Lovecrafts Schriften des Grauens 02: Götter des Grauens -  - E-Book

Lovecrafts Schriften des Grauens 02: Götter des Grauens E-Book

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Beschreibung

Deutsche und internationale Autoren stellt der Herausgeber, der bereits erfolgreiche Titel für Bastei, Heyne und dtv zusammenstellte, in seiner ultimativen Anthologie zum Cthulhu-Mythos H. P. Lovecrafts vor.Original- und deutsche Erstveröffentlichungen von Hans Dieter Römer, Gary Lovisi, David A. Riley, Jack Eden und US-Geheimtipp Wilum Hopfrog Pugmire, dazu ein Beitrag von Jörg Kleudgen, zeigen die Vielfalt neuer Interpretationen des Mythos auf.

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Roman Sander (Hrsg.)Götter des Grauens

In dieser Reihe bisher erschienen:

2101 Das Amulett von William Meikle

2102 Götter des Grauens von Roman Sander (Hrsg.)

2103 Das Mysterium dunkler Träume von Andreas Ackermann

Roman Sander (Hrsg.)

Götter des Grauens

Übersetzungen vonDr. Frank Roßnagel

Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2018 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Mark FreierUmschlaggestaltung: Mark FreierSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-422-0Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Einleitung

Während der Herrschaft der Älteren Wesen landeten gewisse Sternengötter auf der Erde und übernahmen die Herrschaft über unseren Planeten, darunter die Großen Alten, an der Spitze der bekannteste und am meisten gefürchtete von allen – der große Cthulhu.

Doch der Pantheon dieser Götter umfasst eine ganze Reihe von ihnen, darunter wenig bekannte wie beispielsweise den, der unter dem Berg wohnt: Kfag’n Thoru und weitere.

Die vorliegenden Berichte zeigen, wie Angst und Grauen vor der Herrschaft der Sternengötter unser Schicksal auch heute noch beeinflussen.

Hans Dieter Römer, Chronist der Großen Alten

Inhaltsverzeichnis
Einleitung
DAS AUGE DES FISCHES von David A. Riley
TEPES von Hans Dieter Römer
MITTERNACHTSRUINEN von Jack Eden
EINGESPERRT von David A. Riley
DER PRIESTER DES DAGON von Gary Lovisi
STAUB ZU STAUB von Wilum Hopfrog Pugmire
NACHT ÜBER ARKHAM von Jörg Kleudgen
KFAG’N THORU von H. D. Römer

DAS AUGE DES FISCHES von David A. Riley

Teil 1
Rays Erzählung

Ray Wetherell stand am Kai von St. Mottram. Hinter ihm erhoben sich die Häuser des Dorfes mit ihren Schindeln und malerischen Giebeln den sanft ansteigenden Hügel hinauf. In Tagträume versunken, hatte Ray schon einige Minuten lang einfach nur auf das Meer hinaus geblickt. Da geschah es. Es war Anfang Herbst, das Wetter war mild, und kaum ein Wind wehte. Dennoch befiel ihn ohne ersichtlichen Grund eine eisige Kälte, wie ein unheilvolles Vorzeichen. Er fröstelte und schaute zum Himmel hinauf, ob sich eine Wolkenfront gebildet hatte. Aber alles war wie zuvor: dieselben kleinen Wolken und der kobaltblaue Himmel; dieselbe dunkelrote Sonne, die langsam auf die Hügel hinabsank; dieselben Möwen, die um eine Ansammlung von Fischerbooten draußen in der Bucht kreisten. Auch als er in das kleine Hotel zurückkehrte, in dem er für den Rest der Woche ein Zimmer gemietet hatte, wurde Ray das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte. Er fühlte sich auf merkwürdige Weise unvollständig (ein anderes Wort fiel ihm dafür nicht ein), als ob sich die Wirklichkeit um ihn herum ein wenig verschoben hätte. Ein paar der anderen Gäste standen an der Bar, als Ray hereinkam und ein Budweiser bestellte. Später würde er etwas essen. Fürs Erste genügte ein Drink. ­Vielleicht half der ihm dabei, das seltsame Gefühl loszuwerden, das ihn am Kai beschlichen hatte.

„Hey, was haben die Jungs da?“

Ray schaute zu den anderen Gästen hinüber, die um eines der Fenster herumstanden. Durch das Fenster neben ihm erblickte er die Masten eines Fischerboots, das gerade angelegt hatte. Seine Mannschaft stand, wie ein menschliches Knäuel, auf dem Kai und zog mit großer Anstrengung an einem Tau. Was sie da versuchten, aus ihrem Boot zu hieven, musste sehr schwer sein.

„Sollen wir ihnen helfen?“, fragte einer der Männer, ein großer, sportlicher Typ mit grau werdendem Haar.

„Warum nicht?“, sagte sein Begleiter, ein kleinerer Mann mit gebräunter Haut. „Sind Sie dabei?“ Er drehte sich zu Ray um. „Könnte sich lohnen. Vielleicht haben sie ein paar Extrahummer gefangen.“

Obwohl er noch immer nicht ganz bei sich war, zuckte Ray die Schultern. „Okay.“

Als sie wenige Augenblicke später bei den Fischern standen, war es den Männern beinahe gelungen, die Ladung ihres Bootes auf den Kai zu ziehen. Ray beugte sich vor und erblickte überrascht eine von Muscheln verkrustete Statue, die beinahe anderthalb mal so groß war wie ein Mensch. Bis die Fischer die Statue auf den Kai herabgelassen hatten, hatte sich eine Menschenmenge gebildet. Der Kapitän des Fischerbootes war ein Mann mit einem dicken Bauch, ledriger Haut und einem angegrauten Bart. Er versuchte, ein paar der Muscheln abzukratzen, welche die Figur in dicken Schichten bedeckten, sodass man nicht erkennen konnte, ob es sich bei der Statue um die eines Mannes oder einer Frau handelte. Ein Arm der Statue war wie zum Gruß oder zum Befehl erhoben. Ihre Fingerspitzen zeigten Ray das dunkle, kupferartige Metall, aus dem sie gegossen worden war und das jetzt vom Meerwasser beschlagen war.

„Wie zum Teufel kommt so etwas in unsere Gewässer?“, fragte jemand.

„Ist wohl über Bord geworfen worden“, sagte ein alter Mann aus dem Dorf. „Wahrscheinlich Schmuggelware.“

„Vielleicht gab’s hier mal eine alte Zivilisation, von der niemand etwas weiß.“ Die Umstehenden belohnten diese Bemerkung mit heiserem Lachen.

„Atlantis. Wir haben Atlantis gefunden.“ Der Kapitän grinste breit.

„Ja. Und jetzt wissen wir, was mit denen passiert ist. Sie wurden von den Indianern ausgelöscht“, sagte ein anderer aus dem Dorf.

„Einheimische Amerikaner“, verbesserte ihn jemand. „Man soll sie heute nicht mehr Indianer nennen.“

Ray schüttelte den Kopf, verwirrt und dennoch fasziniert von der Statue – aber zugleich auch angewidert.

„Holen wir Professor Collins“, sagte ein großer, grimmig aussehender Mann der Bootsbesatzung. „Er wird wissen, was das ist.“

„Er ist eine Berühmtheit hier im Ort“, sagte einer der Gäste zu Ray. „Kam von der Brown-Universität in Providence hierher, als er in Rente ging. Es sagt einiges, wenn ein Universitätsprofessor in Rente eine Berühmtheit ist.“

Ray schob sich näher an die Statue heran, die auf der Seite lag wie ein gestürzter Diktator. Vorsichtig streckte er eine Hand aus, um sie zu berühren. Seine Fingerspitzen kribbelten, je näher sie der Statue kamen, als ob sie sich einer Quelle starker Elektrizität näherten. Das Gefühl wurde immer stärker – und immer schmerzhafter.

„Alles in Ordnung?“

Die Stimme schien von ganz weit herzukommen, als wäre er in eine tiefe Schlucht voller Widerhall gefallen.

„Sind Sie in Ordnung?“

Nur mit Anstrengung zog Ray seine Finger von der Statue zurück. Sofort ließ der Schmerz nach. Er nickte. „Sie ist merkwürdig. So unheimlich“, brachte er heraus.

„Wem sagen Sie das!“, sagte der bärtige Kapitän. Er kratzte mit der Klinge seines Messers an der erhobenen Hand der Statue. Wie schwarze Mohnblüten stieben die verkrusteten Muscheln davon und legten blankes Metall frei – und die Schwimmhäute zwischen den Fingern der Statue. „Ist das auch unheimlich?“, fragte der Seemann mit einem noch breiteren Grinsen als zuvor. Er schien schon das Geld zu zählen, das er mit seinem Fang sicherlich machen würde.

Jemand fuhr mit seinem Pick-up rückwärts auf den Kai, und die Männer luden die Statue auf den Lastwagen. Al Westmore, der Besitzer der Autowerkstatt, hatte sich angeboten, die Statue zu lagern, bis man Professor Collins verständigt hatte. Die Mannschaft des Fischerbootes und einige Dorfbewohner begleiteten den Lastwagen den Hügel hinauf zu Westmores Werkstatt. Ray und die ­anderen dagegen kehrten in ihr kleines Hotel zurück, nachdem die anfängliche Spannung verflogen war.

*

„Mike Rayburn“, stellte sich einer der Gäste vor. „Und das ist mein Freund Jeb Holowitz.“

Sie begrüßten sich, während der Barkeeper neues Bier ausschenkte. Mike war über einsachtzig groß und ehemaliger Footballspieler aus einer der unteren Ligen, der an einer Schule in Maine Sport unterrichtete. Jeb war hager und hatte ledrige Haut. Er schien ein Sportbegeisterter zu sein, hatte einen Schnurrbart wie Clark Gable und eine Pfeife im Mundwinkel. Er besaß einen Feinkostladen und stammte ebenfalls aus Maine. Er und Mike waren seit der Highschool Freunde und hierhergekommen, um zu fischen. Sie hatten ein kleines Boot gemietet und fuhren beinahe jeden Tag hinaus, um Haie zu jagen.

„Und warum sind Sie hier?“, fragte Jeb, als sie sich mit ihrem zweiten Bier an einen Tisch gesetzt hatten.

Ray starrte ein paar Sekunden lang seinen Drink an, bevor er antwortete. Neben diesen Anglern mit ihren guten Jobs und ihrem guten Leben fand er es schwierig, zuzugeben, dass er sich von einem Zusammenbruch erholte. Er hatte eine schlimme Scheidung erleben müssen und gerade noch das Scheitern seiner Werbeagentur verhindern können, die er nach dem College gegründet hatte. Er war nach St. Mottram gekommen, weil seine Eltern hier aufgewachsen waren. Auf gewisse Weise war es eine Flucht vor der Welt, zurück zu den Wurzeln seiner Vorfahren. In seiner Welt war alles, was er erhofft und geplant hatte, auf schreckliche Weise schiefgegangen.

Schließlich gab er ihnen eine kurze Zusammenfassung. Kurz genug, um das Selbstmitleid zu umgehen und nicht zu viele Erinnerungen auszugraben, die er in seinem Urlaub hier vergessen wollte. Sie fühlten mit ihm und bestellten noch eine Runde Bier. Das Thema war besprochen worden. Und damit war es erledigt. Dafür war ihnen Ray dankbar. Er fühlte sich noch immer nicht ganz bei sich, beinahe so, als sei, was um ihn herum geschah, nicht ganz wirklich, als sei es ein Traum, aus dem er jeden Moment erwachen würde. Indem er über seine jüngsten Probleme sprach, besonders über seine Scheidung, schien seine ganze Situation nur noch unwirklicher zu werden. Er fand es noch immer schwer, zu glauben, dass Janie ihn wegen eines Anderen verlassen und dies über ein Jahr lang geplant hatte. Das alleine hatte einen wesentlichen Teil seines Gefühls für die Realität zerstört. Ebenso schwer war es ihm gefallen, sich ans Alleinsein zu gewöhnen.

*

Am nächsten Morgen hatte er einen schweren Kater. Er duschte und rasierte sich in der Hoffnung, seinen Kopf klarzubekommen. Dann ging er in den Speiseraum hinunter und roch Schinken, Eier und heißen Kaffee. Die beste Medizin, die er kannte, gegen die Auswirkungen von zu viel Alkohol. Mike und Jeb waren schon da und stopften in bester Laune Pfannkuchen in sich hinein. Sie riefen ihn zu sich an ihren Tisch.

„Hast du heute etwas vor?“, fragte Jeb. Als Ray verneinte, sagte Mike: „Warum kommst du nicht mit uns? Es ist genug Platz auf dem Boot. Und ich kann dir garantieren, du wirst nicht enttäuscht sein. Als wir am Dienstag draußen waren, haben wir ein paar Riesendinger gefangen.“

Ray war sich nicht sicher, wie gut er sich als Seemann machen würde, besonders auf einem kleinen Fischerboot. Trotzdem erschien ihm ihre Gesellschaft besser, als alleine herumzuhängen, vor allem, wenn ihn, trotz des Ortswechsels, zu viele schlimme Erinnerungen bedrängten.

„Du brauchst ein Paar gute Jeans oder etwas Ähn­liches und einen dicken Pullover. Es kann dort draußen ein bisschen windig werden. Falls du nichts in diese Richtung hast, haben wir genug Kleidung für uns alle“, erzählte ihm Jeb.

Kurz nach neun verließen sie das Gasthaus. Als sie sich dem Kai näherten, erkannte Mike den Kapitän des Fischerbootes, das am Tag zuvor die Statue heraufgeholt hatte, und rief ihm zu:

„Ed, haben Sie herausgefunden, was das ist?“

Immer noch ganz aufgeregt wegen seines Fangs, kam er zu ihnen herüber, so schnell es sein fülliger Körper erlaubte. Seine Zähne blitzten in den Tiefen seines Bartes. „Der Professor von der Brown-Universität soll heute kommen, um sie sich anzuschauen. Wenn überhaupt jemand eine Ahnung hat, dann er. Wir haben einen ­Großteil der Muscheln und des anderen Zeugs gestern Abend entfernt. Das Ding sieht wirklich verdammt merkwürdig aus.“

„Ich dachte, es sieht ein bisschen aus wie die Freiheitsstatue“, sagte Mike scherzend.

Ed grinste ihn mit weit offenem Mund an. „Warten Sie, bis Sie sie sehen! Dann sagen Sie das nicht mehr. Das Gesicht dieses Dings sieht aus, als wären die Eltern von jemandem zu einem Fisch ein wenig zu lieb gewesen.“ Sein Lachen wurde ein dröhnendes Gebell. „Viel zu lieb!“ Er wandte sich um, um einem Mann seiner Crew unten am Kai etwas zuzurufen, als sein Lachen erstarb. „Verdammt!“, murmelte er. Ray folgte seinem Blick.

Eine dunkle Wolkenwand hatte sich am Horizont zusammengeballt. Selbst jetzt, während er hinblickte, wurde es bedrohlich dunkler. Gleichzeitig spürte Ray einen plötzlichen, deutlichen Abfall der Temperatur.

„Sieht aus, als bekämen wir Sturm“, sagte Mike mit offensichtlicher Enttäuschung in der Stimme.

„Ja, heute gehen wir nicht fischen“, fügte Jeb hinzu und klopfte schlecht gelaunt seine Pfeife aus.

Die Wolken zogen sich weit über den Himmel, und in der Ferne leuchteten bereits Blitze.

„Diese verdammte Statue sollte besser etwas wert sein“, murmelte Ed, dem die gute Laune vergangen war. „Wir kriegen heute keinen Fang mehr. Dafür bekommen wir einen Mordssturm, so wie’s aussieht.“

„Vielleicht sollten wir zu Als Werkstatt gehen, wenn der Professor kommt“, sagte Mike zu seinen Begleitern. „Nicht ganz so unterhaltsam, wie Haie zu angeln, aber, verdammt, vielleicht weiß der Kerl etwas.“

Weder Ray noch Jeb hatten eine bessere Idee. Deshalb schlenderten sie gemächlich zu Al Westmores Werkstatt. Sie waren nicht die Einzigen. Eine Menschenenge hatte sich bereits vor der Werkstatt versammelt, die Collins’ Ankunft und seine Offenbarung über die Herkunft der Statue kaum erwarten konnte. Ray hoffte, sie würden von der fachkundigen Meinung des Professors nicht enttäuscht sein. Er blickte sich nach dem Meer um und war überrascht, wie die Gewitterwolken in nur ein paar Minuten gewachsen waren. Der Wind war jetzt stärker geworden, und er fragte sich, wie viele wohl dableiben würden, wenn sich der Sturm entlud. Sie mussten nicht lange auf den Professor warten. Vielleicht waren es die ungewöhnlichen Umstände des Fundes, oder er hatte im Ruhestand nichts Besseres zu tun. Es dauerte jedenfalls nur ein paar Minuten, bis sein Wagen vor der Werkstatt hielt.

*

Eine Woge der Aufregung ging durch die Menge, als der Professor ausstieg. Er war ein ernst aussehender Mann mit Tweedanzug, einem unförmigen Porkpie-Hut und einem weißen Bart. Ed beeilte sich, ihn in die Werkstatt zu führen. Ray ließ sich mit der Menge der Neugierigen treiben, die dem Professor in die Werkstatt folgte. Professor Collins starrte schweigend die Statue an, die gegen ein paar Ölfässer gelehnt war. Ray war überrascht. Ein Großteil der Muscheln, die bei der Bergung aus dem Meer an der Statue geklebt hatten, war entfernt worden, sodass das fleckige Metall darunter sichtbar war. Ed hatte nicht übertrieben, was das Gesicht der Statue betraf. Es sah auf sehr unheimliche Art und Weise einem Fisch ähnlicher als einem Menschen. Ray hatte einmal im Abendprogramm Der Schrecken vom ­Amazonas gesehen, und die Statue hatte mit dem Ungeheuer eine gewisse Ähnlichkeit. In vielerlei Hinsicht aber auch nicht. Das Gesicht wirkte, trotz der Ähnlichkeit mit einem Fisch, weitaus intelligenter. Es machte auch einen unverkennbar bösartigen Eindruck. Der Körper war fülliger als der des Ungeheuers aus dem Film, mit einem deutlich vorspringenden Bauch und Beinen wie denen eines Frosches. Die gespreizten Füße der Statue endeten in langen, gebogenen und rasiermesserscharfen Klauen. Bisher hatte Professor Collins nichts gesagt. Auch hatte er die Statue nicht berührt, sondern hielt sich ein paar Fuß von ihr entfernt.

„Nun, was halten Sie davon?“, fragte Ed schließlich und tippte der Statue ungeduldig auf die schuppige Brust. „Ist sie etwas wert?“

Der Professor machte eine Handbewegung, als wollte er sagen: „Nicht anfassen!“, dann machte er einen Schritt zurück. „Ich denke, es wäre nicht klug, sie zu berühren“, sagte er.

„Warum? Ist sie giftig?“

Der Professor hob die Schultern. „Vermutlich ist sie mit Schadstoffen in Berührung gekommen. Ganz sicher sogar.“

„Schadstoffe? Woher? Hier gibt es keine Industrie, Professor. Wir haben sie nur eine Meile vor der Küste gefunden. Dort hat es noch nie Schadstoffe gegeben.“

„Sie wissen nicht, wie weit dieses Ding abgetrieben wurde.“

„Abgetrieben? Das da? Es hat sich seit Jahren keine paar Fuß weit bewegt. Es ist verdammt noch mal zu schwer.“ Er lachte herzhaft, aber Ray konnte sehen, dass er verstört wirkte.

„Irgend ’ne Idee, was das ist? Wo’s hergekommen ist? Von den Indianern nicht, oder?“

Der Professor schüttelte den Kopf. „Was immer es ist, es stammt nicht aus dieser Gegend. Zunächst ist es aus Metall, möglicherweise aus Kupfer. Machart und auch Aussehen sind anders als alles, das ich in dieser Gegend gesehen habe.“

„Woher kam es dann? Wie kam’s hierher?“

Der Professor schüttelte wieder den Kopf. „Jemand hat sie vielleicht vor der Küste ins Meer geworfen. Das kann ich nicht beantworten. Für die Frage, wo sie herkommt, werden wir eine gründlichere Untersuchung brauchen, als ich hier durchführen kann. Zuerst bräuchten wir eine Kohlenstoffanalyse, um ihr Alter zu bestimmen. Sie könnte ja auch modern sein. Ein avantgardistischer Künstler könnte sie geschaffen haben.“

„Ein Künstler, wie?“ Ray konnte die Kalkulationen im Kopf des Seemanns geradezu sehen. „Ein berühmter Künstler vielleicht?“

Professor Collins hob die Schultern. „Das kann ich nicht sagen. Kunst ist nicht mein Gebiet. Aber es wäre möglich.“

Aus irgendeinem Grund war Ray überzeugt, dass der Professor nicht ehrlich war in seinen Ausführungen. Er schien etwas über die Statue zu verbergen.

Warum schaut er sie mit so viel Skepsis an?, fragte sich Ray. Spürt er dieselbe elektrische Spannung wie ich am gestrigen Tag?

Die Sturmwolken hatten sich mittlerweile über die ganze Bucht ausgebreitet und machten das Innere der Werkstatt noch schummriger. Der erste krachende Donner war zu hören. Al Westmore schaltete ein paar zusätzliche Lichter an. Die Statue, die den Professor um einiges überragte, wirkte bedrohlich, so, als sei sie im Begriff, ihre erhobene, mit Schwimmhäuten bedeckte Hand mit einem schweren Schlag niederfallen zu lassen. Ein Windstoß ließ die Neonlampen, die von den Dachsparren herabhingen, hin- und herschaukeln. Dadurch huschten Schatten über das Gesicht der Statue und ließen sie auf unheimliche Weise lebendig wirken.

„Wenn Sie wollen, kann ich die Brown-Universität anrufen und fragen, ob sie die Statue für Sie untersuchen können“, sagte Collins dem Fischer. „Das ist alles, was ich anbieten kann. Wenn ich zu Hause bin, könnte ich ein paar Leute anrufen, die ich dort immer noch kenne.“

Ed machte einen unwilligen Eindruck bei dem Gedanken, dass andere Leute kamen und die Statue anschauten. Vielleicht, dachte Ray, befürchtete er, das Ding könne ihm durch die Finger gleiten, zusammen mit dem Geld, das er damit verdienen wollte. Aber schließlich nickte der Kapitän. „Sie tun, was immer Sie für das Beste ­halten, ­Professor. Ich weiß, dass Sie nicht versuchen würden, mich zu betrügen.“

Der Donner hatte die Bucht in der Zwischenzeit erreicht, und das Gewitter entlud sich. Die ersten schweren Regentropfen prasselten auf das Blechdach über ihnen und erstickten ihre Stimmen.

„Zeit, ins Gasthaus zurückzugehen“, sagte Mike, „bevor wir völlig durchnässt sind.“

Ray beschloss, noch zu bleiben, und sagte den anderen, er werde in ein paar Minuten nachkommen. Verwundert über Rays Interesse an der Statue sagte Mike, sie würden sich an der Bar treffen. Dann eilte er hinaus in den Regen. Als die Dorfbewohner aus der Werkstatt strömten, bahnte sich Ray einen Weg zu Professor Collins, der noch immer eingehend die Statue betrachtete.

„Haben Sie es auch gespürt?“, fragte Ray.

Professor Collins schaute ihn mit einem nachdenklichen Gesicht an. „Was gespürt?“

Aber er war sich sicher, dass der Professor es auch gefühlt hatte. Ray streckte vorsichtig eine Hand nach der Statue aus. Drei Fuß von ihm entfernt, strahlte sie noch immer ein merkwürdiges, pulsierendes, fast aggressives Kribbeln aus, das ihm das Fleisch bis zum Knochen von seinen Fingern zu zerren schien. Er zog seine Hand zurück und massierte sie, als er sich wieder dem Professor zuwandte.

Collins nickte. „Nicht jeder scheint dafür empfänglich zu sein“, sagte er. „Ed Gamley jedenfalls nicht. Wäre er es, hätte er nicht noch so viel Zeit damit verbringen können, den Unrat von der Statue zu entfernen.“

„Außer man mag diese Art von Schmerz“, sagte Ray.

Collins lächelte schief. „Merkwürdig, nicht wahr?“ Er zog die Stirn in Falten. „Mein erster Gedanke war, sie sei radioaktiv. Aber das würde nicht erklären, warum die meisten Menschen von ihr nicht beeinflusst zu werden scheinen.“

„Man spürt Radioaktivität auch nicht“, sagte Ray.

„Genau. Das macht es nur noch merkwürdiger.“

„Haben Sie irgendeine Idee, wo sie herkommt?“

Der Professor schwieg, bevor er antwortete. „Ich wollte das vor den Leuten nicht sagen. Die meisten würden denken, ich sei verrückt geworden. Aber ja, mir kommt etwas an ihr bekannt vor. Man findet das in keinem Standardwerk über Geschichte oder Religion. Auch nicht in Büchern über Kulte und Rituale. Ich bin mir nicht sicher, ob ich selbst das glaube. Aber ich kenne Kollegen von der Brown-Universität, die über solche Dinge reden. Die meisten von ihnen sind schon lange im Ruhestand.“

„Wie alt sind diese Geschichten?“, fragte Ray interessiert.

„Oh, sie sprachen über das achtzehnte, vielleicht auch das siebzehnte Jahrhundert.“ Professor Collins runzelte die Stirn. „Ich hielt die meisten der Geschichten für ein bisschen phantastisch, zu phantastisch, als dass man ihnen in einer ehrwürdigen akademischen Einrichtung Glauben geschenkt hätte. Aber sie waren keine Männer, die ich als überspannt oder naiv abgetan hätte.“ Der Professor schüttelte den Kopf. „Ich gehe besser nach Hause und erledige meine Telefonate. Je eher dieses Ding zur Untersuchung an die Universität abtransportiert wird, desto besser.“

*

Als Ray mit Mike und Jeb an diesem Abend im ihrem Hotel saß, erfuhren sie vom ersten Todesfall im Dorf. Ed Gamley, in dessen Netze die Statue gegangen war, wurde mit aufgeschlitzter Kehle in Al Westmores Werkstatt gefunden. Als die drei nach ihrer Mahlzeit das Gasthaus verließen, waren der Sheriff und seine Deputies bereits am Tatort angekommen. Ihre Streifenwagen standen vor der Tür. Die Scheinwerfer erhellten die Dunkelheit.

Die Untersuchung des Mordes an Ed Gamley durch Sheriff Harper war gründlich und methodisch. Sie folgte buchstabengetreu dem Lehrbuch – und fand nichts ­heraus. Das war die gängige Meinung der meisten Leute, mit denen Ray am nächsten Tag sprach.

Wie jeder andere im Hotel auch, wurde er vom Sheriff befragt, einem großen, raubeinigen und übergewichtigen Mann, dessen unbekümmertes Lächeln unter den gegebenen Umständen ein wenig angestrengt wirkte. Es war eine ungezwungene Befragung im Büro des Hotelmanagers, während einer der Deputies sich Notizen machte. Aber Ray wusste nichts, das der Untersuchung weiterhelfen konnte. Zudem hatte er mit Mike, Jeb und dem Barkeeper ein wasserdichtes Alibi für die Zeit, zu der Ed Gamley nach Einschätzung des Arztes gestorben war.

Eds Tod war für alle sehr verwirrend. Man hatte Ed im Dorf sehr gemocht, und er hatte eigentlich auch keine Feinde. In einem Ort, der so klein war wie St. Mottram, wusste wirklich jeder alles Wissenswerte über jeden anderen. Noch unerklärlicher war die schiere Brutalität, mit der Ed Gamley angegriffen worden war. Es gab sogar Gerede von einem wilden Tier, das ihn angegriffen haben konnte. Die Wunden an seinem Hals waren entweder von Klauen oder einem Messer verursacht worden, mit dem immer und immer wieder zugestochen worden war. Es bedurfte einer gründlichen Untersuchung durch die zuständige Rechtsmedizin des Bezirks, bevor ein Ergebnis vorliegen würde. In der Zwischenzeit kursierten Gerüchte.

Auch das Wetter besserte sich nicht. Die Sturmwolken, die am vorigen Tag gekommen waren, waren die ganze Nacht bis weit in den Morgen hinein über St. Mottram hängen geblieben und hatten sich ausgeregnet. Am Ende waren sie einem beinahe undurchdringlichen Nebel ­gewichen.

„Sieht aus, als sollten wir diese Woche nicht viel zum Haiangeln kommen“, sagte Jeb, als sie sich im Hotel zu einem leichten Mittagessen mit viel Kaffee niederließen.

Der Nebel war so dicht, dass es gefährlich war, mit dem Auto durch das Dorf zu fahren. Die meisten Menschen zogen es daher vor, zu Fuß zu gehen. Die Dichte des Nebels und der fehlende Fahrzeuglärm verliehen dem Ort eine merkwürdige Stille. St. Mottram schien isoliert, abgeschnitten von der Welt draußen.

*

Im Laufe des Nachmittags fand man Al Westmore tot in seiner Werkstatt, so wie man auch Gamley gefunden hatte. Sein Gesicht war so verstümmelt, dass man ihn fast nicht wiedererkannte. Weil er nicht weit von der bedrohlichen Statue entfernt auf dem Boden lag, fand man heraus, dass jemand versucht hatte, die Statue, trotz ihres Gewichts, zu bewegen. Sie stand ein paar Fuß näher an den offenen Türen.

„Ich wollte, dieser Professor würde sich beeilen und dieses verdammte Ding hier herausholen“, sagte einer der Dorfbewohner murrend, als sie sich vor der Werkstatt versammelt hatten, während der Sheriff die Leiche untersuchte. Eine abergläubische Furcht herrschte unter den Dorfbewohnern, die sowohl das Wetter als auch die gewalttätigen Todesfälle ausgelöst haben mochten. Etwas davon hatte auch in Ray Spuren hinterlassen, denn sein Gefühl von Unwohlsein hatte sich noch merklich verstärkt. Mehr und mehr fühlte sich dieser Ort für ihn an wie ein Traum, irgendwie unwirklich, so fest und solide auch alles sein mochte, das er berührte.

„Ich frage mich, ob dieser Professor schon Kontakt aufgenommen hat mit der Brown-Universität“, sagte Mike.

„Vielleicht sollte ihn jemand anrufen“, schlug Ray vor. „Ich denke, die letzte Person, die mit ihm über die Statue gesprochen hat, war Ed Gamley. Er weiß vielleicht noch gar nichts von dessen Tod.“

Mike fragte einen Dorfbewohner nach der Adresse des Professors. Es stellte sich heraus, dass er ein paar Meilen außerhalb des Dorfes in Bluff Heights lebte, in einem großen Haus nahe dem Gipfel der Klippen, die über die Bucht schauten. Das Haus war vor vielen Jahren von General Nathan Collins gebaut worden, einem Urgroßvater des Professors und Veteranen des Bürgerkrieges.

„Warum fahren wir nicht zu ihm?“, fragte Mike. „Der Nebel hier ist schlimm, aber ich bin sicher, es wird besser, wenn wir die Straße hinauffahren.“