Secret Elements 9: Im Licht göttlicher Mächte - Johanna Danninger - E-Book

Secret Elements 9: Im Licht göttlicher Mächte E-Book

Johanna Danninger

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Beschreibung

**Nimm die Herausforderung an und entscheide das Schicksal**   Der Weltenfresser hat mehr Macht denn je und besitzt außerdem ein Druckmittel, um an das Buch der Worte zu gelangen. Doch Jay hat sich geschworen, sich nicht mehr in die Knie zwingen zu lassen. Daran ändert sich auch nichts, als der Sarlak eine unerwartete Vorgehensweise offenbart. Um nicht nur sich selbst zu retten, sondern auch den zwischen die Fronten geratenen Lee, greift Jay zu gefährlichen Mitteln. Wenn sie sich dem geballten Schattenheer stellen will, müssen alte Fehden niedergelegt und neue Bündnisse geschlossen werden – im Kleinen wie im Großen. Doch die Zeit rennt erbarmungslos. Wird die Trägerin schnell und vor allem stark genug sein, den Weltenfresser zu besiegen?  Leser*innen über »Secret Elements«, eine der erfolgreichsten Fantasy-Reihen in der Geschichte von Carlsen Impress:    »Diese Reihe ist seit Langem das Beste, was ich gelesen habe.«    »Ich liebe es!!! Wirklich. Ein fantastisches Buch!«    »Eine Story, die einen auch über sich selbst und seine Umwelt nachdenken lässt.«   Dein Fantasy-Lese-Highlight 2024 ist nur wenige Seiten entfernt.    //Alle Bände der »Secret Elements«-Reihe:    -- Secret Elements 0: Secret Darkness: Im Spiegel der Schatten (Die Vorgeschichte)    -- Secret Elements 1: Im Dunkel der See    -- Secret Elements 2: Im Bann der Erde    -- Secret Elements 3: Im Auge des Orkans    -- Secret Elements 4: Im Spiel der Flammen    -- Secret Elements 5: Im Schatten endloser Welten    -- Secret Elements 6: Im Hunger der Zerstörung    -- Secret Elements 7: Im Rätsel vergangener Zeiten   -- Secret Elements 8: Im Zeichen des Zorns    -- Secret Elements 9: Im Licht göttlicher Mächte   -- Die E-Box mit den Bänden 1-4 der magischen Bestseller-Reihe  -- Die E-Box mit den Bänden 5-9 der magischen Bestseller-Reihe// 

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Johanna Danninger

Secret Elements 9: Im Licht göttlicher Mächte

Nimm die Herausforderung an und entscheide das Schicksal

Der Weltenfresser hat mehr Macht denn je und besitzt außerdem ein Druckmittel, um an das Buch der Worte zu gelangen. Doch Jay hat sich geschworen, sich nicht mehr in die Knie zwingen zu lassen. Daran ändert sich auch nichts, als der Sarlak eine unerwartete Vorgehensweise offenbart. Um nicht nur sich selbst zu retten, sondern auch den zwischen die Fronten geratenen Lee, greift Jay zu gefährlichen Mitteln. Wenn sie sich dem geballten Schattenheer stellen will, müssen alte Fehden niedergelegt und neue Bündnisse geschlossen werden – im Kleinen wie im Großen. Doch die Zeit rennt erbarmungslos. Wird die Trägerin schnell und vor allem stark genug sein, den Weltenfresser zu besiegen?

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Vita

© privat

Johanna Danninger, geboren 1985, lebt als Krankenschwester mit ihrem Mann, einem Hund und zwei Katzen umringt von Wiesen und Feldern im schönen Niederbayern. Schon als Kind dachte sie sich in ihre eigenen Geschichten hinein. Seit sie 2013 den Schritt in das Autorenleben wagte, kann sie sich ein Dasein ohne Tastatur und Textprogramm gar nicht mehr vorstellen. Und in ihrem Kopf schwirren noch zahlreiche weitere Ideen, die nur darauf warten, endlich aufgeschrieben zu werden!

KAPITEL 1

Liebe Danu,nun habe ich mich unwiderruflich dazu entschieden, Trägerin zu sein, und das Orinion wieder angelegt. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun und den Sarlak besiegen. Das weiß ich ganz genau.Ich habe dich in letzter Zeit ja öfter mal um Unterstützung gebeten. Geantwortet hast du mir nie. Freier Wille, schon klar. Aber gerade jetzt brauche ich deine Hilfe dringender denn je. Lee ist verschwunden. Entführt vom Sarlak. Wir haben nicht den geringsten Anhaltspunkt, wo er gefangen sein könnte. Der Portalkristall ist zerstört und kann uns auch nicht zu ihm bringen.Ich weiß nicht, was ich tun soll. Danu, ich war noch nie so verzweifelt, wie ich es jetzt bin. Darum bitte ich dich, nein, ich flehe dich an, mir zu helfen. Gib mir bloß einen winzig kleinen Hinweis, wo Lee festgehalten wird. Nur den Ort. Ein einziges Wort genügt.Bitte.Jay

Zwei Tage.

Zwei Tage waren seit der Schlacht auf Feya vergangen. Achtundvierzig Stunden, seit Lee verschollen war. Und seitdem …

Nichts. Keine Forderung des Entführers. Kein Lebenszeichen von Lee.

Absolut gar nichts.

Mit Lee war auch der Sarlak inklusive Golems und Schattenheer komplett von der Bildfläche verschwunden. Wir hatten nicht den leisesten Hauch einer Ahnung, wo sich sein Unterschlupf befinden könnte. Ebenso wenig wussten wir, worauf zum Teufel der Sarlak eigentlich wartete.

»Das ergibt keinen Sinn«, sagte ich zum ungefähr hundertsten Mal an diesem Tag.

Die anderen stimmten mir zu. Dann herrschte wieder nachdenkliches Schweigen. Auch zum ungefähr hundertsten Mal.

Ich saß mit Team 8 am Projektionstisch des Mannschaftsraums. Wirklich geschlafen hatte in den letzten beiden Tagen keiner von uns. Dementsprechend erschöpft sahen wir alle aus. Sogar Ivan hatte Augenringe, was ich fellbedingt gar nicht für möglich gehalten hätte.

Meine Finger glitten über die feinen Gravuren des Orinions. Manchmal suchte meine Hand nach dem Amulett, weil ich befürchtete, es könnte sich plötzlich wieder in Luft aufgelöst haben. Die meiste Zeit war es jedoch so, als wäre es nie fort gewesen. Als hätte ich nie aufgehört, Trägerin zu sein.

Die Balkontüren standen offen und wir horchten auf, als man draußen das Geräusch kräftiger Flügelschläge hörte. Die schneeweiße Stute Esira kam hinter der Balkonbrüstung in Sicht. Rytario saß auf ihrem Rücken. Die Metallapplikationen seines Harnischs glänzten im Licht der Nachmittagssonne und sein Cape wehte im Wind.

Rytario war ja grundsätzlich ein Profi in Sachen beeindruckendem Auftreten, aber das war jetzt fast ein wenig zu viel des Guten. Zwischen zwei kräftigen Flügelschlägen schwang er sich von Esira, landete auf der schmalen Brüstung und gelangte mit einem weiteren Schritt auf den Balkon. Selbstverständlich alles in perfekter Balance.

Gelassen schlenderte er zu uns herein. »Hallo zusammen.«

»Starker Auftritt, Mann«, lobte Joe zur Begrüßung.

»Ich wollte mir den Trubel am Außentor ersparen«, antwortete Rytario schulterzuckend. »Solange ich nicht im System erfasst bin, wissen die Wachposten leider immer noch nicht, was sie mit mir anfangen sollen, sobald ich an die Tür klopfe.«

Chiara seufzte mitfühlend. »Das ist natürlich sehr ärgerlich.«

Ich beobachtete sie verstohlen. Ihr Gesicht war ebenfalls von Schlafmangel gezeichnet. Im direkten Vergleich zu mir sah sie allerdings aus wie das blühende Leben. Ihr braunes Haar glänzte und die Frisur saß perfekt, während ich eher daherkam wie ein zerrupfter Reisigbesen. Wie Samira übrigens auch.

Alle machten sich große Sorgen um Lee und wollten ihr Bestmögliches tun, um ihn zurückzuholen. Chiara ebenfalls, doch da begann mein Problem. Ich wollte nicht, dass sie hier war. Mir passte nicht, dass sie zu Team 8 gehörte. Sie hatte an diesem Tisch nichts verloren, diese Chiara Venetura, die seit Wochen nichts anderes getan hatte, als sich an Lee ranzuschmeißen. Hinterrücks und subtil war sie vorgegangen, diese verlogene Schlange. Bis hin zum Masterplan am Pietrón-Sommerball, geschickt ausgeführt von ihrer Mutter, um Jessica Winter vor dem Hochadel der Anderswelt zu denunzieren und ihr die Zukunft mit Leannán Aherra endgültig zu verbauen.

Ja, okay. Letztlich war ich selbst für die Trennung verantwortlich. Lee hatte eine Pause gewollt und ich hatte gleich die Stopp-Taste gedrückt. Nicht nur das. Ich hatte die Stopp-Taste danach hartnäckig gedrückt gehalten, weil ich nicht bereit gewesen war, ihm zu verzeihen, und darüber hinaus hatte ich verfluchte Vollidiotin ihm dann auch noch ein Messer in die Brust gerammt, indem ich mich an Colin ranschmiss.

Nicht Chiara hatte uns auseinandergebracht, sondern ich.

Was wiederum nichts daran änderte, dass sie eine falsche Mistkröte war. Und mit jeder Minute, die ich mit ihr in einem Raum verbrachte, stieg meine Abscheu gegen sie. Schon allein, wie sie gerade eine Strähne durch ihre Finger gleiten ließ und dabei Rytario liebreizend anlächelte, trieb mir die Galle hoch. Jede noch so winzige ihrer Bewegungen war kalkuliert, jeder Wimpernschlag berechnet, das Lächeln saß stets perfekt. Sie verkörperte den Hochadel der Tuatha wahrhaftig par excellence.

Rytario ließ sich auf den Stuhl neben mir fallen und wischte sich müde über die Augen, bevor er schnell die Dokumente überflog, die auf der Projektionsfläche aufgerufen waren. »Keine neuen Sichtungen oder Augenzeugenhinweise?«

»Zumindest nicht auf Golems oder Dämonen«, antwortete Samira. »Aber eine Frau aus Maleska behauptet felsenfest, dich heute Morgen gleich nach dem Aufwachen neben ihrem Bett gesehen zu haben, bevor du dich in Luft aufgelöst hast.«

»Hm.« Er wiegte den Kopf. »Wäre fast interessant, was genau sie zuvor geträumt hat. Da sie es der Agency gemeldet hat, wahrscheinlich nichts Gutes. Allerdings dachte ich, es sei schon vor Wochen eine Pressemeldung rausgegangen, dass von mir keine Gefahr ausgeht und die Fahndung nach mir eingestellt wurde?«

Ich schnaubte unwirsch. »Ist doch scheißegal, was man den Leuten sagt. Die machen sowieso ihr eigenes Ding draus. Laut Öffentlichkeit bin ich ja auch eine Amokläuferin und Tochter zweier gemeingefährlicher Schwerstverbrecher, die umgehend hinter Schloss und Riegel gehört.«

Er musterte mich vorsichtig. »Die Masse an Leuten am Haupteingang scheint noch größer geworden zu sein. Ich habe es vorhin aus der Luft gesehen. Tut mir wirklich leid, Jay.«

»Ja, mir auch«, murmelte ich.

Damit meinte ich gar nicht mich selbst, sondern hauptsächlich die Ungerechtigkeit, die meinen Eltern widerfuhr. Dass General Stanson nicht mehr auf seinem Posten saß und Admiral Tegress die Leitung über die avalonischen Special Forces übernommen hatte, würde der Öffentlichkeit früher oder später auffallen, darum hatte die Agency sich für eine Pressemitteilung entschieden. Aus Respekt dem General gegenüber war von einer vorübergehenden Beurlaubung aus privaten Gründen die Rede. Kein Wort darüber, dass er im Zuge interner Ermittlungen der ominösen Mission 5-8-Alpha unter Arrest stand.

Früher war ich der Meinung gewesen, man sollte der Bevölkerung einfach die Wahrheit sagen. Inzwischen wurde ich eines Besseren belehrt. Man brauchte sich ja bloß anzusehen, was die Öffentlichkeit aus der Wahrheit über meine Mum gemacht hatte. Ihre Geschichte war nun komplett offengelegt und was taten die Leute? Spannen sich erst recht irgendwelche Verschwörungstheorien zusammen.

Da passte die Beurlaubung meines Dads aktuell ganz wunderbar dazu. Weil sie ja bereits geahnt hatten, dass die Dunkelheit nach wie vor in meiner Mutter steckte und General Stanson seit jeher ihr Konsorte war. Die Agency vertuschte bloß, dass sich die beiden in Wirklichkeit auf der Flucht befanden.

Es war komplett verrückt. Die Leute brüllten nach der Wahrheit, doch wenn man sie ihnen gab, glaubten sie es nicht. Sie beschimpften die Agency trotzdem als Lügenbehörde und hielten sich lieber an irgendwelche verqueren Theorien im Internet, verfasst von einem Unbekannten. Denn der musste es ja wissen.

Was würde geschehen, wenn die Agency absolut alle Fakten über die derzeitige Bedrohung namens Sarlak preisgeben würde? Wenn die Leute wüssten, dass der Weltenfresser sich unserer Dunkelheit bemächtigt hatte, nun das Schattenheer befehligte und sich bereits zwei Naturgeister in seinen Fängen befanden? Wenn man ihnen erzählte, dass der Sarlak Captain Aherra entführt hatte, um an das Buch der Worte ranzukommen, mit dem er endgültig unbesiegbar wäre?

Der gesamte Planet befand sich in akuter Gefahr. Das war die Wahrheit. Und würde man diese offenlegen, dürfte ein Teil der Bevölkerung nichts davon glauben, während der andere Teil in blinde Panik verfallen würde. Das war ebenso die Wahrheit.

Weil mich die anderen mitfühlend betrachteten, winkte ich ab und sagte locker: »Ich bin einfach nur froh, dass Dad bei Mum sein kann und die beiden in Sicherheit sind. Das ist die Hauptsache, oder?«

Alle nickten zustimmend. Dann schwiegen wir. Wieder einmal.

Mein Blick wanderte zu den digitalen Dokumenten vor mir. Die Fenster überlagerten sich stellenweise und in der hintersten Ebene war Lees Steckbrief geöffnet. Das dienstliche Profilfoto war nüchtern und sachlich. Eine klassische Aufnahme ohne jedwedes Lächeln, um die biometrische Gesichtserfassung zu erleichtern. Grundsätzlich war Lee ja nicht unbedingt der Typ, der fröhlich pfeifend durch die Gegend spazierte, aber so ernst wie auf diesem Bild schaute er normalerweise nicht drein.

Wie erging es ihm in diesem Moment? War er verletzt? Hatte er Schmerzen? Folterte der Sarlak ihn gar?

In meiner Vorstellung kauerte Lee in einem dunklen, vermoderten Keller. Mit schweren Ketten am Gemäuer fixiert. Das Gesicht blutverschmiert, die Kleidung verdreckt und zerrissen. Hoffnungslosigkeit in seinen schönen Augen …

Mein Brustkorb zog sich zusammen. Ein verzweifelter Schluchzer wollte sich herausstehlen, aber ich ließ ihn nicht. Stattdessen ballte ich die Fäuste und straffte die Schultern.

»Wir sollten vielleicht doch die Öffentlichkeit in die Suche nach Lee einbeziehen. Wir könnten eine Hinweishotline einrichten. Die Leute erkennen zwar die Wahrheit nicht an, aber sie haben trotzdem Augen im Kopf. Viele Augen, die nach Captain Aherra Ausschau halten können.«

»Und sehr viele Hände, die zum Telefon greifen können«, meinte Chiara dazu. »Nicht, um sachdienliche Hinweise zu geben, sondern um die Hotline für alle möglichen Beschimpfungen zu nutzen.«

Samira stimmte ihr zu. »Außerdem hat sich die Instanz klar gegen eine Veröffentlichung ausgesprochen.«

Ja, das hatte sie. Aber das war zwei Tage her. Da war noch niemand davon ausgegangen, dass wir so lange völlig im Dunkeln tappen würden. Inzwischen gab es durchaus Argumente für eine Erweiterung der Suchaktion.

Meine Gedanken schweiften zu Senator Aherra. Ich hatte ihn zuletzt bei der Anhörung meines Dads gesehen und fragte mich, wie es Caelan mit dem Verschwinden seines Sohnes erging. Oder der Lady. Wirklich einschätzen konnte ich es bei den verqueren Aherra-Familienverhältnissen nicht. Die Lady machte sich wahrscheinlich hauptsächlich Sorgen, dass ihre Investition futsch sein könnte. Und Caelan? Tja. Ich an seiner Stelle würde ja längst hier am Tisch sitzen, um bei der Suche aktiv mitzuwirken.

»Was ist mit dem Portalkristall?«, fragte Ivan. »Habt ihr schon eine Idee, wie ihr ihn reparieren könnt?«

»Gutes Stichwort.« Ich sah zu Rytario. »Hast du die Bruchstücke dabei? George ist heute den ganzen Tag in der Forschungsabteilung. Er weiß zwar noch nicht, wofür genau wir seine Hilfe brauchen, aber das wird er gleich erfahren.«

Rytario holte die drei Bruchstücke aus seiner Tasche und legte sie auf den Tisch. Der Kristall war genau zwischen den Metallringen auseinandergebrochen, mit denen man das entsprechende Portal justieren konnte. Die Bruchkanten waren glatt und man hatte den Eindruck, das Problem im Handumdrehen mittels Sekundenkleber lösen zu können.

Aber der Eindruck täuschte. Ich öffnete meine Sicht der Elemente und war sofort geblendet von dem grellen Licht, als das ich den vermeintlichen Kristall wahrnahm.

Askaneja. Die göttliche Einheit. Alle vier Elemente in absolutem Gleichgewicht, vereint zu einem Material reinster Magie.

Ich nahm eines der Bruchstücke. Nur ganz schwach erklang das Wispern der Unsäglichen. Etwas von der Zauberformel war auf jeden Fall noch in dem Kristall verankert, allerdings waren die Worte durcheinandergeraten. Als würden sie alle gleichzeitig ertönen, anstatt ihren ursprünglichen Reim zu singen.

»George?«, fragte da Chiara mit verhaltenem Hüsteln. »Ist das nicht der schmächtige Bursche, der mit dir die Grundausbildung gemacht hat? Der hat doch gerade erst mit dem Studium begonnen. Wie sollte ausgerechnet er euch helfen können?«

Meine Sicht fiel in sich zusammen und ich musterte Chiara herablassend. »Weil dieser ›schmächtige Bursche‹ zum einen klüger ist als wir alle zusammen und darüber hinaus eine völlig neue Sichtweise auf die theoretische Magie hat. Genau das, was wir hier brauchen.«

»Du setzt also lieber auf einen unerfahrenen Studenten als auf eine ganze Abteilung voller renommierter Wissenschaftler?«, fragte sie provokant.

Ganz zu meiner Freude hob Rytario kritisch eine Braue. »Meinst du die gleichen Wissenschaftler, die darauf beharren, ich sei ein genetisch optimierter Supersoldat eurer Welt?«

Ich grinste gehässig. Allerdings nahm Chiara seinen Kommentar überaus gelassen hin.

»Na ja«, schnurrte sie. »Den Verdacht mit der genetischen Optimierung kann ich durchaus nachvollziehen, bei deinem perfekten Körperbau.«

Mein Gott, das war doch echt nicht auszuhalten! Das ganze Weib ging mir tierisch gegen den Strich. Schwungvoll stand ich auf und nahm die Bruchstücke an mich. »Komm mit, Rytario. Wenden wir uns lieber der intelligenten Meinung eines ›schmächtigen Burschen‹ zu.«

Chiara und ich tauschten einen letzten giftigen Blick, bevor ich dicht gefolgt von dem Hünen aus dem Mannschaftsraum stolzierte.

Obwohl unlängst bekannt war, dass Rytario ein Verbündeter der Agency war, für den ich persönlich bürgte, hatten ihn bisher nur die wenigsten Mitarbeiter zu Gesicht bekommen. Ohne Portalkristall musste er die offiziellen Wege benutzen wie jeder andere auch und in den Fluren begegneten uns etliche Agenten, die ihn in einer Mischung aus Neugier und dezenter Überforderung anstarrten. Und wer nicht den Hünen angaffte, starrte mich an. Beziehungsweise meinen Ausschnitt, in der Hoffnung, einen Blick auf das Orinion zu erhaschen.

Intern war inzwischen endgültig offengelegt, dass ich als vollwertige Trägerin aktiv war. Extern hatte ich es in meiner Wutrede eigentlich auch schon lautstark verkündet, doch die offizielle Bestätigung stand noch aus, weil in der PR-Abteilung Uneinigkeit über die entsprechende Strategie herrschte. Jedenfalls bräuchte ich das Orinion innerhalb der Agency nicht zu verstecken, tat es aber die meiste Zeit trotzdem. Wahrscheinlich aus Macht der Gewohnheit. Außerdem verringerte es zweifellos die Starrzeit, wenn die neugierigen Blicke nicht vom Amulett gebannt werden konnten.

Was allerdings sehr viel schlimmer war als die durchaus nachvollziehbare Neugier in den meisten Augen, war das, was ich bei einigen wenigen Mitarbeitern erkannte. Es war die unverhohlene Skepsis mir gegenüber. Ob es nun an der Wahrheit über meine Mutter, an meiner Wutrede vor dem Mob oder an beidem lag – es gab durchaus auch innerhalb der Agency Leute, die an meiner Gesinnung zweifelten.

Ich war erleichtert, dass sich mit Betreten der Forschungsabteilung die geballte Aufmerksamkeit auf Rytario richtete. In diesem Bereich der Forschungsebene waren die Laboratorien mit Glasscheiben vom Hauptflur getrennt. Ich schaute mich unterwegs nach George um, traf aber zunächst bloß auf entgleiste Gesichter von Menschen in Laborkitteln, die beim Anblick des vermeintlichen Supersoldaten halb aus den Latschen kippten. Eine Wissenschaftlerin setzte sich tatsächlich versehentlich neben ihren Hocker, weil sie vor lauter Erstaunen die Orientierung verlor.

Schließlich entdeckte ich George an einem Arbeitstisch voller brodelnder Glasbehälter, die dunkelblauen Rauch erzeugten. Seine Brillengläser waren leicht beschlagen, was sicher seiner Atemschutzmaske zuzuschreiben war. Als ich ihm durch die Scheibe zuwinkte, lupfte er kurz seine Brille und riss die Augen auf. Vielleicht hätte ich ihm vorher sagen sollen, dass ich Rytario zu unserem Treffen mitbrachte.

George brauchte ein Weilchen, bis er sich in Bewegung setzte. Unter zahlreichen neugierigen Blicken der anderen Wissenschaftler durchquerte er nervös das Labor, eckte an der Schiebetür an, weil er die Öffnungsgeschwindigkeit falsch einschätzte, und stolperte zu uns heraus.

»Rytario, das ist George. Wenn uns jemand helfen kann, dann er. George ist nämlich ein echtes Genie.«

Was mir in diesem Moment wahrscheinlich nicht viele geglaubt hätten, nachdem George vor lauter Aufregung außen über seine Brillengläser wischte, obwohl sie innen beschlagen waren. Rytario ließ sich aber keinerlei Skepsis anmerken. Er nickte freundlich. »Ein Genie können wir gerade sehr gut gebrauchen. Freut mich, dich kennenzulernen, George.«

»Ja, mich auch«, krächzte er, gedämpft von der Maske.

Ich tippte mir als Hinweis ans Kinn. Hastig zerrte George sich den Stoff vom Gesicht. Eines der Gummibänder riss dabei und schnalzte ihm gegen die eigene Hand. Es war einer jener Augenblicke, in denen ich gern liebevoll »Hach, George …« geseufzt hätte.

»Agent Winter!«, erschallte die Stimme von Professor Gilman hinter uns.

Er kam aus einem Seitenflur herangeeilt. Sein Kittel blähte sich im Lauf und mit seiner grauhaarigen Sturmfrisur erfüllte er jegliches Klischee eines passionierten Wissenschaftlers. Gilman hatte ausschließlich Rytario im Visier. Er beäugte den Hünen mit bloßer Faszination und umrundete ihn sogar, um ihn ungeniert von allen Seiten zu begutachten.

»Meine Güte«, hauchte er dabei. »Die Physiologie ist hervorragend gesetzt. Ich nehme an, beschleunigte Zellregeneration sorgt zudem für ausgeprägtes Muskelwachstum.«

»Nein«, erwiderte Rytario gedehnt. »Dafür sorgen hauptsächlich sehr viel Fitnesstraining und ausgewogene Ernährung. Außerdem wurde meine Physiologie nicht gesetzt. Ich wurde gezeugt. Von meinen Eltern. Die Details dieses Vorgangs muss ich Ihnen ja hoffentlich nicht näher erläutern.«

Gilman gab einen ungläubigen Laut von sich. »Sie behaupten also weiterhin, Ihre Genetik würde sich von der unseren unterscheiden, weil Sie einem anderen Universum entspringen?«

»Es ist keine Behauptung, sondern eine Tatsache.« Rytario warf einen Blick auf das Namensschild am Kittel. »Mister Gilman.«

»Professor«, korrigierte dieser.

»Nun, das steht zwar auf diesem Schildchen, aber nach allem, was ich bislang gehört habe, muss ich doch arg an Ihrer wissenschaftlichen Expertise zweifeln. Agent Winter hat Ihnen nicht nur genau erklärt, woher ich stamme, sondern Ihnen meines Wissens sogar Aufzeichnungen entsprechender Forschungen geliefert, die Sie vehement ignorieren.«

»Forschungen?«, wiederholte Gilman schrill. »Damit meinen Sie vermutlich das wilde Gekritzel dieser menschlichen Anthropologin Elisa White. Nichts als haltlose Theorien, denen es an Beweisen mangelt. Es existieren keine Paralleluniversen. Das ist schlicht unmöglich!«

Rytario legte den Kopf schief. »Und dennoch stehe ich jetzt hier. Aber keine Sorge, auch in meiner Welt gibt es Wissenschaftler wie Sie, die sich über ihre Berufsjahre hinweg in ihre eigenen Erkenntnisse so weit verbohrt haben, dass sie nicht mehr über den Tellerrand sehen können.«

»Ich muss doch sehr bitten!«, empörte sich Gilman.

Er konnte bitten, wie er wollte, Rytario hatte vollkommen recht. Ich hatte Gilman als Lehrer während meiner Grundausbildung wirklich gern gemocht und sein Fachwissen geschätzt. Dementsprechend groß war die Enttäuschung darüber, ihn so engstirnig zu erleben.

»Können Sie Ihre Behauptung denn beweisen?«, fragte Gilman aufgeplustert. »Können Sie eine Theorie präsentieren, die ein Multiversum lückenlos erklärt?«

George öffnete den Mund, doch ich kam ihm eilig zuvor. »Professor, wir sind in einer dringenden dienstlichen Angelegenheit hier, die wir mit George klären müssen. Wenn Sie uns also …«

»Mister Dante ist Student«, unterbrach Gilman mich scharf. »Er ist nicht befugt, dienstliche Forschungsarbeiten im Rahmen von Ermittlungen durchzuführen. Von der benötigten Sicherheitsfreigabe Ihrer Angelegenheiten ganz zu schweigen.«

Verärgert trat ich dicht vor den Professor. »Bei allem Respekt, aber Sie haben mir gerade in aller Deutlichkeit bewiesen, dass Sie nicht der richtige Ansprechpartner sind. Sie mögen die höchste Sicherheitsfreigabe haben, doch mein Vertrauen haben Sie deswegen nicht. George Dante jedoch schon. Darum entscheide ich mich bewusst für ihn als zu konsultierenden wissenschaftlichen Sonderberater von Team 8, wodurch er automatisch die entsprechende Befugnis erlangt. Bei Beschwerden können Sie sich gern an Admiral Tegress wenden. Sie sollten allerdings bedenken, dass ich gerade nicht als Agent Winter, sondern in erster Linie als aktive Trägerin zu Ihnen spreche. Dementsprechend können Sie sich ausmalen, wie Admiral Tegress reagieren wird, wenn Sie meine Ermittlungen aufgrund irgendwelcher Zuständigkeitsfragen ausbremsen wollen. Und jetzt entschuldigen Sie uns.«

Ich schnappte mir George und zog ihn den Flur entlang. Gilman gaffte uns entgeistert hinterher. Rytarios neutralen Abschiedsgruß erwiderte er nicht.

»Aber, Jay!«, flüsterte George aufgelöst. »So was wie ein konsultierender wissenschaftlicher Sonderberater existiert doch überhaupt nicht.«

»Tja, ein Multiversum angeblich auch nicht, aber das soll er erst mal beweisen.« Ich grinste verschmitzt. »Was er nicht tun wird. Weißt du, bei solchen Autoritätsgeschichten kommt es gar nicht so sehr drauf an, was man sagt, sondern wie man es sagt. Ich war eben so überzeugend, dass Gilman gar nicht auf die Idee kommen dürfte, meine Befugnis anzuzweifeln.«

»Überzeugend warst du mit Sicherheit.«

Wie auch nicht, immerhin hatte ich von den Besten gelernt. Allen voran vom Meister des autoritären Gehabes, Captain Aherra. Dazu noch von meinem Dad … Und in jüngster Zeit schaute ich mir so einiges von Admiral Tegress ab.

»Wo gehen wir eigentlich hin?«, wollte George wissen.

Gute Frage, denn mein einziges Ziel war aktuell, mich von Professor Gilman zu entfernen. Den hatten wir inzwischen hinter uns gelassen, darum blieb ich stehen. »Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«

»Sicher.« Seine Augen huschten nervös zu Rytario. »Ich hoffe, dass ich euch überhaupt helfen kann. Am besten gehen wir in mein Arbeitszimmer.«

»Wie bitte? Du hast ein eigenes Arbeitszimmer?«

Das hatte er. So wie jeder der aktuell sieben avalonischen Studenten des Agency-gestützten Studiums der Theoretischen Magie. Die Fakultät selbst befand sich in Kybath, doch die angehenden Wissenschaftler waren für ihre Praxiseinsätze in Forschungsabteilungen über die gesamte Anderswelt verstreut. Gerade durch das Augenmerk auf angewandte Wissenschaften unterschied sich diese Ausbildung erheblich von meinem Studium in Galega. Meinem ehemaligen Studium. Wie auch immer. Jedenfalls hatte George tatsächlich einen eigenen Raum zur Verfügung, in dem er sich perfekt den erforderten Facharbeiten inklusive entsprechender Experimente widmen konnte.

»Eigentlich wird uns nahegelegt, an technischen Innovationen zu feilen, aber ich habe mich dazu entschieden, die Dante-Winter-Theorie als Facharbeit zu nutzen.« Er machte die Tür auf, die gleich mal innen gegen ein Hindernis stieß. George schnitt eine Grimasse. »Das Zimmer ist leider ein bisschen zu klein. Oder die Magnetspirale zu groß. Wie man’s nimmt.«

Wir schlüpften hinter ihm durch den Türspalt. Nicht viel weniger und Rytario hätte draußen bleiben müssen. Nach einem Schritt über eine Metallröhre befanden wir uns inmitten einer höchst kompliziert aussehenden Konstruktion, die sich kreuz und quer durch das Zimmer zog. Die ursprüngliche Einrichtung bestand vermutlich aus einem Arbeitstisch und einer Computerecke, die nun teilweise in das Röhrenkonstrukt eingebunden waren. An der gegenüberliegenden Wand hing eine Tafel, auf der ich einige der Formeln entdeckte, die George entwickelt hatte.

Erstaunt sah ich mich um und hatte nicht den blassesten Schimmer, wie genau dieser Versuchsaufbau funktionieren sollte. »Mein Gott, George. Das ist ja der Wahnsinn! Allein diese Berechnung an der Tafel …« Ich schüttelte den Kopf. »Hör mal, ich will, dass du meinen Namen aus der Abhandlung streichst. Das hier ist dein Verdienst und so soll er auch gewürdigt werden. Es ist die Dante-Theorie. Punkt. Darum wirst du auch keinesfalls Gilman davon erzählen. Ich mag ihn eigentlich echt gern, aber so, wie er vorhin geredet hat, gönne ich ihm einfach nicht, dass er da irgendwie mitmischt.«

George lächelte mich scheu an. »Streng genommen ist es die Dante-Winter-White-Dante-Theorie. Ich habe ja letztlich nur deine Überlegungen mit denen meiner Eltern und Elisa Whites Recherchen zusammengeführt und die Lücken überbrückt. Aber bei Gilman gebe ich dir recht.«

Rytario tauchte unter einer weiteren Röhre hindurch. »Ich gehe davon aus, dass es bei dieser Theorie um den Nachweis des Multiversums geht?«

»Eigentlich geht es um die korrekte Darstellung des feinstofflichen Feldes«, antwortete ich. »Wir haben bislang nur einen Teil davon gesehen und George versucht nun, das große Ganze aufzudecken. Der Existenznachweis des Multiversums ist eher ein Nebeneffekt.«

Der Schließmechanismus surrte und gleich darauf knallte die Tür erneut gegen die sperrige Metallröhre davor. Eine junge Frau in meinem Alter kam herein. So eilig, dass sie sich beinahe an dem Hindernis verfing. Sie trug ihr dunkelblondes Haar zu zwei flippigen Bommeln gedreht, die wie Ohren auf ihrem Kopf wackelten. Sommersprossen zierten ihr Gesicht und ihre gesamte Ausstrahlung konnte man bloß als quirlig bezeichnen.

»Ach, du heiliger Bimbam!«, rief sie und schlug begeistert die Hände vor der Brust zusammen. »Ihr seid wirklich hier! Ganz in echt!«

George räusperte sich. »Ähm … Rytario, Jay … das ist Anna. Die Ingenieurin, die mir beim Versuchsaufbau hilft. Also, eigentlich ist sie meine Kommilitonin, aber sie kam quasi mit dem Schraubendreher auf die Welt und es gibt nichts, was sie nicht zusammenbauen und zum Laufen bringen könnte.«

Anna knuffte George in die Wange. »Och, du kleiner Charmeur. Du weißt doch, dass ich dir gern helfe. Brauchst mich also gar nicht so zu umgarnen.«

Seine Reaktion besagte deutlich, dass George sie nicht nur wegen ihrer Mechanikerkünste umgarnte. Das Wangenknuffen hatte ausgereicht, dass er jetzt vermutlich erst mal eine Weile mit hochrotem Gesicht seine Schuhe anstarren würde.

Hach, George …

Was ihm an Selbstbewusstsein fehlte, brachte Anna gleich doppelt mit. Ohne jegliche Scheu schüttelte sie zuerst mir die Hand und danach Rytario, während sie fröhlich plauderte: »Das ist ja so aufregend! Ich meine, die Trägerin und dazu noch ein Mann aus einer fremden Welt. Sag mal, Rytario, sind die Menschen bei dir zu Hause alle so groß? Weicht eure Atmosphäre von der unseren ab? Ist die Schwerkraft vergleichbar?«

»Atmosphäre und Gravitation sind gleich«, antwortete Rytario schmunzelnd. »Und meine Menschheit ist genauso individuell und vielfältig wie eure. Obwohl du mich gerade sehr an eine Wissenschaftlerin aus meinem technischen Team erinnerst.«

»Ich hoffe doch, das ist ein Kompliment«, erwiderte sie kess.

»Ein sehr großes sogar.«

Anna strahlte übers ganze Gesicht. Ich mochte sie auf Anhieb und unter anderen Umständen hätte ich gern mit ihr geschwatzt, aber wir waren schließlich nicht zum Tratschen hier. Ich holte die Bruchstücke des Portalkristalls hervor und hielt sie George hin. »Wir suchen nach einer Möglichkeit, dieses Material wieder zusammenzufügen.«

Mit großen Augen nahm er die Bruchstücke an sich. »Ist das … war das dieser Portalstab?« Er wog die Teile prüfend in den Händen. »Nicht zu fassen, wie so ein kleiner Speicher derartige Energiemengen erzeugen kann, die für eine Raumbrücke benötigt werden.«

»Wow!« Anna drängte sich neben ihn. »Das ist genau das, was wir brauchen, George! Da er aus einer anderen Welt stammt, hätten wir die entsprechenden Daten des Kontrafelds. Wir müssen nur ein Stück davon aufspalten und …«

»Sekunde mal!«, sagte ich eilig. »Davon wird gar nichts aufgespalten, klar?«

Anna zog ein Schnütchen. Rytario lächelte sie milde an. »Für euer Vorhaben ist dieses Material ohnehin nicht geeignet. Askaneja hat keine Anbindung zum feinstofflichen Feld. Egal in welchem Universum es erschaffen wurde.«

George sah mich fragend an. Ich sah Rytario fragend an. Und Anna schaute fragend zwischen uns allen hin und her.

»Äh«, bekam ich schließlich heraus. »Wie kann es keine Anbindung haben? Alles, was existiert, ist darin verankert.«

Rytario seufzte leise. »Ich weiß nicht, wie oft ich es dir noch sagen soll. Es ist Askaneja, Jay. Es ist göttliche Magie in Reinform. Darum bin ich ja nicht gerade zuversichtlich, dass sich der Portalkristall mit wissenschaftlichen Methoden reparieren lässt. Aber es wäre Unsinn, es nicht wenigstens zu versuchen.«

George war bereits in vollem Forschermodus, stieg über ein Rohr hinweg, tauchte unter einem weiteren hindurch und gelangte so mit den Bruchstücken zu einem großen Mikroskop auf dem Arbeitstisch. Der Platz davor war reichlich beengt, darum sparten Rytario und ich uns den Rohr-Limbotanz. Anna drängelte sich dicht an George, um ihm über die Schulter zu spähen. Wäre er nicht so fasziniert von den Kristallstücken, wäre er bei dem Körperkontakt sicherlich glatt in Ohnmacht gefallen.

Ich beobachtete Anna ganz genau und glaubte, dass seine Chancen bei ihr ziemlich gut standen. Die beiden würden auch ein echt süßes Pärchen abgeben, das sich zudem perfekt ergänzte.

Sofort dachte ich an Lee und unsere Eigenarten. Die bedeutendsten davon waren zweifellos, dass er sich stets jeden Schritt vorher überlegte und eindeutig zu ungesunder Kontrollsucht neigte, während ich lieber erst lospreschte und mich danach wunderte, dass mir der Kopf wehtat, weil ich freiweg durch eine Wand gerannt war. Genau das machte uns zusammen genommen zu einem klasse Team. Und genau das war es auch, worüber wir uns am meisten zofften.

»Erstaunlich«, sagte George verblüfft. »Das ist wirklich außerordentlich mysteriös. Diese Struktur … so etwas dürfte es überhaupt nicht geben.«

»Zeig mal her!«, forderte Anna ungeduldig und schob ihn ein wenig zur Seite, um selbst durch das Mikroskop zu linsen. Sie sog leise die Luft ein. »Das ist ja verrückt! Sehr mysteriös.«

Na, wenigstens waren wir uns alle einig, dass Askaneja sehr mysteriös war. Ich rieb mir über meine müden Augen und fragte: »Denkt ihr, ihr könnt die molekulare Zusammensetzung reproduzieren?«

George hielt eines der Bruchstücke gegen das Licht. »Ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung. Aber wenn ihr mir die Teile hierlasst, werde ich einige Tests machen. Natürlich, ohne das Material noch weiter zu schädigen. Das schränkt mich zwar bei den Verfahren ein, doch ich werde mein Bestmögliches geben.«

»Daran zweifle ich nicht.« Ich sah zu Rytario. »Einverstanden?«

»Wer dein Vertrauen genießt, genießt auch meins«, antwortete er ritterlich.

Ich nickte, unterdrückte ein wenig ritterliches Gähnen und meinte dazu: »Cool. Dann lassen wir euch jetzt arbeiten. Und George, du meldest dich, sobald du was weißt, ja? Danke schon mal.«

Als ich mich zum Gehen wandte, schlug ich mir gleich mal die Stirn an einem der Metallrohre an, die ich ganz vergessen hatte. Grummelnd tauchte ich darunter hinweg.

Bevor Rytario mir folgte, drehte er sich noch mal zu den zwei jungen Forschern. »Ihr benötigt ein Referenzobjekt aus meiner Welt, ja? Damit kann ich euch weiterhelfen.« Er riss den obersten Knopf seines Hemdkragens ab und warf ihn zu Anna. »Hier. Den mache ich sowieso nie zu. Sollte genügen, oder?«

»Er ist perfekt«, hauchte Anna und hielt den schlichten Knopf entzückt gegen das Licht.

George sagte gar nichts. Er war so gebannt von seinem Mikroskop, dass er uns längst vergessen hatte.

Wir ließen die beiden in ihrer Faszination zurück.

Draußen im Flur lächelte ich Rytario an. »Danke, das war nett von dir.«

»Ich bin eben von Grund auf ein netter Kerl.« Er wiegte kurz den Kopf und fügte an: »Wenn man mich nicht gerade für ein Laborexperiment hält.«

Ich grinste bloß. Wir machten uns auf den Weg zum Zentralaufzug und wurden dabei erneut von etlichen entgeisterten Wissenschaftlern hinter den Glasscheiben angeglotzt. Im Grunde war es wie in einem spiegelverkehrten Zoo.

Kurz vor den Milchglasscheiben, die das Ende der Forschungsabteilung bildeten, verlor ich erneut den Kampf gegen die Müdigkeit, die mich schon die ganze Zeit drangsalierte. Als ich meinen Kiefer wieder unter Kontrolle hatte, fragte ich: »Hast du Lust auf eine magische Lehrstunde? Ich weiß, du hast es mir erst gestern gezeigt, aber ich schnall einfach nicht, wie ich so ein Kohlenstoffobjekt stabil bekomme. Oder auch nur irgendwas stabil bekomme. Meine Elemente fallen immer sofort in sich zusammen.«

»Prinzipiell habe ich schon Lust, aber für dich wäre es klüger, endlich mal ordentlich zu schlafen.«

»Ich werde wieder schlafen, sobald Lee zu Hause ist.«

Er wollte mich sichtlich darüber belehren, dass das kein guter Plan war, doch zum Glück wurde er vom Piepsen meines Armbands ausgebremst. Sofort überflog ich hoffnungsvoll die eingegangene Nachricht, aber es ging nicht um irgendwelche Neuigkeiten zu Lee. Glaubte ich zumindest.

»Tegress will mich sprechen. Ich soll zu ihr ins Büro kommen.«

Rytario drückte den Türöffner. »Hat der Professor sich doch beschwert?«

»Das werde ich wohl gleich erfahren.«

***

Kurz darauf betrat ich das Büro von General Stanson. Ich mochte Admiral Tegress wirklich sehr, aber sie hinter dem Schreibtisch meines Dads sitzen zu sehen, behagte mir überhaupt nicht. Das hier war sein Arbeitsplatz. Sein Territorium, wenn man so wollte. Alles in diesem Raum erinnerte mich an ihn und obwohl ich es eigentlich besser wusste und vor allem zutiefst dankbar für ihre Unterstützung war, kam mir Tegress doch auch auf gewisse Weise wie ein Eindringling vor.

Sie blickte nicht sofort von ihrem GB auf, sondern wies sichtlich abgelenkt auf die smaragdgrünen Besucherstühle. »Setzen Sie sich. Einen Moment noch.«

Ich tat wie geheißen und beobachtete Tegress unauffällig. Ihrem verhangenen Blick nach kommunizierte sie gerade telepathisch mit einem anderen Funker. Wahrscheinlich dirigierte sie irgendeinen Einsatz.

Auch an Tegress waren die letzten Tage nicht spurlos vorbeigegangen. Sie wirkte zwar aufrecht und gefasst wie immer – eben wie eine Frau, die alles unter Kontrolle hatte –, doch die sonst eher dezenten Fältchen an Augen- und Mundpartie waren deutlich tiefer als gewöhnlich.

Was sie mit mir besprechen wollte, konnte ich nicht aus ihrer Haltung herauslesen. Sie wirkte zumindest nicht so, als wollte sie mir eine Rüge erteilen, weil ich einen Studenten zum konsultierenden Berater ernannt hatte. Aber selbst wenn, würde ich ihr meine Beweggründe schon erklären können.

Vorerst wartete ich also entspannt ab, bis sie mit ihrer Tätigkeit fertig war. Die Zeiten, in denen ich Panik bekam, bloß weil ich in ein Büro zitiert wurde, waren längst vorbei. Vielleicht war ich ein wenig zu entspannt, denn mein Kiefer zwang mich gleich wieder dazu, hinter vorgehaltener Hand zu gähnen.

»Agent Winter«, intonierte Tegress schließlich und legte das GB weg. »Ich muss Ihnen etwas mitteilen, das Ihnen vermutlich nicht gefallen wird. Gleich vorweg – ich habe alles versucht, um diese Entscheidung der Instanz zu kippen, aber leider stand dies nicht in meiner Macht.«

Sofort dachte ich an Dad und dass die Instanz ihn jetzt vielleicht doch lieber in eine Zelle im Hochsicherheitstrakt sperren wollte, anstatt ihn im Hausarrest zu belassen.

»Fortan ist es Ihnen untersagt, sich mit Colin White zu treffen.«

Ich blinzelte. Diese Information kam jetzt dermaßen aus dem Nichts, dass ich sie nicht gleich verinnerlichen konnte. »Wie bitte?«, fragte ich vorsichtshalber nach.

»Im Zuge der internen Ermittlungen gegen General Stanson werden all seine letzten Anordnungen überprüft und dazu gehört auch die Freigabe, die es Colin White erlaubt, den Hochsicherheitstrakt zu verlassen. Eine heikle Angelegenheit, Winter, denn damit hat Stanson seine Befugnis gewaltig ausgereizt. Worüber man unter anderen Umständen mit einem Tadel hinwegsehen könnte, doch inzwischen wurde auch bekannt, dass Colin White an Mission 5-8-Alpha beteiligt war. Ein verurteilter Strafgefangener hat ohne Zustimmung der Instanz das Gebäude verlassen. Wie das Hohe Gericht diese Tatsache findet, brauche ich wohl nicht zu erläutern.«

»Aber das eine hat mit dem anderen überhaupt nichts zu tun!«, sagte ich aufgebracht. »Und der General hatte mit der Mission gar nichts zu schaffen. Das war …«

»Stopp!« Tegress unterbrach mich mit einer harschen Handbewegung. »Ich bin zwar unheimlich neugierig auf die ganze Geschichte, doch sollten Sie mir jetzt die Wahrheit sagen, bin ich dazu verpflichtet, eine entsprechende Aussage bei der Instanz zu tätigen. Dass Ihr Vater sich freiwillig in den Fokus der Ermittlungen gestellt hat, muss einen guten Grund haben, und ich will mein Möglichstes tun, um ihn dabei zu unterstützen.«

»Was ich sehr zu schätzen weiß, Admiral. Doch noch mal zurück zur Anordnung. Ich habe mich mit Colin in der Holografiehalle getroffen, weil er mir mit meinen magischen Fähigkeiten helfen kann.«

»Ich weiß. Ich habe mich bereits mit ihm unterhalten.« Ihre Augen schweiften kurz zu meinem Hals. »Den Grund habe ich der Instanz auch vorgeführt, aber nachdem sie nun zweifellos im Vollbesitz Ihrer Kräfte sind, fehlen mir die Argumente, warum dieses Training weiterlaufen sollte. Ihnen ist also mit sofortiger Wirkung der Kontakt zu Colin White untersagt, um geheime Absprachen zu unterbinden.«

»Wie war das? Ich darf mich auch im Hochsicherheitstrakt nicht mehr mit ihm treffen?« Ich schüttelte den Kopf und lachte wirr. »Das ist doch lächerlich! Lee ist auch involviert. Wenn er hier wäre, gäbe es dann zwischen uns auch ein Kontaktverbot, oder was? Dreht die Instanz jetzt komplett durch?«

Tegress hob eine Braue. »Die Instanz bringt erhebliche Zweifel an Colin Whites Integrität an, was ich bei der Schwere seines Verrats offen gestanden gut nachvollziehen kann. Warum Sie ihm vertrauen, kann ich eher weniger verstehen.«

Es fiel mir schwer, nicht laut rumzuschreien. Dass man mir den Kontakt zu Colin untersagte, traf mich ungemein hart. Ich hatte zwar die letzten beiden Tage pausiert, um mich auf die Suche nach Lee zu konzentrieren, doch heute Abend hatte ich mich mit ihm treffen wollen. Weil ich genau wusste, dass er mir einen Lichtblick in der momentanen Düsternis schenken konnte. Darüber hinaus war ich es leid, mich ständig für mein Vertrauen rechtfertigen zu müssen, weil niemand sehen wollte, was ich von Anfang an gesehen hatte. Nämlich die Wahrheit.

»Colins einziger Fehler war, der manipulativen Magie der Dunkelheit zu verfallen«, sagte ich gepresst. »Selbst das kann man ihm nicht vorwerfen, denn sogar ich als Willensbrecherin ersten Grades konnte sie bloß mit Mühe aus meinem Geist verscheuchen. Colin hat nichts verbrochen. Es war die Dunkelheit, die seine Gedanken vergiftete und seine Hand führte.«

»Nun, darüber kann man vermutlich lange und ausführlich diskutieren, aber aktuell ändert es nichts an den Tatsachen. Das vorübergehende Kontaktverbot wurde ausgesprochen und ist bis auf Weiteres wirksam.« Erneut schweifte ihr Blick zu meinem Kragen. »Instanz und PR-Strategen haben übrigens endgültig entschieden, der Öffentlichkeit nichts vom Orinion zu erzählen. Sie müssen also das Amulett außerhalb dieser Mauern versteckt halten und dürfen generell kein Statement zu den aktuellen Geschehnissen abgeben. Werden Sie sich denn daran halten?«

Skeptisch hob ich eine Braue. »Warum sollte ich das nicht tun?«

»Wäre nicht Ihr erster demonstrativer Auftritt vor einer wütenden Menge, nicht wahr?«

»Keine Sorge«, erwiderte ich kühl. »Ich werde keinen weiteren dienstlichen Tadel riskieren. Außerdem habe ich gelernt, dass es ohnehin scheißegal ist, was man dem Mob sagt. Diese Leute würden mich trotz Orinion für eine Komplizin meiner von der Dunkelheit besetzten Mutter und ihres Schergen Stanson halten.«

Tegress lehnte sich zurück und wippte in ihrem Stuhl, während sie mich nachdenklich betrachtete. Ich verschränkte die Arme, weil mir ihr Blick zunehmend auf die Nerven ging. Außerdem kotzte mich das Kontaktverbot zu Colin an. Eigentlich kotzte mich gerade so ziemlich alles an.

»Sind wir fertig?«, fragte ich schließlich gepresst.

Sie nickte. Sofort sprang ich auf und ging ohne weitere Worte zur Tür.

Als ich die Hand danach ausstreckte, sagte Tegress noch: »Winter? Sie sehen furchtbar aus. Tun Sie sich selbst einen Gefallen und gehen Sie schlafen.«

»War das ein Befehl, Admiral?«

»Nur ein gut gemeinter Ratschlag.«

Wunderbar, denn gut gemeinte Ratschläge konnte ich problemlos ignorieren.

KAPITEL 2

Drei Tage.

Seit drei Tagen war Lee nun verschwunden und wir waren weiterhin absolut ahnungslos, wie wir ihn finden sollten.

Wirklich geschlafen hatte ich immer noch nicht. Ich war nicht mal in mein Apartment gegangen, um kurz zu duschen. Aber wovon sollte ich denn müffeln? Ich hockte ja eh bloß tatenlos im Mannschaftsraum rum und wartete, bis sich der Entführer endlich mal meldete.

Wobei ich aktuell sogar eine sinnvolle Beschäftigung hatte. Rytario saß neben mir auf der Couch und überwachte meine Versuche, stabile Materie zu erschaffen. Joe und Ivan lümmelten auch auf dem Sofa und formten ein Publikum, das ungewohnt wenige Kommentare verlauten ließ. Was sehr deutlich aufzeigte, wie gedrückt die vorherrschende Stimmung im Team war. Joe hatte noch keinen einzigen Witz gerissen, obwohl sich zwischen meinen Füßen ein stetig anwachsender Haufen Sandkörner am Boden ansammelte.

Ich hielt eine Kohlenstoffkugel von Rytario in der linken Hand und versuchte mittels Erdmagie eine exakte Kopie davon in meiner rechten zu manifestieren. Was auch wunderbar klappte. Inzwischen innerhalb von Sekunden. Gerade schwebte eine perfekte pechschwarze Kugel über meiner ausgestreckten Hand. Aus Sicht der Elemente sah sie genauso aus wie das Beispielexemplar. Sie fühlte sich auch genauso an. Aber in dem Moment, in dem ich den aktiven Zugriff auf meine Magie stoppte, fiel die Kugel sofort in sich zusammen und rieselte als dunkles Sandhäufchen zwischen meinen Fingern hindurch zu Boden.

»Das gibt’s doch nicht!«, knurrte ich unwirsch und schüttelte die letzten Körnchen von meiner Hand. »Wo liegt denn bitte der Fehler?«

Rytario rieb sich über die Stirn. »Ich habe keine Ahnung. Es fühlt sich alles richtig an und … Na ja, ehrlich gesagt frage ich mich inzwischen, ob dir das Orinion schlicht nicht die Fähigkeit dazu gibt. Es könnte durchaus sein, dass deine Kräfte grundsätzlich anders funktionieren als meine.«

Ich grunzte abwertend. »Na toll.«

»Jay, ich sagte anders. Nicht besser oder schlechter.« Er deutete aufmunternd auf die feste Kugel. »Versuch doch mal, dieser Struktur eine andere Form zu geben.«

Ohne große Zuversicht streckte ich meine Hand vor, verband mich mit dem Element der Erde und spürte mich in die magische Zusammensetzung des Materials hinein. Ich gab einen winzigen Impuls, um die Moleküle zu verschieben. Es knackste laut und die Kugel zerbrach in zwei Hälften. Warum auch immer, denn meinem Gefühl nach hatte ich keine vier Atome bewegt.

Frustriert trennte ich mich von der Magie. »Ich geb’s auf.«

»Warte mal«, sagte Rytario allerdings erstaunt. »Wie hast du denn die Bindung so schnell gelöst? Du hast ja kaum Kraft hineingegeben.«

»War es vielleicht zu wenig Kraft? Liegt darin das Problem?«

Er lachte auf. »Problem? Jay, offenbar kannst du innerhalb eines Wimpernschlags die Hülle eines Golems aufbrechen und brauchst dich dazu nicht einmal anzustrengen. Mir fällt das bedeutend schwerer.« Zum Beweis streckte er eine Hand vor und ich spürte deutlich, dass er tatsächlich sehr viel mehr Energie aufwenden musste, bis eine der Steinhälften knackste und wiederum in zwei kleinere Teile zerbrach. »Hast du den Unterschied bemerkt?«

»Ja«, sagte ich nachdenklich. »Merkwürdig, oder?«

Ivan neigte anerkennend sein Haupt vor mir. »Ich finde es sehr beeindruckend. Du bist praktisch ein lebendes Preskaschwert.«

»Eine Streitaxt«, korrigierte Joe. »Obwohl … Oh, ja! Unsere Jay ist definitiv eher der Typ Vorschlaghammer. Wenn nicht gar eine Abrissbirne, der sich niemand in den Weg zu stellen wagt.«

»Solange ich nicht nackt auf der Abrissbirne herumschwinge«, scherzte ich. Dafür erntete ich bloß ratlose Blicke. Miley Cyrus hatte es wohl nicht in die Charts der Anderswelt geschafft. Ich schnitt eine Grimasse und winkte ab. »Vergesst es. War ein Dortweltwitz.«

Das machte nichts, denn Joe fand mit Leichtigkeit genügend Andersweltwitze zum Ausgleich. Ich genoss es, mich von ihm aufziehen zu lassen, weil wenigstens für ein paar Minuten die Welt wieder in Ordnung schien. Viel zu schnell verklang die aufgeploppte Fröhlichkeit und unser Geplauder verebbte, bevor es ins altbekannte Schweigen überging.

Plötzlich war ich so erschöpft, dass ich die Steinhälften weglegte und mich in der Couchecke zusammenkauerte. Joe startete irgendeine Buddykomödie im Fernsehen, die sowieso niemanden interessierte. Rytario blieb noch eine Weile bei uns, bevor er zur Kaffeemaschine schlenderte und bei einem Gespräch mit Samy und Chiara hängen blieb, die am Projektionstisch saßen.

Ich schloss die Augen und rollte mich zusammen, weil ich üble Bauchschmerzen bekam. Die suchten mich bereits seit gestern intermittierend heim. Vor allem, wenn ich ein wenig zur Ruhe kam, so wie jetzt. Dann legte sich die Angst um Lee wie eine Klammer um meine Körpermitte und zog sich stetig mehr zusammen.

Furchtbare Bilder fluteten meine Vorstellungskraft. Lee, mit blutverschmiertem Gesicht. Schwere Ketten hielten ihn in einem modrigen Kellerverlies gefangen. Er fror, war durstig, erschöpft und am Ende seiner Kräfte. In seinen Augen stand geschrieben, dass er alle Hoffnung verloren hatte.

Ich zog meine Beine noch mehr an mich heran und schlang die Arme darum, um mich ganz klein zu machen. Die Angst um Lee war schon kaum zu ertragen, doch noch viel schlimmer war es, nichts für ihn tun zu können. Ich konnte ihm nicht helfen. Auf gewisse Weise war ich ebenso gefangen wie er. Angekettet in dem dunklen Loch der Machtlosigkeit. Ich fühlte mich nicht zum ersten Mal hilflos und schwach, aber in diesem Ausmaß war es mir neu.

Man hörte ihn ja des Öfteren, diesen Spruch: »Ich wäre fast gestorben vor Sorge«. Jetzt wusste ich, dass er nicht von ungefähr kam, denn ich hatte tatsächlich den Eindruck, mein Herz könne jeden Moment aufhören zu schlagen, weil die Last schlicht zu groß war.

Verkrampft zwang ich meine Aufmerksamkeit zu den Geräuschen im Raum. Die Filmdialoge ergaben überhaupt keinen Sinn für mich, darum konzentrierte ich mich auf das Gespräch am Projektionstisch.

Samira fragte Rytario: »Und du meinst, der Sarlak würde ein Duplikat des Buches nicht sofort erkennen? Immerhin hört ihr beide dieses Flüstern doch auch schon von Weitem. Das müsste bei ihm ähnlich sein.«

»Seine Sinne sind mit Sicherheit für die Sprache der Götter geschärft«, antwortete Rytario. »Allerdings hat er das Buch bloß aus der Ferne gesehen. Er kann nicht wissen, dass ein wenig von der magischen Ausstrahlung durch den Metallmantel dringt, darum wird ihm das Fehlen des Flüsterns bei einer Kopie zunächst nicht auffallen. Den Fake sollte er also erst bemerken, sobald es ihm gelingt, das Metall aufzubrechen.«

»Wozu er schweres Gerät bräuchte«, vermutete Chiara. »Weil er keine Erdmagie besitzt, stimmt’s?«

»Genau.« Rytario seufzte. »Ich hätte der Erde einen Kommunikator dalassen sollen. Hoffentlich wird sie nicht unruhig, wenn ich sie länger nicht besuche, und bleibt in ihrem sicheren Versteck. Aber dass ihr mich mit einem Jet zu ihr bringt, halte ich für schwierig, weil … Nun, ich denke, es ist klüger, wenn ich weiterhin der Einzige bin, der weiß, wo genau sie ist.«

»Das ist sicher das Klügste und der Erdgeist wird schon vernünftig bleiben«, sagte Chiara beruhigend. »Der Wassergeist bestimmt auch. Da weiterhin jede Spur zu ihm fehlt, scheint er ja ein überaus gutes Versteck gefunden zu haben, das ihn vor dem Sarlak schützt.«

»Um die Naturgeister mache ich mir momentan keine allzu großen Sorgen«, meinte Samira nachdenklich. »Mich beschäftigt weit mehr, worauf der Sarlak wartet. Wenn er Lee gegen das Buch eintauschen will, hätte er seine Forderung doch längst stellen müssen.«

»Vielleicht ist Lee gar nicht sein Druckmittel«, überlegte Rytario zurückhaltend. »Da der Sarlak keinen Zugang mehr zum Agency-System hat, könnte er Lee auch als Informant benutzen.«

Ich schlang meine Arme noch fester um meine Beine, weil mir dieser Gedanke schon die ganze Zeit im Kopf herumspukte, und der führte mich wiederum zu einer fürchterlichen Vermutung, die ich langsam nicht mehr verdrängen konnte. Sollte ich auch besser nicht, denn mein Verdacht wurde leider mit jeder verstrichenen Stunde immer wahrscheinlicher. Ob ich es wahrhaben wollte oder nicht.

Mit belegter Stimme sagte ich: »Lee könnte weit mehr sein als nur ein Informant. Wenn der Sarlak alle Fähigkeiten unserer Dunkelheit nutzen kann, dann … dann könnte er Lee sogar zu seinem Handlanger machen.«

Alle sahen mich erschrocken an. Joe hob wie in Zeitlupe die Fernbedienung und pausierte den Film. Samira schüttelte kaum merklich den Kopf und öffnete ein paarmal den Mund, wusste aber offenbar nicht, was sie eigentlich dazu sagen wollte. Jedenfalls war den anderen die Möglichkeit einer mentalen Manipulation zweifellos noch gar nicht in den Sinn gekommen.

Ivans Schwanzspitze zuckte nervös. »Aber Lee würde einem Pakt mit der Dunkelheit niemals zustimmen.«

Mit einem Ruck richtete ich mich auf. »Wann kapiert ihr endlich, dass diese Paktsache ganz anders abläuft als bislang angenommen? Ja, die Zustimmung muss freiwillig erfolgen. ABER: Die Dunkelheit hat die Fähigkeit, einem derart verlockende Gedanken in den Kopf zu setzen, dass man in diesem Moment glaubt, der Pakt sei das einzig Richtige. Sie verdreht einem die Moral so lange, bis man schließlich freiwillig zustimmt. Willensbrecher können diese Manipulation stoppen, doch Lee … Lee könnte sich nicht dagegen wehren. Er kann es nicht! Er hat keine Chance! Versteht ihr? KEINE!«

Ich presste die Lippen zusammen, weil ich die letzten Worte fast geschrien hatte. Eigentlich hätte ich gern weitergeschrien. Ohne dabei etwas zu sagen. Ich wollte einfach nur rumbrüllen. Und nebenbei vielleicht irgendetwas kurz und klein schlagen.

Die anderen musterten mich unschlüssig. Joe schien mir überhaupt nicht glauben zu wollen und ich spürte sehr deutlich, dass ich meinen Schreidrang nicht im Zaum halten könnte, sollte er seine Skepsis laut aussprechen. Zum Glück schwieg er.

Stattdessen wollte Rytario sachlich von mir wissen: »Würde man diese Manipulation irgendwie von außen erkennen?«

»Bei meiner Mutter konnte ich die Dunkelheit mittels Elementarsicht als eine Art Schatten ganz deutlich wahrnehmen«, erklärte ich mit hohler Stimme. »Wenn Lee manipuliert wurde, müsste es allerdings eher wie bei Colin sein. Ich gehe davon aus, dass man diese Beeinflussung auch erkennen kann. Allerdings hatte ich mir seine Aura damals nie angesehen, weil ich die Fähigkeit der Sicht erst später entdeckt habe.«

Rytario strich sich grübelnd über den Bart. »Meine Schutzzauber wehren auch den kleinsten Hauch von dunkler Magie ab. Sollte Lee also auf eine solche Weise beeinflusst sein, wird er die Barrieren nicht übertreten können. Der Sarlak kann ihn also nicht als Maulwurf zurück in die Agency schleusen. Darüber hinaus kennt Lee weder das Versteck des Erdgeists noch weiß er, wo sich das Buch aktuell befindet. Er könnte dem Sarlak allenfalls den Aufenthaltsort von Luisa verraten, doch ich bezweifle, dass er weiterhin ein Interesse an ihr hat. Sie weiß nicht, wo das Buch inzwischen ist, und ein Druckmittel gegen dich hat er ja durch Lee bereits.«

»Meinen Eltern droht aktuell keine Gefahr durch den Sarlak«, sagte ich. »Davon bin ich überzeugt.«

Ivan fragte vorsichtig: »Sollte Lee tatsächlich von der Dunkelheit beeinflusst sein, kannst du ihn aber befreien, oder? So, wie du es bei deiner Mutter auch getan hast.«

»Ja«, antwortete ich sofort und legte eine Hand auf das Orinion. »Ich habe nicht vergessen, wie ich das damals fertiggebracht habe. Zumal es bedeutend einfacher sein dürfte als bei meiner Mum. Sie war schließlich mit der kompletten Dunkelheit besetzt und nicht nur zum Teil beeinflusst.«

Joe schüttelte sich leicht. »Besetzt. Wie beim Exorzist.«

»Stimmt nicht«, erwiderte Ivan altklug. »Da spricht man von Besessenheit, nicht von Besetzung.«

»Worin liegt der Unterschied?«

»Ist das wirklich wichtig?«, mischte Samira sich genervt ein. »Was zählt, ist, dass Jay den Einfluss durchbrechen könnte. Sollte es nötig sein. Denn vielleicht hat der Sarlak diese Fähigkeit überhaupt nicht. Oder er sieht keinen Sinn darin, Lee zu manipulieren, weil er sowieso keine tauglichen Informationen liefern kann. Oder, oder, oder …«

Sie fuhr sich mit einem Schnaufen durchs Haar und zwang sich sichtlich zur Ruhe. Ich war wohl nicht die Einzige, die liebend gern herumgeschrien hätte.

Ein leises Signal ertönte vom Projektionstisch und kündigte den Eingang eines neuen Dokuments an. Sofort richteten sich alle hoffnungsvoll auf. Samira machte unsere Hoffnung jedoch gleich wieder zunichte.

»Es geht nicht um Lee.« Sie überflog kurz die Dokumente. Dann ächzte sie laut. »Der Durchsuchungsbeschluss der Lichtenburger Kreditfirma wurde auch abgelehnt. Verfluchter Mist! Glaubt ihr, Gedelski ahnt schon, dass wir seiner Spur folgen?«

Chiara schaute missbilligend zu mir. »Wäre zumindest keine Überraschung, wenn sein Sohn sich inzwischen umentschieden und ihm doch von Jays Einbruch erzählt hätte.«

»Wäre das so, würde ich jetzt bestimmt nicht hier sitzen, sondern in einem Verhörraum«, zischte ich. »Außerdem bin ich nach wie vor von Maranons Intentionen überzeugt. Er hasst seinen Vater und will ihn in den Knast bringen. Maranon wäre längst unser bester Informant, wüssten wir endlich, an wen wir uns wenden können, um die Ermittlungen offiziell einzuleiten.«

»Tja, das nächste Rätsel«, murmelte Samira zähneknirschend. »Zu der Tonaufnahme des Telefonats, die Maranon dir gegeben hat, konnten wir keinen Verbindungsnachweis erstellen. Wir haben also immer noch keine Ahnung, mit welchem Instanzmitglied Senator Gedelski zusammenpfeift, und weiß der Geier, ob in der Führungsebene der Agency auch jemand in diesen illegalen Waffengeschäften mitmischt und …« Sie verstummte kurz und lehnte sich zurück. »Vielleicht sollten wir uns doch an Caelan Aherra wenden.«

»Obwohl Lee ihm nicht vertraut?«, hakte ich nach. »Er wollte seinen Dad nicht grundlos überprüfen.«

Chiara brummte. »Ich glaube nicht, dass Lee Caelan aktuell neutral beurteilen kann. Wir wissen doch alle, welcher Stunk momentan zwischen den beiden herrscht.«

Ich kniff die Augen zusammen. »Mit diesem momentanen Stunk meinst du wohl mich, ja?«

Sie sah mich provokant an.

Samira erhob die Stimme und sagte schnell: »Lee wollte Caelan bloß überprüfen, um wirklich ganz sicherzugehen, dass er nicht doch ein falsches Spielchen treibt.«

Mit dünnem Lächeln antwortete ich: »Richtig. Ich finde, Chiara sollte jetzt diese Überprüfung fortführen. Immerhin kennt sie sich hervorragend mit falschen Spielchen aus.«

»Was zum Teufel soll das bedeuten?«, blaffte sie.

»Das weißt du ganz genau!«, bellte ich zurück.

Da wir uns quer durch den gesamten Raum ankeiften, waren wir entsprechend laut geworden. Was mir persönlich ganz recht kam. Ich wollte ja schon die ganze Zeit rumschreien und diese dumme Schnepfe gehörte längst angebrüllt, darum ab die Post: »DU …!«

Weiter kam ich nicht, weil Samira so heftig mit der flachen Hand auf die Tischplatte schlug, dass es gewaltig schepperte.

»GENUG!«, rief sie schallend. »Reißt euch gefälligst zusammen, VERFLUCHT! Mit eurem Rumgezicke ist Lee auch nicht geholfen, verdammt noch mal!«

Verdutzt sah ich sie an, denn einen vergleichbaren Tonfall hatte ich von meiner Freundin noch nie gehört. Samy wirkte selbst darüber erschrocken. Nur Joe war keine Sekunde lang perplex, sondern stand auf und ging zu ihr, um ihr unterstützend die Schultern zu massieren. Nebenbei flüsterte er ihr etwas ins Ohr.

Sie nickte erschöpft und lehnte sich gegen ihn. »Hört mal, Leute. Da ich die vorübergehende Teamleitung habe, muss ich Vernunft walten lassen. Wir sind alle übernächtigt und gereizt. Hinweise können wir momentan auch nicht verfolgen, darum werden wir jetzt alle nach Hause gehen und uns ausruhen. Bereitschaft bleibt natürlich trotzdem. Und morgen früh sehen wir uns erholt wieder. In Ordnung?«

Im ersten Moment wollte ich ihr widersprechen, doch dann trafen sich unsere Blicke. Samira war am Ende. So wie wir alle. Körperlich ausgelaugt, und ob überhaupt noch wer klar denken konnte, war anzuzweifeln. Ich konnte es jedenfalls nicht. Darum überwand ich mich schließlich dazu, mich nach Samys Vernunft zu richten, und brachte sogar irgendwie ein Lächeln zustande. »In Ordnung.«

***

Ich betrat mein Apartment, machte genau drei Schritte und blieb wie angewurzelt stehen. Versteinert starrte ich die Rose an, die nach wie vor meine Frühstücksbar zierte. Das letzte Geschenk von Lee. Eine einzelne perfekte rote Rose, die der Zeit schier magisch getrotzt und keinen noch so winzigen Makel gezeigt hatte.

Aber nun kräuselten sich die Blütenränder und ein Blatt war ganz abgefallen. Es lag auf dem Brief, den ich Danu vor zwei Tagen geschrieben hatte.

War das irgendein furchtbares Omen? Ein makabrer Scherz des Schicksals? Oder war es gar Danus Antwort auf meine Bitte um Hilfe?

Langsam trat ich an den Tresen und zog den Brief samt Rosenblatt an mich heran. Kurz versuchte ich noch in dem Ganzen irgendeinen göttlichen Hinweis zu erkennen. Eine himmlische Botschaft oder was weiß ich.

Doch die traurige Gewissheit war längst in mir. Danu antwortete mir nicht. Sie reagierte nicht auf meine Verzweiflung und hatte nicht vor, mir zu helfen. Weil sie niemandem half. Weil ihr alles scheißegal war.

Ich schüttelte das Blütenblatt vom Papier und knüllte verbittert den Brief zusammen. Das war jetzt das letzte Mal gewesen, dass ich mir auch nur irgendwas von Danu erhofft hatte. Nie wieder würde ich sie anflehen. Ich sollte den freien Willen leben? Alles klar. Mit bebenden Schultern ging ich zum Mülleimer und pfefferte den zerknüllten Brief in die Tonne. Mein Wille geschehe.

Der Deckel klappte mit einem gedämpften Geräusch zu. Ich atmete tief durch und nahm das abgefallene Rosenblatt. Es fühlte sich immer noch ganz samtig an.

Ich schloss die Augen und sofort hatte ich Lee vor mir. Sein Lächeln brachte mein Herz zum Flattern. Es war jenes zarte, fast scheue Lächeln, das er nur in seinen unverhülltesten Momenten zeigte. Ich konnte Lee so klar und deutlich vor mir sehen, dass ich unwillkürlich die Hand ausstreckte, um über seine Wange zu streicheln. Doch meine Fingerspitzen glitten bloß durch die Leere.

Ich schluchzte auf. Jetzt, wo ich alleine war, gab es für meine Tränen kein Halten mehr. Ich weinte hemmungslos, streichelte dabei das Blütenblatt und ließ alles raus, was sich in mir angestaut hatte.

Keine Ahnung, wie lange ich weinend in der Küche verharrte. Irgendwann schaffte ich es jedenfalls, mich ins Bad zu zwingen. Nach einer schnellen Dusche schleppte ich mich ins Schlafzimmer und stand eine Weile vor meinem Bett herum. Jede Faser meines Körpers schrie nach Schlaf. Aber ich wollte mich nicht hinlegen. Es kam mir falsch vor. Darum zog ich mir eine frische Uniform an und setzte mich auf mein Sofa.

Das Einstein-Kissen duftete immer noch nach Lee. Nur mehr eine feine Note, aber ich presste mein Gesicht in den Stoff und sog gierig ein, was ich kriegen konnte.

Doch es war nicht genug. Wie könnte es das auch sein? Lee zu riechen reichte nicht. Ich wollte ihn schmecken, ihn spüren, ihn hören, ihn mit all meinen Sinnen erfassen und nie wieder hergeben.

Ob er mir vergeben konnte? Ich hoffte es. Aber selbst wenn nicht, selbst wenn er nicht mehr mit mir zusammen sein wollte, wollte ich ihn in meinem Leben haben. Meinetwegen nur als Captain. Oder als Nachbarn. Ganz egal. Wobei ich sogar darauf verzichten würde, denn das einzig wirklich Wichtige war, dass es Lee gut ging. Dass er nach Hause kam. Gesund und wohlauf.

Während ich das Kissen im Schoß umschlungen hielt und meine Nase hineindrückte, wirbelten Tausende Gedanken durch meinen Kopf. In den letzten Wochen war mein schier perfektes Leben Stück für Stück in sich zusammengeklappt. Bei jedem Ereignis hatte ich geglaubt durchzudrehen und es nicht aushalten zu können. Bis das nächste kam. Und dann wieder etwas.

Aber irgendwie, und das wunderte mich selbst, war ich trotzdem noch nicht komplett zusammengebrochen. Vielleicht, weil ich mir das schlicht nicht erlauben konnte. Ich musste weitermachen. Ich musste Lee finden. Denn wenn ich es nicht tat, wenn ich ihn nicht retten konnte, wenn er sogar sterben sollte, dann … Ja, das wäre mein Ende. Das wusste ich ganz genau. Und ich wusste ebenso, dass mein Ende auch das dieser Welt bedeuten könnte, weil Rytario es allein wahrscheinlich nicht schaffen würde, den Sarlak zu besiegen.

Ein eisiger Schauer rann mir durch die Glieder. Ob der Sarlak das auch wusste? Wusste er, dass er mich, seine größte Bedrohung, zerstören könnte, indem er Lee tötete?

Eine leise Hoffnung sagte mir, dass der Sarlak es bereits auf Feya getan hätte, wäre dem so. Er hätte Lee nicht mitnehmen müssen. Dass er ihn gegen das Buch eintauschen oder im schlimmsten Fall als Handlanger benutzen wollte, machte schon mehr Sinn.

Oder?

Ich wusste es nicht. Ich wusste bloß, dass mir schon wieder speiübel war, weil mein Magen sich schmerzhaft zusammenkrampfte. Mein Herz krampfte sich auch zusammen, genau wie meine Kehle. Ich brauchte dringend frische Luft, darum quälte ich mich vom Sofa hoch und ging hinaus auf den Balkon. Ein zartes Abendrot zeichnete sich am Himmel ab. Zu meinem Leidwesen hörte ich sofort das Geschrei der Demonstranten aus der Richtung des Hauptgebäudes. Es kam bloß aus weiter Ferne herangeweht und dröhnte mir trotzdem so heftig in den Ohren, dass ich sofort wieder nach drinnen fliehen wollte. Dabei fiel mein Blick allerdings auf die Balkonkästen und ich stellte zutiefst erschrocken fest, dass die Blumen am Verdursten waren. Die Erde war staubtrocken und die Blütenköpfe hingen schlaff herunter. Lee wäre entsetzt. Ich war es auch und murmelte unzählige Entschuldigungen, während ich hastig meine Hände über die Pflanzen streckte und einen sanften Wasserfluss hervorrief.

Auch die Blumen auf Lees Balkon ließen die Köpfe hängen. Den vielen Pflanzen in seiner Wohnung dürfte es nicht besser gehen. Ich musste mich sofort darum kümmern, daher machte ich mich schnurstracks auf den Weg zu seinem Apartment.

Im Flur dachte ich darüber nach, warum wir eigentlich die meiste Zeit in meiner Wohnung verbracht hatten, obwohl doch seine ganzen Pflanzenschätze bei ihm waren. Seltsam, dass mir das erst jetzt auffiel. Im Grunde hatten wir längst in meinem Apartment zusammengelebt. Lees Wohnung war mehr oder weniger ein zusätzliches Bad, sein Kleiderschrank und natürlich sein privates Gewächshaus gewesen.

Ich hatte zuvor nie übers Zusammenziehen nachgedacht oder sonst irgendwelche familiären Pläne geschmiedet. Solche Dinge lagen für mich noch in so weiter Ferne, dass sie schlicht nicht greifbar waren. Doch nun, wo ich gedankenverloren im Flur vor seiner Wohnungstür stand, hatte ich auf einmal das Bild vor Augen, wie meine Zukunft mit Lee eines Tages aussehen könnte.

Wir beide in einem hübschen Häuschen mit prachtvollem Garten. Vielleicht kochten wir gemeinsam etwas. Was wir übrigens noch nie getan hatten, weil wir beide kulinarische Nieten waren und uns eine ausgezeichnete Kantine zur Verfügung stand. Aber wir könnten einen Kochkurs machen. Das volle Pärchenprogramm. Ich sah es deutlich vor mir. Ich schnippelte Gemüse, während er in einem Topf rührte und mich vom Kochlöffel probieren ließ, nachdem er umsichtig drübergepustet hatte, damit ich mir die Zunge nicht verbrannte …

Uah, wollte ich echt so einen Kitsch erleben?