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Was würdest du tun, wenn die einzige Möglichkeit ehrlich zu sein bedeutet, die Person zu verlieren, die du liebst? Zoe ist eigentlich die perfekte Karrierefrau. Als sie endlich ihr Ziel erreicht und ihren Traumjob feiern will, reißt ein einziges Ereignis sie aus ihren Verankerungen. Innerhalb einer Nacht ist Zoes Leben nichts weiter als ein Scherbenhaufen. Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Alles, was sie sich erarbeitet hat, gleitet ihr aus den Händen. Mehrere Männer greifen sie an. Zerren an ihrer Kleidung, an ihren Gliedmaßen und prügeln auf sie ein. Bis ihre Welt vor ihren Augen verschwimmt. Angst ist nun ihr täglicher Begleiter. Albträume halten sie wach und ihr Leben gleicht einer Achterbahnfahrt. Als sie auf Malik trifft, scheinen sich die Wogen zu glätten. Was sie in seiner Gegenwart verspürt ist alles andere als Angst. Es ist Sehnsucht und Wärme. Ein Gefühl der Geborgenheit. Doch Malik kämpft nicht nur gegen die Dämonen seiner Vergangenheit, sondern auch gegen die jener Nacht, die seine Familie betrifft.
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Seitenzahl: 334
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Love vs Lie
Nur die Wahrheit kann uns retten
Autorin – Patricia Dohle
Patricia Dohle ist eine junge Buchautorin. Sie lebt mit ihrer Familie im kleinen Landkreis Holzminden.
(Niedersachsen)
Mit Achtzehn veröffentlichte sie ihr erstes Buch.
https://www.facebook.com/PatriciaDAutorin/
Für die verlorenen Seelen, die nicht den Mut haben,
nach vorne zu sehen.
Mut entsteht nicht über Nacht. Er wächst mit jeder Entscheidung, die wir treffen.
Prolog
Die Musik dröhnt in meinen Ohren und bereitet mir Kopfschmerzen. Auch der Alkohol macht sich langsam bemerkbar. Ich spüre, wie ich gemütlich immer wieder hin und her schwanke.
Von Sophia ist nichts mehr zu sehen. Wahrscheinlich ist sie soeben mit dem süßen Typen von der Bar auf die Toilette verschwunden. So locker wäre ich auch gerne.
Aber so sehr ich mich auch anstrenge, jedes Mal lässt mich mein Selbstbewusstsein im Stich. Ich rede wirres Zeug, sobald sich mir ein Mann nähert. Die letzte heiße Nacht ist schon Monate her, während Sophia jedes Wochenende jemanden abschleppt. Unfair.
Ich seufze laut auf, auch wenn die Musik jeden Laut, den ich von mir gebe, übertönt. Gelangweilt ziehe ich an meinem Strohhalm, den ich immer wieder in meinem Cocktailglas kreisen lasse. Der Wodka aus dem Sex on the Beach färbt meine Wangen leicht rosa und selbst in meiner dünnen, halbdurchsichtigen, roten Bluse wird mir langsam warm.
Die Tanzfläche wird von Minute zu Minute voller und unübersichtlicher. Ich denke, ich werde Sophia eine SMS schreiben, dass ich abhaue. Sich alleine volllaufen zu lassen war nie meine Absicht. Ich wollte mit ihr einen schönen Abend verbringen und feiern, dass ich endlich die langersehnte Stelle im New Yorker Downtown Hospital als Psychotherapeutin ergattern konnte.
Es lief einfach alles nach Plan. Vor einem halben Jahr hatte ich meine Ausbildung mit Bravur gemeistert. Zwischen-durch habe ich ein paar weiterführende Kurse belegt und nur auf diese Gelegenheit gewartet. Doch aus dem eigentlichen feiern und anstoßen wurde irgendwie ein Alleingang an der Bar. Theoretisch kann ich es Sophia nicht verübeln. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, dass es je anders gewesen ist.
Ich, die hart arbeitende Karrierefrau und sie, immer auf der Suche nach Frischfleisch. Sie konnte es sich schließlich leisten. Sophia sah zu jeder Tageszeit makellos aus. Immer perfekt gestylt und ihren gut durchtrainierten Körper in ein paar hautenge Jeans verpackt, so wie auch heute.
Also dauerte es natürlich nicht lange, ehe ein gutaussehender Kerl Sophia ansprach. Sie war gerade dabei, uns Runde Nummer Vier von der Bar zu ordern, als sie mir einen entschuldigenden Blick zuwarf. Wie immer ließ ich sie ziehen. Wenigstens Eine von uns sollte ihren Spaß haben heute Nacht.
Ich fange an in meiner Handtasche zu kramen und werde schnell fündig. Mein Handy ist nicht das Neueste, aber es erfüllt seinen Zweck. Schnell tippe ich Sophia eine Nachricht:
Ich rufe mir ein Taxi.
Hab Spaß, Miststück ;)
Zoe XOXO
Spätestens morgen früh, sobald wir wieder nüchtern sind, wird sie, wie eigentlich immer, das schlechte Gewissen überkommen, dass weiß ich. Aber für mich ist der Abend nun vorbei.
Mit einem großen Schluck leere ich mein Glas und schiebe es dem Barkeeper zu, der mir noch ein charmantes Lächeln zufliegen lässt, ehe er sich wieder seinen anderen und deutlich attraktiveren und flirt bereiten Gästen widmet. Für mich war das heute mein letzter Drink. Das Laufen in meinen hohen Stilettos fällt mir bereits mit jedem Schritt schwerer. Ich fühle mich, als hätte ich zwei Betonklötze an meine Füße gebunden. Langsam schiebe ich mich durch die Menge in Richtung Freiheit, dränge mich an den verschwitzen Menschen vorbei, die immer noch bei Laune sind und wild mit Armen und Beinen zappeln.
Ich durchquere die Raucherlounge kurz vor dem Ausgang und atme den fahlen Zigarettenrauch ein, der mir um die Nase schwirrt. Keine Ahnung, wie die Leute das Zeug inhalieren können, ohne dabei tot umzufallen. Dann ist es endlich geschafft: Freiheit.
Kurz überlege ich Robert zu kontaktieren, um vielleicht doch noch einen netten Abend zu haben, dann aber bleibe ich dabei, ein Taxi nach Hause zu nehmen. Robert ist ein ehemaliger Arbeitskollege von mir. Während unserer Arbeitszeit sind wir eigentlich nie richtig warm geworden, jedoch letztes Jahr auf der Weihnachtsfeier wurde es, dank des einen oder anderen Glühweins, doch wärmer um uns. Eigentlich nichts Besonderes. Es hat nie so wirklich für etwas Festes gereicht, jedoch für ein paar schöne Abende, wo wir uns die Hörner abstoßen konnten. Doch um ehrlich zu sein, ist Robert im Bett nicht gerade der Superman, den ich mir wünsche, wenn ich von einer heißen und unvergesslichen Nacht rede. Genau aus dem Grund will ich mich jetzt lieber nach Hause in mein gemütliches Bett verziehen und darüber schmollen, dass der Abend nicht so gelaufen ist wie geplant. Robert kann auch noch einen weiteren Monat auf unser Comeback warten.
Es ist nicht kalt, aber auch nicht warm. Der Sommer kriecht langsam wieder in seine Löcher und macht Platz für den Herbst. Vor dem Club tummeln sich mehrere Grüppchen aber Niemand, den ich kenne. Ich werfe einen verstohlenen Blick auf meine Armbanduhr. Halb Eins. Für viele wäre das sicherlich ein Grund, noch durch weitere Bars und Clubs zu tigern doch meine Kopfschmerzen werden stärker. Am Straßenrand steht bereits ein Taxi, doch als ich gerade einsteigen will, schlüpfen zwei betrunkene Typen an mir vorbei auf den Rücksitz. Einer von Ihnen brüllt mir noch ein „Sorry!“ entgegen. Genervt verdrehe ich die Augen und nuschele „Idioten“ vor mich hin. Wie können die Leute nur so rücksichtslos sein?
Kurz lasse ich meinen Blick die Straße hinauf und wieder hinuntergleiten. Wirklich Lust auf ein anderes Taxi zu warten, habe ich nicht. Also entschließe ich mich kurzerhand zu Fuß zu gehen. Der Club ist gerade einmal zwei Straßen von meiner Wohnung entfernt. Ich bin mir sicher, dass meine Füße zu Hause wund sein werden. Meine Stilettos drücken unbequem gegen meine Zehen. Aber wie hat Sophia es vorhin so passend formuliert: „Wer schön sein will, muss leiden!“ und genau das tue ich jetzt.
Ich seufze dramatisch und setze mich in Bewegung. New York schläft bekanntlich nie und ich kann Euch sagen, genauso ist es auch. Die Menschen sind viel zu lange wach und doch viel zu unaufmerksam. Man kann durch eine voll belebte Straße laufen und wenn jemand fragen würde, hätte einen doch niemand gesehen. Traurig, aber wahr. Doch in Wirklichkeit bin ich selbst kein Stück besser. Ich starre an den riesigen Gebäuden hoch und schiele verstohlen in die noch hell erleuchteten Räume und frage mich, was die Menschen hinter den dreckigen Scheiben wohl treiben.
Wie viele schlafen wohl gerade vor Erschöpfung vor dem laufenden Fernseher ein? Manche sind wach und versuchen verzweifelt quengelnde Kinder zu beruhigen. Wieder andere kommen betrunken Heim und hinterlassen hinter sich eine Schneise des Chaos oder sie kotzen ihr Badezimmer voll und schwören sich jede einzelne Sekunde: Nie wieder Alkohol. Noch einmal wieder andere haben Sex. Mhm, den hätte ich auch gerade gerne oder zumindest eine Schulter zum Anlehnen. Jemand Beständiges. Es wäre schön, nach einer langen nervenaufreibenden Sitzung nach Hause zu kommen und…
Ein harter Schlag, ein ziehender, stechender Schmerz, reißt mich aus meinen Gedanken. Irgendetwas zieht an meinen Gliedmaßen. Arme, Beine, Kopf. Unverständliche Stimmen schreien mich an. Brüllen, Keuchen, Stöhnen an mein Ohr. Stoff reißt.
„Lass das!“, sprudelt es aus mir heraus. Mein Blick ist verschwommen. Ich fühle die feuchte Stelle an meinem Kopf, schmecke Blut, rieche Zigarettenqualm.
„Was soll das?“, kreische ich hysterisch. Doch niemand hört mir zu. Ein dunkler Tenor umschmeichelt mein Hirn, das nicht mehr fähig ist, es in sich aufzunehmen: „Entspann dich! Entspann dich!“ Angst kriecht mir in alle Poren. Ich schwitze und friere gleichzeitig. „Bitte“, seufze ich und spüre Tränen in mir aufsteigen. Ich wehre mich heftig, schlage um mich mit Armen und Beinen, dann… ein weiterer heftiger Schlag. Eine Ohrfeige oder auch eine glatte Faust. Ich kann es kaum sagen. Es wird schwarz um meine Lider und die Schwärze reißt mich in eine unbekannte, verschwommene Benommenheit. Kalte Hände umfassen meine Knie, reißen sie auseinander. Schwindel und Übelkeit überkommen mich und lähmen meinen gesamten Körper. Mein Gehirn setzt kurz aus und als ich endlich verstehe, was gerade geschieht, bricht bereits die Hölle los…
1.Zoe
Ich schrecke schweißgebadet hoch und schnappe panisch nach Luft, ehe ich in die besorgten, blauen Augen meiner Schwester Blicke. „Zoe!“, zischt sie und ihr Griff um meine Schulter verfestigt sich. „Du hast nur geträumt. Es ist alles gut. Es ist vorbei“, versucht sie mich zu beruhigen, doch ich weiß es besser. Es ist noch nicht vorbei. Noch läuft er da draußen frei herum. Sucht er nach mir?
Maike, meine Schwester, zieht mich in ihre Arme. Ihr Körper ist noch warm von ihrem eigenen Bett und strahlt eine Geborgenheit aus, die man sonst nur bei Müttern findet. Ich bemerke meine Tränen erst, als ich damit ihr T-Shirt benässe. Langsam wiegt sie mich hin und her und summt dabei eine alt vertraute Melodie, die sie mir immer vorgesungen hat, als wir noch Kinder waren.
„Glaubst du, das wird jemals aufhören?“, flüstere ich an ihrer Schulter. Sie schüttelt kaum merklich den Kopf. „Du schaffst das schon. Es ist doch schon besser geworden, Zoe. Du musst nur dagegenhalten“, seufzt sie mir ins Ohr, doch ich merke, wie sie sich selbst nicht glauben kann. „Kannst du dich denn an rein gar nichts erinnern? Ein Gesicht, eine Stimme, ein Tattoo oder Narbe? Irgendwas?“ Hoffnung flammt erneut in ihr auf. Sie kennt die Antwort auf diese Frage und lässt automatisch den Kopf hängen. Erneut laufen mir Tränen über die Wange. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als ihr eine andere Antwort liefern zu können. Eine Erinnerung wäre im Moment alles, was mich einigermaßen wieder auf die Beine ziehen könnte. Die Hoffnung, doch noch den Täter zu fassen.
„Ich weiß es doch auch nicht Maike“, schluchze ich los und wieder falle ich in ihre Arme. Leicht streicht sie mit ihrer Hand meinen Rücken rauf und runter. „Pssst. Beruhig dich Liebes. Alles wird gut“, schwört sie erneut. Wie kann sie das glauben? Ich werde nie wieder die Selbe sein. Nie wieder einen Fuß in eine Bar setzen.
Jeden Abend spüre ich erneut die dreckigen Hände auf meiner Haut. Höre die gleichen, vernebelten Geräusche und bettle darum, dass es aufhört und dann spüre ich es, als würde er erneut in mich eindringen, spüre den Druck und den unendlichen Schmerz. Die Grobheit, mit der er mich berührt und verunstaltet, mit der er mein Leben für immer verändert hat. Hände greifen nach mir, schlagen mich immer und immer wieder. Halten mich fest, drücken mich zu Boden bis ich bewusstlos werde und dann kommt das große Nichts. Ich erinnere mich gut an das Nichts.
Ein Gefühl, das ich nicht erklären kann, nicht erklären mag, denn es ist die Hölle. Und Maike meint, dennoch, es wird alles wieder gut? Wie kann etwas gut werden, das so grausam und undenkbar erscheint? Wie kann etwas gut sein, das sich so schlecht anfühlt? Wie kann ein Mensch, gar mehrere Männer, ein Leben einer einzelnen Person so verändern, dass man das Gefühl hat, nie wieder glücklich zu werden?
Seit jenem Abend spüre ich meinen Körper nur noch zur Hälfte. Eine Hälfte gefüllt mit dem großen Nichts. Die andere beschränkt sich auf körperliche und psychische Schmerzen.
„Wie kannst du das sagen!“, brülle ich los und presse mein Gesicht an ihre Brust. Maike seufzt: „Vielleicht solltest du anfangen dich zu beschäftigen? Treff dich mit Freunden, geh aus, genieß wieder dein Leben! Du bist jung. Ich weiß, wie schwer das ist. Aber du kannst dich hier nicht verstecken.“ Sie macht eine ausladende Handbewegung in Richtung ihrer Wohnung. Sie hat irgendwie Recht. Ich liege ihr seid langen fünf Monaten auf der Tasche und belege ihr Gästezimmer und dennoch will ich nicht zurück in meine eigene Wohnung. Allein, Einsam und ungeschützt.
„Ich gehe nicht mehr aus!“, schreie ich wie ein kleines Mädchen und blicke sie empört an. Langsam aber sicher verliert meine Schwester die Nerven, das sehe ich ihr an. Sie will mir nur helfen, das weiß ich. „Mensch, dann geh joggen, kauf dir einen Hund, sammle von mir aus Pfandflaschen im Park. Aber bitte fang wieder an zu leben! Du vegetierst seit fünf Monaten in meiner Wohnung vor dich hin. Jede Nacht schrecke ich aus dem Schlaf hoch, weil ich dich schreien höre. Das kann so nicht weitergehen, Zoe! Ich will dir nichts Böses… ich liebe dich… aber… ich kann das nicht länger ertragen.“
Sie steht auf und läuft im Zimmer auf und ab. Ihr Gesicht stützt sie dabei in ihre Hände. Sie verzweifelt und das, obwohl ich diejenige bin, die leidet. Doch sie leidet mit mir, wie eine richtige Schwester. Sie kann das alles einfach nicht wirklich nachvollziehen, doch trotzdem werde ich schwach.
Schuldgefühle legen sich um meinen Körper wie Ketten und ziehen mich zurück auf den Boden der Tatsachen. Irgendwas muss ich ihr sagen, dessen bin ich mir bewusst. Als das Schweigen zwischen uns unerträglich zu werden scheint und ihre Schritte immer lauter und energischer werden, ringe ich um meine Stimme: „Maike hör zu! Es tut mir leid. Ich…“, mir fehlen die Worte. Nichts, was mir durch den Kopf geht, ergibt auch nur im entferntesten Sinn. Ich liebe meine Schwester und ich will ihr auf keinen Fall zur Last fallen, aber ich brauche sie. Jetzt mehr denn je. „Du …was?“, hakt Maike nach, während ich meinen Gedanken noch immer nachhänge. Ich seufze erneut in die Stille. „Ich werde es versuchen Maike… Wirklich. Ich weiß ehrlich gesagt noch nicht, wie. Aber ich werde es versuchen.“ Ich bin mir unschlüssig, wie viel Wahrheit ich in meinen Worten wiederfinde. Aber ich schwöre mir innerlich: Ich werde es versuchen.
In Maikes Augen liegen Trauer und Erleichterung. Sie sieht erschöpft aus und deutlich älter als sie ist. Um ihre Augen liegen bereits Falten und um ihre Lippen kräuselt sich Haut, die viel zu blass, ohne ihr ordentlich aufgelegtes Make-Up, aussieht. Der Dutt auf ihrem Kopf ist mehr als unordentlich. Einzelne Strähnen hängen heraus.
„Danke Zoe.“ Das Lächeln, das sie mir schenkt, ist müde aber aufrichtig. Ich springe vom Bett auf und schlinge die Arme um meine Schwester. „Du solltest schlafen gehen. Es ist schon spät“, flüstere ich ihr ins Ohr. „Du auch, Süße.“ Sie löst sich aus meiner Umklammerung und lächelt mich weiterhin an. An der Tür schiebt sie ein kleines: „Gute Nacht, Zoe“ hinterher, ehe sie geht und mich alleine im Raum stehen lässt.
Ich hänge halb über dem Küchentisch und schlürfe ungeniert an meiner Kaffeetasse, als meine Schwester wutentbrannt in die Küche platzt. „Zoe, kannst du mir das erklären?“, schnaubt sie und knallt einen Stapel Papiere direkt vor meine Tasse, deren Inhalt leicht zu schwenken beginnt. „Was ist das?“, frage ich noch etwas verschlafen, doch dann sehe ich es.
Es ist eine Ansammlung von Rechnungen. Alle an mich adressiert. Eine Weile nach dem Unfall habe ich mich krankschreiben lassen. Mein Arzt empfahl mir, eine Pause einzulegen. Doch nachdem die Monate so ins Land gingen, musste ich mir etwas anderes einfallen lassen. Das Ende vom Lied war leider, dass ich meine heißgeliebte Stelle im New Yorker Downtown Hospital als Psycho-therapeutin schmiss, was mich nicht gerade zur Mitarbeiterin des Monats machte. Ich verlor also meinen Job und gleichermaßen mein Geld. Meine Wohnung, in der ich ebenfalls zurzeit nicht lebe, bezahle ich mit ein paar angesparten Rücklagen. Alles andere musste ich wohl oder übel meiner Schwester und ihrem Mann Enrico aufbrummen und jetzt gerade wohl sehr zu ihrem Leidwesen.
Maike reißt erneut die Briefe an sich und ihr Kopf läuft hochrot an. Eifrig fängt sie an, mir vorzulesen: „Handyrechnung, Einkäufe, ein Netflix Konto!?!“ Ihre Stimme wird laut und schrill und ihr Blick durchbohrt mich und meine Tasse. „Zoe, verdammt nochmal. Was soll das!“ Ich reibe mir die Schläfen und murmle langsam eine Entschuldigung: „Es tut mir…“ Maike schneidet mir jedoch das Wort ab. „Ich habe es so satt! So kann es nicht weitergehen. Wir haben uns letztens erst darüber unterhalten, dass du endlich wieder anfängst was zu tun, dich wieder aufrappelst und was ist seitdem passiert? Nichts! Rein gar nichts! Du sitzt hier, stopfst dich mit Kaffee und deinem Selbstmitleid voll und wir sollen deine Rechnungen bezahlen? Was ist aus der großartigen Karrierefrau geworden, die ich so liebe?“
Autsch! Das hat gesessen. Maike lässt sich schnaubend auf den Stuhl mir gegenüber fallen und reibt sich mit den Händen durchs Gesicht. Für eine Entschuldigung ist es definitiv zu spät, doch mein schlechtes Gewissen überkommt mich augenblicklich. Ich hatte es versucht.
Ehrlich. Ich hatte es in Erwägung gezogen, zurück in meine eigene Wohnung zu gehen. Für sie. Doch der Gedanke an das Alleinsein zog mir einen Schauer über den Rücken und lies mich nicht mehr los. Es zerrt an meinen Nerven und lässt mich schwer atmen. Mir kam selbst der Gedanke, mich für eine Therapie anzumelden. Eine Art Selbsthilfegruppe für Opfer. Doch ich will einfach kein Opfer sein. Ich bin eine Art Gestrandete. Ziellos und unbeholfen geradewegs ins Nirgendwo. Fremde Menschen jagten mir Angst ein und selbst, nur mal kurz hinaus, um die Ecke zum Supermarkt zu gehen, scheint mir derzeitig wie ein Marathon.
Mein Herz beginnt immer heftiger gegen meinen Brustkorb zu hämmern und meine Lunge fühlt sich wie ausgehungert an, sobald ich einen Mann sehe, der mir unheimlich erscheint. Immer wieder quälen mich die Gedanken, wer er war, wohin er wollte, was er wohl letzte Nacht getan hatte. War er es vielleicht? Das Monster, das mich jede Nacht heimsuchte in meinen verschissenen Albträumen? War er es, der mich packte und zerstörte?
„Maike, das ist alles nicht so einfach, das musst du mir glauben“, stöhne ich ihr entgegen und mache es ihr gleich, vergrabe mein Gesicht in den Händen. Sie lässt die Hände sinken und stiert mich weiterhin durch ihre blauen Augen an. „Es muss etwas passieren. Hast du das verstanden?“ Ich nicke abwesend und augenblicklich weicht die Wut aus ihrem Blick. „Gut. Ich habe dir nämlich noch was mitgebracht.“ Ihr Ton ist deutlich sanfter, doch noch immer höre ich deutlich die Anspannung, die darin verborgen liegt. „Können wir das nicht nach dem zweiten Kaffee besprechen?“, maule ich zwischen zusammen-gebissenen Zähnen, doch Maike ist bereits aufgesprungen und wieder im Flur verschwunden.
Kurze Zeit später taucht sie mit einem kleinen, weißen Karton wieder auf. Begeistert stellt sie ihn auf den Tisch und ihre Augen beginnen zu leuchten. Strahlend hebt sie den Deckel der Pappschachtel an und schreit mir ein „Tadaa!“ entgegen, bei dem ich unwillkürlich zusammenzucke. Mit hochgezogenen Augenbrauen mustere ich den Inhalt des Kartons und sehe erst die Schuhe und dann meine große Schwester fragend an: „Was ist das?“ Meine Frage klingt so dämlich, dass ich am liebsten selbst die Augen bis ins Weiße verdrehen würde. Maike packt energiegeladen in die Schachtel und zieht einen der schwarzen Turnschuhe heraus, um ihn mir zu präsentieren.
„Das, meine Liebe, sind ziemlich teure Laufschuhe und zwar für dich!“, flötet sie etwas zu angefressen für meinen Geschmack. „Maike, das ist wirklich nett gemeint aber ich…“ und schon wieder fällt sie mir ins Wort: „Die du auch benutzen wirst, wenn du hier weiterhin wohnen möchtest und ich die hier…“, sie wedelt mit dem Stapel Rechnungen vor meiner Nase umher, „abbezahlen soll. Ich habe dich gewarnt und solltest du in drei Wochen nicht wieder einigermaßen menschlich sein, versohle ich dir deinen kleinen, süßen Hintern. Verstanden, Schwester-herz?“ Ihr Lächeln platzt fast aus allen Nähten als sie mir, immer noch viel zu begeistert, die Schuhe hinhält.
Innerlich suche ich eine Reihe von Schimpfwörtern aus, die ich gewählt bin, meiner herzallerliebsten Schwester gegen den Kopf zu schmettern, doch ich entscheide mich dagegen. Sie hat Recht, wie so oft. Also presse ich die Zähne aufeinander und nehme die Laufschuhe entgegen. Leise knirschen meine Zähne als ich das: „Verstanden, Schwesterherz“, zische und Maike ist endlich zufrieden. „Super, dann wäre das ja geklärt.“ Sie verlässt die Küche mit einem zufriedenen Grinsen und wedelt noch immer mit dem Papier in der Luft herum. „Na super“, sage ich mehr zu mir selbst, als zu irgendwem Bestimmtes. “Ich hab dich lieb”, trällert Maike noch durch den Flur, ehe ich die Haustür wieder zuschlagen höre. Manchmal hasse ich meine Schwester.
Ganze drei Stunden später ist es dann soweit. Ich stehe, nach zwei Tassen Kaffee und immer noch nicht wirklich motivierter als vor drei Stunden, angezogen in der Küche und bewege mich wie ein Tiger um den Küchentisch, um die Laufschuhe, die sich keinen Millimeter wegbewegt haben. Aus dem Kleiderschrank meiner Schwester habe ich mir passende, enge Sportleggins geholt. Sie schmiegt sich leicht um meine satten Kurven. Die Kurven, die da draußen jemand grob und ohne Erlaubnis berührt hat. Ich würde nicht behaupten, dass ich mich in dieser Kleidung wohl oder gar sicher fühle. Eigentlich bietet mir nichts so richtig Schutz, auch wenn ich mir das noch so sehr wünsche. Meine lange, brünette Mähne habe ich zu einem ordentlichen, hohen Zopf zusammengebunden. Das Schlimmste an diese Situation ist jedoch: Die Schuhe, die dort auf mich lauern, bedeuten für mich mehr als nur eine sportliche Betätigung. Sie schreien mich förmlich an: „Außenwelt!“ und das bereitet mir eine Gänsehaut. Ich habe alles genauestens durchdacht. Über GoogleMaps habe ich mir eine gut besuchte Laufroute angesehen. Eine mit vielen Menschen. Eine Strecke, auf der mir nichts passieren kann. Es gäbe einfach zu viele Zeugen, aber leider auch genug Augenpaare, die mich verfolgen und in den Wahnsinn treiben. Und er könnte mir genauso gut über den Weg laufen.
Würde ich ihn erkennen? Könnte ich mich erinnern? Würde er mich wiedererkennen? Kannte er seine Opfer? Hatte er überhaupt mehrere? War ich die Erste und Letzte gewesen? Ein Ausrutscher?
Die Fragen kreisen durch meinen Kopf und zerren an meinen Kräften. Schon jetzt fühle ich mich, als sei ich die Route viermal gelaufen und zwar im Sprint. Das Haus, das Enrico und Maike gekauft haben, liegt ganz in der Nähe vom CentralPark. Ich habe mir vorgenommen, die U-Bahn zunehmen, um dann in Ruhe eine kleine Runde im Park zu drehen. Für eine große Runde wäre meine Ausdauer definitiv zu schlecht und meine Angst zu groß. „Du schaffst das!“, sage ich immer wieder zu mir selbst. Es scheint so einfach und doch ist es für mich ein riesiger Schritt. Ich bin mir der Konsequenzen durchaus bewusst. Maike wird mich rauswerfen, wenn ich nicht bald etwas tue. Sie liebt mich, das weiß ich ganz genau. Aber auch sie will, dass ich ins Leben zurückkehre.
„Du schaffst das!“, wiederhole ich erneut und greife nach den Schuhen. Sie passen wie angegossen. Maike hat einen guten Geschmack. Sie drücken weder an den Zehen, noch gibt es die Möglichkeit an den Hacken herauszuschlüpfen. Bevor ich die Haustür öffne, atme ich tief ein und dann geht es los.
Die U-Bahn ist um diese Uhrzeit relativ leer. Die meisten Menschen sind bereits auf der Arbeit oder schlafen tatsächlich noch tief und fest, da sie die Nacht zum Tag machen. Die Leute, die an mir vorbei schlendern, achten nicht auf mich und dennoch fühle ich mich beobachtet. Jeder Schritt, den ich mache, ist gut durchdacht. Endlich habe ich es geschafft. Die Bahn hält direkt am Park und ich sprinte förmlich aus dem kleinen Wagon. Hoch durch die Tunnel ins Freie. Die Luft ist warm, aber nicht schwül und ein leichter Wind weht mir übers Gesicht. Eigentlich der perfekte Tag für Sportler.
Ich lasse meinen Blick über die langen Grünflächen wandern. Meine Brust verengt sich, als ich die vielen Menschen sehe, die sich überall im Park aufhalten. Sie gehen Gassi mit ihren Hunden, liegen verteilt auf Decken im Gras, joggen die asphaltierten Wege entlang oder füttern wild gurrende Tauben am Straßenrand. Ich stecke mir einen der kleinen Kopfhörerproppen in mein Ohr und suche mit zittrigen Händen die Playlist auf meinem Handy, die ich am Morgen zusammengesucht habe.
Dabei lasse ich meine Umgebung keine Sekunde aus den Augen. Die Musik soll mich beruhigen.
Die Menschen, die an mir vorbeiströmen, würdigen mich keines Blickes. Das gefällt mir und lässt meine Atmung etwas flacher werden. Das erste Lied beginnt zu spielen und die sanften Klänge von Klavier und einer leisen Gitarre setzen ein. Leise murmle ich immer wieder: „Du schaffst das!“, vor mich hin. Es ist wie ein Mantra und auf einmal verschwinden die dicken Betonklötze, die sich um meine Füße und Beine gelegt haben. Die Ketten um meine Handgelenke werden leichter und als ich anfange, einen Fuß vor den anderen zu setzen, fallen sie endlich ganz ab.
Als endlich der Gesang einsetzt, habe ich bereits meinen eigenen Rhythmus gefunden. Die Schuhe, die mir Maike geschenkt hat, halten was sie versprechen. Bei jedem Schritt schmiegt sich die Gummisohle perfekt an meinen Fuß und federt mich ab. Auf einmal ist da eine Leichtigkeit in mir, die ich nicht erklären kann. Die Luft fühlt sich wärmer und wohliger an und ich laufe und laufe einfach weiter bis meine Beine mich kaum noch tragen können.
Völlig außer Atem halte ich nach einer ganzen Weile an. Meine Lunge brennt bereits und meine Beine zittern leicht, aber ich fühle mich gut. Das Gewicht, das seit jenem Abend auf meinen Schultern ruht, hat sich halbiert. Erschöpft stütze ich meinen Körper auf meine Knie und senke den Blick. Meine Hände ruhen auf meinen Knien und kneifen leicht in mein taubes Fleisch, doch mein Gesicht verziert ein leichtes Lächeln.
„Du schaffst das!“, sage ich wieder und drücke mich wieder nach oben, um Luft zu bekommen, dann trifft es mich mit voller Wucht.
Zuerst realisiere ich gar nicht, was passiert ist. Ich schnelle umher, suche meinen Angreifer, warte auf den Schmerz, der einsetzen sollte. Doch er kommt nicht. Wild schnappe ich nach Luft und bereue es sofort, mich sichergefühlt zu haben.
„Entschuldigen Sie, das war keine Absicht“, höre ich eine sanfte Stimme säuseln und wieder drehe ich mich viel zu schnell um, während mein Herz einer Panikattacke nur knapp entkommt. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ Ich sehe in ein Paar dunkle Augen, die mich etwas besorgt mustern. Der Mann vor mir ist circa einen Kopf größer als ich und seine karamellfarbene Haut schimmert in der Vormittagssonne. Ich schnappe nach Luft.
Er musste mich angerempelt habe, das war alles, versuche ich mich innerlich zu beruhigen. „Äh… ja alles in Ordnung“, murmle ich und versuche mich wieder zu fassen. Er steht ungefähr zwei Meter von mir entfernt und doch ist es bereits zu nah. Mein Blick wandert an ihm auf und ab. Seine Oberarme und sein Kreuz sehen kräftig aus, kräftig genug mich festzuhalten. Sein Gesicht besteht aus weichen Zügen. Sie wirken freundlich und trotzdem jagen sie mir einen Schauer über den Rücken.
„Wirklich? Sie zittern! Kann ich Ihnen helfen?“, fragt er erneut und tatsächlich: meine Hände zittern und ich fühle wieder den Impuls zu fliehen. Er macht einen winzigen Schritt auf mich zu und ich weiche zurück.
Meine Stimme ist erstaunlich fest, aber deutlich zu laut als ich spreche: „Ja, es ist alles gut!“ Mehrere Passanten starren uns an als ich zur Flucht ansetze. Der Mann sieht verwirrt zu mir auf und ich laufe einfach los und lasse die verdutzte Gestalt einfach stehen. Tränen brennen in meinen Augen, als ich hechelnd mit hohem Tempo die U-Bahn Station erreiche. Ich ziehe kein Ticket, ich renne einfach in die Bahn und keuche auf, als sich die Türen hinter mir endlich schließen.
„Mist!“, entfährt es mir und ich raufe mir die Haare. Mein Zopf ist bereits vom Laufen und vom Schweiß, der sich auf meiner Stirn gebildet hat, in sich zusammen-gefallen. Hilfesuchend sehe ich mich um. Er ist mir nicht gefolgt.
Erleichtert lasse ich mich auf einen der Sitze sinken und stütze den Kopf in die Hände und atme tief durch. Und erneut wird mir bewusst… Angst ist mein Gegner.
2.Zoe
Ich sitze seit knapp zwei Stunden vor dem Laptop meiner Schwester und studiere verschiedene Ärzte und Therapien. Das besorgte Gesicht des Mannes aus dem Park lässt mich auch Tage später nicht in Ruhe. Irgendetwas in mir löste es aus. Er war harmlos gewesen und freundlich und trotz allem reagierte mein Körper über. Maike hatte Recht, es musste etwas passieren.
Tatsächlich überwand ich mich, regelmäßig mit der U-Bahn in den Park zu fahren und zu laufen. Maike war glücklich darüber und versuchte, mich in jeder erdenklichen Weise zu unterstützen. Selbst Enrico steuerte dem Ganzen bei, indem er mich hin und wieder, wenn er auf dem Weg von der Arbeit nach Hause war, nach dem Laufen am Park einsammelte, sodass ich nicht zurück in der überfüllten U-Bahn fahren musste. Es fühlte sich gut an, wieder etwas für mich selbst zu tun, rauszukommen und unter Leute zu gehen. Ich fing an, mich wieder wohl in meiner Haut zu fühlen. Alles schien wieder zu funktionieren.
Die Angst allerdings blieb. Den Mann aus dem Park sah ich nicht wieder. Er war verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Er schien nur in meinem Kopf zu existieren und seine dunklen Augen verfolgten mich. Nacht für Nacht. Ich bin mir nicht sicher, ob er mir Angst machte oder ob er in mir Neugierde weckte. Die Augen erschienen mir weder fremd noch bösartig. Oftmals malte ich mir aus, was wäre, wenn ich ihn tatsächlich wiedersehen würde.
Ich hatte das Bedürfnis mich bei ihm zu entschuldigen. Mich zu erklären und zu rechtfertigen. Ihm zu sagen, was ich tatsächlich für ein Freak war und dass es nicht seine Schuld gewesen war. Irgendwo in meinem Inneren wollte ich ihm sogar danken. Danken für den Anstoß, den er mir gegeben hatte, doch dazu kam es nie.
Noch viel Schlimmer jedoch war, dass mit jedem Tag, den ich nach ihm im Park Ausschau hielt, auch die Gedanken kamen, was hätte passieren können.
Was hätte er mir antun können oder, wenn es zu einem klärenden Gespräch kommen würde, was würde er sagen? Würde er mich verurteilen, auslachen, anschreien? Meine Gedanken waren komplett durcheinander und sprangen von einem zum nächsten Punkt und wieder zurück. Sicher ist, ich brauche Hilfe.
Ich war mir dessen bewusst, dass ich meine Angstzustände in den Griff bekommen musste. Also fasste ich den Entschluss, mich zumindest darüber zu informieren, wie man mir helfen kann. Ein gewisser Dr. Conner Mercy weckte ziemlich schnell mein Interesse. Er war bekannt dafür, jungen Frauen zu helfen, die missbraucht, verletzt oder vergewaltigt worden waren. Im Internet tummelten sich haufenweise Schlagzeilen über seine Erfolge. Frauen, die sich öffentlich bedankten, er hätte ihr Leben verändert, und genau das wollte ich auch. Jedoch einen Termin bei Dr. Mercy zu ergattern, gestaltete sich dann doch deutlich schwieriger.
Erschöpft lasse ich mich auf den Küchentisch sinken und schiebe enttäuscht den Laptop von mir. Enrico mustert mich aufmerksam von oben bis unten. „Alles in Ordnung?" Sein Blick ist warm und sein Latina Charme tropft förmlich aus jedem einzelnem Wort, das seinen Mund verlässt. Enrico ist das beste Beispiel für einen echten Spanier. Dunkle Haare, dunkle Augen und einen gesunden braunen Teint.
Als ich hier eingezogen bin, hatten wir so unsere Schwierigkeiten. Einer unserer ersten Abende entpuppte sich als einziges Desaster. Meine Schwester hatte mich provisorisch mit bei sich im Bett einquartiert, da Enrico den Abend noch auf Dienstreise gewesen war. Ich konnte nicht schlafen und wälzte mich, wie so viele Nächte, quer durch das Bett. Gegen Drei Uhr Nachts bekam ich ein schlechtes Gewissen und beschloss, Maike etwas Schlaf zu gönnen. Also stand ich auf, zog mir etwas an und schlenderte ins Wohnzimmer. Was dem ahnungslosen Enrico, der etwas früher als erwartet zurück aus Miami kam, einen riesigen Schrecken einjagte. Ich hielt es nicht für nötig das Licht einzuschalten, schließlich fand ich mich in der Wohnung der Beiden auch ohne zurecht. Enrico schlich sich von hinten an mich heran, während ich mich in aller Seelenruhe am nur leicht beleuchteten Kühlschrank bediente und packte mich spielerisch an der Hüfte, so wie er es jeden Morgen bei Maike tat.
Ich schrie in dieser Nacht, wie am Spieß. Ich schrie so laut, wie noch nie zuvor. Als Enricos Griff fester wurde, reagierte mein Körper sofort. Arme und Beine schlugen um sich und trafen Enrico gnadenlos im Gesicht, Brust und schlussendlich direkt zwischen die Beine. Er keuchte auf und lies mich los, während Maike wie ein aufgescheuchtes Huhn aus ihrem Schlafzimmer gerannt kam. Sie hielt mich fest und versuchte mit allen Mitteln mich zu beruhigen. Nachbarn riefen sogar die Polizei, bei der Enrico sich und die Situation erklären musste. Dabei ist Enrico ein guter Mann. Er tut alles für meine Schwester und arbeitet hart um ihr jeden erdenklichen Wunsch erfüllen zu können. Enrico hielt sich trotzdem seit diesem Vorfall von mir fern, doch sobald ich Hilfe benötigte, war er einer der Wenigen, die zur Stelle waren.
Ich seufze der Tischplatte entgegen als ich antworte: „Ich habe versucht einen Therapieplatz ausfindig zu machen aber das scheint so gut wie unmöglich." Ich sehe Enrico nicht an, aber ich kann hören, wie er versucht sich ein Lachen über meine Verzweiflung zu verkneifen. „Du willst das also allen Ernstes durchziehen?", fragt er. „Willst du, dass ich dich erneut demoliere?", brumme ich sarkastisch zurück und ich kann sehen, wie er sich etwas schmerzverzerrt an die Brust greift.
Ich setze mich auf und sehe, wie er mich erneut mustert. Sorge liegt in seinem Blick. Erneut versuche ich, mich ihm zu erklären: „Ich hätte ganz gerne einen Termin bei Dr. Mercy." Enrico legt die Stirn in Falten. "Der Dr. Conner Mercy? An den kommt man nicht so schnell ran." Er muss es ja wissen, denke ich. Enrico arbeitet als ziemlich gut organisierter Pharmavertreter. Er ist ziemlich gut in seinem Job und quatscht quasi jedem Idioten Medikamente aufs Auge, ob er sie nun braucht oder nicht. „Wieso fängst du nicht erst einmal klein an? Geh zu einer öffentlichen Selbsthilfegruppe." Sein Vorschlag klingt plausibel, dennoch ist es nicht das, was ich will. Ich will Mercy. „Das ist doch nicht dasselbe!“, nuschle ich, während ich mein Kopf wieder zurück auf den Tisch und in meine Arme schiebe. Ich spürte, wie sich Enrico durch den Raum auf mich zu bewegt. Ich hebe wieder den Kopf und sehe ihn an. Meine Finger zittern leicht, wenn er sich nährt. „Vielleicht kann ich dir helfen", sagt er eindringlich. Gespannt ziehe ich eine Augenbraue hoch.
Enrico grinst wissend und teilt mir seinen Plan mit: „Ich kann dir vielleicht keinen Therapietermin bei Mercy besorgen, aber ich denke, ich könnte versuchen, dich in seine Gruppensitzungen zu bekommen." Ich starre ihn verwundert an. „Darfst du sowas denn?" Enrico lacht auf. Sein Lachen ist ein dumpfes Grollen, das sich durch den Raum bewegt. Es passt perfekt zu Maikes süßen, wohligen Stimme. „Darf man Ärzten Medikamente empfehlen, die mehr Nebenwirkungen haben als Heilung?“, grölt er los und lacht noch immer. Ein bisschen zerknirscht lache ich mit.
Ich weiß manchmal nicht, was ich von seinem Humor halten soll. Vielleicht liegt es aber auch einfach nur daran, dass er ein Mann ist und ich eben genau damit nicht zurechtkomme. Enrico legt mir eine Hand auf die Schulter und ich zucke zusammen. Seine Hand auf meinem Körper löst ein regelrechtes Feuer in mir aus. Trotz der Stoffschicht, die meine Haut bedeckt, kann ich es spüren. Jede Faser seines Körpers. Die Wärme, die das pulsierende Blut in seinen Fingern auslöst.
Ich weiche zurück und Enricos Lachen verstummt. Seine Hand gleitet von meiner Schulter und eine ohrenbetäubende Stille flutet den Raum. Das Einzige, was ich höre ist mein eigener Puls, der in meinen Ohren rauscht. Dumpf und bedrohlich. Als das Gefühl der Beklemmung mich zu überrennen droht, räuspere ich mich und schiebe meinen Stuhl weitere Zentimeter von Enrico und dem Küchentisch fort.
„Zoe,“ flüstert Enrico als ich gerade mit dem Gedanken „Flucht“ spiele. Ich wende mich ihm zu und sehe ihn an. Unsere Blicke treffen sich. In seinem Blick liegt noch immer nichts Bedrohliches. Kein Funkeln, kein Hass, keine Gier. Alles was ich erkenne kann, ist pure Sorge. Sein Körper jedoch ist angespannt. Er ist auf der Hut und versucht, sich so wenig wie möglich zu bewegen. Mir zuliebe. Beschwichtigend hebt er die Hände und erneut packt mich die Angst.
„Ich kann dir wirklich helfen“, flüstert er schon fast und sieht mich aufmunternd an. Meine Finger zittern unaufhörlich als ich mich zu ihm beuge. Ich weiß, dass ich das nicht tun muss, aber mein Verstand sagt mir, dass es richtig ist. Enrico tut mir nichts und daher berühre ich ihn. Es ist nur eine ganz kurze, ganz zärtliche Begegnung unserer Körper. Meine Finger streifen seine Schulter und ich hauche ihm meine Sätze schon fast entgegen: „Ich weiß das zu schätzen Enrico. Du kannst ja sehen, was sich ergibt.“
Der letzte Satz sollte locker klingen. Er sollte, ihm zeigen, dass ich das will und vor allem brauche. Natürlich spürt er meine Anspannung und auch das Zittern, das von meinen Fingern bis zu meinen Fußspitzen reicht. Kraftlos schnappe ich mir Maikes Laptop, klemme es unter meinen Arm und trotte aus der Küche, während Enrico sich noch immer keinen Zentimeter bewegt.
3.Zoe
„Nein! Lass das! Bitte!“ Meine Schreie verstummen. Wieder und wieder spüre ich ein Stechen, dann ein Pochen und schlussendlich nichts mehr. Meine Glieder versteifen sich und ich fühle den unnachgiebigen, widerlichen Rhythmus. Er zerstört mich. Erst splittert mein Herz, dann meine Seele. Scherben klirren zu Boden. Finger ziehen sich noch enger um meine Handgelenke, um Arme und Beine. Ein Flüstern, nein ein Beben durchfährt mich. Und dann…
Sonne flutet den Raum und vertreibt die Dunkelheit der Nacht. Meine Lider fühlen sich schwer und feucht an. Müde reibe ich mir die Tränen aus dem Gesicht und öffne verschlafen die Augen. Wieder eine unruhige Nacht. Mein Pyjama ist verschwitzt und klebt mir an Rücken und Brust. „Willkommen in der Realität, Zoe“, murmle ich vor mich hin, ehe ich die Füße über den Bettenrand hebe. Mein Blick fällt auf den Wecker und ich stöhne auf. 7:30 Uhr. Laut meinem Körper könnte ich sicherlich noch vier Stunden schlafen, doch mein Verstand ist deutlich anderer Meinung.
Nachdem ich mir einen Bademantel und ein Paar Pantoffeln, die mir Maike geliehen hat, übergestreift habe, schleppe ich mich mühsam in Richtung Küche. Auf dem Weg zur Küche schicke ich mehrere Stoßgebete gen Himmel, dass meine Schwester bereits zur Arbeit aufgebrochen ist, um ein… „Überraschung!“, brüllt mir meine Schwester so laut ins Ohr, dass ich das Gefühl habe, dass mein Trommelfeld platzt.
„Dir auch einen schönen guten Morgen, Schwesterherz“, schnaufe ich ihr mürrisch entgegen. Die Küche ist ein einziges Schlachtfeld. Die Arbeitsfläche ist kaum wieder zuerkennen unter der dicken Schicht Mehl, Zucker und kleinen Teigresten. Enrico lehnt lässig mit einer Tasse Kaffee am Herd und schmunzelt in sich hinein. Ich sehe, wie er leicht den Kopf schüttelt und verstohlene Blicke in Maikes Richtung schiebt, die genauso unmöglich aussieht.
Ihre langen Haare hat sie nicht wie sonst zu einem perfekten, strengen Zopf gebunden. Sie sind auf ihrem Hinterkopf zu einem lockeren unordentlichen Knoten aufgetürmt und einzelne Strähnen hängen überall aus dem Zopfgummi heraus. Ihr zuvor schwarzes Oberteil, weist kleine weiße staubige Flecken von Mehl auf. Selbst in ihrem, heute nur dezent geschminkten Gesicht, findet man Überreste vom Backen und Abhetzen. Und dann steht sie da und präsentiert mir einen, mit Zuckerguss über-zogenen, Kuchen, der für Maikes Backkünste sogar ziemlich lecker aussieht. Ihr Lächeln gleicht einer 200 Watt Glühbirne und ihre Wangen haben sich in ein sattes Rot gefärbt. Unter ihren Augen sieht man kleine leichte violette Ringe. Wie lange sie wohl schon auf den Beinen ist?
„Maike, das wäre nicht…“, fange ich vorsichtig an, aber bevor ich den Satz zu Ende sprechen kann, fällt sie mir ins Wort: „Alles Gute zum Geburtstag, Zoe!“ Enrico und ich zucken parallel zusammen, so schrill klingt meine Schwester. Sie ist müde und gibt sich alle Mühe, dass heute für mich ein ganz normaler Geburtstag ist.
Sie will es perfekt, doch was sie nicht versteht: es wird nie wieder perfekt sein. Der Albtraum von letzter Nacht steckt mir noch immer in den Knochen und jetzt an Geburtstag, Kuchen und Feierei zu denken, scheint mir unmöglich. Und trotzdem versuche ich mich Maike zuliebe zusammenzureißen und presse ein gequältes Lächeln hervor.
„Freust du dich? Ich habe dir Kuchen gebacken“, flötet sie weiter ohne meinen Gesichtsausdruck weiter zu beachten. „Ja, er sieht lecker aus“, grummle ich wenig