hätte ich ihm eine reinhauen müssen, und ich hab doch so empfindliche Hände.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, erwiderte Lockwood.

»Wenn wir Kipps und sein Team unter fairen Bedingungen nicht besiegen können«, sagte ich energisch, »können wir ebenso gut gleich alles hinschmeißen.«

»Richtig!« George schlug sich mit der Faust in die Handfläche der anderen Hand. Dabei lösten sich kleine Lehmklumpen und fielen ins Gras. »Wir sind die besten Agenten von ganz London, oder etwa nicht?«

»Du sagst es«, sagte Lockwood. »Es gibt keine besseren. Aber da Lucys T-Shirt ziemlich angekokelt ist und meine Hose sich langsam auflöst, schlage ich vor, dass wir uns jetzt erst mal auf den Heimweg machen, okay?«

Kapitel 3

Am nächsten Morgen war der Himmel, wie an jedem Morgen dieses herrlichen, warmen Sommers, strahlend blau. Die am Straßenrand parkenden Autos funkelten wie Edelsteine. Ich schlenderte in T-Shirt, Shorts und Flip-Flops zu Arifs Eckladen, blinzelte in die Sonne und lauschte dem geschäftigen, atemlosen Summen der Stadt. Die Tage waren lang, die Nächte kurz, die Geister waren jetzt am schwächsten. Um diese Jahreszeit versuchten die meisten Leute, das Problem einfach zu ignorieren. Wir Agenten natürlich nicht. Wir sind immer im Dienst und unermüdlich am Werk. Ich kaufte Milch und Biskuitrollen fürs Frühstück und flipfloppte wieder nach Hause. Das Haus Portland Row 35 schimmerte im Sonnenlicht und sah aus wie immer: Es hätte eines neuen Anstrichs bedurft, und auf dem leicht schiefen Schild am Treppengeländer war zu lesen:

A. J. Lockwood & Co., ErmittlungenBei Dunkelheit bitte läuten und vor der Eisenlinie warten.

Wie immer zeigte die Glocke an ihrem Pfosten Spuren von Rost, und wie immer waren drei der Eisenplatten auf halbem Weg zum Haus locker, was den Gartenameisen zu verdanken war. Eine Platte fehlte sogar ganz. Ich übersah das alles, ging ins Haus, legte die Biskuitrollen auf einen Teller und machte Tee. Dann ging ich ins Untergeschoss.

Als ich die Wendeltreppe hinunterstieg, hörte ich das Quietschen von Turnschuhsohlen auf poliertem Boden, dazu das Pfeifen einer durch die Luft sausenden Klinge. Dumpfe Geräusche verrieten mir, dass der Degen sein Ziel fand. Wie nach jedem unbefriedigend verlaufenen Einsatz reagierte Lockwood seinen Frust ab.

Im Fechtkeller, wo wir uns in der Kunst des Degenfechtens üben, gibt es so gut wie keine Möbel. Ein Ständer mit alten Degen, ein Gefäß mit Kreide, ein langer, niedriger Tisch und drei wacklige Holzstühle stehen an der Wand. Mitten im Raum baumeln zwei lebensgroße, mit Stroh ausgestopfte Puppen an Haken von der Decke. Beide haben grobe, mit Tinte aufgemalte Gesichter. Die eine Puppe trägt eine schmuddelige Spitzenhaube, die andere einen altmodischen, fleckigen Zylinder. Ihre ausgestopften Baumwollleiber sind von unzähligen kleinen Löchern perforiert. Das sind Lady Esmeralda und der Schwebende Joe, unsere Übungspuppen.

Heute bekam Esmeralda Lockwoods schlechte Laune gnadenlos zu spüren. Sie kreiselte an ihrer Kette und die Haube saß schon ganz schief. Lockwood umkreiste sie lauernd mit gezücktem Degen. Er trug schicke Fechthosen und Turnschuhe, die Jacke hatte er ausgezogen und die Hemdsärmel ein Stück aufgerollt. Seine über den Boden gleitenden Füße wirbelten Staub auf, während er mit sausendem Degen vor- und zurücktänzelte, wobei er, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, den linken Arm nach hinten streckte. Er hieb Muster in die Luft, täuschte an, wich seitlich aus und versetzte der Puppe unversehens einen so heftigen Stoß in die zerfetzte Schulter, dass die Klinge glatt durch das Stroh hindurchfuhr und auf der anderen Seite wieder herauskam. Seine Miene war todernst, sein Haar glänzte und in seinen Augen leuchtete finstere Entschlossenheit. Ich beobachtete ihn von der Tür aus.

»Danke, ich nehme gern ein Stück Kuchen«, sagte George. »Falls du dich von dem Anblick losreißen kannst.«

Ich ging zum Tisch hinüber, wo George saß und ein Comic-Heft las. Er trug eine bedenklich locker sitzende Trainingshose und ein Sweatshirt, das seinen Namen völlig zu Recht trug. Seine Hände waren weiß vom Kreidestaub und sein Gesicht war gerötet. Ein Degen lehnte neben ihm an der Wand, auf dem Tisch standen zwei Flaschen Wasser.

Als ich vorbeiging, drehte Lockwood sich kurz um. »Biskuitrollen und Tee«, sagte ich.

»Komm doch erst mal her und mach mit!« Er deutete auf einen länglichen, aufgerissenen Karton neben dem Waffenständer. »Italienische Degen, sind eben von Mullet gekommen. Aus einem neuen, leichteren Stahl und mit versilberter Spitze. Sie liegen echt gut in der Hand. Probier mal!«

Ich zögerte. »Das heißt, ich soll den Kuchen mit George allein lassen.«

Lockwood grinste mich an und ließ seine Klinge pfeifend hin und her sausen.

Es war schwer, ihm etwas abzuschlagen. Abgesehen davon wollte ich die neuen Degen tatsächlich gern ausprobieren. Ich zog einen aus dem Karton und wog ihn auf den Handflächen. Er war erstaunlich leicht und das Gewicht war anders verteilt als bei meinem üblichen französischen Degen. Ich umfasste den Griff und betrachtete die glänzenden Schnörkel, die sich wie ein schützendes Gitterwerk über meinen Fingern wölbten.

»Die Ornamente sind auch aus Silber. Zum Schutz gegen Plasmaspritzer. Gefällt’s dir?«

»Ich finde die Verzierungen ein bisschen übertrieben«, antwortete ich skeptisch. »Diese Art Waffe würde eher zu Kipps passen.«

»Sag doch so was nicht. Dieser Degen hat Stil, probier ihn mal.«

Mit einer Klinge in der Hand fühlt man sich immer gut. Sogar noch vor dem Frühstück und in Flip-Flops – man fühlt sich sofort stark und mächtig. Ich drehte mich zum Schwebenden Joe um und hieb mit der Degenspitze einen Standard-Schutzknoten in die Luft, mit dem man üblicherweise einen Besucher auf eine Stelle bannt.

»Nicht so weit vorbeugen«, riet mir Lockwood. »Du bist ein bisschen aus dem Gleichgewicht gekommen. Versuch den Arm etwas weiter auszustrecken. Ungefähr so …« Er drehte mein Handgelenk herum und veränderte meine Haltung, indem er behutsam die Drehung meiner Hüfte korrigierte. »So geht es besser, oder?«

»Ja.«

»Ich finde, diese Degen passen gut zu dir.« Er stupste den Schwebenden Joe mit dem Fuß an, worauf die Puppe hin- und herschwang und ich ausweichen musste, damit sie nicht gegen mich prallte. »Stell dir vor, das ist ein hungriger TYP ZWEI«, sagte Lockwood. »Er will dich berühren und stürzt sich auf dich … Es kommt darauf an, das Plasma auf einer Stelle zu bündeln, damit es nicht ausbricht und deine Kollegen gefährdet. Versuch’s mal mit einem doppelten Schutzknoten – ungefähr so …« Sein Degen sauste so schnell durch die Luft um die Puppe, dass die Klinge verschwamm.

»Das lerne ich nie«, sagte ich. »Ich hab nicht mal richtig gesehen, was du gemacht hast.«

Lockwood lächelte. »Ach, das ist bloß die Kuriashi-Parade. Die kann ich dir gern bei Gelegenheit beibringen.«

»Ist gut.«

»Der Tee wird kalt«, rief George von hinten. »Und ich schnappe mir grade das letzte Kuchenstück.«

Das war gelogen. Die Biskuitrollen waren noch alle da. Aber es war wirklich höchste Zeit, etwas zu essen. Mir war schon ganz flau im Magen und meine Beine fühlten sich schwach an. Wahrscheinlich rächte sich jetzt die kurze Nacht. Ich duckte mich zwischen Joe und Esmeralda durch und setzte mich an den Tisch. Lockwood übte noch ein paar Fechtaktionen, flink, elegant und fehlerfrei. George und ich sahen ihm kauend dabei zu.

»Die Biskuitrollen schmecken gut, oder?«, fragte ich mit vollem Mund.

»Ja. Es sind eher die Kuriashi-Paraden und dergleichen, die mir im Magen liegen«, antwortete George. »Diese Schickimicki-Effekte, die sich die großen Agenturen ausdenken, um sich interessant zu machen. Ich bin der Meinung, dass man Besucher einfach wegputzt, dabei aufpasst, dass man keine Geistersieche abkriegt, und dann ab nach Hause. Mehr braucht man nicht zu können.«

»Du bist immer noch sauer wegen letzter Nacht«, stellte ich fest. »Ich auch.«

»Halb so wild. Meine Schuld, wenn ich nicht sauber recherchiert habe. Aber den Stein hätten wir trotzdem nicht übersehen dürfen. Sonst wäre der Fall längst erledigt und eingetütet gewesen, bevor die Saubande von Fittes aufgekreuzt ist.« Er schüttelte den Kopf. »Diese eingebildeten Fatzkes! Ich kann kaum glauben, dass ich selber mal dort gearbeitet habe. Die rümpfen über jeden die Nase, der keine schicke Jacke oder penibel gebügelte Hosen trägt. Als ob es bloß auf solchen Kram ankäme …« Er griff sich hinten in die Trainingshose und kratzte sich ärgerlich.

»Ach, die meisten Agenten bei Fittes sind ganz in Ordnung.« Trotz seiner Übungen war Lockwood kaum außer Atem. Er ließ den Degen scheppernd in den Halter fallen und klopfte sich die Kreide von den Händen. »Sie sind wie wir: junge Leute, die ihr Leben riskieren. Es sind die Betreuer, die Stunk machen. Sie sind diejenigen, die sich für unantastbar halten, bloß weil sie einen bequemen Job bei einer der ältesten und größten Agenturen haben.«

»Was du nicht sagst«, brummte George. »Die Typen haben mich damals in den Wahnsinn getrieben.«

Ich nickte. »Und Kipps ist der Schlimmste von allen. Er hasst uns wirklich, oder?«

»Nicht uns«, antwortete Lockwood. »Mich. Er hasst mich.«

»Warum? Was hat er denn gegen dich?«

Lockwood griff sich eine Wasserflasche vom Tisch und seufzte nachdenklich. »Wer weiß? Vielleicht ist er auf meinen angeborenen Stil eifersüchtig, vielleicht auf meinen jugendlichen Charme. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich eine eigene Agentur leite, kein Befehlsempfänger bin und so hervorragende Mitarbeiter habe.« Er suchte meinen Blick und lächelte.

George blickte von seinem Comic auf. »Oder liegt es vielleicht daran, dass du ihm damals den Degen in den Hintern gepikt hast?«

»Das kann natürlich auch sein.« Lockwood trank einen Schluck.

Ich sah vom einen zum anderen. »Echt jetzt?«, fragte ich. »Wann war das denn?«

Lockwood ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Lange vor deiner Zeit, Luce. Ich war noch ein Kind. Die BEBÜP hält jedes Jahr hier in London einen Fechtwettbewerb für junge Agenten ab. In der Albert Hall. Fittes und Rotwell sind immer ganz vorne mit dabei, aber mein alter Lehrherr, Totengräber Sykes, hielt mich für gut genug, um gegen sie anzutreten. Im Halbfinale habe ich Kipps gezogen. Weil er ein paar Jahre älter ist, war er damals viel größer als ich und ging als heißer Favorit in den Kampf. Natürlich hat er vorher mordsmäßig rumgeprahlt, wie ihr euch denken könnt. Egal, jedenfalls habe ich ihn mit ein paar Winchester-Finten aus dem Konzept gebracht und schließlich ist er über seine eigenen Füße gestolpert. Ich habe ihm bloß einen kleinen Pikser verpasst, als er auf dem Boden gelandet ist und alle viere von sich gestreckt hat. Nichts, worüber man sich aufregen müsste. Die Zuschauer waren natürlich entzückt. Komischerweise ist er seither nicht gut auf mich zu sprechen.«

»Wirklich seltsam«, sagte ich. »Und … hast du den Wettbewerb gewonnen?«

»Nein.« Lockwood betrachtete die Flasche eingehend. »Nein … ich habe es zwar bis ins Finale geschafft, aber ich habe nicht gewonnen. Was … ist es schon so spät? Wir sind heute ja richtig faul! Ich geh dann mal ins Bad.«

Er sprang auf, schnappte sich zwei Scheiben Biskuitrolle, und ehe ich noch etwas sagen konnte, hatte er die Küche verlassen und lief die Treppe hoch.

George warf mir einen Blick zu. »Du weißt ja, dass er nicht gern über sich spricht«, sagte er.

»Ja.«

»So ist er nun mal. Es wundert mich, dass er dir überhaupt so viel erzählt hat.«

Ich nickte. George hatte recht. Ab und zu eine kleine Anekdote war alles, was man Lockwood entlocken konnte. Sobald man nachhakte, machte er sofort dicht, wie eine Muschel. Es konnte einen wahnsinnig machen, aber es hatte auch seinen Reiz. Mich durchfuhr jedes Mal ein angenehmer Schauder der Neugier. Ein volles Jahr nach meiner Ankunft in der Agentur trugen die nicht enthüllten Einzelheiten aus dem Vorleben meines Arbeitgebers immer noch entscheidend dazu bei, dass er auf mich derart geheimnisvoll und faszinierend wirkte.

* * *

Im Großen und Ganzen, und wenn man das Debakel von Wimbledon mal außer Acht ließ, lief es für Lockwood & Co. in diesem Sommer eigentlich recht gut. Nicht supergut, natürlich, denn reich geworden waren wir keineswegs. Wir bauten uns keine protzigen Villen mit Geisterlampen auf dem Grundstück und künstlichen Bachläufen neben der Einfahrt (wie angeblich Steve Rotwell, der Chef der riesigen gleichnamigen Agentur). Aber wir kamen immerhin etwas besser über die Runden als vorher.

Seit uns der Fall der Seufzenden Wendeltreppe so viel Publicity verschafft hatte, waren sieben Monate vergangen. Unser Erfolg in Combe Carey Hall, einem der am schlimmsten heimgesuchten Häuser Englands, über den ausführlich berichtet worden war, hatte sich sofort in einer Flut wichtiger neuer Aufträge niedergeschlagen. Wir hatten einen Schwarzen Wiedergänger ausgetrieben, der im Forst von Epping ein entlegenes Waldstück verwüstet hatte, wir hatten ein Pfarrhaus in Upminster gesäubert, das von einem Leuchtenden Knaben heimgesucht wurde. Und selbstverständlich, auch wenn wir dabei beinahe alle drei ums Leben gekommen wären, führte unsere Ermittlung im Fall von Mrs Barretts Gruft dazu, dass die Firma schon zum zweiten Mal als »Agentur des Monats« auf die Shortlist der Zeitschrift Die größten Heimsuchungen der Neuzeit gekommen war. Aufgrund dessen war unser Auftragsbuch so gut wie voll. Lockwood hatte sogar schon davon gesprochen, eine Sekretärin einzustellen.

Momentan waren wir aber immer noch ein kleiner Betrieb, der kleinste seiner Art in London. Anthony Lockwood, George Cubbins und Lucy Carlyle: Nur wir drei schlugen uns in der Portland Row 35, London, durch. Dort wohnen und arbeiten wir Seite an Seite.

George? Der hatte sich in den letzten sieben Monaten nicht groß verändert. In Anbetracht seiner allgemeinen Schlampigkeit, seines boshaften Mundwerks und der Vorliebe für Daunenjacken mit unvorteilhaft über den Po hochrutschendem Gummizug war das natürlich bedauerlich. Andererseits ist er ein unermüdlicher Rechercheur, dem es gelingt, lebenswichtige Fakten über jeglichen heimgesuchten Ort herauszufinden. Außerdem ist er von uns dreien der Besonnenste, derjenige, der sich nicht vorschnell in Gefahr begibt, eine Eigenschaft, die uns allen nicht nur einmal das Leben gerettet hatte. George hat auch seine Angewohnheit beibehalten, immer dann, wenn er a) sich seiner Sache absolut sicher, b) gereizt oder c) von meiner Gesellschaft tödlich gelangweilt war, seine Brille abzunehmen und zu putzen, wobei er sich eigentlich immer in einem dieser drei Zustände befindet.

Trotzdem kamen er und ich damals bereits deutlich besser miteinander klar als zu Anfang. Genau genommen hatten wir in diesem Monat erst einen einzigen erbitterten, von Füßeaufstampfen und fliegenden Pfannen begleiteten Streit gehabt, was schon für sich genommen ein kleiner Rekord war.

George interessierte sich sehr für das Verhalten und die Wesensart von Besuchern: Er wollte verstehen, wie sie tickten und warum sie überhaupt zurückkehrten. Zu diesem Zweck führte er eine Reihe von Experimenten mit unserer Artefakt-Sammlung durch – alte Knochen und andere Überreste, denen eine gewisse übersinnliche Kraft innewohnt. Dieses Hobby war manchmal ein bisschen nervig. Ich zählte schon nicht mehr mit, wie oft ich über Stromkabel stolperte, die an irgendeinem Stück festgeklemmt waren, oder mich erschreckte, weil ich im Tiefkühler auf der Suche nach Fischstäbchen und Erbsen auf irgendwelche abgetrennten Gliedmaßen stieß.

Immerhin hatte George überhaupt irgendwelche Hobbys (Comics und Kochen waren zwei weitere). Anthony Lockwood war da ein ganz anderer Fall. Abgesehen von seiner Arbeit hatte er nur wenige Interessen. An unseren seltenen freien Tagen blieb er lange im Bett, blätterte die Zeitungen durch oder las zum x-ten Mal irgendeinen alten Roman aus einem der Bücherregale, die über das ganze Haus verteilt waren. Irgendwann warf er Zeitungen und Bücher zur Seite, übte lustlos ein bisschen Fechten und bereitete sich dann auf unseren nächsten Auftrag vor. Sonst schien kaum etwas seiner Aufmerksamkeit wert.

Über alte Fälle sprach er nie. Irgendetwas schien ihn ständig voranzutreiben. Manchmal war hinter seinem kultivierten Äußeren eine beinahe zwanghafte Energie zu erahnen. Aber er lieferte nie einen Hinweis darauf, was ihn eigentlich antrieb, sodass ich gezwungen war, meine eigenen Vermutungen anzustellen.

Nach außen hin war er tatkräftig und lebhaft, leidenschaftlich und rastlos, eine immerwährende Inspiration. Er trug das Haar verwegen zurückgekämmt und frönte einer Vorliebe für etwas zu enge Anzüge. Mir gegenüber war er genauso zuvorkommend wie bei unserer ersten Begegnung. Aber er blieb – und diese Tatsache wurde mir, je länger ich ihn beobachtete, immer bewusster – stets ein bisschen auf Distanz: gegenüber den Schicksalen der Geister, die wir aufstöberten, gegenüber den Klienten, mit denen wir zu tun hatten, vielleicht sogar (auch wenn ich mir das nur ungern eingestand) gegenüber seinen eigenen Kollegen, George und mir.

Am offensichtlichsten zeigte sich das, wenn es darum ging, persönliche Einzelheiten preiszugeben. Es hatte zwei Monate gedauert, bis ich den Mut aufgebracht hatte, aber schließlich hatte ich den beiden doch ziemlich viel über meine Kindheit, meine unguten Erfahrungen während meiner Lehrzeit und über die Gründe, weshalb ich von zu Hause weggegangen war, erzählt. Auch George steckte voller Geschichten, denen ich allerdings nur selten zuhörte, denn meist ging es um seine auf langweilige Art normale Kindheit in Nord-London: Seine Familie verstand sich gut, und niemand war gestorben oder plötzlich verschwunden. Einmal hatte er uns sogar seine Mutter vorgestellt, eine kleine, rundliche, freundliche Frau, die Lockwood die ganze Zeit »Herzchen« und mich »Schätzchen« genannt und uns einen selbst gebackenen Kuchen mitgebracht hatte. Aber Lockwood? Fehlanzeige. Er sprach nur selten über sich und ganz bestimmt niemals über seine Vergangenheit und seine Familie. Nachdem ich ein ganzes Jahr mit ihm in seinem Elternhaus zusammengewohnt hatte, wusste ich immer noch nicht das Geringste über seine Eltern.

Das war besonders enttäuschend, weil das Haus in der Portland Row 35 vom Keller bis zum Dach mit ihren Artefakten und Erbstücken, Büchern und Möbeln vollgestopft war. Überall an den Wänden im Wohnzimmer und im Treppenhaus hingen Raritäten: Masken, Waffen und Gegenstände, die vermutlich zur Geisterjäger-Ausrüstung fremder Völker gehörten. Es lag auf der Hand, dass Lockwoods Eltern Forscher oder Sammler gewesen waren, deren besonderes Interesse fernen Ländern außerhalb Europas gegolten hatte. Wo sie sich jedoch aufhielten (oder, besser gesagt, was aus ihnen geworden war), darüber ließ sich Lockwood niemals aus. Es schien auch nirgendwo Fotos oder persönliche Andenken an sie zu geben.

Zumindest nicht in den Räumlichkeiten, die ich bisher betreten hatte.