Love Lessons - Ein Blick von dir - Heidi Cullinan - E-Book

Love Lessons - Ein Blick von dir E-Book

Heidi Cullinan

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Beschreibung

Eine langweilige Party, eine überraschende Begegnung, verzehrende Blicke und ein heißer Kuss - Aarons Leben gerät völlig aus den Fugen, als er Giles trifft. Eines weiß er danach jedoch ganz genau: Er steht auf Männer - und er will Giles! Daher schreibt Aaron sich ebenfalls im St. Timothy College ein, doch Giles ist alles andere als begeistert, als er dort auftaucht. Sein Ziel war, alle Brücken hinter sich abzubrechen, sich seiner Geige zu verschreiben und Musik zu studieren - und die leidenschaftliche Begegnung mit Aaron zu vergessen, die ihn vollkommen aus der Bahn geworfen hat ... (ca. 320 Seiten)

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Seitenzahl: 561

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Inhalt

TitelZu diesem BuchWidmung12345678910111213141516171819202122232425262728293031DanksagungDie AutorinHeidi Cullinan bei LYXImpressum

HEIDI CULLINAN

Love Lessons

Ein Blick von dir

Roman

Ins Deutsche übertragen von Stephanie Pannen

Zu diesem Buch

Eine langweilige Party, eine überraschende Begegnung, verzehrende Blicke und ein heißer Kuss – Aarons Leben gerät völlig aus den Fugen, als er Giles trifft. Eines weiß er danach jedoch ganz genau: Er steht auf Männer – und er will Giles! Daher schreibt Aaron sich ebenfalls im St. Timothy College ein, doch Giles ist alles andere als begeistert, als er dort auftaucht. Sein Ziel war, alle Brücken hinter sich abzubrechen, sich seiner Geige zu verschreiben und Musik zu studieren – und die leidenschaftliche Begegnung mit Aaron zu vergessen, die ihn vollkommen aus der Bahn geworfen hat …

Für S. N. – selbst auf die Gefahr, dass du das Buch zu kitschig findest, denn ich musste beim Schreiben die ganze Zeit an dich denken. Jetzt, wo es fertig ist, verstehe ich, warum. Ich hoffe, dass du ebenfalls erkennen wirst, wer (alle von ihnen) und was in dieser Geschichte dich zu dem einzigen Menschen macht, dem ich sie widmen könnte.Ich liebe einfach alles an dir – die Kunst, die du erschaffst, die Loyalität, die du erweckst, die Freude, die du schenkst, das Chaos, das du heraufbeschwörst. Du bist für mein Leben ein Geschenk, das ich niemals vergessen werde.Für immer die Deine, Heidi

1

An seinem achtzehnten Geburtstag navigierte Aaron Seavers durch das Meer von College-Broschüren, die auf seiner Bettdecke verstreut lagen, auf der Suche nach einer Zukunft, die seinen Vater erfreuen würde, ohne seine eigene Seele zu zerstören. Es wäre einfacher gewesen, im nächstgelegenen Naturschutzgebiet ein Einhorn zu finden, da war er sich ziemlich sicher. Es war der einundzwanzigste Juni. Er hatte vor über einem Monat seinen Abschluss gemacht. In nur acht Wochen öffneten die meisten Colleges den Erstsemestern ihre Türen, und Aaron hatte sich immer noch nicht für eines entschieden. Sein Vater war deswegen wütend auf ihn, was zwar nichts Neues war, doch dieses Mal konnte ihn Aaron verstehen.

Noch vierundzwanzig Stunden, dann würde Aaron zu seinem Vater nach Eden Prairie fahren und den Rest des Sommers dort verbringen. Dann würde Jim Seavers herausfinden, dass sich Aaron immer noch kein College ausgesucht hatte, und er würde seine Drohung von letzter Woche wahr machen und selbst eines bestimmen. Und Aaron würde sich an der elitärsten, prestigeträchtigsten Universität wiederfinden, die ihn so kurzfristig noch aufnahm – irgendwo weit weg von Minnesota.

Er riss sich aus den düsteren Gedanken und widmete sich wieder seiner Aufgabe, aber sofort wurde ihm wieder die Sinnlosigkeit seines Tuns bewusst. Wie sollte er ein College auswählen, wenn sie ihm alle gleich vorkamen? Jede Broschüre war ansprechend gestaltet, mit ausdruckstarken Farben und eleganten Schriften. Auf allen prangten Fotos ordentlicher, lächelnder Studierender, in ethnisch ausgewogener Mischung und offensichtlich glücklich mit der Wahl ihrer Hochschule. In den Händen hielten sie eine Sportausrüstung, Musikinstrumente oder andere Symbole der angebotenen außerschulischen Aktivitäten. Alle Institute lockten mit den gleichen Aussichten auf Glück und Erfolg – es waren zwar unterschiedliche Schlagwörter, bei denen es sich aber nur um Variationen des gleichen Themas handelte.

Komm zu uns. Wir können dir die perfekte Zukunft geben.

Wenn Aaron diesen Versprechungen auch nur einen Moment geglaubt hätte, hätte er sich schon vor sechs Monaten eingeschrieben. Doch dasselbe Problem, das er damals gehabt hatte, suchte ihn auch jetzt heim. Wie sollte er sich für ein College entscheiden, wenn er nicht wusste, was er aus seinem Leben machen wollte? Wie konnte er sich der Zukunft widersetzen, die sich sein Vater für ihn wünschte, wenn ihm keine Alternative einfiel?

Wie sollte er glücklich werden, wenn er gar nicht wusste, was er brauchte, um sein Leben zu lieben?

Neben ihm auf dem Bett summte sein Handy. Seltsam, wie das sein Herz höherschlagen ließ, obwohl es ein ganzes Jahr her war, seit eine Textnachricht irgendetwas bedeutet hatte. Was war er doch für ein rührseliger Idiot.

Die Nachricht war von Colton. Bereit, deinen Geburtstag abzufeiern?

Colton erinnerte sich daran, dass heute sein Geburtstag war, was mehr war, als Aaron erwartet hatte. Er strich mit dem Daumen über die glatte Seite seiner Handyhülle und überlegte, was er antworten sollte. Er mochte Colton nicht besonders, und er hatte wirklich zu tun – aber es war sein Geburtstag. Sein achtzehnter Geburtstag.

Eine weitere Textnachricht kam rein. Catherine hat die halbe Schule eingeladen. Jede Menge Geeks, aber auch eine Menge Tussis zum Flachlegen.

Aaron verdrehte die Augen und warf das Handy auf sein Kissen. Darum wollte Colton mit ihm ausgehen. Wenn sie zusammen unterwegs waren, wurden sie immer von Mädchen umschwärmt, und da Aaron nichts mit ihnen zu tun haben wollte, hatte Colton, wie er es ausdrückte, die freie Wahl. Normalerweise suchte sich Aaron die Stillste aus und unterhielt sich mit ihr, aber manchmal musste er auch mit ihr rummachen, was ihn immer nervös machte. Colton verschwand bei der erstbesten Gelegenheit mit dem schärfsten Mädchen der Herde. Manchmal mit mehr als einem.

Ja, genau so wollte Aaron seinen Geburtstag verbringen.

Allerdings konnte Colton ihm Alkohol besorgen.

Es klopfte an der Tür, und Aarons Mutter steckte ihren Kopf herein. »Hi, mein Schatz.«

Aaron warf das Handy wieder aufs Kissen. »Hey, Mom.«

Beth Seavers schob die Tür ganz auf und musterte das Chaos auf dem Bett ihres Sohnes. »Wie ich sehe, bist du wieder dran.«

»Ja.« Aaron schnappte sich willkürlich eine der Broschüren und begann sie durchzublättern. »Ich wünschte, ich würde wissen, bei welcher ich mich noch so spät einschreiben kann.«

»Dein Vater wird sich schon darum kümmern.« Sie lehnte sich gegen den Türrahmen und schlang ihre Strickjacke enger um ihren Körper. Es war flauschige rosafarbene Kaschmirwolle, trotzdem schien ihr kalt zu sein. Ihr Gesicht war bei der Erwähnung ihres Exmanns ganz ausdruckslos geworden. »Tu einfach, was er dir sagt, und alles kommt in Ordnung.«

Aaron spitzte die Lippen und warf die Broschüre wieder zu den anderen. »Ich wünschte, mir würde ein Studiengang einfallen, den er auch okay findet. Es muss doch irgendetwas geben, was ich wenigstens ein bisschen mag.«

»Wenn du erst mal da bist, wirst du schon was finden.« Beths Gesichtsausdruck wurde wehmütig. »Vielleicht solltest du etwas Klavier spielen, um deine Gedanken zu ordnen. Du hast mir früher immer gesagt, dass dir das helfen würde.«

Ja, früher. Er warf einen Blick auf das staubige Keyboard in einer Zimmerecke und spürte einen Kloß im Hals. »Klavier spielen ist nichts, was Dad für meine Zukunft akzeptieren würde.«

»Natürlich nicht. Aber selbst er würde sagen, dass du dir Zeit nehmen solltest, um dich zu entspannen und Dampf abzulassen.«

Aaron warf einen Blick auf sein Handy. Das Display war erleuchtet und er sah, dass Colton wieder geschrieben hatte. »Es gibt da heute Abend eine Party, aber ich dachte, dass ich mich besser um diesen Collegekram kümmern sollte.«

»Geh doch hin. Hab Spaß mit deinen Freunden. Heute ist schließlich dein Geburtstag.«

Freunde. Echt witzig. Dennoch nahm Aaron das Handy und sah sich die Nachrichten an. Er kannte diese Catherine nicht, aber das war auch nicht weiter überraschend. Er war vor einem knappen Jahr von Eden Prairie nach Oak Grove gezogen – sein Vater hatte einen langwierigen Fall in Kalifornien angenommen, und seine Mutter hatte unbedingt endlich in der Nähe ihrer Schwester wohnen wollen. Nach der Katastrophe mit Tanner an seiner alten Schule hatte sich Aaron nicht groß gewehrt, zu Beginn seines Abschlussjahrs zu wechseln … aber die Konsequenz war, dass er praktisch niemanden kannte. Colton und die Leute, mit denen er abhing, waren alles, was Aaron hatte. Footballspieler und Cheerleaderinnen – das krasse Gegenteil von Aarons Leben in Eden Prairie. Anfangs hatte er sich gefreut, zur Abwechslung mal zu den angesagten Schülern zu gehören, doch bald schon hatte er gemerkt, welch falsche Vorstellungen er sich davon gemacht hatte. Wer hätte gedacht, dass beliebte Leute so einsam waren?

Aaron warf das Handy wieder aufs Bett. »Ich kann morgen nicht bei ihm auftauchen, ohne eine Entscheidung getroffen zu haben.«

»Dann triff eine. Sie sehen alle nett aus. Such eins aus und lass es gut sein.«

»So einfach ist das nicht. Er wird wissen wollen, warum ich mir gerade dieses College ausgesucht habe, was ich studieren will, und ich habe einfach keine Ahnung.«

Sie wickelte sich noch enger in ihre Strickjacke und legte ihre hübsche Stirn in Falten. »Ich muss mich hinlegen, Liebling. Ich bekomme eine Migräne.« Sie lächelte ihn gezwungen an. »Sag mir Bescheid, wenn du doch gehst, okay?«

Unglücklich blickte ihr Aaron hinterher, schluckte seinen Kummer aber herunter. Warum sollte sie ihm auch helfen? Das tat sie ja nie.

Er war einfach dumm, immer wieder darauf zu hoffen.

Neben ihm summte das Handy wieder, dieses Mal regelmäßig. Ein Anruf. Aaron seufzte und ging dran.

»Hey, Colton.«

»Warum schreibst du nicht zurück, du Schwanzlutscher?« Colton lachte, als hätte er Aaron nicht gerade beleidigt, sondern einen lustigen Witz gemacht. »Ich bin in einer halben Stunde bei dir, und dann gehen wir zu Catherine.«

»Klar.« Aaron schnippte mit seinem Finger gegen eine Broschüre. »Aber können wir vielleicht erst was essen?«

»Ich könnte was vertragen. Was willst du denn, Pizza? Wie wäre es mit Lenny’s?«

Aaron verzog sein Gesicht. »Gott, nein. Lass uns zu Zebra’s fahren.«

»Den ganzen Weg nach Anoka?«

Es war eine Viertelstunde entfernt, oder zwanzig Minuten, wenn auf der Straße viel los. Fast hätte Aaron nachgegeben, aber er hasste das Lenny’s wie die Pest und außerdem war es sein Geburtstag. »Ja. Wenn das Benzin das Problem ist, gebe ich dir was dazu.«

»Verdammt, nein, ich bin nur faul. Bis gleich.«

Aaron hatte es nicht eilig, sich fertig zu machen – eine halbe Stunde in Colton-Zeit bedeutete eine Dreiviertelstunde. Dann würde er anrufen und sagen, dass er aufgehalten wurde und in fünfzehn Minuten da wäre, was sich zu einer weiteren Stunde ziehen würde, bevor Colton wirklich vor der Tür stand. Noch einmal kämpfte Aaron mit den Broschüren, mit dem festen Vorsatz, sich für eine zu entscheiden, bevor er sich mit Colton die Kante gab, doch eine Wahl schien unmöglicher denn je.

Er gab auf, stieg vom Bett und ging ins Badezimmer.

Ein Keane-Song ging ihm durch den Kopf, was ihn etwas aufmunterte, und als er aus der Dusche kam, summte er den Refrain von »Bend and Break«. Vielleicht würde die Party ja sogar Spaß machen. Vielleicht würde er dort endlich jemanden treffen, mit dem er sich anfreunden konnte. Er würde den Sommer über fort sein, aber er brauchte ja auch nur jemanden für den Abend, jemanden, mit dem er sich an seinem Geburtstag gut fühlen konnte. Mehr wollte er gar nicht. Einen schönen Abend.

Aaron lächelte, als er seine Shirts im Schrank durchging. Er sang jetzt laut, und seine ganze Brust vibrierte von den Klängen. Vielleicht traf er ja wirklich jemanden. Auf einer Party konnte alles passieren.

Endlich entdeckte er das T-Shirt, nach dem er gesucht hatte, hinten im Schrank und zog es vom Kleiderbügel. Dabei fiel eine Kiste aus dem Regal dahinter zu Boden. Fotos und Papiere verteilten sich in seinem Zimmer. Als sich Aaron bückte, um die Sachen wieder einzusammeln, hatte er plötzlich Tanners unfertige Noten in der Hand, zusammen mit einem Foto von ihnen beiden, wie sie dicht gedrängt mit den anderen Bandmitgliedern lachten.

Im Nu kehrte die Niedergeschlagenheit zurück.

Aaron schubste die Kiste außer Sichtweite, zog sich das Shirt über den Kopf und zog sich irgendeine Jeans an. Keine Erinnerungen mehr. Tanner war Vergangenheit. Die Musik war Vergangenheit. Er musste jetzt an die Zukunft denken. Er würde sich ein College aussuchen, egal welches, und irgendwo neu anfangen. Scheißegal wo.

Er würde einfach irgendeine Broschüre aus dem Stapel ziehen und es damit gut sein lassen. Dann mit Colton ausgehen und trinken, bis der Schmerz nachließ.

Als Colton anrief, um zu sagen, dass er sich verspäten würde, hatte Aaron zwei Colleges im nördlichen Iowa herausgefischt. Als er jedoch vom Einkaufen für seine Mutter wiederkam, sah er sie auf seinem Schreibtisch liegen und legte sie zurück auf den Stapel. Dann entdeckte er ein weiteres Prospekt, das er unter dem Bett vergessen hatte, und packte es zu den anderen. In der Post waren zwei neue.

Anstatt eine Entscheidung zu fällen, hatte er drei weitere Optionen hinzugefügt.

Aaron rollte sich auf seinem Bett zusammen. Er brauchte seinen Vater nicht, um zu wissen, dass er ein Versager war.

Als Colton anderthalb Stunden zu spät eintraf, war Aaron richtig mies gelaunt. Doch natürlich bemerkte Colton das nicht.

»Tut mir leid, Mann. Jetzt ist es wahrscheinlich zu spät, um zu Zebra’s zu fahren.«

»Allerdings.« Aaron sank auf den Beifahrersitz und stützte sich mit dem Ellbogen auf die Tür, sodass er seine Fingerspitzen auf seine Schläfe pressen konnte. »Bring mich einfach zu dem verdammten Alkohol.«

Colton lachte und startete den Motor. »So kenne ich dich.«

Aaron starrte aus dem Fenster ins Leere, bis die Landschaft verschwamm. Hätte er nur mit dem Chaos in seinem Inneren das Gleiche tun können.

»Happy Birthday, du Idiot«, murmelte er, und dann schob er alle weiteren Gedanken beiseite – bis auf den Vorsatz, sich so richtig die Kante zu geben.

Giles Mulder konnte es kaum erwarten, endlich aus Oak Grove, Minnesota abzuhauen.

Der Alvis-Henning-Schulbezirk, von Giles aus gutem Grund als A-Hölle bezeichnet, würde sonst noch sein Tod sein. Viermal war Giles inzwischen verprügelt worden, einmal bereits in der Mittelstufe, zweimal war er in der Notaufnahme gelandet. Gleich zwei der Opfer, die nach homophoben Schikanen Selbstmord begangen hatten, hatte Giles persönlich gekannt – seine Schule hatte es damit immerhin für zweieinhalb Minuten in die landesweiten Nachrichten gebracht. Bevor er gelernt hatte, die Wut und den Schmerz in seinem Inneren einzuschließen, hätte er mit seinen Tränen ein ganzes Fußballfeld wässern können.

»Das wird dich stärker machen«, hatte seine Mutter ihm gesagt. »Alles, was dich nicht umbringt, zeigt dir, dass sich die Welt noch ein bisschen mehr anstrengen muss, um dich kaputt zu machen.« Den klugen Spruch wiederholte sie oft, doch gewöhnlich durch zusammengebissene Zähne und mit einer Miene, die deutlich machte, dass sie sich eigentlich am liebsten einen Baseballschläger besorgt und ein paar Köpfe eingeschlagen hätte. Sie tat, was sie konnte, um Giles vor den Schikanen zu bewahren, und nach dem zweiten Abstecher in die Notaufnahme hatte sie zusammen mit einem Anwalt der Schulleitung einen Besuch abgestattet. Giles hatte eine fette Entschädigungszahlung bekommen, und seitdem beschränkten sich die körperlichen Angriffe auf Kratzer und blaue Flecken.

Die Piesackerei und ständigen Kränkungen waren natürlich umso schlimmer geworden.

Dr. Tim Mulder, ganz der sanftmütige Kinderarzt, versuchte es subtiler als seine Frau. Während Vanessa ihre Wut kaum verbergen konnte, hielt Dr. Mulder die Hände seines Sohns und redete ihm gut zu. »Diese Leute, die dich schikanieren, bestimmen nicht, wer du bist, Giles. Das tust nur du selbst. Du kannst sie nicht davon abhalten, negative Dinge zu sagen, aber es liegt an dir, ob dich das verletzt und wie du reagierst. Solange du nicht zulässt, dass dich ihre Worte und Taten verändern, gewinnst du. Und ich kann dir versprechen, wenn du durchhältst, wirst du eines Tages auf diese schlimme Zeit zurückblicken und stolz darauf sein, dass sie dich nicht von dem wunderbaren Leben abhalten konnte, das du verdienst.«

Giles wusste, dass sein Vater die Worte eines Tages nicht hatte betonen oder seinen Sohn dazu hatte bringen wollen, sein wirkliches Leben auf später zu verschieben – aber genau das musste Giles tun, wollte er ein bisschen Frieden finden. Sein Leben war momentan eben total beschissen, aber eines Tages würde er der A-Hölle entkommen. Eines Tages würde er nicht mehr jeden Tag Angst haben müssen, verprügelt und in den Mülleimer in der Umkleide gesteckt zu werden. Eines Tages würde er nicht mehr versuchen müssen, verklemmte Typen, die die eigene Sexualität nicht akzeptieren konnten, rumzukriegen, nur um hinterher auf dem Schulflur von ihnen schikaniert zu werden, damit um Gottes willen niemand je herausfand, was sie mit Giles getrieben hatten. Eines Tages würde Giles einen richtigen Freund und ein richtiges Leben haben.

»Eines Tages« war so verdammt nah, dass Giles hart wurde, wenn er nur daran dachte.

In fünfundfünfzig Tagen würde er Oak Grove verlassen und in den Schutz des liberalen und politisch äußerst korrekten evangelischen Saint Timothy Colleges eintauchen. Und jede einzelne der 1320 Stunden, die ihn noch von der Freiheit trennten, würde er sich in seinem Zimmer verkriechen und Xbox spielen. Allenfalls würde er Schulsachen shoppen und seinem zukünftigen Zimmergenossen über Facebook schreiben. Er würde sich nach seiner goldenen Zukunft verzehren und in Ruhe abwarten, bis sie sich in köstliche Gegenwart verwandelt hatte.

Und genau so hielt Giles es auch – bis er dann am vorletzten Juniwochenende doch wieder in der Highschool-Hölle landete. Und das nur, weil er Mina nichts abschlagen konnte.

In ihrer Aufregung hüpfte sie fast auf dem Beifahrersitz auf und ab, während Giles sie zu der Abschiedsparty von Catherine-Warum-können-wir-nicht-einfach-alle-miteinander-auskommen-Croix fuhr. Minas langes schwarzes Haar schlug immer wieder gegen die Sitzlehne, und sie stieß hohe Laute des Entzückens aus.

»O mein Gott!« Mina hob ihr Handy. »Lisa hat mir gerade geschrieben, dass Eric Campf da sein wird. Ich schwöre bei Gott, ich werde ihn abfüllen und meine Hand in seine Hose stecken.«

Giles dachte an das letzte Mal, als er Eric Campf gesehen hatte – auf den Knien, im Kirchenkeller, wo er Giles enthusiastisch einen geblasen hatte. Doch wie gewöhnlich biss sich Giles auf die Zunge und ließ Mina ihre Illusionen. Sie traute sich ohnehin nie, ihren Schwarm anzusprechen – er glaubte keine Sekunde, dass ihre Hand auch nur in die Nähe von Erics Hose kommen würde. »Ich hoffe, du bist bereit, früh abzuhauen, denn ich bleibe da auf keinen Fall länger als eine Stunde.«

Mina tätschelte seinen Arm. »Ach komm schon. Wir sind doch noch nicht mal da.«

»Ich weiß aber trotzdem, wie es laufen wird. Entweder bin ich für die Luft, oder sie treiben ihre blöden Scherze mit mir. Wenn ich mich betrinke, werden sie mich hinter den Mülltonnen verprügeln.« Er bog in die Straße ein, die zu Catherines Haus führte. »Und wenn ich nüchtern bleibe, sitze ich in einer Ecke und denke darüber nach, wie sehr ich alle dort verabscheue. Ich habe keine Ahnung, warum ich mich von dir hab überreden lassen.«

»Warum bleibst du nicht einfach nüchtern, sitzt nicht in einer Ecke, sondern unterhältst dich mal mit jemandem? Es behandeln dich nicht alle wie den letzten Dreck. Ich zum Beispiel nicht.«

Giles schürzte die Lippen und erwiderte nichts, weil Mina es einfach nicht verstehen konnte. Sie war hetero, hübsch, eine adoptierte koreanischstämmige Amerikanerin. Gegen Mina erhob in der Schule niemand auch nur die Stimme. Sie konnte sich im Traum nicht vorstellen, dass die Bemerkung über die Mülltonnen kein Scherz gewesen war. Sie hatte einfach keine Ahnung, was ein Leben in der A-Hölle für ihn bedeutete – und er hatte bestimmt nicht die Absicht, sie über die dunklen Seiten seines Lebens zu informieren.

Mina seufzte. »Also schön. Geh einfach, wann du musst. Lisa hat gesagt, dass sie mich nach Hause mitnehmen kann – sie hat mich schon gewarnt, dass du das tun würdest. Aber ich würde mir echt wünschen, dass du die Leute nicht immer schon vorher abschreiben würdest, bevor sie die Möglichkeit hatten, dich zu überraschen.«

»Ich sag dir was: Sobald wir in Saint Timothy sind, werde ich mir überall neue Freunde machen, versprochen.«

»Du schließt zu viele Menschen aus. Woher willst du wissen, ob du nicht direkt hier zu Hause jemand Unglaublichen verpasst hast, weil du lieber ein Arschloch sein wolltest? Woher willst du wissen, dass du in Saint Timothy nicht genau das Gleiche machst? Das College ist gar nicht so anders als die Highschool.«

Verdammt, das sollte es aber besser sein, oder Giles würde sich von der ersten Klippe stürzen, die er fand. »Also gut. Ich werde auf Catherines Party mit mindestens einem Menschen reden. Bist du jetzt glücklich?«

»Du bist es, der glücklich sein sollte.«

»Hör auf, Dr. Phil zu gucken.«

Sie richtete sich in ihrem Sitz auf und grinste. »Schau dir das mal an! Wie passen die nur alle in ihr Haus?«

An der Morningstar Lane parkten mindestens fünfzig Wagen und Giles brauchte zehn Minuten, um einen Parkplatz zu finden, der nicht in einem abgelegenen, dunklen Bereich lag. Er hatte keine Angst vor Kriminellen, nicht in dieser Nachbarschaft, sondern vor betrunkenen Feiernden, die Lust auf eine Runde »Tritt die Schwuchtel« hatten. Es gelang ihm, einen einigermaßen sicheren Parkplatz in einer Seitenstraße zu ergattern. Während sie zum Haus gingen, plapperte Mina unaufhörlich davon, wie unglaublich toll die Party sein würde.

Giles sagte nichts. Er hasste die ganze Welt.

Sobald sie drinnen waren, gesellte sich Mina zu ihren Freundinnen. Giles lehnte nicht weit von ihnen entfernt an der Wand und machte eine Bestandsaufnahme des Raums. Die Party war ein beeindruckender Querschnitt von Alvis-Henning. Es waren recht viele von den beliebten Schülern aufgetaucht, aber es gab auch jede Menge Band-Geeks oder andere, die nicht ins übliche Muster passten. Auch ein paar der totalen Außenseiter hatten es gewagt zu kommen, in der Hoffnung, dass die Anwesenheit hier ihr Image ein wenig aufbessern würde. Ganz offensichtlich gab sich hier der Adel unter Königin Catherine die Ehre und gestattete dem gemeinen Volk, sich für einen Abend unter ihn zu mischen.

Mina gab sich alle Mühe, Giles in ihre Unterhaltung mit einzubeziehen, und wie versprochen redete er ein paar Minuten mit ihren Freunden, hauptsächlich mit einem Mädchen, das er flüchtig vom Orchester kannte. Er fragte sie nach ihren Plänen für den Herbst. Doch nach kurzer Zeit zog er weiter und wollte die Party so langsam verlassen.

Er hatte keine Lust, mit irgendjemandem hier zu plaudern, und niemand wollte mit ihm reden. Die beliebten Mädchen gaben ihm auch ohne Worte zu verstehen, dass sie ihn in ihrem Team nicht würden mitspielen lassen. Die nicht so beliebten Mädchen winkten ihm zu und redeten davon, dass man sich mal treffen und Styling-Tipps austauschen sollte oder ähnlich klischeebeladener Müll – wenn sie ihn nicht einfach nur mit mitleidigen Blicken bedachten.

Gott, Giles hoffte inständig, dass Mina falsch lag und Saint Timothy ganz anders sein würde. Theoretisch war ihm schon klar, dass das College nicht das magische Sonnenscheinland war, das sich sein Herz ersehnte, aber es musste doch zumindest besser sein als dieser Gewaltmarsch durch die Hölle. Es konnte nicht alles genauso schlimm sein.

Es musste einfach besser werden. Die Welt schuldete ihm etwas Besseres.

Giles drehte eine Runde durch die Menschenmenge, mit dem festen Vorsatz, dass er zum letzten Mal den verachteten Loser spielen würde. Nie wieder würde er der sein, der keinen Anschluss fand, der verarscht, gedemütigt oder zur Seite geschoben wurde, es sei denn, jemand hatte Lust, sich mal mit einem Schwulen abzugeben. Das hier war das letzte Mal, dass er nur durch seine Sexualität definiert wurde.

Er hatte keine Lust mehr, so zu tun, als würde er auf dieser Party Spaß haben. Siehst du, Mina? Es war eine dämliche Idee zu versuchen, in die A-H zu passen.

Unglücklicherweise wählte Colton Almstet genau diesen Moment, um auf den Tisch zu steigen und seine Zirkusaffennummer darzubieten.

Giles wich etwas zurück und checkte die Lage. Colton war nicht derjenige gewesen, der ihn in der zehnten Klasse so fest gestoßen hatte, dass er seine Schneidezähne verloren hatte, aber er hatte danebengestanden und gelacht. Die Tage, in denen Giles ernsthaften Verletzungen aus dem Weg gehen musste, waren größtenteils vorbei, aber Arschlöcher wie Colton konnten immer noch gefährlich werden, besonders wenn sie betrunken waren. Die halb volle Flasche Wodka schwappte in Coltons Hand, während er nach einer völlig bekifften Cheerleaderin schielte, deren Brüste fast aus ihrem Top fielen. In einer solchen Situation sollte er besser nicht auf Coltons Radar auftauchen, wenn er nicht Beleidigungen oder Schlimmeres riskieren wollte. Auch wenn Colton im Wohnzimmer Hof hielt, gab es nicht genügend Deckung, um zur Haustür zu gelangen. Und bei Giles’ Größe, seinem Haar und den unverkennbar abstehenden Ohren war es auch nicht gerade leicht, in der Menge unterzutauchen.

Es war an der Zeit, einen anderen Fluchtweg zu finden.

Nachdem er Mina Bescheid gesagt hatte, dass er ging, bahnte sich Giles seinen Weg durch die Küche. Aus der Hintertür zu verschwinden war zu gefährlich – zu dunkel, und vielleicht hatten sich da auch ein paar der Sportlertypen versammelt und würden sich verpflichtet fühlen, Giles zu verfolgen. Er wusste nicht genau, wo er sonst hingehen konnte. Er spielte mit dem Gedanken, einfach durch das Wohnzimmer zur Haustür zu gehen, Colton hin oder her – er konnte sich doch hinter anderen verstecken, oder? Vielleicht konnte er sich bücken. Natürlich würde man ihn auslachen und dann war er dran.

Wie krank war es, dass er auf diese Weise eine Party voller Leute verlassen musste? Leute, die wegschauen würden, wenn ihn jemand eine Schwuchtel nennen und anbieten würde, ihm eine Bierflasche in den Arsch zu rammen. Warum konnte er nicht einfach zu Mina gehen und ihr die Wahrheit gestehen? Warum war ihre Ahnungslosigkeit wichtiger als seine Sicherheit?

Warum zum Teufel war er überhaupt hergekommen? Warum hatte er auch nur einen Moment lang geglaubt, dass er so tun könnte, als sei er normal?

Wütend und beschämt marschierte Giles schnurstracks auf die Hintertür in der Küche zu – und rannte direkt gegen Eric Campf und zwei seiner Footballkumpel.

Überrascht wankte Giles zurück und beugte reflexartig seinen Kopf nach unten. Er gab sich unterwürfig, der linkische schwule Junge mit der nasalen Stimme, der wusste, wo sein Platz war. Genau so hatte er Eric letzte Woche auch angesehen, nur zehn Minuten, nachdem sich Eric Giles’ Sperma vom Kinn gewischt hatte und sie wieder in den Gemeinschaftsraum zurückgegangen waren. So lief das Spiel eben. Giles war nicht cool. Eric schon.

Doch Giles war dieses Spiel unendlich leid. Minas Warnung, dass das College auch nicht viel anders sein würde, hallte noch zu laut in seinem Kopf, und plötzlich hätte Giles am liebsten alle Brücken hinter sich abgefackelt. Scheiß auf Colton und Eric. Sie konnten sich ruhig mal mit dem menschlichen Wesen auseinandersetzen, das da vor ihnen stand.

Er hob den Kopf und legte all seinen Zorn in einen herausfordernden Blick. Ja, ich erinnere mich an deinen Mund um meinen Schwanz, sagte dieser Blick.

Eric zuckte zusammen, und seine Kumpel beäugten ihn neugierig. Doch Erik kam rasch wieder zu sich, und aus Überraschung wurde Wut. »Für wen zum Teufel hältst du dich, Schwuchtel?«

Da ging es auch schon los.

Giles duckte sich hinter eine Gruppe betrunkener, kichernder Mädchen und versuchte noch einmal, zur Tür zu kommen, doch es waren zu viele Leute zwischen ihm und dem Ausgang. Selbst ohne Colton im Wohnzimmer hatten Erics Kumpel den Weg blockiert, was bedeutete, dass sich Giles in den Hausflur zurückziehen musste. Er hoffte, dass es dort entweder einen weiteren Ausgang gab oder eine Tür mit Schloss. Er war mehr als bereit, sich mit Letzterem zu begnügen. Er würde sich einschließen, warten, bis alle zu betrunken oder bekifft waren, um ihn zu verfolgen, und dann machen, dass er von hier wegkam.

Eric und seine Kumpel blieben bei der Mädchengruppe hängen, die von der Konfrontation nichts mitbekommen hatte und die Gelegenheit zum Flirten nutzte. Die Betrunkenste von ihnen erfüllte sich Minas Wunsch und steckte ihre Hand in Erics Hose. Giles genoss im Stillen, wie Eric plötzlich erstarrte.

Er landete in einem etwas leereren Flur und entdeckte eine schmale Tür, die in eine Waschküche führte. Er zögerte und wägte seine Optionen ab, während er über seine Schulter blickte. Von seinen Verfolgern war nichts zu sehen. Waschküchen waren normalerweise nicht abschließbar, aber man konnte dort gut abwarten. Entweder das oder sie würden ihn dort erwischen, und dann würde es ihm übel ergehen.

Aber wo sollte er sonst hin? An diesem Punkt konnte er sich nur noch verstecken oder es riskieren, ihnen wieder über den Weg zu laufen. Dann mussten sie ihn nur noch in ein Zimmer bringen, wo das, was sie ihm antun würden, vom Lärm der Party übertönt wurde. War es sein Trotz wert, das dritte Mal in der Notaufnahme zu landen?

Gott verdammt, Mina, nie wieder werde ich auf dich hören.

Schließlich schlich er in die Waschküche, schloss die Tür hinter sich, ließ sich dagegensinken und atmete tief den Geruch des Waschmittels ein, während er dem Geräusch von Schritten im Flur lauschte. Dazu hörte er Fluchen und Gemurmel. Wo ist er hin? Dann wurde es glücklicherweise wieder still. Er hatte seine Verfolger abgeschüttelt.

Doch als ihm die Stille in den Ohren klingelte und sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, wurde Giles klar, dass er nicht allein im Raum war.

Eine dunkle Gestalt kauerte in der Ecke zwischen einem Korb mit gefalteten Handtüchern und einem Stapel ungewaschener Laken. Kein knutschendes Paar, sondern jemand anderer, der sich hier versteckte. Giles kniff die Augen zusammen und fragte sich, wer zum Teufel noch hier drin sein konnte.

Als er die Gestalt erkannte, durchlief es ihn eiskalt.

Aaron Seavers. Es war Aaron Seavers, Coltons bester Kumpel, der sich mit Giles in der Waschküche versteckte.

2

In seinem Schreck verharrte Giles an der Tür, doch Aaron sah nicht mal auf, sondern blieb einfach mit den Armen über den Knien verschränkt hocken, starrte auf den Boden und sagte mit angespannter, erschöpfter Stimme: »Geh weg.«

Giles war unsicher, wie er sich verhalten sollte. Zwar hatte sich Aaron nie aktiv an einer Schwulenhatz beteiligt, doch Giles würde nicht seine Schneidezähne riskieren und darauf vertrauen, dass es dabei blieb.

Schlimmer noch – er schwärmte für Aaron, schon seit dieser an der Alvis-Henning aufgetaucht war. Der Typ war absolut heiß, mit diesem dunklen Haar, den blauen Augen und dem Dreitagebart. Noch dazu ließ seine stille Art viel zu viel Raum für Giles’ Vorstellungskraft. Angesichts dieser Vernarrtheit, kombiniert mit Aarons Popularität, war Giles immer absolut unsicher gewesen, wie er sich Aaron gegenüber benehmen sollte. Was jetzt gerade ein echtes Problem war.

Er entschied sich für den sicheren Weg. »Ich würde es wirklich zu schätzen wissen, wenn du noch fünf Minuten warten würdest, bevor du mich rauswirfst.«

Aaron sah auf, und im Dämmerlicht des Raums leuchteten seine blauen Augen. »Oh. Tut mir leid. Ich dachte, du wärst Colton.«

»Gott, nein. Er tanzt im Wohnzimmer auf dem Tisch.« Giles entspannte sich ein wenig. »Warum würdest du Colton sagen, dass er weggehen soll? Ich dachte, ihr seid Kumpel.«

Aarons Antwort war ein Schnauben, während er eine Bierflasche an seine Lippen hob. »Wie du meinst.«

Giles Verwirrung nahm zu. »Warum bist du überhaupt hier drin?«

Aaron hob mit einem düsteren Lächeln die Flasche. »Weil heute mein Geburtstag ist.«

»Oh – alles Gute.« Giles runzelte die Stirn. »Tut mir leid, ich kapier es nicht.«

»Ich auch nicht.« Aaron lehnte seinen Kopf gegen die Wand und schloss die Augen. Giles erhaschte einen Blick auf diese herrliche Kehle, das winzige Büschel Haare am Ausschnitt seines T-Shirts, den Bartschatten und die wunderschöne Wölbung eines Adamsapfels. Die blauen Augen öffneten sich und blinzelten Giles sanft an. »Ich kenne dich. Du warst in meinem … Mathekurs?«

»Und Physik.« Giles hob grüßend die Hand. »Giles Mulder.«

Aaron erwiderte andeutungsweise die Geste. »Aaron Seavers.«

»Ich weiß.« Scheiße noch mal, war dieser Typ heiß. Heiß und irgendwie abgehoben. Wie gerne hätte er ihn auf den Knien gesehen, zum Stöhnen gebracht. Stopp. Mach, dass du mit all deinen Zähnen und intakten Knochen hier rauskommst. »Verbringst du deine Geburtstage immer in der Waschküche oder ist dieser etwas Besonderes?«

»Ich habe hier mehr Spaß als da draußen. Oder sonst wo. Mein Leben hat gerade einen neuen Tiefpunkt erreicht.« Aaron verzog sein Gesicht und nahm noch einen Schluck. »Scheiße, das ist armselig. Du solltest besser gehen.«

»Ich denke, wenn ich jetzt gehe, lande ich in einem Leichensack oder zumindest auf einer Krankentrage.«

Jetzt war es Aaron, der verwirrt dreinblickte. »Warum?«

»Eric Campf und seine Kumpel spielen Schwuchteljagd. Ein paar andere würden bestimmt sofort mitmachen, wenn sie davon erfahren.« Bitte sag nicht, dass du einer von denen bist.

Aaron schloss die Augen. »Ich hasse diese Stadt. Ich bin so froh, wenn ich morgen von hier abhauen kann.«

Aaron ging fort? Giles schob einen Anflug von Enttäuschung beiseite. Als ob das eine Rolle spielt. Wir sind in anderthalb Monaten sowieso alle weg. Und nur weil dieser heiße Typ mit dir redet statt dich zu verprügeln, heißt das nicht, dass ihr jetzt beste Freunde seid. »Wohin gehst du morgen?«

»In die Hölle.« Aaron leerte sein Bier. »Eden Prairie, zu meinem Dad. Er wird mich den ganzen Sommer über nerven, außerdem muss ich verhindern …« Sein ganzes Gesicht wurde plötzlich verschlossen, und er sagte nichts mehr.

Okay, heikles Thema. Gesprächswechsel. »Auf welches College wirst du im Herbst gehen?«

Aaron fluchte leise und warf die Bierflasche durch den Raum. »Ich brauche noch was zu trinken.«

»Wenn du nicht gerade Weichspüler willst, hast du hier wahrscheinlich kein Glück. Im Ernst, wohin wirst du im Herbst gehen?«

»Keine Ahnung.«

Giles starrte ihn an und wusste nicht genau, was er damit anfangen sollte. »Alter, es ist Juni. Der einundzwanzigste Juni.«

»Ja, ich weiß. Mein Geburtstag, erinnerst du dich?« Aaron bedeckte sein Gesicht mit den Händen. »Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Ich kann mich nicht entscheiden. Mein Dad wird mir den Arsch aufreißen, egal welches College ich wähle, und sie sehen alle gleich aus. Heute ist mein gottverdammter achtzehnter Geburtstag, ich hab nicht mal zu Abend gegessen und ich weiß nicht, auf welches College ich gehen soll. Ich hocke auf der langweiligsten Party der Welt in der Waschküche und besaufe mich, meine Mitfahrgelegenheit ist hackedicht und tanzt auf dem Tisch – und ich habe nichts mehr zu trinken.«

»Na ja, mit dem Alkohol oder dem College kann ich dir nicht helfen, aber ich könnte dich nach Hause mitnehmen und auf dem Weg bei einem Drive-in halten.«

Giles erwartete ausgelacht zu werden, doch das tat Aaron nicht. »Im Ernst?« Er wirkte fast hoffnungsvoll, doch sah dann weg. »Ich will dich nicht von der Party vertreiben, nur weil ich so ein Loser bin.«

»Hast du den Teil vergessen, wo ich mich verstecken muss, weil es gleich zur Abendunterhaltung gehören wird, mich zu verprügeln?«

»Ach ja, stimmt. Äh … okay, wenn es dir nichts ausmacht, wäre eine Mitfahrgelegenheit toll. Ich wohne nicht so weit entfernt, also sollte es kein allzu großer Umweg für dich sein.

»Aber erst lade ich dich noch zum Essen ein, oder?« Giles trat näher und streckte ihm seine Hand entgegen. »Brauchst du Hilfe?«

»Du musst mich nicht einladen.« Aaron klang, als wünschte er sich, dass jemand genau das täte.

»Hey, es ist dein Geburtstag. Da kann ich dir doch wenigstens einen Frosty ausgeben.«

Aaron nahm stirnrunzelnd Giles’ Hand und kam unbeholfen auf die Beine. »Der nächste Wendy’s ist in Anoka.«

»Ist doch nur eine Viertelstunde. Außerdem könnte ich ein paar Fritten gebrauchen.« Als Aaron ihn nur dämlich angrinste, als ob Giles angeboten hätte, einen Berg für ihn zu erklimmen, ergänzte Giles: »Du könntest wahrscheinlich mehr Wasser und weniger Bier vertragen.«

»Ja.« Aaron trat von einem Bein aufs andere. »Kein Abendessen, vier Bier in drei Stunden. Echt dämlich.«

»Hey, es ist dein Geburtstag. Da ist das erlaubt.«

Aaron lachte und lehnte sich zu Giles vor. »Hab ich heute etwa einen Freibrief für alles, weil ich Geburtstag habe?«

Giles überlegte, ob ihn Aaron Seavers gerade anmachte oder nicht.

Aarons Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Hey, ist das in der Ecke eine Tür?«

Das war es tatsächlich. Ein Seiteneingang mit direktem Ausblick auf die Straße, und wenn er die Augen zusammenkniff, konnte er sogar seinen Wagen sehen. »Wow – Aaron Seavers, ich liebe dich.«

Kichernd stupste Aaron ihn an. »Komm schon, wir hatten doch noch nicht mal unser erstes Date.«

Giles klappte der Mund auf, doch bevor er in den Kopf bekommen hatte, dass Aaron Seavers – Coltons bester Freund – mit ihm flirtete, nahm Aaron seine Hand und zog ihn zum Ausgang.

»Lass uns abhauen. Wenn du mich liebst, darfst du mir einen Frosty und dazu Fritten ausgeben.«

Was zum Teufel sollte er darauf erwidern? Schlussendlich sagte Giles gar nichts, sondern ließ sich von Aaron nur von der Party in die Nacht führen.

Aaron mochte diesen Giles.

Er war ziemlich schlaksig und sah irgendwie ulkig aus, mit seinen abstehende Ohren und dem Fake-Iro, den er besser lassen sollte. Seine ganze Haltung wirkte, als ob er fortwährend zwischen Flucht oder Angriff schwankte. Giles’ Stimme war leicht schrill, ein wenig nasal, und er lispelte ein wenig. Aber er war witzig und seine Art, das Kommando zu übernehmen, gefiel Aaron. Außerdem war er an diesem Abend der einzige Mensch, der bereit zu etwas war, das auch Aaron machen wollte.

Und noch viel wichtiger: Wenn Giles ihn ansah, lächelte er. Es war ein nettes Lächeln.

Nur jetzt gerade lächelte er nicht. Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, fasste ihn Giles leicht am Ellbogen, um ihn von der Party zu manövrieren. »Komm schon. Die Luft ist rein. Mein Wagen ist der rote Honda da drüben.«

»Vor wem rennen wir eigentlich davon?« Aaron sah sich um, entdeckte aber niemanden.

»Wir rennen präventiv davon.« Am Auto stupste er Aaron in Richtung des Beifahrersitzes. »Bist du nüchtern genug, um die Tür zu öffnen und einzusteigen?«

Aaron wollte ihm den Mittelfinger zeigen, aber die schnelle Geste ließ ihn seitlich torkeln. Brummelnd half Giles Aaron in den Wagen. Mit einem Mal schämte sich Aaron. »Tut mir leid.«

»Schon okay.« Giles wirkte angespannt und sah sich immer noch um, als ob er einen Axtmörder erwartete. Sobald er selbst im Honda saß und die Türen verriegelt hatte, entspannte er sich ein wenig. »Okay. Zeit für einen Frosty.«

Essen. Aarons Bauch voller Bier gluckerte unglücklich. »Danke noch mal. Das ist echt nett von dir.«

»Kein Problem.« Giles konzentrierte sich darauf, durch die Ansammlung geparkter Wagen zu manövrieren und auf den Viking Boulevard zu kommen. »Du sagtest, dass du morgen zu deinem Vater fährst. Ich nehme an, deine Eltern sind geschieden?«

»Ja. Seit fünf Jahren.«

Giles runzelte die Stirn. »Aber du bist erst seit letztem Herbst hier. Ich dachte irgendwie … dass etwas Episches passiert sein muss, um während des Abschlussjahrs die Schule zu wechseln.«

»Wir haben nach der Trennung erst weiter in Eden Prairie gelebt, aber dann wurde Mom klar, dass er nicht …« Aaron schürzte die Lippen. Er wollte die komplizierte Beziehung seiner Eltern nicht weiter ausführen. Er atmete tief durch und wählte einen anderen Ansatz. »Sie wollte näher zu ihrer Schwester ziehen.«

»Hättest du nicht bei deinem Vater bleiben können?«

»Er ist viel unterwegs, manchmal ein paar Monate am Stück. Also nein.«

»Hm.«

Aaron meinte, in Giles’ Tonfall leise Missbilligung zu hören – Warum hat deine Mutter nicht einfach noch die neun Monate bis zu deinem Abschluss gewartet? –, aber er sagte nichts mehr. Aaron wusste diese Freundlichkeit zu schätzen, denn normalerweise bohrten die Leute immer nach, und Aaron musste hilflos herumstottern.

Seltsam, wie Giles’ Schweigen Aaron zum Reden brachte. »Ich verbringe den Sommer immer bei meinem Dad, sobald mein Geburtstag vorbei ist. Außer er ist auf Geschäftsreise. So lautet die Sorgerechtsregelung.«

»Wie funktioniert das jetzt wo du achtzehn bist? Kannst du ihm jetzt nicht sagen, dass er sich verpissen soll, und machen, was du willst?« Als Aaron sichtlich schauderte, lachte Giles. »Okay, offenbar nicht. Tut mir leid.« Er legte seine Hände anders auf das Steuer. »Ich komme einfach nicht über die Tatsache hinweg, dass du dir noch kein College ausgesucht hast. Kommst du so spät denn noch irgendwo rein?«

»Keine Ahnung.« Sein Kopf drehte sich ein wenig und durch den Alkoholschleier drang allmählich Panik. »Auf welches gehst du denn?«

»Saint Timothy.«

Aaron ging innerlich seinen Broschürenstapel durch. »Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.«

»Ein kleines liberales College östlich von St. Paul in der Nähe vom Battle Creek Lake, Schwerpunkte sind Geisteswissenschaften und Kunst. Protestantischer Hintergrund, wie natürlich bei der Hälfte aller Colleges in Minnesota.« Mit einem Lächeln im Gesicht fuhr er auf den Highway. »Ich freue mich schon wahnsinnig. Wir waren zweimal da und es fühlt sich einfach richtig an, weißt du?«

Nein, Aaron wusste es nicht. »Wie fühlt es sich denn richtig an?«

Giles überlegte. »Das tut es einfach. Wahrscheinlich hilft es, dass ich mich schon vor langer Zeit auf dem Papier in Saint Timothy verliebt habe. Es hat ein tolles Orchesterprogramm – die ganze Musikfakultät ist erstklassig.«

Aaron fehlte die Musik. »Wirst du das studieren? Musik? Was spielst du?«

»Geige, aber nein. Ich studiere nicht Musik. Machst du Witze? Ich will mal einen Job bekommen.« Giles lehnte sich in seinen Sitz. »Ich weiß noch nicht, was ich machen will. Ich habe immer gedacht, ich werde als LGBT-Aktivist für die gleichgeschlechtliche Ehe kämpfen, aber dann ist der Staat noch zur Vernunft gekommen, bevor ich aus der A-Hölle verschwinden konnte, und jetzt bin ich irgendwie davon weg. Also denke ich noch darüber nach.«

»A-Hölle?« LGBT-Aktivist. Aarons Bauch hörte zu gurgeln auf und begann … mit etwas anderem. Giles war schwul. Und er sprach ganz locker davon, als wäre es keine große Sache.

Giles warf Aaron einen skeptischen Seitenblick zu. »Du erzählst mir jetzt bestimmt, wie gern du auf die Alvis-Henning gehst, richtig?«

»Was? Nein.« Aaron verzog sein Gesicht. »Gott, nein.«

Giles lachte und Aaron spürte Schmetterlinge im Bauch. »Gut.«

Sie schwiegen. Aaron hatte das Gefühl, dass Giles noch etwas sagen wollte, aber nicht die richtigen Worte fand. Aaron bemühte sich, ihn nicht anzustarren, weil ihn das alles so sehr an den Abend mit Tanner erinnerte, als alles erst unglaublich gewesen war … und dann so schrecklich.

Aaron setzte sich auf. »Erzähl mir mehr von diesem College. Saint Soundso.«

»Saint Timothy. Keine Ahnung, es ist halt ein College. Zweitausend Studenten, jede Menge Bäume und Gebäude, eine große Wiese.«

»Erzähl mir darüber, warum es sich richtig anfühlt. Du magst das Musikprogramm, also warum studierst du das nicht?«

»Na ja …« Giles runzelte die Stirn. »Ich halte diese Colleges irgendwie alle für austauschbar, also kann ich ebenso gut eines aussuchen, in dem ich mich wohlfühle und glücklich sein kann. Ich hab mich natürlich gleich informiert, auf welchem Platz im LGBT-Index Timothy liegt, aber außer du bist irgendwo, wo es krass religiös zugeht, ist eine LGBT-Selbsthilfegruppe heutzutage Standard. Also bin ich viel über den Campus gegangen und habe mir überlegt, ob ich ihn mir als mein Zuhause vorstellen kann. Und das konnte ich. Es gibt eine Menge Studiengänge, die Sportteams sind durchschnittlich und nicht der Hauptfokus, und die Wohnheime sind ganz anständig. Ich kann im Orchester spielen und vielleicht sogar eine oder zwei Konzertreisen mitmachen, und die Schule ist von meinen Eltern nur eine Autostunde entfernt, bei freien Straßen weniger. Entscheidung getroffen.«

Das überstieg Aarons Vorstellungsvermögen. »Bei dir klingt das so einfach.«

»Das ist keine höhere Mathematik. Es geht doch nur ums College.« Er stupste Aaron mit seinem Ellbogen an. »Was ist dir denn bei einer Schule wichtig?«

»Dass mein Vater sie nicht doof findet.«

»Ah.« Giles klang sehr verständnisvoll. »Okay, und was findet er wichtig?«

»Das College soll einen hervorragenden Ruf haben, damit ich hinterher einen guten Job bekomme. Nur dass ich gar nicht weiß, was ich mal werden will.«

»Bist du schon mal die Listen des U.S News & World Report durchgegangen? Willst du im Mittleren Westen bleiben oder von hier abhauen?«

»Ich will, dass alles aufhört. Der Druck. Diese ganzen idiotischen …« Er dachte an Colton und einen weiteren katastrophalen Abend. »Ich will keiner Studentenverbindung beitreten müssen, in der alles so wird wie auf der Highschool. Ich will richtige Freunde. Ich will …«

Plötzlich musste er an Tanner denken, und er presste die Hände auf seinen Bauch.

»Alles okay?« Giles verlangsamte den Wagen. »Soll ich rechts ranfahren?«

»Ich muss nur was essen«, log Aaron.

»Halt durch. Ich sehe da vorn schon das Schild. Was willst du lieber, einen Burger oder ein Chicken Sandwich?«

»Einen Burger. Einen großen mit Bacon und Käse.« Aaron wollte seine Geldbörse aus der Tasche ziehen, aber Giles winkte ab.

»Lass stecken, Geburtstagskind. Du bist eingeladen.«

In Aarons Innerem breitete sich eine wohlige Wärme aus. »Danke. Das ist echt nett von dir.«

Giles schenkte ihm ein breites Lächeln, und Aaron spürte wieder diese Schmetterlinge im Bauch, aber als er das Lächeln erwiderte, wandte sich Giles ab.

Er bestellte Aaron ein ganzes Menü: Burger, Fritten, einen Frosty-Milchshake und eine Flasche Wasser. Für sich selbst holte er eine Limo. »Ich hab eine große Portion Pommes bestellt und dachte, dass wir sie uns teilen können. Ist das okay für dich?«

»Na klar.« Aaron biss von seinem Burger ab und spürte sofort, wie gut es ihm tat, etwas im Magen zu haben. »Oh mein Gott, tausend Dank. Du rettest mir das Leben.«

»Ziemlich einfache Rettung, und das zum günstigen Menüpreis.« Giles trank einen Schluck Limo und schnappte sich eine Pommes, während er wieder auf die Straße zurückfuhr. »Wohin jetzt? Willst du nach Hause oder noch ein bisschen rumfahren?«

»Ich will nicht nach Hause.« Aaron musterte die Straßen von Anoka und verzog sein Gesicht. »Nicht dass man sonst irgendwo hinfahren könnte.«

»Klar kann man. Ich würde ja vorschlagen, dass wir Pizza essen gehen, aber jetzt haben wir dieses ganze Essen gekauft. Du bist ein bisschen zu betrunken zum Bowlen und in eine Bar kommen wir auf keinen Fall rein, aber ein paar der Parks sind noch offen. Dann gibt es noch den See. Wir könnten ein Mitternachtspicknick machen.«

Ein Mitternachtspicknick klang lustig, besonders mit Giles. »Bist du sicher, dass es dir nichts ausmacht? Ich will dich nicht aufhalten.«

»Was denkst du denn, wovon genau du mich abhältst?«

Aaron zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Irgendwas?«

»In Oak Grove?« Giles seufzte, während er nach Norden fuhr. »Ganz ehrlich, im College müssen die Dinge auf jeden Fall besser werden. Meine Freundin Mina wird auch aufs Saint Timothy gehen. Sie hat gesagt, dass es genau wie in der Highschool wird, aber o Gott, bitte nicht.«

»So weit habe ich noch gar nicht gedacht. Das College wirkt so Furcht einflößend.«

»Warum? Wovor soll man sich fürchten?«

»Vor allem.« Aaron merkte, dass er Ketchup am Kinn hatte, und suchte nach einer Serviette. »Morgen kommt mein Dad und ich muss ihm ein College nennen und einen Grund, warum ich es mir ausgesucht habe. Einen Grund, den er akzeptieren kann. Sonst bestimmt er eines und ich bin sicher, dass ich es hassen werde.«

»Dann entscheide dich doch einfach für eines. Such es dir zufällig aus, schau dir an, wofür es bekannt ist, finde die Sache, die deinen Vater glücklich macht und sag ihm, dass das der Grund ist, warum du es gewählt hast. Schick die Bewerbung raus und peng, du bist durch.«

Konnte es wirklich so einfach sein? »Ist diese Freundin von dir, die auch aufs Timothy gehen wird, mit uns auf der A-H?«

»Ja, wir benutzen das gute alte Buddy-System. Ich gebe also zu, dass ich genug Angst habe, um meine beste Freundin mitzuschleppen. Aber das haut schon hin. Sie bereitet sich auf ihr Medizinstudium vor und sie haben da tolle Kurse. Medizin, Jura und Musik. Das ist das Timothy.«

»Aber es ist bestimmt nett, dass sie dabei ist.«

Giles hob vielsagend die Augenbrauen. »Du könntest mit Colton auf die Mankato gehen.« Er lachte, als Aaron aufstöhnte. »Ist immer noch total verrückt für mich, dass du ihn nicht leiden kannst. Warum verbringst du so viel Zeit mit ihm, wenn du ihn gar nicht magst?«

Aaron versuchte die Wahrheit mit seinen Fritten herunterzuschlucken, aber der Alkohol ließ keine Zensur zu. »Als ich hergezogen bin, war er der Einzige, der sich mit mir anfreunden wollte. Also hab ich mitgespielt.«

Giles starrte ihn an, als sei ihm ein zusätzlicher Kopf gewachsen. »Hör auf! Im Ernst?«

»Wieso?«

»Willst du mir wirklich weismachen, dass dich alle auf der A-H ignoriert haben?«

War das eine Fangfrage? Aaron musterte Giles genau. »Ähm, ja. Niemand hat mit mir geredet.«

»Du hängst doch mit den beliebten Kids ab. Du bist mit der Hälfte dieser Mädchen ausgegangen. Erzähl mir keine Märchen, Kumpel.«

»Was?« Aaron ließ seinen Milchshake sinken. Giles’ verärgerter Tonfall verunsicherte ihn. Er wollte entgegnen, dass er nur mit zwei dieser Mädchen ausgegangen war, und beide Dates waren so furchtbar gewesen, dass er ganz damit aufgehört hatte. Aber dieses Geständnis hätte die Frage nach sich gezogen, warum sie so schrecklich gewesen waren, also schüttelte er nur den Kopf. »Ist ja auch egal. Du hast recht, das College muss einfach besser sein.«

Aus irgendeinem Grund war Giles jetzt wütend. »Was meinst du mit ›Ist ja auch egal‹? Willst du mir etwa weismachen, dass du nicht mit diesen Typen abgehangen oder mit diesen Flittchen aus warst? War das nur eine optische Täuschung?«

Aaron drehte sich der Magen um. »Warum bist du plötzlich so sauer?«

Giles atmete tief durch. »Keine Ahnung.« Er ließ seine Hände an die Seiten des Steuers rutschen. »Sagen wir einfach, meiner Erfahrung nach sind Typen, die mit deinen Leuten abhängen und dann zu mir kommen, ein ganz besonderer Haufen. Ich hätte dich nicht dafür gehalten.«

»Das sind nicht meine Leute. Ich hab nur deswegen mit ihnen abgehangen, weil ich einsam war. Und mit diesen Mädchen bin ich ausgegangen, weil sie mich gefragt haben.« Wieder warf ihm Giles einen seltsamen Seitenblick zu und Aaron hatte jetzt genug davon. »Was?«

Ein paar Minuten lang sagte Giles gar nichts mehr. Aaron aß, aber der Burger schmeckte plötzlich nach Asche. Er hatte das unbestimmte Gefühl, es verbockt zu haben, wusste aber nicht warum.

Zumindest war alles wie immer.

Schließlich sprach Giles wieder. »Mina sagt, dass ich zu streng urteile. Ich steckte Leute immer schon in Schubladen, bevor ich die Wahrheit kenne.«

Diese Bemerkung fühlte sich wichtig an, doch Aaron konnte sie nicht dechiffrieren. Schweigend trank er seinen Milchshake.

»Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich jedes Mal reinfalle, wenn ich nicht aufpasse.«

Aaron hatte keine Ahnung, was das alles damit zu tun hatte, mit wem er in der Schule abhing. »Okay.«

Giles sah ihn vielsagend an, aber Aaron wusste immer noch nicht, was hier vor sich ging.

Also starrte er auf die Straße vor ihnen. »Ich versuche, keine Aufmerksamkeit zu erregen und keinen Ärger zu bekommen. Da ducke ich mich lieber weg.«

Jetzt sah ihn Giles milder an. »Du bist also so richtig schüchtern. Hm. Wäre mir nie in den Sinn gekommen. Ich dachte, du bist gelangweilt oder wütend auf die A-H.«

Aaron starrte stirnrunzelnd auf sein Essen. »Das bin ich nicht.«

»Das wird mir jetzt auch langsam klar.«

Giles bog auf eine Zufahrtsstraße ab. Als sie über ein paar heftige Schlaglöcher fuhren, hielt Aaron sich mit einer Hand an der Tür fest und versuchte mit der anderen, sein Essen zu stabilisieren. »Wohin fahren wir?«

»An den Hickey Lake.«

Aaron grinste. »Ernsthaft? Den wollte ich mir immer schon mal ansehen.«

»Na, dann ist das deine Gelegenheit. Wir sind hier zwar weitab von dem eigentlichen Ausflugsgebiet, aber man hat eine nette Aussicht. Außerdem wird niemand diese Straße entlangkommen.«

Aaron hielt sich fest, als der Wagen über ein weiteres Schlagloch bretterte. »Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das hier überhaupt eine Straße ist.«

Giles warf ihm einen kurzen Blick zu und grinste. »Dir scheint es besser zu gehen. Hilft das Essen?«

»Vor allem die Gesellschaft.« Er hatte das gar nicht aussprechen wollen. »Tut mir leid. Wenn ich betrunken bin, rede ich zu viel.«

»Alkohol wirkt bei dir als Wahrheitsserum? Na, deswegen trinke ich wahrscheinlich so selten. Deswegen und weil man hier nirgendwo trinken kann. Und auch nichts bekommt.«

»Ich glaube, ich trinke aus den falschen Gründen. Wie heute Abend zum Beispiel, da wollte ich einfach nur die ganze Welt vergessen.«

»Kommt das öfter vor?«

»Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wann es nicht so war.« Außer jetzt gerade. Er schob sich eine Handvoll Fritten in den Mund, damit er nicht reden konnte. Als er geschluckt hatte und sicher war, seinen gefühlsduseligen inneren Trottel zum Schweigen gebracht zu haben, fuhr er fort. »Colton will jedes Wochenende etwas unternehmen, aber so oft könnte ich ihn nicht ertragen.«

Giles lachte. Es klang glockenhell und ein wenig nasal. Aaron liebte den Klang. Er schluckte die letzten Bissen von seinem Burger hinunter. »Du musst gedacht haben, dass ich genauso ein Arsch wie Colton bin.«

Giles zögerte, bevor er zugab: »So ungefähr.«

Vor ihnen erschien ein See, eingerahmt von Bäumen und Mondlicht. Giles hielt auf einem Stück Erde, das schlammig gewesen wäre, wenn es mehr geregnet hätte. Nachdem Giles den Motor abgestellt hatte, deutete er auf das Wasser. »Willkommen am Hickey Lake.«

Aaron grinste und die Anspannung zwischen ihnen verschwand. »Wie zum Teufel sind die eigentlich auf diesen Namen gekommen? Zu viele knutschende Teenager?«

»Ich glaube, der Name stammt noch aus den 1850ern. Wahrscheinlich der Nachname von irgendjemand. Hier in der Gegend gibt es eine Menge Hickeys. Wer könnte da widerstehen?«

Und die Anspannung war wieder da.

Giles räusperte sich. »Also. Willst du hier im Wagen bleiben, sollen wir unsere Hintern auf einer Decke parken oder weiterfahren?«

Unter Giles’ Vorschlägen lauerte eine verdammt verführerische Einladung. Das hier war genau wie der betrunkene Tanz mit Tanner. Ohne den Alkohol hätte Aaron vor Nervosität wahrscheinlich einen Herzinfarkt bekommen. Aber er hatte jede Menge Bier intus. Und der hübsche blauschwarze See lag einladend vor ihm.

Giles’ weicher, würziger Geruch, sein Lächeln und sein Lachen hatten eine ungemein beruhigende Wirkung und schienen Aarons geistiges Rückgrat aufzurichten. Dies hier war hundertmal beängstigender als die Wahl des richtigen Colleges – und doch war es eine denkbar leichte Entscheidung.

»Die Decke klingt gut.«

Aaron atmete tief durch und sagte sich, dass alles gut werden würde. Mal sehen, ob er recht behalten würde.

3

Giles hatte keine Ahnung, was er da mit Aaron tat.

Er wühlte im Kofferraum nach der Rettungsdecke, die er meinte, dort letztens gesehen zu haben. Wenn er sie nicht fand, dann wäre das wohl ein Zeichen Gottes, dass er wieder ins Auto einsteigen und Aaron Seavers nach Hause fahren sollte, wo er hingehörte. Er wusste nicht, was es zu bedeuten hatte, als er die Decke sofort fand, ordentlich zusammengefaltet auf dem Ersatzreifen. Irgendwie bezweifelte er, dass das einem Daumenhoch für Sex vom Allmächtigen gleichkam.

Würde er wirklich am Strand vom Hickey Lake sitzen und dem Kerl einen blasen, für den er seit dem ersten Moment schwärmte, in dem er diese babyblauen Augen gesehen hatte? Als er den Kofferraum schloss, sah er Aaron neben dem Wagen stehen. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt, die Schultern hatte er hochgezogen und auf seinem Gesicht lag ein hungriger, erschrockener Ausdruck.

Jepp. Sex war definitiv eine Möglichkeit.

Die Sache, die er nicht wusste und die sein Gehirn wie ein Eichhörnchen im Käfig herumrasen ließ, während er die Decke an der ebensten Stellte ausbreitete, die er finden konnte, war die Frage, ob Aaron auch wieder einer dieser verklemmten »heterosexuellen« Jungen war oder ob er sich ihm gegenüber gerade outete. Normalerweise fragte Giles nicht nach. Sosehr er derartige Affären hinterher bereute, sosehr es ihn auch auf die Palme trieb, dass er überhaupt nur dann Sex hatte, wenn er es mit jemandem trieb, der sich im Grunde davor ekelte … nun ja, trotzdem schlug er eine Gelegenheit nicht aus, wenn sie ihm auf dem Silbertablett serviert wurde. Er redete sich ein, dass es seine süße Rache war, ein Machttrip, aber wenn er ehrlich war, lag es hauptsächlich daran, dass er einsam war.

Kurz gesagt, im Grunde genommen war er ziemlich erbärmlich.

Die Frage war nun, ob das hier für Aaron nur einer dieser »Ausrutscher« sein würde, der schlechte Gefühle hinterließ, oder … etwas anderes. Eigentlich dämlich, denn es würde ja ohnehin zu nichts führen. Aaron fuhr morgen weg, und im Herbst verschwand Giles ebenfalls von hier. Bestenfalls konnten sie sich in den Ferien treffen, aber falls sich Aaron outen sollte, würde Giles ihn ohnehin nie wieder flachlegen. Aaron war Güteklasse A, egal für welches Geschlecht er sich entschied. Giles war selbst an einem guten Tag höchstens eine Drei plus. Zu dünn, zu sehr Geek, zu linkisch. Niemals würde er bei Aaron eine echte Chance haben.

Und doch war er jetzt hier auf dieser Decke neben Aaron, der viel näher saß als ein heterosexueller Junge das je tun würde. Und er wirkte viel erwartungsvoller und verletzlicher, als die anderen Jungs, mit denen Giles sonst rummachte, und das brachte ihn völlig aus dem Konzept.

Doch wie immer das hier auch laufen würde, Giles bezweifelte, dass er sich selbst später für seine Ehrenhaftigkeit bewundern würde, wenn er sich jetzt zurückhielt.

»Gut, dass es nicht viel geregnet hat, sonst würden wir jetzt von Mücken aufgefressen werden.« Giles zog seine Schuhe aus und wackelte mit den Zehen. »War bis jetzt ein schöner Sommer. Nicht zu heiß, nicht zu feucht.«

»Ja, er war echt nett.« Aaron klang nicht so, als wollte er über das Wetter reden, aber es war genauso klar, dass er nicht wusste, was er als Nächstes tun sollte. Er wirkte so angespannt, dass Giles befürchtete, er würde im hohen Bogen in den See springen, wenn er nicht vorsichtig war.

Tja, Baby, dann mir nach. Diesen Tanz kenne ich in- und auswendig. Giles legte sich zurück, stützte sich auf seine Ellbogen und ließ seine Beine auseinanderfallen. Vorgeblich um den See zu betrachten, aber hauptsächlich, um Aaron sehen zu lassen, wie gut er seine Jeans ausfüllte, eine Einladung, die sein Begleiter dankend annahm. Es war ein subtiler Blick, doch er war da. Giles war kein Jon Hamm oder so, aber er hatte ein anständiges Paket.

Doch bevor sein Schwanz zum Einsatz kam, brauchte Aaron noch mehr belanglose Plauderei, um locker zu werden. »Eden Prairie, sagtest du. Bist du dort aufgewachsen?«

»Ja. Na ja – größtenteils. Eigentlich bin ich in Kalifornien geboren – Oakland –, aber wir sind umgezogen, als ich vier war. Ich habe eine verschwommene Erinnerung an das Haus, in dem wir gewohnt haben, und vielleicht die Brücke und ein Haus auf einem großen Hügel mit einem orangefarbenen Blumentopf auf der Veranda, aber das war’s.«

»Lebt dein Dad noch in eurem Haus in Eden Prairie?«

»Nein. Mom hat es verkauft, als wir umgezogen sind. Er hat eine Eigentumswohnung. Auch wenn er immer viel Zeit im kalifornischen Büro seiner Kanzlei verbringt. In letzter Zeit besonders häufig.«

Aaron atmete inzwischen regelmäßiger. Zeit für Phase zwei.

Giles streifte ein paarmal Aarons Knie mit seinem, und als Aaron es nicht zurückzog, ließ er es dort. »Meine Familie lebt immer noch im gleichen Haus wie eh und je, aber letztes Jahr haben wir es ziemlich umgestaltet. Ich bin der letzte, der das Nest verlässt.«

Aarons Knie drückte sich zögerlich gegen Giles’. »Du hast Geschwister?«

»Einen Bruder und eine Schwester. Beide haben geheiratet und sind weggezogen. Hannah lebt in Linden Hills. Mark in St. Paul, und er hat gerade sein erstes Kind bekommen. Was ist mit dir? Bist du ein Einzelkind?«

»Ja.« Jetzt imitierte Aaron Giles’ Haltung. Aarons Hand strich gegen seine, aber anstatt sie wegzuziehen, ließ er sie dort. Als Aaron wieder sprach, zitterte seine Stimme. »Ist wahrscheinlich auch besser so. Meine Eltern sind ein furchtbares Paar gewesen. Sie hätten mich nicht bekommen sollen.«

»Das wäre aber eine Schande, weil du dann jetzt nicht hier wärst.« Der Spruch war ganz schön kitschig, aber Aarons Knie wurde zunehmend selbstsicherer, seine Finger immer zielstrebiger, also schien die gefühlige Kiste zu funktionieren. Er schob seinen Oberschenkel näher und legte seine Hand auf Aarons. »Also, Geburtstagskind. Hast du alle Geschenke bekommen, die du wolltest?« Aaron presste mit seinem Bein dagegen und starrte auf Giles’ Schritt. Giles unterdrückte ein Lächeln. »Oder vielleicht … fehlt noch was?«

Aaron stockte der Atem, seine Pupillen weiteten sich, und er öffnete ein wenig seinen Mund. Er sah Giles in die Augen und in seinem Blick lag nacktes Verlangen.

Na also.

Giles küsste ihn zärtlich, was er bei One-Night-Stands sonst nie machte. Aber Aaron wollte er küssen. Er saugte an seinen Lippen, bis sie anschwollen, dann brachte er Aaron dazu, sie leicht zu öffnen, doch ohne seine Zunge hineinzustecken. Eine Minute lang berauschte er sie beide mit langen sexy Küssen, dann strich er mit seinen Lippen über Aarons Wange. »Ist das okay?«

Aarons zitternder Atem jagte Giles einen Schauer über den Rücken. Er wollte sich auf Aaron stürzen und ihn zum Äußersten treiben – doch stattdessen hielt er sich zurück und wartete.

Es war ihm sehr wichtig, dass Aaron Ja sagte.

Aaron holte tief Luft. »Ich … ich weiß nicht.« Doch als Giles seinen Kopf hob, legte Aaron seine Hand schnell auf Giles’ Bizeps und hielt ihn zurück. »Ich …« Seine blauen Augen starrten Giles voller Lust und Angst an.