Lost and Found in Wonderland - Johanna Danninger - E-Book

Lost and Found in Wonderland E-Book

Johanna Danninger

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Beschreibung

Bist du bereit, die blaue Tür zu öffnen? Studentin Mia ist aufgrund ihrer traumatischen Vergangenheit zur Einzelgängerin geworden und hält andere rigoros auf Abstand. Trotzdem überredet ihr älterer Bruder Hannes sie zu einer geheimnisvollen Party, die ihr Leben auf den Kopf stellt. Nicht nur, weil sie dort auf den attraktiven Elias trifft, der ihre Schutzmauern erschreckend leicht ins Wanken bringt. Ein mysteriöses Serum katapultiert die Clique in eine fantastische Traumwelt, in der man die verrücktesten Abenteuer erleben kann. Angeblich alles völlig harmlos – bis sie plötzlich angegriffen werden und Hannes in Wonderland verschwindet. Einzig Mia scheint ihn finden zu können. Gemeinsam mit Elias, dessen Blick sehr viel tiefer geht als ihr lieb ist, muss sie sich nicht nur unbekannten Gefahren, sondern auch ihren eigenen Ängsten stellen, um ihren Bruder zu retten. Denn Wonderland birgt ein düsteres Geheimnis. Und jemand versucht zu verhindern, dass Mia der Spur zur Wahrheit folgt …

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Content Note
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Epilog
Impressum

 

 

 

 

 

 

Lost and Found in Wonderland

 

 

Johanna Danninger

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Content Note

 

Liebe Leserinnen und Leser,

 

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte.

Die Auflistung spoilert die Geschichte, darum findet ihr sie hier:

 

www.johanna-danninger.de/content-note

Prolog

Im Einkaufszentrum herrschte alltäglicher Betrieb. Passanten zogen ihrer Wege, erledigten Dinge, tranken Kaffee und bildeten in ihrer Gesamtheit nicht mehr als eine unbedeutende Hintergrundkulisse. Namenlose Statisten. Nicht wichtig genug, um sich an sie zu erinnern.

Nur zwei junge Frauen stachen überdeutlich aus der gesichtslosen Masse hervor. Beide waren mit Schlammspritzern überzogen, die Kleidung zerrissen, und zahlreiche Kratzer, Schürfwunden und Schrammen zierten, was von ihrer Haut zu sehen war. Vorsichtig, stets alles im Blick behaltend, gingen sie den Hauptflur in der oberen Etage entlang, vorbei an einem Modegeschäft nach dem anderen.

Paulina strich sich ihre dunklen Locken hinters Ohr. Sie hätte ihren Zopf neu binden müssen, doch dazu bräuchte sie beide Hände. Ihre Freundin Anna ließ ihre Hand allerdings schon seit der Rolltreppe nicht mehr los. Sie umklammerte sie so fest, dass Paulinas Finger allmählich taub wurden.

»Ich will nicht mehr weitergehen«, krächzte Anna und schüttelte aufgewühlt ihre knallrot gefärbte Kurzhaarfrisur. »Ich halte das nicht mehr aus!«

»Wir müssen«, erwiderte Paulina und wünschte, sie würde sich genauso gefasst fühlen, wie sie sich anhörte. »Die blaue Tür ist verschlossen. Es gibt keinen Weg zurück, darum bleibt uns gar nichts anderes übrig als dem roten Faden zu folgen.«

Anna stieß einen abschätzigen Laut aus. »Vielleicht hat er überhaupt kein Ende.«

»Das glaube ich nicht. Er hat immerhin einen Sinn.«

»Das kannst du nicht sicher wissen! Es war schließlich nur Bens plausibelste Theorie dazu.« Anna biss sich auf die Unterlippe. Nach ein paar Schritten sagte sie leise: »Ich hoffe, er und Kilian sind noch am Leben.«

Paulina nickte bloß schweigend. Was hätte sie auch sagen sollen? Natürlich hoffte sie ebenfalls aus tiefstem Herzen, dass ihre Freunde noch am Leben waren. Aber wissen konnte sie es nicht. Sie hatte keine Ahnung, was mit ihnen geschehen war, nachdem er sie sich geholt hatte.

»Und wenn wir einfach hier bleiben?«, fragte Anna. »Hier scheint es sicher zu sein.«

»In Wonderland ist es nirgends sicher«, entgegnete Paulina überzeugt.

Dabei war ihr dieser Gedanke auch schon gekommen. Zu verlockend waren die trügerische Sicherheit der Menschenmenge, die vertrauten Alltagsgeräusche und die Gerüche des gewöhnlichen Lebens.

Denn die Wahrheit war, dass Paulina auch nicht mehr weiter gehen wollte. Sie hatte sich selbst für eine Kriegerin gehalten. Eine starke Frau, die das Leben gelehrt hatte, zu kämpfen. Aus einer erschütternden Erfahrung hatte sie sich herausgeboxt, Stück für Stück ihre tiefsten Ängste besiegt und sich aufgerichtet, weil sie nie wieder jemandem unterlegen sein wollte.

Doch ihm war sie unterlegen. Haushoch, im wahrsten Sinne.

Gegen ihn war sie machtlos. Nichts als ein kleines Beutetier, das entweder fliehen oder sich verstecken konnte.

Im Grunde befanden sie sich schon die ganze Zeit auf der Flucht und Paulinas verbliebender Kampfgeist klammerte sich ausschließlich an der Tatsache fest, dass Anna ohne sie überhaupt keine Chance hatte, den Weg aus Wonderland zu finden. Es war ihre Freundin, für die sie immer noch einen Fuß vor den anderen zwang, obwohl längst alles in ihr danach schrie, sich zu verkriechen und darauf zu hoffen, dass dieser Albtraum von selbst ein Ende nahm.

Paulina holte Luft, um Anna, und auch sich selbst, Mut zuzusprechen. Bevor jedoch das erste Wort ihren Mund verlassen konnte, brachte sie ein eiskalter Schauer der Furcht zum Schweigen.

Sämtliche Passanten um sie herum waren abrupt stehen geblieben. Reglos verharrten sie an Ort und Stelle, als wären sie alle zu Schaufensterpuppen geworden. Entsprechend waren auch sämtliche Geräusche auf einen Schlag verstummt und jetzt begleitete nur noch eine gespenstische Stille den irrealen Moment.

Anna fuhr zu Paulina herum. Pures Grauen stand in ihren aufgerissenen Augen und mit einer Stimme blanker Angst wisperte sie: »Er hat uns gefunden.«

 

 

Kapitel 1

Der Hörsaal war abgedunkelt, um der Power-Point-Präsentation des Dozenten ein harmonisches Lichtkonzept zu gewähren. Die schweren Vorhänge an der seitlichen Fensterfront verrichteten einen ordentlichen Dienst. Nur zwischen dem zweiten und dritten Fenster fügten sich die Stoffe nicht ganz aneinander und ließen einen verheißungsvollen Strahl Junisonne herein.

Der Lichtschein durchschnitt die Reihen mit den Studentinnen und Studenten der Kommunikationswissenschaften, als wolle er die Ansammlung in zwei Hälften teilen. Vorne die hochkonzentrierten Leute, und hinter der gleißenden Linie die nicht ganz so konzentrierten. Denn es war nun mal ein physikalisches Gesetz, dass die Aufmerksamkeit mit wachsender Entfernung zum Dozenten exponentiell abfiel.

Ich saß ganz hinten in der linken Ecke und um meine mangelnde Aufmerksamkeit wäre es in der ersten Reihe auch nicht anders bestellt, denn Professor Henning war mit Abstand der schnarchigste Gastredner, der mir je untergekommen war. Seine Sprechweise passte eins zu eins zu seinem ockerbraunen Tweet-Jackett: Ungemein eintönig, und man verlor innerhalb von Sekunden das Interesse. Dazu kam, dass Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie an sich schon wenig mitreißend war und den trägen Bewegungen nach zu urteilen, mit denen sich der Professor durch die Präsentation klickte, langweilte ihn wohl sein eigener Vortrag.

Meine Hauptbeschäftigung während der Vorlesung galt der experimentellen Frage, wie viele Umdrehungen es brauchte, um eine meiner getönten Haarsträhnchen komplett auf einen Bleistift zu wickeln. Zwischen zehn und zwölf, je nach Haarpartie.

Na, Gott sei Dank war das endlich geklärt.

Zusätzlich führte mich diese intensive Untersuchung zu der Erkenntnis, dass ich am Abend dringend nachfärben musste, denn das Zuckerrosa war schon zu sehr ausgewaschen und in meinem naturblonden Haar kaum noch erkennbar.

Ein zurrendes Geräusch riss mich aus meinen Gedanken.

Irritiert blinzelte ich gegen das Sonnenlicht an, das plötzlich den Hörsaal flutete, weil zwei Studentinnen die Vorhänge aufgezogen hatten. Professor Henning bemühte sich noch um freundliche Abschiedsworte, die jedoch in dem Geraschel von Rucksäcken und Knarzen von Klapptischen sang und klanglos untergingen.

Es war schon später Nachmittag, das Wetter war fantastisch und nicht einmal der eloquenteste Redner der Welt hätte uns davon abhalten können, fluchtartig den Raum zu verlassen.

Mit wenigen Griffen packte ich meine sieben Sachen, stülpte mir den Riemen meiner Umhängetasche über den Kopf und fügte mich in den Strom meiner Kommilitonen ein, der mich präziser als jedes GPS auf direktestem Wege durch das Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der LMU München trug. Unsere Schritte hallten laut durch das Treppenhaus des eher unspektakulären Gebäudes, und zusammen mit den vielen fröhlichen Gesprächen klang es, als würde sich ein überdimensionaler Bienenschwarm geschäftig einen Weg ins Erdgeschoss bahnen.

Erst außerhalb des Haupteingangs lichtete sich die surrende Menge um mich herum. Die meisten versammelten sich in kleinen Grüppchen zu einem Abschiedsplausch. Ich schlängelte mich im Zickzack hindurch, hob nur hin und wieder eine Hand, um einen Gruß zu erwidern, und als ich den Vorplatz verlassen und auf den Gehweg einer Nebenstraße eingebogen war, stellte sich endlich wohltuende Ruhe in meiner direkten Umgebung ein. Hier herrschte kaum Verkehr. Außerdem grenzte das riesige Areal des Englischen Gartens direkt an, daher waren bloß aus der Ferne die trubeligen Laute einer Großstadt zu hören.

Um mir meinen Fußweg ins Wohnheim mit ein wenig Musik zu versüßen, holte ich Kopfhörer und Handy aus der Tasche. Zwei neue Nachrichten. Die erste war von meinen Eltern, inklusive Selfie an einer Schiffsreling mit nichts als weitem Ozean im Hintergrund, und lautete, dass die Kreuzfahrt nach wie vor fantastisch war und sie sich in ein paar Tagen wieder melden würden, sobald sie den nächsten Hafen anliefen. Mit Mobilfunk war auf hoher See nämlich nix los und das Satelliteninternet-Angebot des Schiffs grenzte preislich an eine Frechheit.

Ich persönlich fand es aber eigentlich ganz gut, dass meine Eltern dadurch zu einem Digital-Detox gezwungen wurden. Vor allem meiner Mutter schadete das wirklich nicht, denn die verschwand regelmäßig im Social Media Hole und ärgerte sich anschließend über sich selbst, weil sie doch nur mal eben schnell gucken wollte.

Die zweite Nachricht war von meinem älteren Bruder Hannes. Er studierte ebenfalls an der LMU, allerdings befand sich seine Fakultät für Betriebswirtschaftslehre von hier aus gesehen auf der anderen Seite des Englischen Gartens und sein Wohnheim lag nochmal ein gutes Stück weiter weg, darum kreuzten sich unsere Wege rein studientechnisch so gut wie gar nicht.

In unserem persönlichen Umfeld gab es auch keine Überschneidungen. Hauptsächlich, weil ich gar kein persönliches Umfeld hatte. Mit mir und persönlichen Umfeldern war das nämlich so eine Sache, darum verzog ich sofort das Gesicht, weil Hannes mich fragte, ob ich ihn heute Abend zu einer Privatparty begleiten würde.

Er gab einfach nicht auf. Ich liebte meinen Bruder wirklich über alles, doch dass er mich ständig aus meinem Schneckenhaus herauszulocken versuchte, ging mir inzwischen echt auf die Nerven. Ich war aktuell sehr zufrieden als Einzelgängerin. Ob das auf Dauer gesund war, sei mal dahingestellt, aber da ich derzeit keineswegs das Gefühl hatte, irgendetwas zu vermissen oder zu verpassen, konnte es für mich nicht falsch sein, oder? Scheinbar brauchte ich den Abstand noch. Mir ging es wunderbar damit.

Meine Antwort lautete: Sorry, hab heute schon was vor. Aber wie wär´s morgen mit Mittagessen?

Bis ich meine Playlist gestartet hatte, kam von Hannes gleich die Retoure in Form eines GIFs eines Cartoonhündchens mit herzzerreißendem Dackelblick. Den hatte mein Bruder auch in echt ziemlich gut drauf, darum musste schmunzeln.

Dazu schrieb er: Gib dir nen Ruck! Wir haben uns seit ner gefühlten Ewigkeit nicht gesehen. Ich will bloß ein bissl mehr Zeit mit meiner Schwester verbringen. Die Party is bei Darius. Das wird lustig!

Ich biss mir auf die Unterlippe. Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte ich, ihn vielleicht doch zu dieser Party zu begleiten. Musste ja nicht lange sein. Denn in einem Punkt gab ich Hannes recht – wir sahen uns viel zu selten. Obwohl uns kaum zwei Kilometer Luftlinie trennten, telefonierten wir unterm Strich deutlich häufiger, als dass wir uns trafen.

Aber eine Party? Bei seinem Studien-Kumpel Darius, den ich jetzt nicht sonderlich sympathisch fand? Ah, nee. Lieber nicht.

Darum tippte ich: Wie erwähnt, heute geht´s bei mir nicht. Was is mit Mittagessen morgen? Da können wir in Ruhe quatschen.

Das Icon, dass er gerade eine Antwort eintippte, erschien. Dann verschwand es wieder. Dann tauchte es wieder auf. Während ich den Gehweg entlang ging, behielt ich das Display im Auge, bis schließlich eine Nachricht aufploppte: Na, gut. Ich werde dich abholen. See ya!

Nach einem tiefen Atemzug schrieb ich: Freu mich drauf! Und dir viel Spaß heute Abend!

Danach steckte ich mein Handy ein. Ich war erleichtert, hatte zugleich aber auch ein schlechtes Gewissen, weil ich genau wusste, dass es Hannes etwas bedeutet hätte, wäre ich auf die Party mitgegangen. Er wiederum wusste ganz genau, warum ich mich lieber mit ihm alleine zum Plaudern treffen wollte. Genau darum gingen mir seine unablässigen Versuche, mich in das gesellschaftliche Studierendenleben zu integrieren, ja so auf die Nerven, denn letztlich endete es immer damit, dass er von meiner Absage enttäuscht war und ich mich deswegen mies fühlte. Darüber mussten wir morgen unbedingt nochmal ausführlich sprechen.

Tief in Gedanken versunken, erreichte ich mein Wohnheim. Viele gab es davon in dieser Gegend nicht, darum konnte ich mich wirklich glücklich schätzen, ein Zimmer ergattert zu haben. Bei bezahlbarem Wohnraum in München durfte man dann halt auch nicht viel erwarten. Mein Zimmer befand sich in einem tristen Betonklotz, der dringend eine Renovierung benötigte. Oder wenigstens einen neuen Anstrich, um nicht ganz so trostlos zu wirken. Unter den Fenstern hatten sich Schlieren von vergangenen Regengüssen an der Fassade gebildet. Ich fand, es sah ein bisschen so aus, als würde das Gebäude weinen.

Eine Außenanlage gab es nicht wirklich, sofern man die beiden Parkbänke auf dem Vorplatz nicht als solche zählte. Vor dem Haupteingang befand sich zudem ein schwarzes Brett mit kleiner Überdachung, das eigentlich den einzigen Hinweis darauf gab, dass in diesem Gebäude ausschließlich Studierende lebten. Trotz Social Media wurde es ausgiebig zur Kommunikation genutzt. Unzählige Zettel in verschiedensten Farben waren daran gepinnt. Von Fahrgemeinschaftssuchen über Nachhilfe bis hin zu Flashmob-Aufrufen war alles dabei. Da sich niemand die Mühe machte, die alten Zettel abzumachen, konnte man in den Schichten die Vergangenheit der Universität ablesen, wie in den Jahresringen eines Baumstamms.

Ich betrat das muffige Wohnheim und stieg hinauf in den zweiten Stock. Im Gemeinschaftsraum fläzten ein paar Leute auf den abgewetzten Sofas und diskutierten lautstark miteinander. Da ich im Vorbeigehen die Stichworte »Craft Beer« und »Reinheitsgebot« aufschnappte, verpasste ich vermutlich keine bedeutenden Erkenntnisse.

Nach der üblichen Auseinandersetzung mit dem wackeligen Türschloss meines Zimmers betrat ich mein Reich. Knapp zwölf Quadratmeter, bestückt mit Bett, Schreibtisch und Kleiderschrank, und angrenzend eine Art Duschklo, das man wohlwollend als Badezimmer bezeichnen könnte.

Mein überquellendes Bücherregal war mein voller Stolz. Um so etwas wie Ambiente zu erschaffen, setzte ich hauptsächlich auf verschiedene Lichterketten, die sich um alles Mögliche rankten. Ich mochte Lichterketten eben. Aus Platzgründen hing mein schwarzer Boxsack direkt vor dem einzigen Fenster. Das nahm dem Raum natürlich etwas Tageslicht, aber so musste ich nicht ständig ins Fitnessstudio rennen. Dort ging ich zwar trotzdem regelmäßig hin, weil ich mich hier natürlich nicht annähernd austoben konnte, ohne aus Versehen das Fenster mit dem Boxsack einzuschlagen, aber um zwischendurch mal darauf einzuprügeln reichte es. Da das ziemlich oft vorkam, lagen meine Kickboxhandschuhe griffbereit am Eck vom Schreibtisch.

Das sah alles professioneller aus, als es war, denn ich betrieb nicht wirklich Kampfsport in einem Verein oder dergleichen. Zumindest nicht mehr.

Während meines letzten Schuljahres war ich beim professionellen Kickboxtraining gewesen und hatte in dieser Zeit die Grundlagen gelernt. Ich konnte mich hervorragend selbst verteidigen und was ich seitdem als Training bezeichnete, diente mehr dem Konditionserhalt und ... nun ja. Nennen wir es Aggressions-Auslass-Ventil.

Ich warf meine Tasche aufs Bett und atmete tief durch. Das hier war mein Rückzugsort. Meine Oase. Meine Bat-Cave. Nur deutlich farbenfroher, kleiner und leider ohne Superkräfte. Wobei Batmans Superkraft heruntergebrochen auch bloß immenser Reichtum war. Wie auch immer.

Im Bad überprüfte ich erst mal den Stand meiner Haartönungssammlung. Mir wäre eigentlich nach Veilchenlila, aber ausgerechnet dieses Töpfchen gab nicht mehr genug her. Ich hatte keine große Lust, mir heute noch Nachschub zu besorgen, darum würde es wohl doch wieder Rosarot werden.

Aber zuvor ging es noch dem Boxsack an den Kragen.

 

***

 

Die Abendsonne schickte warme Strahlen über die Stadt. Im Gemeinschaftsraum lief laute Musik, deren gedämpfte Bässe bis zu meinem Zimmer wummerten. Ich saß am Schreibtisch und war in ein Fachbuch zum Thema Medienrecht vertieft. Immer, wenn ich mich bewegte, übertönte das Knistern der Alufolienstreifen auf meinem Kopf kurz die Hintergrundgeräusche.

Ich warf einen schnellen Blick auf die Uhr. Eine halbe Stunde Einwirkzeit hatte ich bereits hinter mir. Laut Hersteller sollte das ausreichen, aber ich beschloss, der Tönung noch ein wenig Zeit zu geben.

Kaum hatte ich mich wieder auf den Text konzentriert, klopfte es an meiner Zimmertür. Wahrscheinlich Silvie von gegenüber, die mal wieder ihr Ladekabel irgendwo liegen gelassen hatte. Ihr Ladekabel-Verschleiß war wirklich enorm.

Ohne mich um meine Alufolien-Frisur zu scheren machte ich auf und wurde wieder Erwartens von Hannes angegrinst.

Dass er mein Bruder war, erkannte man auch auf den ersten Blick nicht wirklich, denn wir hatten rein gar nichts gemein. Seine Haare waren dunkelblond und er hatte braune Augen, während meine Haare deutlich heller und meine Augen blau waren. Außerdem überragte Hannes mich um einen Kopf. Was nicht schwierig war, denn ich war nicht zwingend hoch geraten.

Gut, wahrscheinlich bewegte ich mich im weiblichen Durchschnitt, aber meinetwegen hätte ich gern noch ein paar Zentimeter höher sein dürfen.

»Heeey«, begrüßte ich ihn langgezogen und mit wenig Begeisterung, weil ich ahnte, worauf sein Spontanbesuch abzielte. Hannes trug nämlich seine klassische Ausgehfrisur und hatte definitiv einen Sprühstoß Parfum mehr aufgelegt als im Tagesgeschehen.

Er deutete belustigt auf meinen Kopf. »Wenn du dich vor Gedankenkontrolle schützen willst, muss die Alufolie aber den ganzen Kopf bedecken.«

»Ach, deswegen redet die Stimme immer noch mit mir!«, scherzte ich und musterte ihn unschlüssig. »Ähm ... was machst du hier?«

»Na, dich abholen. Wie ich gesagt habe.«

Ich verzog das Gesicht. »Hatten wir das nicht für morgen Mittag vereinbart?«

»Du vielleicht«, erwiderte Hannes salopp. Er schlenderte an mir vorbei, schob meine Lernunterlagen beiseite und setzte sich auf den Schreibtisch, bevor er mich anklagend ansah. »Mia, so kann das nicht weitergehen.«

Mit einem Seufzen schloss ich die Tür. »Da gebe ich dir recht. Du musst unbedingt damit aufhören, dir Sorgen um mich zu machen. Es geht mir prächtig.«

»Hm.« Er verschränkte die Arme. »Du meintest selbst, das Studium wäre dein Neuanfang. Neue Stadt, neue Leute, neue Chance. Bislang hast du nichts davon wahrgemacht. Stattdessen verkriechst du dich hier drin und deine einzigen sozialen Kontakte finden in Hörsälen statt.«

»Stimmt nicht«, widersprach ich und verschränkte ebenfalls die Arme. »Ich bin außerdem in einer Lerngruppe.«

Er zog bloß eine Braue hoch, weil mein Argument unbestreitbar dürftig war. »Mia, du weißt, dass ich deine Gründe kenne und auch verstehe, aber ich fürchte, ohne Arschtritt kommst du aus dieser Bubble nicht mehr raus. Und wenn du da nicht rauskommst, wird dein ganzes Leben an dir vorbeiziehen.«

Mir war klar, dass er damit nicht ganz unrecht hatte. Trotzdem kaute ich missmutig auf meiner Unterlippe, bevor ich entgegnete: »Ich glaube nicht, dass ich eines Tages bereuen werde, während des Studiums nicht von einer Party zur nächsten getorkelt zu sein. Die sind auch nicht anders als alle Teenage-Besäufnisse, die ich im wahrsten Sinne bis zum Erbrechen mitgemacht habe. Außer vielleicht, dass man keinen gefälschten Ausweis mehr braucht.«

»Es geht doch überhaupt nicht darum, dich sinnlos zu besaufen.« Hannes seufzte schwer. »Du sollst einfach mal was mit anderen Leuten erleben.«

»Erleben? Im Sinne eines großen, aufregenden Abenteuers, oder was?«

Mit geheimnisvollem Schmunzeln wiegte er den Kopf. »Du kannst dir deinen Sarkasmus sparen, Schwesterherz. Heute Abend geht es nämlich tatsächlich um ein Abenteuer.«

Ich musterte ihn ratlos. »Was soll das denn für eine Party sein? So ein Roleplay-Ding? Oder ein Krimidinner? Lasertag?« Ich hüstelte. »Gut, jetzt bin ich neugierig, also sag schon.«

»Nein. Das bleibt mein Geheimnis, in das ich dich erst einweihen werde, wenn du auch wirklich mitkommst.«

Zwiegespalten knirschte ich mit den Zähnen. Keine Ahnung was das Gedöns mit diesem Abenteuer sollte, aber wie wichtig es Hannes offenkundig war, dass ich mitkam, ließ mich natürlich nicht kalt. Vorsichtig fragte ich: »Bei Darius, ja? Ist das weit von hier?«

»Drei U-Bahn-Stationen«, antwortete er. »Und ich verspreche dir, dass ich dich nach Hause begleite, wann immer du willst. Es werden auch nicht allzu viele Leute da sein. Eine nette, gesellige Runde. Darunter jemand, den ich dir unbedingt vorstellen will. Dass du die meisten meiner Kumpels nicht kennst, kann ich ja verkraften. Aber ich finde schon, dass du zumindest meine Freundin kennen solltest.«

Sofort horchte ich auf. »Sekunde! Soll das heißen, du bist jetzt endlich fest mit Amira zusammen?«

»Japp. Genau das soll es heißen.«

Ich lachte leise über sein cooles Getue, weil er das glückliche Leuchten in seinen Augen nicht überspielen konnte. Außerdem war ich gut darüber informiert, wie lange er Amira bereits angeschmachtet hatte, aber nie richtig in die Gänge gekommen war.

Insgesamt eine ziemlich interessante Sache, denn normalerweise war mein Bruder eher ein Typ, der nichts anbrennen ließ und sich darum auch von festen Beziehungen fernhielt. Mit Amira war alles von Beginn an anders gewesen. Er hatte selbst gesagt, dass er zum ersten Mal ernsthaft verliebt war und das freute mich ehrlich für ihn.

Insgesamt änderte diese Information die aktuelle Sachlage natürlich erheblich, denn auf die Frau, die sein Herz im Sturm erobert hatte, war ich schon mächtig gespannt.

»Nicht zu fassen, mein Brüderchen hat sich gebunden!« Ich boxte ihn leicht in die Schulter. »Hättest du das nicht gleich sagen können? Selbstverständlich komme ich auf diese ominöse Abenteuer-Party, wenn ich da deine Liebste kennenlernen kann. Ich wasch mir nur schnell die Farbe raus, ja?«

Hannes strahlte übers ganze Gesicht. »Hervorragend! Du wirst Amira sicher lieben. Und Wonderland auch.«

»Wonderland?«, hakte ich nach.

»Ja, mein kleines Schwesterlein. Für uns beide geht es heute ...« Er sprang auf und machte eine übertriebene Geste. »... down the Rabbithole!«

Sofort schnitt ich eine Grimasse. »O Gott, das klingt wie irgendsoein Rave-Ding.«

»Nein, keine Sorge. Jetzt mach dich endlich fertig! Ich bin schon ganz aufgeregt!«

 

Kapitel 2

Hannes war wirklich aufgeregt wie ein kleines Kind, als wir uns wenig später auf den Weg zu Darius machten. Mein Bruder schien hauptsächlich wegen dieser Wonderland-Sache so aus dem Häuschen zu sein. Dass ich seine Freundin kennenlernen würde, war plötzlich nur noch ein netter Nebeneffekt.

»Jetzt sag mir doch endlich, was ihr vorhabt!«, murrte ich nach der ungefähr tausendsten ominösen Andeutung, als wir gerade die Treppe aus der U-Bahn-Station hochstiegen.

»Würde ich, wenn ich könnte«, erwiderte Hannes. »Aber Wonderland ist schwer zu erklären. Man es muss es erleben, um es zu verstehen.«

Meine Güte ... Sein Gedöns ging mir inzwischen ziemlich auf die Nerven. Gleichzeitig schaffte er es aber dann doch, mich mit immenser Spannung aufzuladen. Was zum Teufel würde mich gleich erwarten?

Das Apartmenthaus, das wir ansteuerten, wirkte schon mal nicht sehr geheimnisvoll. Aber schick. Ein klassischer, städtischer Altbau mit hübschen Stuckelementen um die Sprossenfenster. Die dunklen Holzstufen im Treppenhaus knarzten zwar recht dramatisch unter unseren Füßen, aber sonderlich mysteriös war das auch nicht.

Hannes rannte schon fast hoch in die zweite Etage. Langsam machte sein Dauergrinsen mich richtig nervös. Er schaute nämlich so drein, als würde er mich direkt in die Wichtelwerkstatt des Weihnachtsmannes am Nordpol bringen, oder sowas.

Die Wohnungstür war nicht abgeschlossen, und Hannes platzte einfach direkt in das Apartment, als würde er hier täglich ein und ausgehen. Tat er wahrscheinlich sogar tatsächlich, denn Darius war einer seiner engsten Freunde. Warum auch immer.

Meiner Meinung nach war Darius ein typischer Sohn aus reichem Hause, der es schaffte, in jedem zweiten Satz über Geld zu reden, damit er nicht gerade subtil erwähnen konnte, wie wohlhabend er war. Zwar hatte ich mich bei unseren wenigen Begegnungen bloß ein einziges Mal ausführlich mit ihm unterhalten, doch laut diesem Gespräch könnte er glatt Batman sein.

Meine Eltern waren auch alles andere als arm. Allerdings gab es einen dezenten Unterschied zwischen »Ich wurde in ein Privileg hineingeboren« und »Ich bin ganz klar was Besseres, weil es meine Bestimmung ist, reich zu sein, um auf andere hinabblicken zu können«.

Ich drückte die Wohnungstür hinter mir zu, bevor ich mich umschaute. Wieder fand ich absolut nichts Geheimnisvolles. Nur einen kurzen Wohnungsflur mit einer recht unordentlichen Garderobe. Man konnte hier schon erkennen, dass ich mich in einer Junggesellenbude mit zu viel Testosteron befand.

Hannes wartete bei einem Durchgang auf mich, aus dem Stimmengewirr zu hören war. Zögernd folgte ich meinem Bruder in einen großzügigen Wohnbereich mit offener Küche. Eine riesige Couchgarnitur beherrschte den Raum. Zwei Mädels und drei Jungs im Alter meines Bruders lümmelten darauf.

Außerdem gab es noch einen Esstisch, an dem aber niemand saß, und eine offene Küchenzeile, die zum Teil als Bar konstruiert war.

An einem Ende des erhöhten Tresens lehnte ein Typ mit strubbeligen braunen Haaren, gekleidet in ein dunkelblaues Hemd mit hochgeschlagenen Ärmeln und ausgewaschene Jeans. Mit seiner lässigen Körperhaltung verströmte er die Aura eines verruchten Herzensbrechers. Gut, vielleicht interpretierte ich ein wenig viel in die Art, wie er da so stand, rein. Oder auch nicht. Egal.

Weit wichtiger war ohnehin die junge Frau auf dem Barhocker neben ihm, die der ausführlichen Beschreibung meines Bruders nach Amira sein musste. Seine Worte waren damals gewesen: »Langes schwarzes Haar, das ihren Rücken hinab fließt wie geschmolzener Onyx. Dunkle Augen, in denen sich der Sternenhimmel spiegelt. Das Gesicht einer Prinzessin, ein Herz aus Gold und ein Lachen wie der Gesang der Nachtigall.«

Letzteres konnte ich noch nicht beurteilen, doch wunderschön war Amira definitiv. Vor allem wirkte ihr Lächeln schon aus der Ferne aufrichtig und sympathisch, was für mich weit wichtiger war als geschmolzenes Onyxhaar und sternenhimmelspiegelnde Augen.

Darius befand sich hinter der Theke. Sein sehr kurzes Haar war mit perfektem Fade rasiert und wurde sicherlich wöchentlich nachjustiert. Er trug ein rotes Satinhemd, die oberen Knöpfe offen, damit man ja die Goldkette nicht übersah und wirkte insgesamt wie der Besitzer eines dubiosen Nachtclubs, der als Scheingeschäft für Geldwäsche diente. Dazu passend hantierte er gerade mit einem Cocktailshaker. Als er uns hereinkommen sah, rief er in den Raum hinein: »Damit sind wir jetzt endlich komplett. Leute! Das ist Mia. Die Schwester von Hannes. Sagt schön brav Hallo zu Mia.«

»Hallo Mia!«, schallte es im Chor.

Ich hob leicht überfordert eine Hand. »Hallo.«

Die allgemeine Aufmerksamkeit glitt schnell wieder von mir ab und die Gruppe auf der Couch nahm ihr Gespräch von vorhin wieder auf, ohne sich die Mühe zu machen, sich mir vorzustellen. War mir jetzt aber auch ehrlich gesagt nicht wichtig, denn die einzige Person, die ich kennenlernen wollte, kam nun sowieso auf mich zu.

»Hey! Ich bin Amira und es freut mich total, dass wir uns endlich mal treffen.«

Ich lächelte. »Mich auch. Hannes spricht nämlich andauernd von dir.«

»Tatsächlich?« Sie warf ihm einen schelmischen Blick zu. »Was spricht er denn so?«

Ich gab mich abwägend. »Nun, die meiste Zeit spricht er eigentlich nicht wirklich, sondern schmachtet eher ausführlich.«

»Genauso ist es«, sagte Hannes dazu, legte einen Arm um Amira und drückte ihr einen Kuss aufs Haar. »Wie auch nicht? Gewöhnliche Worte werden meiner Freundin eben nicht gerecht.«

Sie lachte und schmiegte sich an ihn. »Ooooch.« An mich gewandt fragte sie feixend: »Ist er eigentlich immer so cheesy?«

»Ganz und gar nicht«, meinte ich. »Du rufst eine schmalzige Seite an ihm hervor, die ich überhaupt nicht kannte. Schockierend.«

»Und dazu stehe ich«, kommentierte er mit würdevoller Miene.

Durfte er auch, denn dieser ungewohnte Teil von ihm war ehrlich zuckersüß. Allein die Art, wie er Amira ansah, erwärmte mir richtig das Herz, weil seine tiefe Zuneigung so offenkundig war.

Wir gingen zur Bar, wo Darius gerade zwei Gläser mit einer roten Flüssigkeit aus seinem Shaker heraus befüllte.

»Schön, dich mal wieder zu sehen«, sagte er zu mir.

»Hannes hat mich einfach mitgenommen. Ich hoffe, das geht in Ordnung.«

»Und wie das in Ordnung geht«, antwortete er mit einem Augenzwinkern. »Außerdem hatte er dich angekündigt. Ich bin gleich wieder da, ja?«

Er stellte die Gläser auf ein Tablett mit mehreren Pilsflaschen und balancierte es wie der Oberkellner persönlich in Richtung Couch, wo er mit kleinem Applaus empfangen wurde.

Hannes begrüßte unterdessen den Typ mit der verwuschelten Frisur mit einem kräftigen Männerhandschlag und wandte sich dabei zu mir. »Mia, das ist Elias. Elias, das ist meine Schwester.«

Elias betrachtete mich eingehend, während ein amüsierter Zug seine Lippen umspielte. »Du existierst also wirklich. Ehrlich gesagt hatte ich schon ein wenig Sorge, dass die geheimnisvolle Schwester sowas wie sein imaginärer Kumpel ist, nachdem dich nie jemand von uns zu Gesicht bekommen hat.«

Ich rang mir ein Lächeln ab. Von Elias hatte ich in letzter Zeit öfter gehört. Hannes hatte ihn über Darius kennengelernt und manchmal himmelte er ihn glatt noch mehr an als seine Freundin.

»Nein«, erwiderte ich trocken. »Sein imaginärer Freund heißt Benny und ist ein geflügelter Biber.«

Er lachte. »Ihr habt eindeutig den gleichen Humor.«

Seine grauen Augen blitzten förmlich auf. Oder waren sie eher blau? Ich war mir nicht ganz sicher. Und was ich generell von ihm halten sollte, wusste ich erst recht nicht. Seine einnehmende Ausstrahlung riet mir jedenfalls zu größter Vorsicht und unter anderen Umständen hätte ich definitiv einen Bogen um ihn gemacht.

Hannes klopfte auf den Barhocker neben Elias, den Amira zuvor noch besetzt hatte. »Setz dich, Mia.«

Ich kam notgedrungen der Aufforderung nach, zupfte mein Shirt glatt und klemmte anschließend verkrampft die Hände zwischen die Knie. Zum einen stand der Hocker deutlich zu nah an Elias dran, der keine Anstalten machte, sich auf seinen eigenen Hocker zu setzen, um ein wenig mehr Abstand zwischen uns zu bringen. Und zum anderen behagte es mir überhaupt nicht, dass ich nun den Großteil des Raums inklusive Couchgruppe im Rücken hatte. Mir wäre ein Plätzchen mit mehr Überblick deutlich lieber gewesen. Mich allein in irgendeine andere Zimmerecke zu stellen wäre allerdings ziemlich seltsam gewesen.

Dass Hannes in einem Turtelmoment mit Amira versunken war und mich scheinbar völlig vergessen hatte, war nicht hilfreich. Aktuell kam ich mir vor, als hätte ich eine Familienfeier gecrasht. Bisher waren zwar alle sehr nett, aber ich fühlte mich trotzdem fremd und nicht zugehörig.

Wobei ich mich außerhalb meines Zimmers im Grunde meistens so fühlte.

Darius kehrte mit seinem leeren Tablett zurück.

»Was darf´s denn sein?«, fragte er mich. »Vielleicht auch einen Manhattan? Man sagt, ich bekäme inzwischen einen durchaus genießbaren hin.«

»Klingt verlockend. Aber für mich nur eine Cola, bitte.«

Darius machte ein entsetztes Gesicht. »Nur Cola? Aber da kann ich ja überhaupt nicht mit meinen Barkeeperqualitäten angeben!«

Ich lächelte schief. »Keine Sorge, ich hab dich gerade mit dem Shaker hantieren sehen und war mächtig beeindruckt.«

»Puh!« Er wischte sich imaginären Schweiß von der Stirn und tauchte hinter den Tresen. »Hannes, für dich wahrscheinlich ein Pils?«

»Ich bitte darum«, antwortete Hannes.

Darius tauchte mit einem Pils und einer großen Colaflasche wieder auf. Während er aus einem Hängeschrank ein Glas für mich holte, betrachtete ich ausführlich die Küche. Mir gefiel, wie sich der moderne Stil in den Altbau einfügte. Etwas mehr Deko hätte keinesfalls geschadet, und dass hier deutlich mehr Cocktails geschüttelt, denn in Kochtöpfen gerührt wurde, war offensichtlich. Trotzdem war es eine schöne Küche.

Als Darius das leere Glas vor sich auf den Tresen stellte und nach der Colaflasche griff, sagte ich freundlich: »Deine Wohnung gefällt mir. Richtig elegant.«

»Ach ja?« Er hob erstaunt eine Braue. »Du solltest mal unser Haus in Sankt Moritz sehen.«

Und schon war der Reichtum Thema ... Ich konnte nur hoffen, dass ich meine Miene im Griff hatte und gab mich höflich interessiert.

»Das war ein Witz.« Lachend drehte er den Flaschenverschluss auf. »Meine Eltern besitzen gar kein Ferienhaus. Diese Wohnung haben sie gekauft, um sie nach meinem Studium zu vermieten. Nach wie vor eine der sichersten Investitionen, die es gibt, wenn du mich fragst.«

»Klingt vernünftig«, sagte ich höflich.

Darius füllte das Glas und stellte es vor mich auf den Tresen. Anschließend wies er mit einem Schmunzeln auf Elias. »Wenn du diese Wohnung schon elegant findest, solltest du mal seine Bude sehen. Maisonette mit Dachterrasse, in absolut exklusiver Lage. Besser geht´s kaum.«

Elias fasste gelassen nach seiner Bierflasche. »Nur kein Neid, mein Lieber.«

»Das war ein Tatsachenbericht. Außerdem kenne ich dich lange genug, um mir jeglichen Neid abgewohnt zu haben.« Darius wandte sich wieder an mich. »Wir sind beide aus Würzburg und schon zusammen zur Schule gegangen, weißt du.«

»Und jetzt geht er mir auch noch während des Studiums auf den Sack«, sagte Elias grinsend.

Die beiden stießen schmunzelnd mit ihren Flaschen an. Ich für meinen Teil dachte mir nur, dass ich jetzt also einen Abend lang gleich zu zwei solchen Typen nett sein musste. Aber für meinen Bruder bekam ich das schon hin.

Hannes und Amira wurden durch das Klirren der Bierflaschen aus ihrem Turtelmoment zurück in die Realität geholt und lösten sich ein wenig voneinander. Mein Bruder nahm sein Pils, um damit sanft gegen mein Glas zu prosten. »Auf einen tollen Abend.«

Und wieder passte sein theatralischer Gesichtsausdruck nicht zu der unspektakulären Umgebung. Ich musterte ihn stirnrunzelnd. »Willst du mir nicht endlich sagen, was ihr vorhabt?«

»Nein«, meinte Hannes. »Du darfst noch etwas gespannt sein. Aber dich erwartet ein phänomenales Erlebnis.«

Ich warf einen skeptischen Blick über die Schulter zur Couch, wo gerade viel Glas aufeinander klirrte und fröhlich gekichert wurde.

Hannes ignorierte meine Miene und blieb bei seinem geheimnisvollen Tonfall. »Wir werden dich heute zu einem ganz besonderen Ort mitnehmen, den du niemals vergessen wirst.«

Genervt verdrehte ich die Augen. »Kannst du bitte aufhören, in Rätseln zu sprechen und mir einfach erklären, was dieses Wonderland sein soll?«

Elias mischte sich glucksend in unser Gespräch. »Das kann er nicht, weil du ihm vermutlich nicht glauben würdest. Außerdem ist es schwer, Wonderland in Worte zu fassen. Das muss man einfach erlebt haben, um es zu verstehen.«

»Aha«, wiederholte ich gedehnt.

Amira lehnte sich an Hannes vorbei zu mir. »So ist es wirklich. Du wirst begeistert sein, das garantiere ich dir. Dein Bruder möchte dich übrigens schon länger auf diese Reise mitnehmen, darum übertreibt er es mit der Dramatik wahrscheinlich ein wenig.«

»Jo, Darius«, rief einer der Jungs vom Sofa zu uns. »Wo bleibt denn Micha?«

Darius zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Du weißt doch, wie unpünktlich sie ist. Startet halt ein Battle, wenn euch langweilig ist.«

Sein Vorschlag machte mich neugierig, darum schwang ich mit dem drehbaren Hocker herum und sah zur Couchrunde, die gerade Blicke austauschte. Sie wurden sich wortlos einig, denn im nächsten Moment standen zwei Jungs auf, um den Couchtisch zur Seite zu tragen, während ein Mädel den riesigen Flachbildschirm an der Wand und eine Spielekonsole aktivierte. Mit Battle war kein Shooter-Game, sondern ein Tanzduell gemeint. Es dauerte nicht lange, da war es auch schon in vollem Gange.

Ich war nie eine große Gamerin gewesen, doch dieses interaktive Spiel sah durchaus interessant aus. Die Spieler mussten die Tanzschritte einer animierten Figur nachahmen und bekamen je nach Ausführung Punkte. Das Ganze klappte mit bis zu vier Spielern gleichzeitig, wobei es doch ziemlich eng auf dem begrenzen Platz vor der Couch wurde und die Formation letztlich sehr chaotisch herumhüpfte.

Es war wirklich witzig und alle hatten einen Riesenspaß bei dem Herumgehopse. Ich lachte sogar mit, als sich die ganze Gruppe hingebungsvoll ein Twerk-Battle lieferte.

»Willst du es auch mal probieren?«, fragte Darius mich nach einer Weile.

Einer der Jungs verlor sein Gleichgewicht und plumpste nach hinten um.

»Nee«, antwortete ich kichernd. »Twerken ist nicht so mein Ding.«

Hannes trank ein paar große Schlucke Bier und stellte knallend die Flasche auf den Tresen.

»Meins schon!«, rief er und schnappte sich Amiras Arm. Er zog sie zur Couch, drückte sie dort nieder und mutierte glatt zu einem Magic Mike. Mit einem Juchzen ging er vor Amira in die Knie und schüttelte seinen Hintern. Amira feuerte ihn begeistert an.

Ich schirmte belustigt meine Augen ab.

Es gab einfach Situationen, in denen man seinen Bruder nicht sehen wollte.

»Alter!«, rief Darius kopfschüttelnd. »Du machst das vollkommen falsch!«

Dann ließ er mich ganz zu meinem Entsetzen mit Elias allein an der Bar zurück. Der hatte sich in der Zwischenzeit auf seinen Hocker bequemt, war aber für meinen Geschmack trotzdem noch zu nah an mir dran. Obwohl das Spektakel nur wenige Meter von uns entfernt stattfand, konnte ich förmlich spüren, wie sich schlagartig eine eisige Stille zwischen uns aufbaute.

Wir hatten unsere Barhocker in Richtung Wohnraum gedreht, und Elias schwang mit seinem die ganze Zeit leicht hin und her, was mir zunehmend auf die Nerven ging. Nur um irgendetwas zu tun, hangelte ich nach meiner Cola, nippte daran und hielt das Glas anschließend mit beiden Händen umklammert.

»Und?«, fragte Elias plötzlich. »Sollen wir übers Wetter reden oder fällt dir ein anderes belangloses Thema ein, mit dem wir dieses peinliche Schweigen überbrücken können?«

Sein Spruch war erstaunlich charmant, das musste ich schon zugeben, darum erwiderte ich schmunzelnd: »Ich finde, das Wetter wird bereits zu oft für alle möglichen Dinge missbraucht. Kopfweh, schlechte Laune ... darum sollten wir es vielleicht ausnahmsweise verschonen.«

Er legte das schiefe Grinsen auf, das ich vorhin schon bei ihm beobachtet hatte. »Dann müssen wir den Mond aber auch verschonen. Der wird ja auch ständig zur Verantwortung gezogen.«

»Das stimmt. Was gäbe es denn noch an Belanglosigkeit? Mal überlegen ...«

»In China soll ja kürzlich ein Sack Reis umgefallen sein«, meinte Elias ernst.

»Ja, davon hab ich gehört! War wohl eine ziemliche Sauerei.«

»Allerdings. Das Gute an diesem dramatischen Ereignis ist, dass es nachweislich das Eis gebrochen hat.«

Er hob seine Flasche, um mit mir anzustoßen.

Ich stellte überrascht fest, dass er recht hatte und stieß mein Glas gegen sein Pils.

»Auf den Sack Reis«, sprach er würdevoll.

»Ein Hoch auf das weiße Korn«, fügte ich belustigt hinzu.

Während wir tranken, versuchte ich zu verstehen, was da gerade passiert war. Aus meiner Sicht war Elias ein Typ, der genau wusste, wie er die Menschen um sich herum von sich überzeugen konnte. Vor allem den weiblichen Anteil. Dass er mich nun ebenfalls derart leicht um den kleinen Finger gewickelt hatte, wo ich doch sehr vorsichtig in solchen Dingen war, passte mir nicht.

Ich war froh, dass Darius in diesem Moment zurückkehrte und wieder seinen Platz hinter dem Tresen einnahm. So konnte ich mich hauptsächlich auf ihn konzentrieren, als wir entspannt ein Gespräch über allgemeine Studienprobleme begannen. Ich hätte es ja nicht gedacht, aber allmählich fühlte ich mich erstaunlich wohl. Vielleicht waren die beiden doch gar nicht so übel. Wir redeten auch tatsächlich kein einziges Mal über Finanzen.

Amira und mein Bruder kamen zu uns zurück und fügten sich sofort in unsere Unterhaltung ein. Natürlich lauschte ich vor allem Amiras Aussagen mit höchstem Interesse, um sie besser kennenzulernen. Der sympathische Ersteindruck blieb, obwohl ich ein wenig befürchtete, sie könnte doch etwas oberflächig sein. Da hauptsächlich herumgealbert wurde, sollte ich mir diesbezüglich allerdings echt noch kein Urteil bilden.

Was mir nicht leicht fiel. Denn meine Vergangenheit hatte mich gelehrt, Menschen lieber vorschnell in eine Schublade zu stecken, um bittere Enttäuschungen zu vermeiden.

Plötzlich brach lauter Jubel bei der Tanzgruppe aus. Wir drehten uns neugierig um, und ich sah, dass eine junge Frau den Raum betreten hatte. Ihr blondiertes Haar war raspelkurz und stand ihr wirr vom Kopf ab. Ihr Kleidungsstil war mindestens genauso wild. Jeanshotpants und ein luftiges Top mit einem Whiskey-Logo drauf, das ziemlich viel Ausblick auf den neonpinken BH darunter gewährte. Sie trug eine Umhängetasche mit sich.

»Micha!«, rief einer der Jungs vom Sofa. »Die Frau der Stunde ist endlich da!«

Micha winkte lachend ab, während Darius ihr eifrig entgegenlief. Sie unterhielten sich leise an der Schwelle zum Wohnbereich, darum ich konnte ihre Worte nicht verstehen.

»Wer ist das?«, fragte ich Hannes.

»Hast du doch gehört«, antwortete er verschmitzt. »Die Frau der Stunde. Jetzt kann die Party nämlich so richtig losgehen.«

Ich drehte mein halbleeres Colaglas auf der Theke umher, während ich gespannt abwartete, was nun passierte. Überraschenderweise verabschiedete sich Micha kurz darauf und Darius kehrte mit einer schwarzen Plastikbox zur Küche zurück. Die anderen hatten den Fernseher ausgeschaltet und scharten sich nun mit uns um die Bar.

Darius sortierte etwas hinter dem Tresen und hob schließlich seine Faust. Mehrere bunte Strohhalme ragten hervor. Mit dramatischer Miene schwenkte er sie leicht herum. »Dann sehen wir mal, wem die Ehre des heutigen Watchers gebührt.«

»Ehre, na klar«, sagte eine junge Frau mit abschätzigem Lachen.

Einer nach dem anderen zog einen Strohhalm. Mich und Hannes ließ Darius aus. Er hielt stattdessen gleich Elias die Faust hin. Nachdem Elias seinen Strohhalm gewählt hatte, öffnete Darius seine Faust und stieß einen enttäuschten Laut aus. Er hatte eindeutig den kürzeren Halm gezogen und die anderen bemitleideten ihn lautstark.

Amira wischte sich in einer Geste der Erleichterung über die Stirn. »Puh! Das hätte mich arg geärgert, wenn ich ausgerechnet heute nicht dabei sein dürfte.«

»Na, und mich erst!«, sagte Hannes dazu und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. Dann wandte er sich zu mir. »Jetzt werden wir gleich die Reise antreten. White Rabbit wird uns nach Wonderland bringen.«

Ich sparte mir ein erneutes Nachhaken und beobachtete nur gespannt das weitere Geschehen.

Darius hatte die Box geöffnet und darin befand sich ein Träger, in dem mehrere kleine Glasampullen steckten. Sie waren unbeschriftet und mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt. Die anderen griffen sich gierig jeweils eine Ampulle und hüpften damit zurück zur Couch. Die letzten Ampullen stellte Darius vor meinen Bruder, Amira, Elias und mich auf den Tresen.

Völlig entsetzt starrte ich die Fläschchen an. Nach den vielen geheimnisvollen Andeutungen konnte ich echt nicht fassen, worauf die Sache letztlich hinausgelaufen war.

Hannes nahm seine Ampulle und hielt sie erklärend hoch. »Also, Mia. Das ist …«

»Drogen?«, stieß ich hervor und schaute ihn entgeistert an. »Du schleppst mich ernsthaft zu einer Drogenparty?«

Hannes legte einen beschwichtigenden Gesichtsausdruck auf. »Nein, Mia. White Rabbit ist keine Droge. Es ist …«

Ich deutete wild auf die Ampullen. »Willst du mich verarschen? Was soll es denn sonst sein?«

Er blieb bei seinem ruhigen Tonfall. »Es ist wirklich sehr schwer zu erklären, aber ich schwöre dir, dass es absolut ungefährlich ist. Niemand von uns hat je irgendwelche negativen Auswirkungen erlebt. Keinerlei Anzeichen einer Sucht oder Entzugserscheinungen.«

Aufgebracht blickte zu der Couchrunde. Sie hatten ihre Fläschchen bereits getrunken und machten es sich gerade bequem, als wollten sie ein kleines Nickerchen abhalten. Ihre Lider senkten sich.

Für einen Moment geschah gar nichts, doch dann ging plötzlich ein Ruck durch ihre Körper. Sie seufzten leise auf und sackten anschließend zusammen, als wären sie in tiefen Schlaf gefallen.

»Verflucht, Hannes!« Ich rutschte von meinem Hocker und deutete wild in Richtung Couch. »Die sind doch eindeutig auf einem Trip!«

Mein Bruder trat dicht vor mich und sah mich eindringlich an. »Mia, ehrlich, es ist ganz anders als du gerade denkst.«

Aufgebracht schüttelte ich den Kopf. »Ich will mit diesem Zeug nichts zu tun haben. Echt, Hannes, ist los mit dir? Warum machst du so einen Blödsinn?«

»Noch mal - es sind keine Drogen. White Rabbit ist ... Nun ja, es bringt einen nach Wonderland. Das ist eine Art Traumwelt, in der du Dinge erleben kannst, die in der Realität niemals möglich wären. Aber es ist kein psychedelischer Trip oder dergleichen. Eher ... Na ja, ein kollektiver Traum.«

Während er mir händeringend zu erklären versuchte, dass dieses Serum keine Droge war und dabei gleichzeitig durchaus einen psychedelischen Trip schilderte, starrte ich ihn mit zunehmender Fassungslosigkeit an. Ich wusste aus tiefstem Herzen, dass Hannes niemals etwas tun würde, das mir schaden könnte. Ich würde ihm ohne Zögern mein Leben anvertrauen.

Und jetzt wollte er mich zu einem Psycho-Trip überreden? Was zur Hölle war denn nur in ihn gefahren?

Amira tauchte neben uns auf und lächelte mich vorsichtig an. »Ich war auch erst skeptisch, weil sich sämtliche Erklärungsversuche echt nach LSD anhören. Ich musste es selbst erleben, um es zu verstehen. Es ist wirklich absolut ungefährlich, Mia, darum könntest du es einfach mal ausprobieren.«

Aha? War sie es, die in meinen Bruder gefahren war und ihn dazu brachte, so eine Scheiße zu tun?

Ich sah Hannes entschieden an. »Ich will nach Hause. Jetzt.«

Eine ganze Reihe von Emotionen spiegelte sich in seinem Gesicht. Er wirkte enttäuscht. Zugleich aber auch betroffen. Kurz glaubte ich, er würde zu einem weiteren Überzeugungsversuch ansetzen wollen, doch schließlich atmete er tief durch und rieb sich dabei über die Stirn. »In Ordnung. Ich trinke nur schnell aus, dann gehen wir. Okay?«

Eigentlich wollte ich lieber sofort abhauen. Weit weg von der weggetretenen Couchgruppe, dem mitfühlenden Blick von Amira, der definitiv meinem Bruder galt und nicht mir, und auch von Elias und Darius, die uns verstohlen beobachtet hatten. War vermutlich so ein Höflichkeitsding, dass ich in meiner Aufgewühltheit trotzdem knapp nickte, mit Hannes zurück an die Küchenbar trat und mir den Rest meiner Cola in den Rachen kippte, während er das gleiche mit seinem Pils tat.

Er hatte die Flasche noch an den Lippen, als ich mein leeres Glas abstellte und gerade ein ironisches »Vielen Dank, das war wirklich erfrischend« an die sogenannten Freunde meines Bruders richten wollte. Der Satz blieb mir auf der Zunge hängen, als ich das leere Serumfläschchen auf dem Tresen stehen sah und beinahe zeitgleich bemerkte, wie Darius einen sehr merkwürdigen Blick mit Elias tauschte.

Mit klopfendem Herzen stierte ich mein Glas an.

Hatte Elias mir die Drogen untergemischt?

Hannes durchschaute die Situation im selben Moment und sog scharf die Luft ein. »Was soll der Scheiß?« Er brach hastig seine Ampulle auf, schüttete sich den Inhalt in die Kehle und schob mich vom Tresen weg. »Es ist alles gut, hörst du? Komm, du musst dich hinlegen. Es wird gleich losgehen.«

Ich verstand kaum, was er sagte, weil mir mein Puls so laut in den Ohren rauschte. Mir war schwindelig, aber ich konnte nicht sagen, ob das von meiner Panik herrührte oder schon von den Drogen war.

»Was passiert jetzt?«, fragte ich schrill.

»Leg dich hin«, antwortete mein Bruder und warf mir einen flehentlichen Blick zu. »Bleib einfach ganz entspannt und lass es geschehen.«

Verflucht nochmal! Was denn geschehen lassen?

Hannes drückte mich auf den Boden nieder und legte sich neben mich. Amira tauchte auf und schob mir ein Kissen unter den Kopf.

»Hab keine Angst«, sagte sie sanft. »Dir kann nichts passieren.«

Mein Atem ging flach und stoßweise, während ich mich fiebrig umsah. Ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich einstellen sollte.

Hannes nahm meine Hand, drehte den Kopf zu mir und lächelte mich an. »Ich bin nur ein paar Sekunden hinter dir, verstanden?«

Nein, ich verstand rein gar nichts!

Ich wollte das nicht. Ich hatte Angst, mein Herz schlug wie verrückt und dann ...

... dann wurde es auf einen Schlag dunkel.

 

Kapitel 3

Ich fiel durch eine endlose dunkle Tiefe. Über mir war ein Licht, das sich rasend schnell von mir entfernte. Ich schrie und ruderte wild mit den Armen, doch der freie Fall änderte sich dadurch nicht.

Gleich würde ich auf dem Boden zerschellen. Ich konnte ihn nicht sehen, aber irgendwann musste er schließlich kommen. Innerlich machte ich mich auf den Schmerz gefasst, presste die Lider zusammen und bereitete mich darauf vor, hier und jetzt in der Dunkelheit zu sterben.

Doch plötzlich wurde ich herumgerissen.

Die Fliehkräfte kehrten sich um und ich fiel ... nach oben?

Ich riss die Augen wieder auf und starrte in blendende Helligkeit. Dann spürte ich einen erneuten Ruck, und auf einmal hatte ich festen Boden unter den Füßen.

Reflexartig machte ich einen Schritt. Ich stolperte, fiel auf die Knie und überschlug mich auf einer weichen Fläche, bis ich keuchend auf dem Rücken liegen blieb.

Meine Augen gewöhnten sich an die Helligkeit, während ich hektisch nach Atem rang. Langsam formte sich ein klares Bild. Ich blickte hinauf in einen mit kuscheligen Wolken gespickten Himmel, an dem die Sonne strahlte.

Was zum Teufel?

Mit einem Ruck setzte ich mich auf. Ich befand mich auf einer üppigen Wiese. Grashalme klebten von meinem Überschlag an meinem ganzen Körper. Verletzt schien ich nicht zu sein.

Perplex sah ich mich um. Vogelgezwitscher erschallte, obwohl weit und breit keine Bäume zu sehen waren. Die Wiese erstreckte sich flach, so weit mein Auge reichte. Bunte Blumen verteilten sich wie einzelne Farbkleckse im Gras und tanzten leicht in einer sanften Brise.

Ein farbenfroher Schmetterling kam herangeflattert. Er war riesig, mindestens so groß wie mein Kopf, und ich duckte mich erschrocken, als er dicht über meinen Haaransatz hinwegflog und ich den Luftzug seiner Flügelschläge nicht nur spüren, sondern auch surren hören konnte.

Vorsichtig strich ich mit der flachen Hand über die Grasspitzen. Ich konnte sie deutlich spüren, aber irgendwie fühlte sich das Kitzeln anders an als sonst. Real und gleichzeitig irreal.

Das ergab doch überhaupt keinen Sinn!

Probehalber fuhr ich mit den Händen über meinen Körper. Der fühlte sich an wie immer. Meine Kleidung auch. Allerdings befanden sich Handy und Schlüssel nicht mehr in meinen Jeanstaschen. Dann stellte ich fest, dass auch meine Armbanduhr und meine Ohrringe fehlten.

Ich schaute auf, als ein paar Schritte vor mir etwas in der Luft flackerte. Knapp zwei Meter über dem Boden schillerte ein kleiner Punkt im blauen Himmel. Er zog sich auseinander wie eine Pfütze und plötzlich tauchte mein Bruder auf, als würde er einfach vom Himmel ausgespuckt werden.

Er landete elegant auf den Füßen. Die schillernde Pfütze über ihm zog sich zusammen und verschwand im Nichts, während er schon zu mir eilte. »Hey, ganz ruhig. Es ist alles gut, ja? Komm, ich helf dir hoch.«

Ich ergriff seine Hand, ließ mich von ihm auf die Beine ziehen, war aber sehr weit davon entfernt ruhig zu sein. Mein Herz raste immer noch und mein Blick glitt wirr umher. »Wo sind wir? Was ist das hier?«

»Ähm, na ja.« Hannes kratzte sich am Nacken. »Willkommen in Wonderland.« Mit überfordertem Grinsen machte er noch: »Tadaa!« Weil ich ihn bloß keuchend anstarrte, fuhr er sich durchs Haar und stieß lautstark die Luft aus. »Scheiße, so hätte das nicht laufen sollen. Tut mir wirklich wahnsinnig leid, Mia.«

Ein weiterer Riesenschmetterling flatterte knapp an mir vorbei. Das Tier wirkte so real. Abgesehen von seiner Größe. Außerdem kam mir das Muster seiner bunten Flügel etwas zu verschnörkelt vor, um echt zu sein. Sah eher aus, als hätte jemand Ornamente darauf gemalt.

Trotzdem war er hier und flatterte. Genau, wie ich auch hier war. Vom Boden einer Altbauwohnung direkt auf eine kunterbunte Sommerwiese ...

Fahrig klopfte ich mir die Grashalme vom Shirt. Dabei murmelte ich: »Ich versteh das nicht.«

»Darum ist es auch so schwierig, Wonderland zu erklären«, meinte Hannes und zupfte mir einzelne Halme von den Schultern. »Ich kann es nicht anders beschreiben als einen kollektiven Traum. Oder eine Traumwelt. White Rabbit bringt den Verstand nach Wonderland, während der Körper in der Realität selig schlummert. Nach zwei Stunden verliert das Serum seine Wirkung. Dann wacht man gut erholt auf. Eben genau wie nach einem tiefen Schläfchen mit schönen Träumen.«

Das war komplett verrückt!

Aber schon auch faszinierend. Ich meine – ein kollektiver Traum? Waaas?

»Darius ist der heutige Watcher«, redete Hannes weiter. »Er bleibt wach und passt auf unsere Körper auf, weil uns momentan nichts und niemand aufwecken könnte. Wir gehen mal nicht davon aus, aber so sind wir geschützt, wenn in der Echtwelt beispielsweise ein Feuer ausbrechen würde, oder was weiß ich.«

»Sekunde!« Sofort beschleunigte sich mein Puls wieder. »Nichts kann uns aufwecken? Dann liegen wir praktisch im Koma?«

Darauf antwortete überraschend Elias hinter mir: »So drastisch würde ich es jetzt nicht formulieren.«

Ich fuhr herum. Keine Ahnung, wann der Himmel ihn und Amira ausgespuckt hatte, aber sein Anblick schickte umgehend eine Welle der Wut durch mich hindurch.

»Du Arschloch!«, spie ich aus. Ich ballte die Fäuste und wollte auf ihn losgehen, doch Hannes schlang blitzschnell seine Arme um meinen Oberkörper. »Lass mich los! Der Mistkerl hat mir Drogen untergemischt!«

Elias hob beschwichtigend die Hände. »Ganz ruhig! Das war nicht ich, sondern Darius.«

»Schwachsinn!«, blaffte ich. »Ich hab deinen Blick genau bemerkt!«

»Hä? Welchen Blick denn?« Er schüttelte den Kopf. »Ehrlich, ich hab allenfalls eine Sekunde vor dir gecheckt, was Darius getan hat.«

»Ach, hast du das?«, schnaubte ich. »Dann wusstest du es also vor mir und hast einfach tatenlos zugesehen?«

Er verschränkte angegriffen die Arme. »Hörst du nicht zu? Ich habe es eine Sekunde vor dir bemerkt. Da war dein Glas schon leer.«

Ich wollte etwas erwidern, doch da kam mir Amira mit beschwichtigender Tonlage zuvor. »Mia, ich hab es nicht gesehen, aber wenn Elias das sagt, wird es so gewesen sein. Jedenfalls hätte Darius das nicht tun dürfen. Das war wirklich mies.« Sie strich sich eine lange Strähne hinters Ohr und lächelte zurückhaltend. »Ich will das auch echt nicht entschuldigen. Allerdings hat er das wahrscheinlich nur getan, weil Hannes dir unbedingt Wonderland zeigen wollte.«

Das machte rein gar nichts besser. Außerdem wusste ich nicht, ob ich Elias glauben sollte.

Mit verengten Augen visierte ich ihn an und versuchte in seinem Gesicht nach Anzeichen einer Lüge zu forschen. Bevor ich zu einem Ergebnis gelangen konnte, drehte Hannes mich in seinen Armen um, hielt mich an den Schultern fest, sah mich eindringlich an und sagte leise: »Ich fürchte, Darius hat das wirklich mir zuliebe getan, weil ich dich schon lange mitnehmen will. Du hast nur all meine vorigen Einladungen abgelehnt. Ohne zu wissen, dass es dabei auch schon um Wonderland ging.« Er schüttelte bedrückt den Kopf. »Das tut mir schrecklich leid. Ja, ich wollte dir unbedingt diese Welt zeigen, aber ganz bestimmt nicht gegen deinen Willen.«

Natürlich nicht. Er war todunglücklich über die Situation. Ich war trotzdem wütend auf ihn. Zugleich halfen mir jedoch seine Hände auf meinen Schultern, meine aufgewühlten Emotionen etwas zu sortierten, damit ich zumindest einigermaßen klar denken konnte.

Okay, ich war jetzt also für zwei Stunden in einer Traumwelt gefangen. Unfreiwillig. Und das hasste ich zutiefst.

Völlig konträr dazu war allerdings die Neugier auf dieses Wonderland. Es war ungemein schön hier. Traumhaft, eben. Im wahrsten Sinne. Wie konnte das denn nur möglich sein?

Als mein Blick auf die anderen beiden fiel, die sich unbemerkt einige Schritte entfernt hatten, um Hannes und mich allein reden zu lassen, streckte Amira gerade eine Hand zu einem dieser Riesenschmetterlinge aus. Er landete zielstrebig darauf und blieb ruhig sitzen, während sie ihn etwas näher zu ihrem Gesicht führte und lächelnd betrachtete. Das Tier verhielt sich wie ein zahmer Vogel. Sobald Amira mit leichtem Schwung ihre Hand wieder hob, flatterte der Schmetterling davon.

»Das ist völlig verrückt«, sagte ich, diesmal mit unüberhörbarem Staunen in der Stimme. Wie auch nicht? Alles um mich herum war das Erstaunlichste, das ich je erlebt hatte.

»Ehrlich gesagt ist das hier noch gar nichts.« Hannes ließ mich los und schmunzelte vorsichtig. »Die endlose Wiese ist bloß der Anfang. Man kann noch viel faszinierendere Dinge erleben. Unmögliche Dinge. Egal, was du machst, du kannst dich nicht verletzen. Eben genau wie in einem Traum.«

»Was für Dinge?«, fragte ich.

Ein hoffnungsvolles Leuchten trat in die Augen meines Bruders. »Wenn du willst, zeige ich sie dir. Wenn du nicht willst, werde ich hier mit dir warten, bis wir aufwachen.«

Er hielt mir einladend eine Hand hin. Ich wusste, dass er ein Nein diskussionslos akzeptieren würde und für einen Moment fochten Angst und Wut noch gegen Neugier und Abenteuerlust an.

Dann legte ich meine Hand in seine.

Es war förmlich zu hören, wie Hannes ein ganzer Steinbrocken vom Herzen fiel und Platz für kindliche Freude machte. Er strahlte fast mehr als die Sonne selbst und rief den anderen vergnügt zu: »Los, Leute! Lasst uns Tauchen gehen!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er mich mit sich und beschleunigte dabei seine Schritte. Erst joggten wir ein paar Meter in mäßigem Tempo. Mir fiel sofort auf, dass es anders war als in der Realität. Nicht mal ein Hauch von Anstrengung war zu verspüren, obwohl wir schneller und schneller wurden. Schon bald sprinteten wir über Wiese. In meiner persönlichen Höchstgeschwindigkeit, würde ich grob schätzen. Einen Sprint, den ich in der echten Welt nicht lange durchhalten könnte.

»Das ist ja irre!«, rief ich. »Kommt man hier überhaupt nicht aus der Puste?«

»Es ist ein Traum, Schwesterlein. Hier existieren bloß die Grenzen deines Verstandes.« Er wollte noch mehr beschleunigen und lachte vergnügt, weil ich mich mit einem erschrockenen Keuchen dagegen wehrte, mich mitziehen zu lassen. »Du kannst noch schneller rennen. Viel schneller. Glaub mir!«

Plötzlich tauchte Elias an meiner Seite auf. »Hör auf zu denken und tu es einfach!«

Er zwinkerte mir noch verschmitzt zu, bevor er buchstäblich pfeilschnell davonstob. Innerhalb von Sekunden war seine Gestalt nur mehr als kleiner Umriss weit vor uns zu sehen.

»Was?«, stieß ich ungläubig hervor.

»Es ist ein Traum«, lachte Amira, die nun an meiner Seite aufgetaucht war. »Ein Traum, der geträumt werden will!«

In vollem Lauf machte sie eine elegante Pirouette und war im nächsten Moment ebenfalls bloß noch als entfernte Silhouette zu sehen.

»Du kannst das auch!« Hannes ließ meine Hand los. Er feixte neckisch. »Los, fang mich!«

Und zack – schon schoss er vorwärts.

Na, schön.

---ENDE DER LESEPROBE---