Lovecrafts Schriften des Grauens 08: XULHU und andere Erzählungen kosmischen Grauens -  - E-Book

Lovecrafts Schriften des Grauens 08: XULHU und andere Erzählungen kosmischen Grauens E-Book

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Beschreibung

Ich stieß auf die Weltkarte in einem Reiseführer aus den 1970er-Jahren, und mir war auf Anhieb bewusst, dass sie dort nicht hineingehörte. Vermutlich hätte ich sie nicht weiter beachtet, wäre da nicht diese Notiz am Rand gewesen. Und da, wo die Umrisse des afrikanischen Kontinents zu erkennen waren, stand ein weiteres rätselhaftes Wort: XULHU.Tobias Reckermann, Ian Delacroix, René Feldvoß, Rainer Zuch, Serhiy Krykun und Jörg Kleudgen entführen die Leser dieser Anthologie an verschiedene Orte kosmischen Grauens.Die Printausgabe umfasst 190 Buchseiten.

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Seitenzahl: 168

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Jörg Kleudgen (Hrsg.)Xulhu

In dieser Reihe bisher erschienen:

2101 William Meikle Das Amulett

2102 Roman Sander (Hrsg.) Götter des Grauens

2103 Andreas Ackermann Das Mysterium dunkler Träume

2104 Jörg Kleudgen & Uwe Vöhl Stolzenstein

2105 Andreas Zwengel Kinder des Yig

2106 W. H. Pugmire Der dunkle Fremde

2107 Tobias Reckermann Gotheim an der Ur

2108 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Xulhu

Jörg Kleudgen (Hrsg.)

Xulhu

und andere Erzählungen kosmischen Grauens

Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2019 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: T. Reckermann & J. KleudgenTitelbild: Ernst WurdackUmschlaggestaltung: Mario HeyerLogo: Mark FreierInnenillustrationen: Jörg KleudgenSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-428-2Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Xulhu von Tobias Reckermann
Lasst die Puppen zu mir kommen! von Ian Delacroix
Früchte der Südsee von René Feldvoß
Der Meeresteufel von Serhiy Krykun
Das Schiff
Der Leuchtturm
Das Schiff
Der Leuchtturm
Das Schiff
Der Leuchtturm
Das Gasthaus der Götter von Rainer Zuch
Folge mir ins Dunkel! von Jörg Kleudgen

Vorwort

Ich stieß auf die Weltkarte in einem Reiseführer aus den 1970er Jahren, und mir war auf Anhieb bewusst, dass sie dort nicht hineingehörte. Vermutlich hätte ich sie nicht weiter beachtet, wäre da nicht diese Notiz am Rand gewesen: terra cthuliana hatte jemand mit Bleistift dorthin gekritzelt. Und da, wo die Umrisse des afrikanischen Kontinents zu erkennen waren, stand ein weiteres rätselhaftes Wort: xulhu.

Als ich mir die Karte genauer ansah, fand ich weitere Orte markiert: Venedig, eine nicht näher bezeichnete Insel im Pazifik, eine Stadt in Osteuropa, bei der es sich um Prag oder Preßburg handeln mochte, einen Ort in Deutschland, und eine Stelle mitten im Atlantischen Ozean fern der US-amerikanischen Küste.

Ich fragte mich, was der Vorbesitzer der Karte wohl dort markiert haben mochte, und versuchte, einen Bezug zu diesem merkwürdigen Ausdruck des terra cthuliana herzustellen, doch fand ich bei meiner Recherche nicht mehr als finstere Andeutungen und hinter vorgehaltener Hand geflüsterte Gerüchte ...

Jörg Kleudgen, Februar 2019

Xulhu von Tobias Reckermann

... and African outposts report ominous mutterings.

HPL The Call of Cthulhu

Tiefe Trommeln, Laute des Urwalds, nahendes Grauen ...

Ich habe Momente der Klarheit erlebt. Daran erinnere ich mich, und das ist schlimmer, als sie einfach vergessen zu haben. Denn woran ich mich nicht erinnern kann, ist, welche Erkenntnisse mir in ihnen zuteilwurden. Und so bin ich wissentlich beraubt.

Es ist wie mit Träumen, die im Augenblick des Erwachens noch präsent sind und schon mit dem nächsten Gedanken verfliegen. So vergeht jede Offenbarung höheren Seins, und was bleibt, ist ein Gefühl der Sehnsucht.

Mit diesen Momenten vergeht alles, was ich im Leben erstrebe, denn so viel glaube ich zu wissen, dass ich in ihnen frei bin. Frei, und doch kann ich nicht einmal sagen, wovon. Nun will ich versuchen, mich mit Methoden des luziden Träumens zu erinnern.

Es heißt, man vergisst nicht wirklich. Auch wenn man keinen Zugriff auf sie hat, sind die Erinnerungen doch vorhanden, als Spuren, denen man folgen kann, als ein Muster, das sich nachzeichnen und damit wieder ­hervorheben lässt, auch wenn sein Abdruck im Gehirn noch so flüchtig gewesen sein mag. Die Offenbarungen, von denen ich spreche, müssen tiefe Spuren hinterlassen haben. Sie wieder hervorzuholen, stelle ich mir wie das bewusste Hinübergleiten in einen Traum vor. Die Techniken zu erlernen, kostet viel Zeit und Disziplin, sie erscheinen mir aber doch sinnvoller als etwa der Gebrauch bewusstseinserweiternder Drogen, der mit der Gefahr einer Psychose einhergeht. Außerdem ist es im Rausch nicht anders, der Zustand lässt sich zwar bewusst herbeiführen, was einem darin aufgeht, entgleitet einem aber doch im Nachhinein. Wieder nüchtern, erscheinen einem diese Erkenntnisse zumeist erschreckend glanzlos und dumm.

Worauf ich aus bin, möchte ich als eine Art Hyper­bewusstsein beschreiben, dessen leuchtende Spitzen sich nicht in die matten Ebenen eines Alltagsbewusstseins überführen lassen. Dies ist wiederum Träumen ähnlich, denn selten, wenn überhaupt, gelingt es, das Traum­erleben im Wachsein lebendig zu halten.

Ich achte auf Zeichen. Zuerst die mit der Realität, wie wir sie begreifen, unvereinbare Veränderlichkeit der Dinge.

Ein Gegenstand kann im Traum seine Form, seine Eigenschaften, ja, seine Bedeutung verändern und schließlich sogar ein völlig anderer Gegenstand werden. Ebenso kann ein Wesen, beispielsweise ein Mensch, zu einem anderen werden. Wir selbst können von einer Entität in eine andere hinübergleiten, somit unsere ­Perspektive wechseln und die Ebene unserer Einflussnahme auf den Traum selbst. So sind wir im einen Moment Beobachter, im nächsten Handelnder. Und mit uns verändert sich das Geschehen, die Umgebung, vielleicht auch gänzlich der Zusammenhang dieser Elemente, sodass wir wie von einem Traum in einen nächsten und einen wieder nächsten eintauchen.

Sind wir im Traum in der Lage, uns des Träumens bewusst zu werden, so sollten wir – und ich habe mir das zur Angewohnheit gemacht – auch im Wachsein uns des Wachseins vergewissern.

Die Festigkeit des Wirklichen, nicht Traumhaften, besitzt in meinen Augen eine Intensität, die ich nur als unerbittlich bezeichnen kann. Diese Härte, der Widerstand gegen alles geistige Wirken, lässt sich nur mittels Sprache überwinden, wenn auch dieses Werkzeug ein höchst unpräzises und zudem das Wahre nur nachahmendes ist.

In Form eines Tagebuchs hält man so viel von Träumen fest – und von Momenten der Klarheit auch –, wie man mit Sprache dem Rinnen des Vergessens zu entreißen vermag.

Die Methoden luziden Träumens vermögen schließlich, einem zumindest ein Absenken jener Schwelle zu erlauben, die zwischen den so verschiedenen Zuständen des Bewusstseins liegt. Es ist nicht mehr länger der Sturz über eine Klippe hin vom Wachsein zum Traum und umgekehrt. Gleichermaßen sollte mir nach Jahren der Übung endlich ein sanfter Übergang von Momenten der Klarheit hin zum bloßen Wachsein vergönnt sein.

Ich habe Momente der Klarheit erlebt und ihre Erinnerung ist als Spur in mein Gedächtnis noch eingegraben. Ich begebe mich jetzt auf eine geistige Reise, in der Hoffnung, solch eine Spur wieder ans Licht zu bringen.

Der Anfang meiner Fährte liegt offen dar: Ich bin zwanzig Jahre jünger, also achtundzwanzig, auf der Suche nach Wissen, nach Erleuchtung, nach Freiheit, und setze den ersten Fuß in ein Land in Zentralafrika. Studiert habe ich Archäologie und Ethnologie mit einer Spezialisierung auf frühe Menschheitsgeschichte und schamanistische Praktiken.

Ich trinke Kuri mit Stammesleuten der Gbaya und besuche ein Dorf traditionell lebender M’Baka, vertiefe meine Ubangi-Kenntnisse, bevor ich in den Urwald des Kongo-Beckens aufbreche. Nach der urbanen Bedrängnis der alten Hauptstadt der Ubangi-Schari-Provinz Französisch-­Äquatorialafrikas verspreche ich mir, was mein klischeebeladener Verstand mit der Freiheit der Wildnis bezeichnet, und was, wie mir bald aufgeht, ein Trugbild ist.

Ich fühle mich alles andere als frei, wo das Grün des Dschungels wie eine Flut auf mich einstürmt, und ich allerorts Augen wähne, die mich aus verborgenen Winkeln beobachten. Wo hinter jedem Baumriesen und in jeden Baumes mächtigen Ästen, dem unendlichen Blattwerk böses Trachten lauernd liegen mag in der Gestalt der Raubtiere, der Insekten, der Giftpflanzen. Vielleicht auch von Menschen – obwohl auch dies wieder Klischees sind, die ich nicht zu überwinden vermag.

Ich verfolge auf meiner Reise ein besonderes Ziel. Meine Absicht ist, ein Volk aufzusuchen, das in der Kulturanthropologie als Aneoi oder Muette bekannt ist und dieser Wissenschaft ein scheinbar unlösbares Rätsel aufgibt. Für die Gbaya sind sie Dua, was dem Glauben Ausdruck gibt, diese Menschen seien von einer substanziellen Form böser Hexerei erfüllt, besessen vielleicht oder, da der Begriff auf sie kollektiv wie eine Stammesbezeichnung angewendet wird, sogar selbst eine menschenförmige Verkörperung eben dieser mystischen Substanz, des Dua, das sich ihrer Vorstellung nach bei bösen Menschen und Tieren im Magen finden lässt. Es sind Fälle belegt, in denen Gbaya-Schamanen Bäuche lebendiger Wesen, auch die eigener Stammesmitglieder, aufschneiden, um das Dua hervorzuholen, dem sie die Verantwortung für das schlechte Tun des Betreffenden zuschreiben. Der böse Einfluss kann auf diese Weise gebannt, der Schaden am Körper mittels schamanischer Kräfte geheilt werden.

Es sind auch Fälle bekannt, in denen Aneoi im Ritus die Bäuche aufgeschlitzt und deren Innereien danach verbrannt wurden.

Seit der Entdeckung des Volksstamms ist die Anzahl der Aneoi geschrumpft, man schätzt sie auf nunmehr wenige Hundert. Ihre Dörfer liegen tief im Urwald ­verborgen. Sie halten sich von allen anderen Stämmen fern.

Wer Forschung an einem Volk mit magischem Weltbild betreibt, muss selbst ein Verständnis für Magie aufbringen. Es bringt uns nicht weiter, wenn wir nur aus der Ferne und durch die Zerrlinse unserer eigenen Logik beobachten. Um zu Erkenntnissen über den Sinn kultureller Praktiken wie denen der schamanischen Riten zu gelangen, müssen wir teilnehmende Beobachter werden, uns also in und mit dem Gegenstand unserer Forschung bewegen. Ich habe es darauf abgesehen, selbst eine Rolle im sozialen Gefüge der Aneoi einzunehmen, und mich darauf intensiv vorbereitet.

Jean Mirelle, mein Führer auf dieser Reise, ist Archäologe des Institut d’art et d’archéologie an der Sorbonne. In einem tarnscheckigen Wolf fahren wir über umbra- und ockerfarbene Pisten, über die zuerst der Himmel schwer herabhängt und dann die Blattkronen der Urwaldriesen. Mirelle befindet sich seit drei Jahren in dem Gebiet und berichtet vom Krieg im Kongo, den er unfreiwillig miterlebt hat. Mein Französisch ist nicht sehr gut, aber ich verstehe, dass er nachhaltig davon betroffen ist. Seine Arbeit an Ausgrabungsstätten aus der Eisenzeit hat in den beiden vergangenen Jahren sehr darunter gelitten.

Wir überqueren die Grenze rechts des Flusses. Mirelle kennt den wachhabenden Offizier und handelt mit ihm aus, dass uns ein Jeep mit drei Soldaten durch die noch unsichere Grenzregion eskortiert.

Afrikas Pol der Unzugänglichkeit befindet sich mehr als tausend Kilometer weit östlich, aber hier umfängt mich das Gefühl, von allem, jedem Ausweg über das Meer, von jeder Zivilisation unendlich entfernt zu sein.

Ich beziehe mein Lager mit der Ausrüstung für Monate ohne Versorgung durch die Außenwelt. Nur Mirelle und zwei seiner Kollegen wissen, wo genau ich mich aufhalte, und werden über Funk mit mir Kontakt halten, mich in Abständen von mehreren Wochen besuchen.

Allein breche ich zu meiner ersten Begegnung mit den Aneoi auf, fühle mich dabei wie einer der frühen Forscher in diesem Land, Franzosen, die hier im Dschungel den Grundstein für ihre Wissenschaft gelegt haben. Den Urwaldvölkern erschienen sie wie Wesen aus der Geisterwelt.

An einem Nachmittag erreiche ich mein Ziel, ein Dorf an der Westflanke eines Berges, und beobachte lange, bis ich ersten Kontakt aufnehme. Was die Aneoi als besonders unter allen Stämmen der Wälder, letztlich unter allen Völkern weltweit, hervorhebt, ist, dass sie keine Sprache benutzen, auch keine Zeichensprache, dass sie, wie alle ungläubige Forschung an ihnen letztlich ergeben hat, untereinander überhaupt keine Form der Kommunikation pflegen.

Ihr Sozialgefüge scheint vollkommen ohne eine solche auszukommen, so als folgten sie alle miteinander einem vorgeschriebenen Protokoll, das jede Inter­aktion regelt wie ein Drehbuch. Dabei ist ihres wie jedes andere menschliche Gemeinwesen von Kooperation und ­Aufgabenteilung geprägt. Jeder in diesem Dorf geht seinen Pflichten nach, erntet, verarbeitet, baut, transportiert, wie es die Notwendigkeit vorschreibt. Auch als ich das Dorf betrete. Ich errege keine Aufmerksamkeit. Sie nehmen mich wahr, das schon, aber ich werde als Fremder nicht umringt, begegne keiner Neugier, keiner Aggression, keinem Interesse. Stelle ich mich einem von ihnen in den Weg, so umgeht er mich, spreche ich ihn an, ignoriert er mich, wenn auch sein Blick kurz dem meinen begegnet. Doch dieser Blick sagt nichts aus.

Diese Menschen leben in runden, mit Blättern gedeckten Hütten aus Holz und Lehm, sie benutzen Werkzeug und Feuer, tragen rudimentäre Kleidung, keinen Schmuck, Frauen gehen schwanger und werden von anderen Frauen betreut, Kinder gehen Erwachsenen zur Hand, nur die kleinsten unter ihnen, die wenigen Säuglinge, die ich sehe, rufen laut nach Nahrung und Liebe. Ich fühle mich wie ein Geist unter den Figuren eines Stummfilms. Es wird hier ein Stück aufgeführt, auf dessen Bühne ich mich zwar befinde, das für mich aber keine Rolle vorsieht.

Nach den ersten Wochen bin ich froh um Mirelles Besuch, der mich für einen Abend wieder zum Menschen macht. Er sieht mich mit diesen Augen an, die nach ersten Zeichen für soziale Deprivation suchen, sie finden und mich mit ihrer Zuwendung in die Wirklichkeit meines Ichs zurückholen.

Durch sein Geschenk innerlich gestärkt, gehe ich zur zweiten Phase meines Vorhabens über. Für die arabische Welt vor der Moderne galten die Aneoi als wertloses Volk. Als Sklaven waren sie nicht zu gebrauchen, denn sobald man sie aus ihrer Gemeinschaft entfernte, wurden sie untätig bis hin zur völligen Katatonie und zum Tod. Nachdem ihre Kuriosität von Forschern des neunzehnten Jahrhunderts bis zur letzten unbefriedigenden Erkenntnis ausgeschöpft war, wurden sie für Jahrzehnte so gut wie vergessen. Die französischen Kolonisten betrachteten die Aneoi als geistlose Wesen, als nicht viel mehr als tierisch. Der Urwald wurde ihr natürliches Reservat bis heute. Edmond Bertrand, ein Ethnologe des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, schrieb eine Reihe von Abhandlungen über sie, die bis in meine Studienzeit hinein den Grundstock unseres Wissens über dieses seltsame, wie manche sagen, unmögliche Volk bilden. Eine Erkenntnis, die wir Bertrand verdanken, ist diese: Aneoi sind durchaus zur Sprache fähig. Er ging Berichten französischer Siedler nach und forcierte den Umgang mit den Stammesleuten bis zu einem Punkt, an dem sie wohl aus Verzweiflung zu Handzeichen griffen, um den Forscher von weiteren Störungen ihrer geordneten Abläufe abzuhalten. Handzeichen, nicht mehr als erhobene Hände und Fäuste eigentlich, dazu ganz unartikulierte Laute, die wohl lediglich ihrem Unmut, vielleicht Zorn Ausdruck verliehen.

Ihre genealogische Abstammung verortet die Aneoi unter den Pygmäen und damit unter den ältesten Homo-Sapiens-Populationen der Erde. Im Vergleich zu anderen Stämmen derselben Population sind Aneoi groß, erreichen im Durchschnitt 160 Zentimeter bei Frauen und 170 bei Männern.

Aller Wahrscheinlichkeit nach leben die Aneoi seit Jahrtausenden in genau dem Gebiet, in dem ich sie heute antreffe. Das Rätsel, wie ein Volk ganz ohne Sprache auskommen kann und sich dabei selbst gegenüber Einflüssen wie der gelegentlichen Aufnahme einzelner Individuen anderer Stämme in ihr Gemeinwesen standhaft erweist, lässt sich nicht lösen, indem man sie wie Edmond Bertrand zur Sprache zwingt. Meine gewählte Aufgabe besteht darin, in ihre Form des Zusammenlebens einzutauchen.

Nachdem ich die Verhaltensmuster der Dorfmitglieder in den vergangenen Wochen intensiv studiert habe, gelingt es mir doch zu Anfang kaum, mich in die Tagesabläufe einzupassen. Sobald ich Dinge zur Hand nehme, scheine ich andere in ihrem Tun zu stören. Ich lege nieder, was ich angefasst habe, trete zurück, beobachte wieder und versuche es erneut. Ich hole Wasser, ernte Früchte von den Bäumen und sammle Holz für das eine Feuer des Dorfs, das im Übrigen nie auszugehen scheint. Diese Aufgaben übernehmen alle, manche ein wenig mehr von diesen, andere mehr von anderen, aber es gibt augenscheinlich nichts, das nur eine Person täte.

Nach vielen Anläufen finde ich mich endlich ein. Ich esse unter ihnen, sitze am Feuer dabei, gebe den Kleinsten zu essen. Nicht dass sie mich bräuchten, ich dafür brauche sie gewiss, brauche ihre Akzeptanz, die sich allein darin äußert, die einfachen Dinge tun zu können, ohne im Weg zu stehen.

Wochen später fühle ich mich endlich beinahe wie ein Teil des Systems. Mirelles Kollege, nach Mirelle selbst der zweite Mensch von Außerhalb, der mich hier besucht, trifft mich nicht im Lager an, findet mich erst bei einem eigenen Vorstoß in das Dorf, wo ich mit der Verarbeitung von Palmenblättern zu einem Regenschutz beschäftigt bin. Er meint, wenn ich nicht durch meine Größe und Hautfarbe herausstäche, würde er mich kaum erkannt haben. Seltsam erscheint mir seine Sprache und dann nach so langer Stille meine eigene zuerst ganz bedeutungslos wie das Prasseln von Regen oder ein Pfeifen von Wind. Es dauert Minuten, bis jene Teile meines Verstandes zueinanderfinden, die gemeinsam ein konsistentes Kontinuum von Sprache und Welt erzeugen.

Nachdem der Mann wieder fort ist – nachdem er mich eindringlich ermahnt hat, mich nicht gehen zu lassen –, wird mir erst klar, dass die Gemeinschaft, in der ich lebe, tatsächlich mein Bewusstsein zu verändern beginnt. Die Versuchung, es einfach geschehen zu lassen, ist groß, meiner Forschung aber ist nicht damit gedient, mich ganz in ihrem Gegenstand zu verlieren. Ich habe die Zeiten, die ich im Lager verbringen sollte, nicht eingehalten, die regelmäßigen Funk-­Besprechungen mit Mirelle ebenso wenig. Das Lager sieht verlassen aus, als ich es an diesem Abend aufsuche, so als sei sein Bewohner vom Dschungel verschluckt worden. Zuerst fällt es mir schwer, die Apparaturen zu bedienen, das Zelt als mein Zuhause zu betrachten und wieder ich zu werden. Seit zehn Tagen habe ich nicht mehr ordentlich Bericht geführt, und wie ich da stehe, allein und wie ein Fremder inmitten der Zeugnisse von Zivilisation, zieht es mich wieder hinaus. Zurück will ich, zurück zu meinem stummen Volk, und meine selbst gewählte Rolle einnehmen. Nie zuvor ist jemand so tief eingetaucht, ist vielleicht so kurz davor gewesen, eine entscheidende Entdeckung zu machen.

Die wahre Herausforderung, die die Aneoi an uns darstellen, ist, uns das Menschsein ganz anders vorzustellen, als wir es zu verstehen glauben. Sprache halten wir für alternativlos. Aber da ist noch mehr: Ohne Sprache, glauben wir, kann es keine Entwicklung, keinen Fortschritt geben, woher aber haben die Aneoi ihre Technologie? Wenn diese auch auf dem Stand des Neolithikums ist, stellt sie doch einen Fortschritt dar. Und noch mehr: Wir können uns kaum eine Gesellschaft denken, die ohne Führung auskommt, aber ohne Sprache gibt es keine Befehle, gibt es keine Führung. Und zuletzt: Wir können uns keine Gesellschaft denken, die nicht irgendwann in ihrer Entwicklung die Vorstellung höherer Mächte entwirft, aber ohne Sprache kann weder eine Vorstellung von Göttern noch eine Anrufung solcher Wesenheiten entstehen. Wonach ich suche, ist der Ritus, die Zeremonie, ist der Grundbegriff von Religion und die damit verbundene Basis sozialen Zusammenhalts. Wonach ich suche, ist einer unter den Aneoi, der die Stellung eines Schamanen einnimmt.

Doch mir fällt es schon allein schwer, Individuen auseinanderzuhalten, die sich durch wenig mehr als ihr Aussehen unterscheiden. Ihre Augen glänzen wie Jett und besitzen einen meergrünen Schimmer, dies und die Unbewegtheit ihrer Münder lassen ihre Gesichter maskenhaft erscheinen. Der einzige Weg, den ich sehen kann, ist, mich tiefer in ihre Welt hineinzubegeben. Mich selbst ein Stück mehr fallen zu lassen.

Die eine Nacht bleibe ich im Lager, am nächsten Morgen verlasse ich es und nehme mir vor, es wenigstens alle fünf Tage einmal aufzusuchen, um das Nötigste niederzuschreiben, Mirelle ein Lebenszeichen zu geben, aber nicht mehr.

Ob ihnen meine Abwesenheit aufgefallen ist, kann ich nicht sagen. Ich finde mich wieder ein und verschließe mein sprachliches Denken für einen späteren Zeitpunkt. Mehr wie ein blindes Wesen orientiere ich mich in den Windungen des Tagwerks, fließe mit ihnen, wohin mich Notwendigkeit lenkt. Mein Bekenntnis zu ihnen ...

Mein Bekenntnis zu ihnen scheint unsere Beziehung doch zu vertiefen. In einer der folgenden Nächte tritt eine der Frauen an meine Bettstatt heran. Ohne Frage oder Forderung in ihrem Blick legt sie sich zu mir. Ohne zu fragen, begegne ich ihrem Verlangen.

Am Morgen spüre ich etwas Unerwartetes. Nachdem ich ihnen gegeben habe, was mich zu einem Teil ihres genetischen Erbes machen kann, fühle ich mich beraubt. Als ob ich eine unsichtbare und doch offensichtliche Grenze überschritten habe, sehe ich mich selbst jenseits dieser entgleiten, in den Dschungel, in die Tiefenzeit ihres Stammes, die keine Veränderung kennt und in der ich mich auflösen muss. An diesem Tag begegne ich den Aneoi mit einer aufkeimenden Furcht, sehe ihre Gesichter nur als Masken, ihre Körper und meinen eigenen als Gefäße eines Stromes, der aus der Urzeit heraus in die Unendlichkeit fließt, in dem sich kein Individuum zu erhalten vermag.

Jener bedrohte Überrest, den ich Ich nenne, versucht, sich an Treibholz zu klammern, in einem Fluss, der alle Flüsse schluckt und hin zu einem auch ihn verschluckenden Ozean strebt. Die Tage vergehen, ich lasse nicht los und treibe weiter hinab.