Lord der Sterne - Philip José Farmer - E-Book

Lord der Sterne E-Book

Philip José Farmer

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Beschreibung

Meister wider Willen

Robert Wolff, Meister der Dimensionen und Herr der Welt der tausend Ebenen, ist verschwunden und hat seine Macht seinem langjährigen Freund und Begleiter Paul Janus Finnegan übertragen. Dieser weiß jedoch nichts davon und ist mehr als überrascht, sich plötzlich als Gejagter zu sehen. Denn die Schwarzen Schneller, künstliche Intelligenzen, die menschliche Gestalt annehmen können, machen sich zum Angriff bereit. Das Schicksal der ganzen Welt ruht auf Finnegans Schultern – doch als ihm das endlich klar wird, scheint es bereits zu spät …

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PHILIP JOSÉ FARMER

 

 

 

LORD DER STERNE

 

Die Welt der tausend Ebenen Band 3

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Titel der OriginalausgabeA Private Cosmos
Aus dem Amerikanischen von Martin Baresch
Überarbeitete NeuausgabeCopyright © 1968 by Philip José FarmerCopyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenCovergestaltung: Das Illustrat, MünchenSatz: Winfried Brand
ISBN 978-3-641-20267-5V003
www.penguinrandomhouse.de

 

Das Buch

Der Autor

Einführung

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

 

Das Buch

Robert Wolff, Meister der Dimensionen und Herr der Welt der tausend Ebenen, ist verschwunden und hat seine Macht seinem langjährigen Freund und Begleiter Paul Janus Finnegan übertragen. Dieser weiß jedoch nichts davon und ist mehr als überrascht, sich plötzlich als Gejagter zu sehen. Denn die Schwarzen Schneller, künstliche Intelligenzen, die menschliche Gestalt annehmen können, machen sich zum Angriff bereit. Das Schicksal der ganzen Welt ruht auf Finnegans Schultern – doch als ihm das endlich klar wird, scheint es bereits zu spät …

 

 

 

 

Der Autor

Philip José Farmer wurde am 26. Januar 1918 in North Terre Haute, Indiana, geboren. Die Familie siedelte nach Illinois über, wo Philips Vater einen kleinen Betrieb hatte. Als dieser Mitte der 1930er Jahre pleiteging, musste Philip sein Collegestudium abbrechen und seine Familie mit allerhand Jobs finanziell unterstützen. Er studierte später neben dem Beruf und machte 1950 seinen Bachelor of Arts in Englisch. Danach arbeitete er als technischer Journalist für verschiedene Unternehmen, ehe er 1952 mit seiner Erzählung »Die Liebenden« schlagartig berühmt wurde. Die Story, die mit dem Hugo Award ausgezeichnet wurde, war zuvor von renommierten SF-Magazinen abgelehnt worden, weil sie von einer sexuellen Beziehung zwischen einem Menschen und einem Alien handelt, was im prüden Amerika der 1950er Jahre für einen Skandal sorgte. Mit Romanen wie »Fleisch« festigte Farmer sein Image als Tabubrecher; Reihen wie der Flusswelt-Zyklus, für die er seinen zweiten Hugo Award gewann, oder die »Welt der tausend Ebenen«-Saga befassen sich mit neomythologischen Themen. Philip José Farmer starb am 25. Februar 2009 in seinem Heim in Peoria, Illinois.

 

Eine Übersicht aller im Heyne Verlag lieferbaren Romane von Philip José Farmer finden Sie am Ende des Buches.

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

Einführung

 

Alles begann in meiner Kindheit, vor etwa einem Jahr, als ich The Maker of Universes (Meister der Dimensionen) las. Ich erinnere mich, dass es ein sonniger Samstag in Baltimore war. An diesem Morgen nahm ich Philip José Farmers Buch, auf dessen Titelseite der grüne Gaughanische Himmel und die graue Gaughanische Harpyie (Podarge) zu sehen waren, in die Hand, um eine oder zwei Seiten darin zu lesen. Danach wollte ich mit der Arbeit an einer eigenen Story beginnen. An diesem Tag schrieb ich keine einzige Seite mehr.

Als ich das Buch zu Ende gelesen hatte, eilte ich sofort zu meinem Taschenbuchlieferanten am Ort, um die Fortsetzung – ich wusste, dass es eine solche gab – zu erstehen: The Gates of Creation (Welten wie Sand). Ich las auch diesen Band, und als ich ihn aus der Hand legte, war der sonnige Samstagmorgen der Dunkelheit der Nacht gewichen. Das nächste, was ich schrieb, war nicht etwa meine Story – sondern ein begeisterter Brief an Philip José Farmer.

Ich hatte beileibe nicht vor, dem Mann, der The Lovers, Fire and the Night und A Woman A Day geschrieben hatte, mitzuteilen, dass diese beiden neuen Sachen die besten waren, die er je vorgelegt hatte. Hätte er ein Gemälde angefertigt oder ein Musikstück komponiert, so könnte ich diese auch nicht mit seinen anderen Werken – nicht einmal miteinander – vergleichen. Die beiden Bücher, die ich gerade gelesen hatte, gehörten in die Rubrik der Abenteuer-Romane – und ich war der Ansicht, dass sie außerordentlich gute Vertreter dieses Genres waren. Sie unterscheiden sich von seinen anderen Storys in Stil und Thematik – unterscheiden sich selbst voneinander – und sind daher, wie immer, unvergleichlich. Ich hoffte auf einen dritten Band, und ich war sehr erfreut, als ich erfuhr, dass Farmer daran arbeitete.

Mit anderen Worten: Ich habe mich mehr als ein Jahr lang auf dieses Buch, das Sie im Moment in Händen halten und lesen, gefreut.

Ich überdachte meine Gefühle, grübelte darüber nach, warum mich die beiden ersten Bände derart beeindruckt hatten, was ihren Reiz ausmachte. Und ich fand mehrere Gründe.

 

1. Die Idee der physischen Unsterblichkeit mit all ihren Vor- und Nachteilen faszinierte mich. Und dieses Thema durchzieht wie hochpolierter Kupferdraht die Handlung beider Romane.

2. Das Modell der Taschenuniversen, eine Idee, die sich von den verschiedenen anderen Parallelweltkonzeptionen wesentlich unterscheidet, Universen, die eigens dazu geschaffen wurden, den Zwecken mächtiger und intelligenter Wesen zu dienen, ist sehr gelungen. Im ersten wie auch im vorliegenden dritten Band lässt sie unter anderem die faszinierende Struktur der Welt der vielen Ebenen zu. Zu dieser Konzeption passend schuf Philip José Farmer Charaktere, wie ich sie liebe. Kickaha beispielsweise ist ein Schelm: heldenhaft, trickreich und von einnehmendem Wesen. Außerdem stiehlt er Wolff im ersten Band ziemlich die Schau.

 

Das zweite Buch ist angefüllt mit erbärmlichen, ränkevollen, unangenehmen, gemeinen, fiesen, schäbigen und widerlichen Individuen, die sich gegenseitig aus bloßem Spaß die Kehle durchschneiden würden – deren Schicksal sie aber leider für einige Zeit zusammengekettet hat. Vom Elisabethanischen Theater war ich schon immer geradezu teuflisch begeistert, und so habe ich mit großem Vergnügen am Anfang der Geschichte vernommen, dass sämtliche beteiligten Personen miteinander verwandt waren.

 

Eine heilige Gestalt mag anziehend oder abstoßend sein – ein Schwan oder eine Krake –, schön oder hässlich – eine zahnlose Alte oder ein hübsches kleines Kind – gut oder böse –, eine Beatrice oder eine Belle Dame Sans Merci – historisch fundiert oder erfunden –, eine Person, die man auf der Straße getroffen hat, oder eine Spukgestalt, der man in einer Geschichte oder in einem Traum begegnet ist – sie kann edel sein oder so fürchterlich, dass man es nicht wagen würde, in feiner Gesellschaft auch nur ihren Namen zu erwähnen – sie kann sein, wie sie will –, unter einer Bedingung, einer absoluten Bedingung: Sie muss Ehrfurcht erregen.

Handeln, Wissen und Verstehen

W.H. Auden.

 

Philip José Farmer lebt, von mir aus gesehen, westlich der Sonne, am anderen Ende der Welt, in einem Land namens Kalifornien. Ich bin ihm nie persönlich begegnet – nur auf den Seiten seiner Bücher. Ich bewundere sein Gefühl für Humor und seine Fähigkeit, den absolut perfekten Satz für alles, was er schreibt, zu finden. Er kann sachlich, finster, umwölkt, fröhlich und in jeder Art des emotionellen Spektrums schreiben. Er hat ein faszinierendes Gefühl für alles Heilige und Profane. Ganz einfach gesagt: Er erregt Ehrfurcht. Er hat das Talent und die Fähigkeiten, mit den geheiligten Dingen umgehen zu können, die jeder Schriftsteller anrühren muss, um die Leser an jenen zeitlosen, immateriellen Ort namens Imagination zu versetzen. Da ich Auden zitiert habe, muss ich konsequenterweise seiner Beobachtung beipflichten, dass ein Schriftsteller die Arbeiten eines anderen Autors nicht lesen kann, ohne sie mit seinen eigenen zu vergleichen. Das tue ich ständig. Wenn ich in den Werken der Science-fiction-Autoren Sturgeon, Farmer und Bradbury gelesen habe, fühle ich mich immer schwach, gleichsam aber auch von einer gewissen Ehrfurcht ergriffen. Sturgeon, Farmer und Bradbury – sie wissen, was heilig ist, und zwar auf diese ganz besondere, transsubjektive Art, in der Persönliches plötzlich weicht und Allgemeingültigkeit erlangt und dabei wie ein neongeschmückter Weihnachtsbaum die menschliche Natur erhellt. Und Philip José Farmer ist auf ganz ungewöhnliche Art etwas Besonderes …

Alles, was er sagt, hätte ich gerne sagen mögen. Aber aus dem einen oder anderen Grund konnte ich es nicht tun. Er verwirklicht das, was Henry James einmal mit Blickwinkel bezeichnet hat. Und obwohl sein Blickwinkel anders ist als meiner, stimmt das, was er schreibt, was er ausdrückt, unverändert mit der Art überein, wie ich die Dinge empfinde.

Aber ich kann es nicht auf seine Art schreiben. Das bedeutet, dass ein anderer das, was ich am liebsten tun – schreiben – würde, besser kann als ich selbst. Und das lässt mich an meinem Bart kauen – und es erinnert mich an George London als Mephisto in Gounods Faust, in der Metropolitan Opera aufgeführt. Margarethe war zum Himmel emporgefahren: Er streckte die Hand aus, und ein eisernes Gittertor senkte sich vor ihm herab. Er umfasste eine der Stangen, blickte einen Augenblick lang in die Höhe, wandte sein Gesicht ab, sank langsam in die Knie, und seine Hand glitt an der Stange entlang zu Boden. Dann: Vorhang. So fühle ich mich.

Ich kann es nicht, aber man kann es.

Was kann ich darüber hinaus über eine Geschichte von Philip Jose Farmer sagen?

Shakespeare hat es in Antonius und Kleopatra (7. Szene, 2. Akt) besser gesagt:

 

Lepidus:

Was für ’ne Sorte von Geschöpf ist euer Krokodil?

Antonius:

Es hat eine Gestalt, Herr, wie es selbst, und es ist so breit, als seine Breite beträgt; just so hoch, als es hoch ist, und bewegt sich mit seinen eignen Gliedern; es lebt von seiner Nahrung und haben seine Elemente sich aufgelöst, so wird ein neues Wesen aus ihm.

Lepidus:

Was hat es für eine Farbe?

Antonius:

Auch seine eigentümliche Farbe.

Lepidus:

Ein kurioser Wurm!

Antonius:

Allerdings. Und seine Tränen sind nass.

 

Wahrhaftig, mein Herr, sie sind es. Es ist Geschick, vereint mit Talent, was sie dazu macht. Jedes ihrer Produkte ist anders, vollständig, einzigartig, und dieses hier ist keine Ausnahme. Ich freue mich, dass es einen Mann wie Philip José Farmer gibt – und dass er schreibt. Es gibt nicht viele, die so sind wie er. Keinen, würde ich sagen.

Aber lesen Sie dieses Buch, und Sie wissen, was ich meine.

Ich schreibe diese Zeilen in Baltimore. An einem kalten, grauen Tag im Februar. Aber das macht nichts. Philip José Farmer – irgendwo dort draußen, westlich der Sonne –, wenn Sie je beabsichtigt haben, durch Ihre Arbeit einem anderen Menschen Freude zu bereiten, so sollten Sie wissen, dass es Ihnen gelungen ist. Manchen kalten, grauen Tag in den Jahreszeiten meiner Welt haben Sie erhellt, und manchen hellen Tag haben Sie mir ein wenig verschönt, mit etwas Glanz überzogen.

Die Farben des vorliegenden Romans sind seine eigentümlichen, und seine Tränen sind nass … Philip José Farmer hat ihn geschrieben. Mehr zu sagen ist nicht nötig.

Baltimore/Maryland (USA)

Roger Zelazny

Erstes Kapitel

 

Unter grünem Himmel und gelber Sonne galoppierte Kickaha auf einem schwarzen Hengst mit karmesinrot gefärbter Mähne und blau gefärbtem Schweif dahin. Er ritt um sein Leben. Vor einhundert Tagen hatte er das Dorf der Hrowakas, des Bärenvolkes, verlassen. Zweitausend Kilometer trennten ihn nun von seinen Brüdern und Schwestern. Kickaha war der Jagd und des einfachen Lebens müde gewesen, hatte sich plötzlich nach einem Hauch Zivilisation gesehnt. Mehr noch: Er fand, dass das Messer seines Intellekts geschärft werden musste, und es gab vieles, was er über die Tishquetmoacs, die einzigen zivilisierten Menschen auf dieser Ebene, noch nicht wusste.

Also legte er seinen beiden Pferden die Sättel auf, packte Ausrüstung hinzu, verabschiedete sich von den Häuptlingen und Kriegern und küsste noch einmal seine beiden Frauen. Außerdem gab er ihnen die Erlaubnis, sich neue Ehemänner zu suchen, falls er nicht innerhalb von sechs Monaten zurückgekehrt war. Sie beteuerten, bis in alle Ewigkeit auf seine Rückkehr zu warten, und Kickaha lächelte. Das hatten sie auch zu ihren früheren Gefährten gesagt, bevor diese auf den Kriegspfad ausgeritten und niemals zurückgekehrt waren.

Einige Krieger boten an, mit ihm durch die Felsenwildnis der Berge bis zur Großen Prärie zu reiten. Er lehnte ab und ritt allein los. Fünf Tage benötigte er, um aus den Bergen herauszukommen. Ein Tag ging verloren, weil zwei junge Krieger vom Stamme der Wakangishush sich an ihn herangepirscht hatten. Möglicherweise hatten die beiden schon seit Monaten am Schwarzwiesel-Pass gewartet, weil sie wussten, dass er eines Tages hindurchreiten würde. Und ihre Geduld und Ausdauer war nur zu verständlich: Von sämtlichen heißbegehrten Skalps der hundert großen Krieger der fünfzig Nationen der Großen Prärie und der angrenzenden Gebirgszüge war sein Skalp der wertvollste. Mindestens zweihundert tapfere Krieger hatten – jeder auf eigene Faust – versucht, ihm einen tödlichen Hinterhalt zu legen, und keiner von ihnen war lebend in sein Tipi zurückgekehrt. Viele Kriegergruppen waren in die Berge gekommen, um das auf hohen Felsen liegende Palisadenfort der Hrowakas zu überfallen, hatten gehofft, das Bärenvolk zu überrumpeln und Kickahas Skalp – oder seinen Kopf – zu erbeuten. Aber nur der große Überfall der Zentauren des Oshangstawa-Stammes wäre beinahe erfolgreich verlaufen. Die Geschichte dieses Überfalles und die Vernichtung der entsetzlichen Halbpferde verbreitete sich rasch wie ein Feuer unter den einhundertneunundzwanzig Präriestämmen, und während der Blutfeste wurde in den Beratungshäusern und den Tipis der Häuptlinge davon gesungen.

Die beiden Wakangishush hielten eine respektvolle Distanz zu ihrer vermeintlichen Beute. Offenbar wollten sie ihn erst in der Nacht angreifen, wenn er sich zur Ruhe gelegt hatte. Als sie dann kamen, waren sie vorsichtig und näherten sich beinahe geräuschlos; vielleicht wären sie mit ihrem tödlichen Vorhaben auch erfolgreich gewesen, aber der rote Rabe – er war so groß wie ein Adler – warnte Kickaha. Er flog zu ihm herab, krächzte zweimal laut und schwang sich wieder auf, schwebte sekundenlang über dem Versteck eines der beiden Tapferen, kreiste zweimal und glitt weiter, über jenen Baum hinweg, hinter dem der andere hockte. Wieder kreiste der Rabe zweimal. Kickaha bereute nicht, dass er sich die Mühe gemacht hatte, den intelligenten Vogel abzurichten. Er lächelte, während er zu ihm aufsah. In eben dieser Nacht jagte er dem ersten Wakangishush-Krieger, der sich seinem Lager näherte, einen Pfeil entgegen, und drei Minuten später bohrte sich sein Dolch in das Herz des anderen.

Kickaha geriet in Versuchung, einen Umweg von achtzig Kilometern zu machen, um einen Speer mit den Skalps der beiden Mutigen in die Mitte des Wakangishush-Lagers zu schleudern. Heldentaten dieser Art hatten ihm den Namen Kickaha – »der Trickreiche« – eingebracht, und er liebte es, diesen Ruf zu nähren. Dieses Mal jedoch schien es ihm der Mühe nicht wert. Das Bildnis von Talanac, jener Stadt, die einem Berg glich, glühte wie ein Juwel über dem Feuer in seinen Gedanken.

So begnügte sich Kickaha damit, die beiden skalpierten Leichen mit den Füßen nach oben an einem Ast aufzuhängen. Dann wandte er den Kopf seines Hengstes nach Osten und rettete so einigen Wakangishush – und vielleicht auch sich selbst – das Leben. Kickaha rühmte sich seiner Gewandtheit und seiner Schnelligkeit, aber zugleich gestand er sich selbst gegenüber ein, dass er weder unbesiegbar noch unsterblich war.

Sein richtiger Name war Paul Janus Finnegan, geboren in Terre Haute Indiana in den USA – auf dem Planeten Erde, der in einem benachbarten Universum (und alle Universen lagen in direkter Nachbarschaft zueinander) existierte.

Kickaha war ein ein Meter achtzig großer, muskulöser, breitschultriger Mann, der einhundertneunzig Pfund auf die Waage brachte. Seine Haut war dunkel gebräunt und wies hier und da kupferbraune Punkte als Sommersprossen auf. Mehr als ein Dutzend hellere und dunklere Narben in seinem Gesicht und auf seinem Körper zeugten davon, dass er ein ziemlich bewegtes Leben geführt hatte. Das kupferrote Haar war dicht, leicht gewellt und schulterlang; zur Zeit war es zu zwei Zöpfen zusammengeflochten. Kickahas Gesicht mit den hellgrünen Augen, der Stupsnase, der langen Oberlippe und dem kantigen Kinn strahlte für gewöhnlich gute Laune aus.

Sein Haar wurde von einem Band aus Löwenfell zurückgehalten, das mit nach oben gerichteten Bärenzähnen besetzt war. Eine lange, rot-schwarze Schwanzfeder eines Falken steckte rechts in dem Stirnband. Von der Taille aufwärts war er unbekleidet; um seinen Hals lag eine Kette aus Bärenzähnen. Ein Gürtel aus türkisbesetzter Bärenhaut hielt eine Hose aus getupftem Rehkitzfell, und seine Mokassins waren aus Löwenfell gefertigt. Auf beiden Seiten trug der Gürtel eine Scheide. In einer steckte ein Dolch mit langer Stahlklinge, in der anderen ein kürzeres, perfekt ausgewogenes Wurfmesser.

Der Sattel war von der leichten Art, wie die Präriestämme sie erst kürzlich anstelle von Satteldecken eingeführt hatten. Kickaha hielt einen Speer in einer Hand, die Zügel in der anderen, und seine Füße steckten in Steigbügeln. Köcher und lederne Scheiden, die seitlich am Sattel befestigt waren, enthielten verschiedene Waffen. Ein kleiner, runder Schild, auf den der Schädel eines zähnefletschenden Bären gemalt war, hing an einem am Sattel angebrachten hölzernen Haken. An einem weiteren Sattelhaken baumelte ein weidenumflochtenes Tongefäß, das mit Wasser gefüllt war.

Ein zweites Pferd trabte hinterher und trug einen Sattel, Waffen und leichte Ausrüstungsgegenstände.

Kickaha nahm sich Zeit dabei, die Bergwelt hinter sich zurückzulassen. Aber wenn er auch leise Melodien dieser Welt und der Erde, seiner Heimat, pfiff, war er doch nicht sorglos. Aufmerksam ließ er seine Blicke über das vor ihm liegende Land schweifen, und in unregelmäßigen, kurzen Abständen wandte er sich im Sattel um und sah zurück.

Hoch über ihm zog die gelbe Sonne langsam ihre Bahn über den wolkenlosen hellgrünen Himmel. Die Luft war süß von den Düften der in voller Blüte stehenden weißen Blumen, der Piniennadeln und dem gelegentlichen Hauch eines Purpurbeerenstrauchs. Einmal hörte er den Schrei eines Falken, und zweimal zuckten die Pferde zusammen, weil irgendwo im Wald ein Bär brummte. Sie stellten die Ohren auf, wurden aber nicht nervös, da sie mit zahmen Bären, von den Hrowakas innerhalb der Palisaden gehalten, aufgewachsen waren.

Und so erreichte Kickaha wachsam, aber frohen Mutes die Große Prärie. Von seinem Standort aus konnte er weit über das Land blicken, denn hier befand sich der Scheitelpunkt eines zweihundertundfünfzig Kilometer langen, sanften Bogens einer Sektion der Ebene Amerindia. Etwa einhundertunddreißig Kilometer lang würde sein Weg nun so sanft bergab führen, dass die Steigung kaum zu bemerken war. Dann würde er einen Fluss oder einen See überqueren müssen, und danach ging es wieder kaum wahrnehmbar bergauf. Linker Hand, anscheinend nur knapp achtzig Kilometer entfernt (in Wirklichkeit waren es gut eintausendfünfhundert Kilometer), erhob sich der Monolith Abharhploonta. Mehr als dreißigtausend Meter ragte er in die Höhe. Auf seiner Spitze erstreckte sich ein weiteres Land, und im Zentrum dieser Weltenebene wuchs ebenfalls ein Monolith empor. Dort oben lag Drachenland, jene Welt, in der Kickaha unter dem Namen Baron Horst von Horstmann bekannt war. Seit zwei Jahren war er nicht mehr dort gewesen, und falls er zurückkehrte, so war er ein Baron ohne Schloss. Seine auf Drachenland lebende Gattin hatte sich nicht mit seinen langen Abwesenheiten abfinden können und sich von ihm scheiden lassen, um den Baron Siegfried von Listbat – einen seiner besten Freunde – zu heiraten. Kickaha hatte den beiden sein Schloss überlassen und war gegangen. Sein Ziel war die Ebene Amerindia gewesen, weil er diese von allen Weltenebenen am meisten liebte.

Während seine Pferde in kurzem Galopp dahinjagten und den Boden aufwirbelten, hielt Kickaha die Augen offen. Auf Amerindia lebten Tiere, die auf der Erde bekannt waren, aber auch solche, die dort längst ausgestorben waren. Andere wiederum stammten von Welten aus anderen Universen – oder waren von Wolff, dem Lord, der einst unter dem Namen Jadawin bekannt war, in den Biolabors seines Palastes auf dem Gipfel des allerhöchsten Monolithen, Idaquizzoorhruz, erschaffen worden. Riesige Büffelherden lebten in den Prärien von Amerindia. Tiere jener kleinwüchsigen Gattung, die es in kleiner Zahl noch heute auf dem nordamerikanischen Teil der Erde gab – aber auch jene riesengroßen Kolosse, die bereits vor einigen zehntausend Jahren von den amerikanischen Prärien verschwunden waren. Die großen, grauen Körper von Mammuts und Mastodonten mit gebogenen Stoßzähnen waren in der Ferne zu sehen. Die riesenhaften Geschöpfe, deren Schädel vom Gewicht vieler knorriger Hörner und den zwischen hornartigen Lippen hervorstechenden, nach oben gebogenen Zähnen herabgedrückt wurden, weideten friedlich. Schreckliche Wölfe, die so groß waren, dass sie bis an Kickahas Brust reichten, trotteten nahe einer Büffelherde einher und lauerten darauf, dass sich eines der Kälber zu weit vom Muttertier entfernte.

Weiter entfernt erblickte Kickaha einen gelbbraun und schwarz gestreiften Körper im kniehohen Präriegras. Der Felis Atrox, ein großer, mähnenloser, neunhundert Pfund schwerer Löwe, der einst die Prärieebenen Arizonas durchstreift hatte, hoffte offenbar ebenfalls darauf, ein Mammutkalb erlegen zu können. Oder wollte er eine der zahllosen Antilopen reißen, die unweit grasten? Am Himmel kreisten Falken und Bussarde. Einmal flatterte ein Entenschwarm in typischer Keilformation über ihm dahin, und ein lautes Schnattern war zu hören. Die Enten waren auf dem Weg zu den Reissümpfen oben in den Bergen.

Eine Herde schlaksiger Geschöpfe mit langen Hälsen – sie sahen aus wie entfernte Vettern des irdischen Kamels, und das waren sie wohl auch – trottete an ihm vorüber. Die Fohlen, die zum Teil noch recht unsicher auf den Beinen waren, wurden in der Mitte des Rudels gehalten. Eine Wolfshorde folgte dichtauf, und es bestand kein Zweifel daran, dass diese Bestien sofort zuschlagen und die Jungtiere reißen würden, wenn die älteren Tiere auch nur eine Sekunde in ihrer Aufmerksamkeit nachließen.

Leben, aber auch die Schatten des Todes waren allgegenwärtig. Die Luft war süß. Kein menschliches Wesen war zu sehen. Eine Herde wilder Pferde, angeführt von einem großartigen rotbraunen Hengst, galoppierte in der Ferne davon. Überall waren die wilden Tiere der Prärie. Kickaha liebte sie. Dieses Land war gefährlich, zugleich jedoch aufregend, und er betrachtete es als seine Welt – ungeachtet der Tatsache, dass Wolff sie geschaffen hatte. Wolff war der Lord und Eigentümer, während er nur ein Eindringling gewesen war. Und doch war es mehr seine als Wolffs Welt, da er mehr Nutzen daraus zog, als der Mann aus der Rasse der Lords. Wolff hielt sich meistens in seinem Palast auf dem weißen Monolithen auf – ein Leben, das für Kickaha unvorstellbar wäre.

Am fünfzigsten Tag erreichte Kickaha den Großen Handelspfad der Tishquetmoacs. Strenggenommen handelte es sich überhaupt nicht um einen Pfad, denn das Gras stand hoch und nicht weniger dicht als irgendwo sonst in der Prärie. Aber in Abständen von jeweils einem Kilometer waren hölzerne Pfähle in den Boden gerammt, deren oberer Teil die Gestalt Ishquetdammus, des Gottes des Handels und der Grenzen, zeigte. Über eintausendfünfhundert Kilometer zog sich dieser Pfad an der Grenze des Reiches der Tishquetmoacs dahin, verlief in Schlangenlinien über die Große Prärie und berührte so zahlreiche periodische Handelsplätze der Prärie- und Bergstämme. Große Wagen mit Gütern der Tishquetmoacs, die sie gegen Felle, Häute, Elfenbein, Knochen, gefangene Tiere und menschliche Sklaven einzutauschen gedachten, nahmen diese Route. Ein Pakt garantierte, dass jeder, der sich dem Pfad anvertraute, vor Angriffen sicher war. Sobald er jedoch den schmalen, von den geschnitzten Holzpfählen markierten Weg verließ, war er freie Beute für jedermann.

Kickaha folgte dem Handelspfad mehrere Tage lang. Er hoffte, eine Handelskarawane zu treffen und Neuigkeiten über Talanac in Erfahrung zu bringen. Aber er hatte kein Glück, und so verließ er die Sicherheit des Pfades, als dieser ihn zu weit vom direkten Weg nach Talanac fortführte.

Einhundert Tage, nachdem er das Palisadenfort der Hrowakas verlassen hatte, stieß er jedoch erneut auf den Handelspfad. Da er von hier aus direkt nach Talanac führte, entschloss sich Kickaha, wieder seinem Verlauf zu folgen.

Eine Stunde nach Einbruch der Dämmerung tauchten die Halbpferde auf. Kickaha fragte sich, was sie so nahe an der Grenze der Tishquetmoacs zu suchen hatten. Obwohl auch sie sich an den Pakt hielten und die Reisenden auf dem Großen Handelspfad unbehelligt ließen, hinderte sie dies nicht daran, die Tishquetmoacs auf neutralem Boden anzugreifen. Kehrten die Zentauren von einem solchen Überfall zurück? Was auch immer der Grund ihrer Anwesenheit sein mochte – sie brauchten sich ihm gegenüber nicht zu rechtfertigen. Fest stand, dass sie ihr Bestes geben würden, um seiner habhaft zu werden, denn er war ihr größter Feind.

Kickaha presste seinem Pferd die Hacken in die Weichen und trieb es zum Galopp. Die Halbpferde – sie befanden sich etwa zwei Kilometer links von ihm – sahen dies und nahmen die Verfolgung auf. Kickaha wusste, dass sie weit schneller waren als ein Pferd, das einen Menschen auf seinem Rücken trug. Aber wenigstens war er ihnen ein gutes Stück voraus. Und sechs Kilometer voraus lag ein Außenposten. Wenn er diesen erreichte, war er in Sicherheit.

Während der ersten drei Kilometer ließ er dem Hengst freie Zügel. Das Tier lief schnell wie der Wind. Schaum flog aus seinem Maul, nässte seine Brust. Kickaha fühlte sich nicht wohl dabei – aber er hatte keine andere Wahl. Er konnte den Hengst nicht schonen, wollte er sein eigenes Leben retten. Und wenn es den Zentauren gelang, ihn zu überwältigen, würden sie ohnehin auch den Hengst töten und anschließend verzehren.

Und dann waren die Halbpferde so nahe herangekommen, dass er ausmachen konnte, welchem Stamm sie angehörten. Es waren Shoyshatel, deren Jagdgründe normalerweise fünfhundert Kilometer entfernt, nahe dem Wald der vielen Schatten, lagen. Sie glichen den Zentauren aus den irdischen Mythen, nur waren sie wesentlich größer, und weder ihre Gesichter noch ihr Schmuck wirkten griechisch. Die Schädel waren groß, doppelt so groß wie ein menschlicher Kopf, die Gesichter dunkel und breit, mit hohen Wangenknochen – die Gesichter von Prärie-Indianern. Sie trugen Federschmuck oder Bänder, die mit Federn geschmückt waren, auf ihren Schädeln; ihre Haare waren lang und schwarz und zu einem oder zwei Zöpfen geflochten.

Der aufrechte menschliche Oberkörper der Zentauren enthielt ein großes, lungenähnliches Organ, das Luft in das pneumatische System des Pferdeleibs pumpte. Dieses Organ schwoll unterhalb des menschlichen Brustbeins an und zog sich wieder zusammen – wodurch das schauderhafte und finstere Aussehen der Halbpferde noch unterstrichen wurde.

Ursprünglich waren die Halbpferde Jadawins Schöpfungen. Er hatte die Zentaurenkörper in seinen Biolabors geformt und großgezogen. Die ersten Zentauren wurden mit menschlichen Gehirnen von skythischen und sarmatischen Nomaden von der Erde, ferner mit denen einiger archaischer und pelasgianischer Stammesangehöriger versehen, und so kam es, dass manche Halbpferde noch heute diese Sprachen benutzten. Die überwiegende Mehrzahl jedoch hatte bereits vor langer Zeit die Sprache irgendeines der amerindianischen Präriestämme übernommen.

Jetzt galoppierten die Shoyshatel dicht hinter ihm. Und sie schienen zuversichtlich, dass sein Entkommen nahezu unmöglich war. Aber Kickaha hatte schon vielen Männern der Prärie ihre Illusionen geraubt, indem er ihnen bewies, dass er nicht so leicht zu fangen war. Und wenn es gelungen war, seiner habhaft zu werden, so war er nie sehr lange zu halten gewesen.

Die Shoyshatel wollten ihn lebend fangen, um ihn zu martern. Andererseits konnten sie es vermutlich kaum erwarten, ihn tot ihm Gras liegen zu sehen. Der Versuch, ihn lebend zu fangen, erforderte Zurückhaltung und Phantasie – und es konnte durchaus passieren, dass er es doch irgendwie schaffte zu entkommen. Kickaha wechselte auf das andere Pferd – eine schwarze Stute mit Silbermähne und ebensolchem Schweif – über und trieb es an. Der Hengst wurde langsamer und fiel zurück. Seine Brust war weiß von Schaum, er zitterte und keuchte, und dann stürzte er. Ein Halbpferd durchbohrte ihn mit dem Speer.

Pfeile zischten an Kickaha vorbei. Speere bohrten sich in den Boden hinter ihm. Kickaha machte sich nicht die Mühe zurückzuschießen. Er duckte sich auf den Hals der Stute nieder und rief ihr ermutigende Worte zu. Die Halbpferde holten auf. Pfeile und Speere sausten bedrohlich nahe vorbei. Aber in diesem Augenblick sah Kickaha den Außenposten. Das Fort war auf einem kleinen Hügel errichtet worden. Die Flagge der Tishquetmoacs – grün mit einem scharlachroten Adler, der eine schwarze Schlange fraß – flatterte von einer Stange, die in der Mitte der Niederlassung aufgestellt war.

Kickaha sah, dass der Wachtposten einige Sekunden lang auf das sich ihm bietende Schauspiel starrte, bevor er reagierte. Endlich hob er das lange, schlanke Signalhorn an seine Lippen. Kickaha konnte das Alarmsignal nicht hören; der Wind wehte in die entgegengesetzte Richtung, und im Donnern der Hufe ging jedes leisere Geräusch unter.

Schaum flog vom Maul der Stute, aber sie rannte weiter. Dennoch holten die Halbpferde mehr und mehr auf. Pfeile und Speere flogen in gefährlicher Nähe vorbei. Beinahe wäre er von einer Bola, deren Steinkugeln ein Dreieck des Todes bildeten, getroffen worden. Und dann, gerade als die Tore des Forts aufschwangen und die Kavallerie der Tishquetmoacs ausrückte, begann die Stute zu straucheln. Sie versuchte sich auf den Läufen zu halten. Es gelang ihr. Kickaha kannte den Grund für das Verhalten des Tieres. Es war keine Erschöpfung. Ein Pfeil war schräg in seinen Rumpf gefahren und so flach aufgekommen, dass die Spitze oberhalb der Wunde herausragte. Ein weiterer Pfeil schlug direkt hinter dem Sattel in das Fleisch des Tieres. Es stürzte. Kickaha gelang es gerade noch rechtzeitig, aus dem Sattel zu kommen. Die Stute überschlug sich, als sie niederbrach. Kickaha versuchte, auf den Füßen aufzukommen, aber es gelang ihm nicht. Er überschlug sich, rollte über die Schulter ab und kam in einer gleitenden Bewegung hoch. Das Pferd, das ihn so brav getragen hatte, lag still. Er sah dies aus den Augenwinkeln heraus, bevor er den Tishquetmoacs entgegenrannte.

Hinter ihm gellte der triumphierende Schrei eines Halbpferdes. Kickaha wandte gedankenschnell seinen Kopf. Der Häuptling der Shoyshatel preschte mit erhobener Speerhand heran.

Kickaha zog sein Wurfmesser, wirbelte herum und warf das Messer im gleichen Sekundenbruchteil, als der Zentaur seinen Speer schleudern wollte. Er warf sich zur Seite, und der Speer des Shoyshatel flog über seine Schulter hinweg, verfehlte seinen Hals nur knapp. Sein Wurfmesser steckte in dem Lungenorgan unterhalb der Brust des Halbpferdes. Das bizarre Wesen raste vorbei, stürzte, überschlug sich. Die Läufe und das Rückgrat des menschlichen Teilkörpers brachen unter der Wucht des Aufpralls. Dann flogen Speere über Kickahas Kopf hinweg den Halbpferden entgegen. Einer tötete einen der Tapferen, der geglaubt hatte, ihm könne gelingen, was der Häuptling nicht geschafft hatte. Mit stoßbereit gesenktem Speer war er herangeprescht, um Kickaha mit der Wucht seines fünfhundert Pfund schweren Körpers zu durchbohren. Der Tapfere fiel.

Kickaha ergriff seinen Speer und schleuderte ihn gegen die Pferdebrust eines anderen Zentauren. Sekunden später war die Kavallerie an ihm vorüber. Die Tishquetmoacs waren den Halbpferden zahlenmäßig überlegen, und über den Ausgang des Kampfes konnte es keinen Zweifel geben. Aber die Zentauren kämpften tapfer. Viele Menschen starben, bevor es gelang, die schrecklichen Feinde zu vertreiben.

Kickaha schwang sich auf ein Pferd, dessen Herr durch den Tomahawk eines Halbpferdes getötet worden war, und galoppierte mit den siegreichen Tishquetmoacs zum Fort zurück.

Der Kommandant des Außenpostens rief: »Jedes Mal, wenn du hier vorbeikommst, gibt es Ärger. Jedes Mal.«

Kickaha grinste. »Sei ehrlich – wenn ich nicht gekommen wäre, hättet ihr euch zu Tode gelangweilt, stimmt’s?«

Der Kommandant grinste zurück.

An diesem Abend näherte sich dem Fort ein Halbpferd, das einen langen, hölzernen Stab, an dessen Spitze eine weiße Reiherfeder befestigt war, in der erhobenen Rechten trug. Der Kommandant respektierte das Zeichen des Unterhändlers und befahl seinen Leuten, sich vorerst passiv zu verhalten. Das Halbpferd blieb außerhalb der Tore stehen. »Trickreicher!«, rief es. »Du bist uns wieder einmal entkommen! Aber wir warten auf dich! Glaube nur nicht, dass dich das Tabu des Großen Handelspfades schützt! Wir respektieren das Tabu, und jeder ist auf dem Pfad seines Lebens sicher. Jeder, außer dir, Kickaha! Wir werden dich töten! Wir haben geschworen, nicht eher zu unseren Hütten und Frauen und Kindern zurückzukehren, bis wir dich getötet haben!«

»Eure Frauen werden sich andere Männer nehmen, und eure Kinder werden aufwachsen, ohne sich ihrer Vater zu erinnern!«, brüllte Kickaha zu ihm hinunter. »Ihr Halbesel werdet mich niemals fangen!«

Am folgenden Tag kam die Ablösung der im Fort stationierten Krieger. Kickaha schloss sich der nach Talanac zurückkehrenden Kavallerie an. Die Halbpferde zeigten sich nicht, und nachdem Kickaha sich eine Weile in der Stadt Talanac aufgehalten hatte, vergaß er die Drohungen der Shoyshatel. Aber er sollte sich noch an sie erinnern.

Zweites Kapitel

 

Der Fluss Watcetcol kommt aus dem Khamshem, das auch Drachenland genannt wird, und wird vom Guzirit gespeist, einem Strom am Rande des Monolithen Abharhploonta. Im Verlauf unzähliger Jahre haben sich die Wasser des Watcetcol ein Bett geschaffen, das durch dichten Dschungel bis an den Abgrund des Monolithen führt. Über eine tief in den harten, felsigen Untergrund geschnittene Rinne stürzen die Wassermassen in die Tiefe und bilden eine gewaltige Wasserwand, die zu feinem Nieselregen geworden ist, wenn sie den Fuß des dreißigtausend Meter hohen Monolithen erreicht. Auf halber Höhe des Monolithen entziehen Wolken, das Wasser und die Gischt vor den Blicken der Menschen. Auch am Boden des Abgrunds wallen dichte Nebelschleier. Wer es wagte, dorthin zu gehen, erzählte von schwärzester Nacht und davon, dass sich die Feuchtigkeit schließlich zu einer undurchdringlichen Barriere verdichtet.

Bis in zwei oder drei Kilometer Höhe breiten sich die Nebel aus, und unter diesem Schutzschild wird der Nieselregen wieder zu einem Fluss. Das Wasser tost durch einen engen Kalksteinkanal, und erst dort, wo sich das Flussbett verbreitert, fließt es ruhiger dahin. Mehr als siebenhundert Kilometer windet sich der Watcetcol in Schlangenlinien dahin und fließt dann etwa dreißig Kilometer geradeaus, um sich schließlich an einem Berg aus festem Felsgestein zu teilen. Auf der anderen Seite dieses Berges vereinigen sich die Flussarme wieder, der Strom beschreibt eine scharfe Biegung und wendet sich nach Westen. Gut einhundert Kilometer weiter verschwindet er schließlich in einer riesigen Höhle, und man kann nur vermuten, dass er durch ein Wirrwarr von Höhlen im Leib jenes Monolithen rast, auf dessen Oberfläche die Ebene Amerindia liegt. An welcher Stelle der Watcetcol wieder ins Freie mündet, wissen nur Podarges Adler, Wolff – und Kickaha.

Jener Berg, der durch den Watcetcol zu einer Insel wurde, ist ein massiver Jadeblock.

Als Jadawin dieses Universum schuf, goss er aus Jadeit und Nephrit ein tausend Meter hohes, ungefähr pyramidenförmiges Stück, das apfelgrün, smaragdgrün, braun, beige, gelb, blau, grau, rot, schwarz sowie in den verschiedensten Schattierungen dieser Farben schillerte. Jadawin setzte den Block zum Abkühlen an den Rand der Großen Prärie und leitete den Fluss später so, dass er den Fuß der Pyramide umspülte.

Jahrtausendelang blieb der Jadeberg unberührt, wenn man davon absah, dass sich Vögel auf ihm niederließen und Fische gegen seinen kühlen, glitschigen Fuß stießen. Als schließlich die ersten Amerindianer den Jadeberg entdeckten, erkoren ihn einige Stämme zu ihrem Gott, aber die Nomadenvölker ließen sich nicht in seiner Nähe nieder.

Dann entführte Jadawin/Wolff eine Gruppe zivilisierter Menschen aus dem alten Mexiko des Planeten Erde und setzte sie in der Nähe des Jadeberges aus. Dies geschah vor etwa eintausendfünfhundert Jahren. Die unfreiwilligen Einwanderer entstammten wahrscheinlich jener Zivilisation, die von den späteren Mexikanern Olmeken genannt wurde, sie selbst jedoch gaben sich den Namen Tishquetmoacs. Sie errichteten an den westlichen und östlichen Ufern des Berges massive Häuser und Palisaden aus Holz und nannten den Berg Talanac. Talanac war zugleich ihr Name für den Jaguargott.

Der Kotchulti (wörtlich: Gotteshaus) oder der Tempel Toshkounis, der Gottheit des Schreibens, der Mathematik und der Musik, liegt auf halber Höhe der terrassenförmig angelegten Pyramidenstadt Talanac an der Straße der Verschiedensten Segnungen und erweckt beileibe nicht den Eindruck, besonders groß zu sein. Die Frontseite des Tempels zeigt das Vogel-Jaguar-Gesicht Toshkounis. Wie alles im Inneren des Berges wurde jedes der Flach- oder Hochreliefs durch Abschleifen und Bohren geschaffen. Jade kann man nicht losschlagen oder absplittern, wohl aber bohren, aber die eigentliche Schönheit des Materials zeigt sich erst, nachdem man es geschliffen hat. Reibung erzeugt Lieblichkeit und Nutzen.

Generationen von Sklaven hatten die in diesem Sektor schwarzweiß gestreifte Jade abgetragen und lediglich gemahlenen Korund als Schmirgelmasse und Werkzeuge aus Stahl und Holz verwendet. Die Sklaven hatten die Roharbeit erledigt, Handwerker und Künstler übernahmen die Feinarbeit. Die Behauptung der Tishquetmoacs, die Form sei im Stein verborgen und müsse nur freigelegt werden, schien zu stimmen – wenigstens was Talanac betraf.

»Götter verbergen – Menschen entdecken«, sagen die Tishquetmoacs. Tritt ein Tempelbesucher durch das von Toshkounis Katzenzähnen gebildete Portal, so gelangt er in eine große Höhle. Hundert rauchlos brennende Fackeln spenden Licht, durch Löcher in der Decke des Tempels dringt Sonnenlicht. Hinter einer hüfthohen, weiß-roten Jadewand steht ein Chor von Mönchen. Ihre kahlgeschorenen Schädel sind scharlachrot bemalt, und sie tragen einfache schwarze Kutten. Dieser Chor singt Lobeshymnen auf Ollimaml, den Herrn der Welt, und auf Toshkouni.

In jeder der sechs Ecken des Raumes steht ein Altar in Form und Gestalt eines wilden Tieres, eines Vogels oder einer auf allen vieren niedergekauerten jungen Frau. Kartenreliefs, kleine Tiere und abstrakte Symbole – allesamt das Resultat hingebungsvoller Arbeit und anhaltender Hingabe – sind auf den Oberflächen der Altäre zu bewundern. Auf einem Altar liegt ein Smaragd, so groß wie der Kopf eines kräftigen Mannes, und man erzählt sich eine Geschichte, die von diesem Stein und Kickaha handelt. Und in der Tat war dieser Smaragd einer der Gründe, weshalb Kickaha in Talanac so willkommen war. Vor langer Zeit war das Juwel von Khamshem-Dieben gestohlen worden. Kickaha hatte sich an deren Fersen geheftet, war ihnen auf die nächsthöhere Ebene Drachenland gefolgt und kehrte schließlich mit dem Juwel nach Talanac zurück. Er hatte es den Tishquetmoacs – gegen angemessene Belohnung – zurückgegeben. Aber das ist eine andere Geschichte.

Kickaha hielt sich in der Bibliothek des Tempels auf. Dieser gigantische Raum lag tief im Leib des Berges, und man konnte ihn nur durch den öffentlichen Altarraum und einen weiterführenden langen, breiten Korridor erreichen. Die Bibliothek wurde ebenso wie der Altarraum von Fackeln, Öllampen und vom durch Schächte in der Decke einfallenden Sonnenlicht erhellt. Die Wände waren so lange geschliffen worden, bis Tausende von flachen Nischen entstanden. In diesen Nischen bewahrten die Tishquetmoacs ihre Bücher – Rollen aus zusammengenähten Lammhäuten, die beiderseits an einem Ebenholzzylinder befestigt waren – auf. Der Zylinder eines jeden Buches war in einem hohen Jaderahmen befestigt, so dass der davorstehende Leser die Rolle bequem abwickeln konnte.

Kickaha stand direkt unter einem Lichtschacht, während Takoacol, ein Angehöriger der schwarzgekleideten Priesterschaft, ihm die Bedeutung einiger Kartenzeichnungen erklärte. Kickaha hatte die Schrift bereits während seines letzten Aufenthaltes in Talanac studiert, aber nur etwa fünfhundert der Bildsymbole in Erinnerung behalten – und flüssiges Lesen setzte die Kenntnis von mindestens zweitausend Symbolen voraus.

Mit einem seiner gelb bemalten Finger, die allesamt lange Nägel aufwiesen, zeigte Takoacol die Lage des Palastes von Miklosiml, dem Kaiser.

»Nach dem Vorbild des Herrn, der seinen prächtigen Palast auf dem höchsten Monolithen dieser seiner Welt errichtet hat, wurde der Palast des Miklosiml erbaut: auf der obersten Stufe Talanacs, der größten Stadt der Welt.«

Kickaha widersprach dem Priester nicht. Aber er musste an die Hauptstadt der Ebene Atlantis, jener Ebene, die über Drachenland existierte, denken … Diese Stadt war gut und gerne viermal so groß und mit weitaus mehr Menschen bevölkert gewesen als Talanac. Aber sie war von dem Usurpator Arwoor zerstört worden. Jetzt beherbergten die Ruinen nur noch Fledermäuse, Vögel sowie große und kleine Eidechsen.

»Aber«, fuhr der Priester fort, »während diese Welt nur fünf Ebenen aufweist, verfügt Talanac über drei mal drei mal drei Stufen beziehungsweise Straßen.«

Der Priester legte die außergewöhnlich langen Fingernägel seiner Hände zusammen, schloss die leicht schräggestellten Augen zur Hälfte und intonierte eine Predigt über die magischen und theologischen Eigenschaften der Zahlen drei, sieben, neun und zwölf. Kickaha unterbrach ihn nicht, obwohl er einige Fachbegriffe nicht verstand.

Aus dem angrenzenden Raum erklang ein seltsames Klimpern. Kickaha hörte dieses Geräusch nur ein einziges Mal – aber das genügte vollauf. Oft genug hatte er überlebt, weil er nicht zweimal gewarnt zu werden brauchte. Darüber hinaus war der Preis, den er dafür zahlte, dass er noch am Leben war, ein gewisses Maß an Ängstlichkeit. Stets bewahrte er sich ein Minimum von Anspannung, selbst in jenen Augenblicken, da er sich erholte oder ein Mädchen liebte. So hatte er noch nie einen Raum betreten, auch nicht im augenscheinlich so sicheren Palast des Herrn dieser Welt, ohne zunächst die möglichen Verstecke von Meuchelmördern sowie Fluchtwege und Verstecke für sich selbst zu erkunden.

Es gab keinen Grund anzunehmen, dass in dieser Stadt – oder gar in der geheiligten Tempelbibliothek – irgendeine Gefahr auf ihn lauerte. Aber es hatte schon viele Augenblicke gegeben, in denen eigentlich kein Grund vorhanden war, eine Gefahr zu fürchten – und doch war diese Gefahr vorhanden gewesen …

Jetzt wiederholte sich das Klimpern ganz schwach. Ohne sich bei dem Priester zu entschuldigen, rannte Kickaha zu dem Bogengang, der in jenen angrenzenden Raum führte, aus dem das unbekannte und daher unheimliche Geräusch gekommen war. Viele der schwarzgekleideten Priester blickten von ihren Stehpulten mit schräger Oberfläche auf und hielten in ihrem Tun inne. Einige hatten Landkarten auf Häute gezeichnet, andere waren im Studium von Büchern versunken gewesen. Kickaha war wie ein gutsituierter Tishquetmoac gekleidet. Er zog es vor, sich stets so zu geben und zu kleiden wie die Eingeborenen der jeweiligen Weltenebene, auf der er sich gerade aufhielt. Aber seine Haut war um einiges blasser als die der Tishquetmoacs. Außerdem trug er zwei Messer, und diese Tatsache hob ihn von anderen ab. Abgesehen vom Kaiser war er der erste Mann, der die geheiligten Räume mit Waffen betreten hatte.

Takoacol rief nach ihm und fragte besorgt, ob irgendetwas nicht in Ordnung sei. Kickaha wandte sich halb um und legte einen Finger auf die Lippen. Aber der Priester redete weiter. Kickaha zuckte die Achseln. Möglicherweise erschien er seinen Zuschauern am Ende dumm oder übertrieben wachsam. Aber das nahm er in Kauf.

Als er sich dem Bogengang näherte, vernahm er erneut das Klirren und dann ein leichtes Knirschen. Das hörte sich an, als würden sich Männer in voller Rüstung langsam, wahrscheinlich sehr vorsichtig, der Bibliothek nähern. Tishquetmoacs konnten es nicht sein, denn die Soldaten dieses Volkes trugen Rüstungen aus wattiertem Tuch. Sie besaßen zwar Waffen aus Stahl, aber die verursachten nicht derartige Geräusche.

Kickaha dachte daran, die Bibliothek zu durchqueren und später durch einen jener Ausgänge am Ende des Ganges, die er vorhin inspiziert hatte, zu verschwinden. Im Schatten eines Bogenganges stehend, konnte er die in die Bibliothek tretenden Ankömmlinge beobachten.

Aber er konnte dem Wunsch, sogleich zu erfahren, wer die Eindringlinge waren, nicht widerstehen und riskierte einen raschen Blick um die Ecke. Sieben Meter von ihm entfernt ging ein Mann in voller Stahlrüstung. Dicht hinter ihm kamen paarweise vier Ritter, dann mindestens dreißig Soldaten, Schwertkämpfer und Bogenschützen. Es mochten sogar noch mehr sein, denn die Reihe setzte sich im Hintergrund der leicht halbkreisförmig angelegten Halle noch fort. In seinem Leben war Kickaha schon viele Male überrascht, verwirrt und schockiert gewesen. Dieses Mal reagierte er langsamer als je zuvor. Mehrere Sekunden lang stand er bewegungslos, während der Eispanzer seines Schreckens von ihm abschmolz.

Der Ritter an der Spitze der Soldaten, ein schlanker Mann, dessen Gesicht zu sehen war, weil er das Visier seines Helmes hochgeklappt hatte, war Erich von Turbat, der König von Eggesheim!

Er und seine Mannen hatten auf der Ebene Amerindia überhaupt nichts zu suchen! Sie gehörten auf die nächsthöhere Ebene, nach Drachenland, waren die Bewohner des inneren Plateaus auf der Oberseite des Monolithen, der von der Ebene Amerindia aufragte. Kickaha, der in Drachenland als Baron Horst von Horstmann bekannt war, hatte König Erich von Turbat mehrmals besucht und ihn anlässlich eines Turniers sogar schon einmal aus dem Sattel gehoben.

Den König von Turbat und seine Leute auf dieser Ebene anzutreffen, war verwunderlich genug, denn dies bedeutete, dass sie dreißigtausend Meter an der schroffen Felswand des Monolithen herabgeklettert sein mussten, aber ihre Anwesenheit im Innern der Stadt Talanac war schlicht unbegreiflich. Nur einmal war es einem lebenden Wesen gelungen, die ausgeklügelten Verteidigungseinrichtungen der Stadt zu überwinden, und dieser eine, Kickaha selbst, war allein gewesen.

Kickaha schüttelte endlich seine Erstarrung ab, wandte sich um und rannte. Konnte es sein, dass die Teutonen eines der Tore, welche die augenblickliche Versetzung von einem Ort zum anderen bewirkten, benutzt hatten? Die Tishquetmoacs konnten eigentlich nicht wissen, wo sich die drei Tore befanden, ahnten nicht einmal, dass solche Tore existierten. Nur Jadawin/Wolff, seine Gefährtin Chryseis und Kickaha hatten bisher davon Gebrauch gemacht – und waren somit, in der Theorie, die einzigen, die wussten, wie man sie benutzte.

Dennoch waren die Teutonen hier. Wie es ihnen gelungen war, die Tore ausfindig zu machen und wie sie dann nach Talanac gekommen waren, das waren Fragen, die – wenn überhaupt – erst später beantwortet werden konnten.

Kickaha spürte Panik in sich aufflackern, und er versuchte verzweifelt, ihrer Herr zu werden. König von Turbats Anwesenheit auf der Ebene Amerindia konnte eigentlich nur eine Ursache haben: Einem fremden Lord war es gelungen, erfolgreich in Jadawins Universum einzudringen. Wenn es ihm möglich war, Männer hinter Kickaha herzujagen, bedeutete dies, dass Jadawin/Wolff und Chryseis nicht in der Lage waren, ihn daran zu hindern. Wenn sie überhaupt noch lebten, dann waren sie hilflos, machtlos und benötigten dringend seine Hilfe. Ha! Seine Hilfe! Er lief wieder einmal um sein Leben!

Es gab drei verborgene Tore. Zwei davon befanden sich im Tempel Ollimamls, der sich in unmittelbarer Nähe des kaiserlichen Palastes auf dem Gipfelpunkt der Stadt befand. Eines dieser beiden Tore war groß genug, um den König von Turbat und seine Leute hindurchzulassen. Es bedurfte einer größeren Streitmacht, um die vielarmige und fanatische Leibwache des Kaisers zu überwältigen.

Es sei denn, schränkte Kickaha ein, es sei denn, den Eindringlingen war es gelungen, den Kaiser als Geisel zu nehmen. Die Tishquetmoacs würden den Befehlen ihres Herrschers gehorchen, selbst dann, wenn sie genau wussten, dass es die Befehle seiner Bewacher waren – wenigstens eine Zeitlang. Aber die Bewohner Talanacs waren menschliche Wesen und keine Ameisen, und irgendwann würden sie revoltieren. Sie huldigten ihrem Kaiser als einer Inkarnation Gottes, der gleich nach dem allmächtigen Schöpfer Ollimaml kam, aber zugleich liebten sie ihre Jadestadt. Zweimal in der Geschichte der Tishquetmoacs hatte es einen Gottesmord gegeben.

In der Zwischenzeit … In der Zwischenzeit hetzte Kickaha jenem Bogengang entgegen, der jenem, durch den die Invasoren jeden Moment treten mussten, gegenüberlag. Ein Ruf trieb ihn an. Gleich darauf ertönte gellendes Geschrei. Einige der Priester schrien auf, aber einige Rufe hörten sich auch nach dem entwurzelten Mittelhochdeutsch der Teutonen an. Das Klirren von Rüstungen und Schwertern bildete einen hektischen Hintergrund für den Aufruhr von Stimmen.

Kickaha hoffte, dass alle Invasoren von Drachenland hinter ihm waren. Wenn sie es irgendwie geschafft hatten, alle Eingänge zur Bibliothek zu besetzen … Nein, das war unmöglich. Der Korridor, den er entlangrannte, mündete seines Wissens in einer Gewölbehalle, die tiefer in den Jadeberg hineinführte. Man konnte sie durch andere Gewölbehallen betreten, aber kein einziger Korridor führte von diesen Hallen aus ins Freie. So zumindest hatte man es ihm erzählt. Möglicherweise stimmten seine Informationen nicht, vielleicht hatten seine Informanten aus irgendeinem Grund gelogen, oder sie hatten ihn angesichts seiner unzulänglichen Tishquetmoac-Sprachkenntnisse missverstanden.

Wie auch immer, ihm blieb nur dieser Korridor als Fluchtweg. Und das war selbst dann ein Nachteil, wenn vor ihm keine Invasoren liefen, denn der Korridor würde irgendwo in der Tiefe des Jadeberges enden.

Drittes Kapitel

 

Die Bibliothek der Tishquetmoacs war ein riesiger Raum. Fünfhundert Sklaven hatten – bei einem täglichen Arbeitseinsatz von vierundzwanzig Stunden – zwanzig Jahre benötigt, um bohrend und schleifend die Roharbeiten fertig zu stellen. Die Entfernung von jenem Bogengang, aus dem Kickaha gekommen war, bis zu jenem, den er für seine Flucht ausgewählt hatte, betrug fast einhundertachtzig Meter. Einigen Invasoren blieb also ausreichend Zeit, um in die Bibliothek einzudringen, ihn zu erblicken – und zu feuern.

Kickaha wusste dies nur zu gut, und deshalb rannte er wie ein flüchtender Hase im Zickzack. Dann war der Bogengang ganz nah … Er warf sich vorwärts und rollte in die Sicherheit. Pfeile schrammten über ihn hinweg und klatschten gegen die steinernen Wände, andere prallten dicht neben ihm vom Boden ab.

Kickaha verlor keine Zeit. Er sprang auf die Beine und eilte weiter den Gang entlang. Schließlich kam er an die unvermeidliche Biegung. Er wurde langsamer und blieb schließlich stehen. Zwei Priester schritten an ihm vorüber. Sie sahen ihn erstaunt an, sagten jedoch nichts. Und dann vergaßen sie ihn ganz, als schrille Schreie zu hören waren; sie wandten sich um und rannten in jene Richtung, aus der er gerade gekommen war.

Es wäre klüger, wenn sie in die entgegengesetzte Richtung laufen würden, überlegte Kickaha. Die Geräusche und Schreie hinter ihm ließen darauf schließen, dass die Männer von Drachenland die Priester in der Bibliothek umbrachten.

Es gab keinen Zweifel daran, dass die beiden Priester seinen Verfolgern in die Hände fielen. Das mochte die Häscher ein paar Minuten lang aufhalten. Er bedauerte den Tod der beiden, aber er trug daran keine Schuld. Oder vielleicht doch? Dennoch hatte er nicht vor, sie zu warnen – sein Schweigen erhielt ihm seinen Vorsprung vor den Verfolgern.

Er rannte weiter. Wenige Meter vor einer weiteren Fünfundvierzig-Grad-Biegung vernahm er die Schritte hinter sich. Er blieb stehen, nahm eine brennende Fackel aus der Wandhalterung und hielt sie hoch. Sieben Meter über seinem Kopf befand sich ein rundes Loch in der Korridordecke. Es war dunkel. Vermutlich krümmte sich der Schacht irgendwo, bevor er sich mit einem anderen vereinigte.

Der gesamte Berg war von Tausenden solcher Schächte durchzogen. Da die Sklaven, die die Tunnel und Schächte in die Jade getrieben hatten, unmöglich auf kleinerem Raum arbeiten konnten, betrug der Durchmesser aller Schächte mindestens einen Meter.

Verzweifelt suchte Kickaha nach einer Möglichkeit, zu dieser Schachtöffnung hinaufklettern zu können. Schließlich aber musste er aufgeben. Es war unmöglich, dort hinaufzugelangen.

Nicht weit entfernt scheuerte Metall gegen Stein. Kickaha rannte um die Korridorbiegung, drückte sich gegen die Wand und wartete. Die Schritte kamen näher.

Der erste Bogenschütze bekam eine brennende Fackel ins Gesicht. Er schrie auf, taumelte zurück und riss den hinter ihm gehenden Schützen zu Boden. Die konisch geformten Stahlhelme der beiden schepperten zu Boden.

Kickaha hetzte weiter, zerrte den Mann, dessen Gesicht er mit der Fackel verunstaltet hatte, hoch und benutzte ihn als Schutzschild. Gleichzeitig zog er das Langschwert des Mannes aus der Scheide. Der Bursche schien das überhaupt nicht wahrzunehmen. Mit beiden Händen hielt er sein Gesicht und schrie seine Angst heraus, erblindet zu sein. Inzwischen war auch der Soldat, den er umgerissen hatte, wieder auf den Beinen und hinderte so die nachfolgenden Bogenschützen daran, auf Kickaha zu schießen. Kickaha richtete sich auf und ließ die Schwertklinge auf den ungeschützten Kopf des Soldaten niedersausen. Dann drehte er sich um und rannte davon.

Die Bogenschützen schossen, aber zu spät. Die Pfeile prasselten gegen die Wände. Kickaha betrat einen großen Lagerraum. Hier gab es eine Vielzahl von Gerätschaften – aber nur die langen, ausziehbaren Leitern, die zum Gebrauch in der Bibliothek bestimmt sein mochten, zogen seine Aufmerksamkeit auf sich. Kickaha beeilte sich. Er stellte eine Leiter auf und lehnte das obere Ende gegen die Wand eines Schachtes in der Decke. Das Langschwert legte er am Fuß der Leiter nieder. Dann nahm er eine andere Leiter und rannte quer durch die Halle, um schließlich durch ein Portal in eine Nebenhalle zu gelangen. Er suchte und fand einen weiteren Deckenschacht.

Rasch stellte er die Leiter auf und stieg empor. Den Rücken gegen die eine Wand des Schachtes gestemmt, die Füße gegen die andere, arbeitete er sich in der Höhlung aufwärts, während er hoffte, dass sein kleines Täuschungsmanöver seine Verfolger lange genug aufhalten würde. Selbst wenn sie ihre Pfeile in das dunkle Loch hinaufjagten, würden sie bald feststellen, dass er nicht wie ein Bär herunterzuholen war, der sich in einem hohlen Baum verkrochen hatte. Außerdem lag der Schluss nahe, dass er es rechtzeitig geschafft hatte, in einen der waagerecht abzweigenden Gänge zu gelangen. Einige von ihnen würden dieser vermeintlichen Spur folgen. Und vielleicht machten sie lange genug halt, um ihre schweren Kettenhemden, die Röcke, die Beinverkleidungen und die Stahlhelme abzulegen.

Kickaha grinste. Aber dann sagte er sich, dass er noch lange keinen Grund zum Aufatmen hatte. Wenn die Teutonen schlau waren, dann merkten sie möglicherweise recht schnell, dass er ihnen einen Streich spielte. Sie würden ausschwärmen und die anderen Hallen erforschen. Und dann würden sie die Leiter und diesen Schacht entdecken und ihm einen Pfeil in den Körper jagen.

Von diesem Gedanken angetrieben, begann er schneller zu klettern. Die Füße fest gegen die Wand gepresst, die Beine langsam ausstreckend, schob er seinen Oberkörper einige Zentimeter in die Höhe. Nachdem er den Rücken fest gegen die Wandung gedrückt hatte, zog er die Füße nach. Millimeter um Millimeter, Zentimeter um Zentimeter gewann er so an Höhe. Glücklicherweise bestanden die Schachtwände aus fugenlos glatter Jade – nicht etwa aus rauem Stahl, Stein oder Holz.

Nachdem er knapp sieben Meter – wenn er jetzt den Halt verlor, bedeutete dies einen Sturz in fünfzehn Meter Tiefe – hinter sich gebracht hatte, gelangte er an einen rechtwinklig abzweigenden Schacht.

Er musste sich drehen, um in den Seitenschacht hineinzugelangen. Er sah die Leiter tief unter sich. Sie war noch immer gegen die Schachtwand gelehnt. Kein Ton war zu hören. Kickaha hielt sich nicht länger auf. Er zog sich vollends in den waagerecht verlaufenden Stollen hinauf.

In diesem Augenblick hörte er, ganz leise, eine Stimme. Die Soldaten Erich von Turbats mussten auf seinen Trick hereingefallen sein. Möglicherweise kletterten sie jetzt durch die erste Röhre in die Höhe – oder sie hatten die anstrengende Klettertour bereits hinter sich gebracht und befanden sich nun ebenfalls in dem Stollen, in dem er sich aufhielt. Wenn er sich nicht irrte, so verband dieser Stollen nämlich die in die Hallen hinabführenden Schächte miteinander.

Kickaha beschloss, ihnen den Mut zu nehmen. Auch wenn es ihm gelang, einen Weg zu finden, der ihn aus diesem Röhren- und Schachtsystem herausführte, so konnte es ihm durchaus passieren, dass sie direkt hinter ihm waren. Oder – was noch schlimmer wäre – direkt unter ihm. Es war anzunehmen, dass sich seine Häscher weder von ihren Bogen noch von ihren Pfeilen getrennt hatten. Und wenn dies der Fall war, konnten sie ihn völlig gefahrlos abschießen.

Er versuchte, sich zu orientieren und herauszufinden, in welcher Richtung der Schacht lag, an dessen unterem Ende er die erste Leiter zurückgelassen hatte. Vorsichtig kroch er weiter und erreichte schließlich einen Röhrenknotenpunkt. Drei waagerechte Tunnel trafen sich über einem senkrecht in die Höhe führenden Schacht. Hier war das Zwielicht des Labyrinths ein bisschen heller. Kickaha sprang über die Schachtöffnung und näherte sich dem Lichtschein.

Als er vorsichtig um eine Biegung spähte, erblickte er den Teutonen. Der Mann stand vornübergebeugt und wandte ihm den Rücken zu. Ein Mann, der sich noch im Schacht befand, reichte seinem Gefährten eine Fackel und fluchte, weil die Fackel seine Haut versengt hatte. Der andere flüsterte gepresst zurück, er möge still sein.