Lovecrafts Schriften des Grauens 09: Planet des dunklen Horizonts - Rainer Zuch - E-Book

Lovecrafts Schriften des Grauens 09: Planet des dunklen Horizonts E-Book

Rainer Zuch

0,0

Beschreibung

2015Die Sonde New Horizons verschwindet auf der Höhe des Zwergplaneten Pluto am Rande des Sonnensystems spurlos.2037Die Sonde New Horizons II erreicht den Pluto und geht ebenfalls auf mysteriöse Weise verloren. Zuvor sendet sie bestürzende Bilder von Resten einer außerirdischen Zivilisation auf dem Zwergplaneten zur Erde.2065Die bemannte Mission New Horizons III startet zum Pluto. Sie soll das Schicksal der Sonden aufklären und nach Spuren der Außerirdischen suchen. Doch die Astronauten stoßen auf ein uraltes kosmisches Grauen.Die Printausgabe umfasst 180 Buchseiten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 164

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Rainer ZuchPlanet des dunklen Horizonts

In dieser Reihe bisher erschienen:

2101 William Meikle Das Amulett

2102 Roman Sander (Hrsg.) Götter des Grauens

2103 Andreas Ackermann Das Mysterium dunkler Träume

2104 Jörg Kleudgen & Uwe Vöhl Stolzenstein

2105 Andreas Zwengel Kinder des Yig

2106 W. H. Pugmire Der dunkle Fremde

2107 Tobias Reckermann Gotheim an der Ur

2108 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Xulhu

2109 Rainer Zuch Planet des dunklen Horizonts

Rainer Zuch

Planet des dunklen Horizonts

Rainer Zuch

wurde 1965 in Frankfurt am Main geboren. Er studierte Kunstgeschichte und Philosophie in Frankfurt und Marburg und promovierte über das Thema Die Surrealisten und C. G. Jung. Seit 1998 ist er als wissenschaftlicher Autor tätig, wobei er sich immer wieder auch mit phantastischer Kunst und Literatur auseinandersetzt. So arbeitete er mehrfach mit der Phantastischen Bibliothek in Wetzlar zusammen, hielt Vorträge und schrieb Texte zu H. P. Lovecraft, J. R. R. Tolkien, phantastischer Architektur, der Rolle von Kunstwerken in der phantastischen Literatur, Labyrinthen und Kartographie in der Phantastik.

Bei der theoretischen Seite blieb es nicht. Schon während des Studiums entstanden erste phantastische Geschichten, später ein Roman und kleine surreale Nonsenstexte. Seit 2017 hat er mehrere ­Novellen und Kurzgeschichten veröffentlicht, die man der Weird Fiction zurechnen kann. 2017 erschien Der Außenposten im TES-Verlag, 2018 die NovelleThronos bei Goblin Press. Weitere Texte erschienen in den Zeitschriften Cthulhu Libria Neo und im IF-Magazin.

Im BLITZ-Verlag ist er mit der Kurzgeschichte Das Gasthaus der Götter in der Anthologie Xulhu und andere Erzählungen kosmischen Grauens (Hrsg. Jörg Kleudgen) vertreten.

Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2020 BLITZ-VerlagRedaktion: Jörg KleudgenTitelbild: Ernst WurdackUmschlaggestaltung: Mario HeyerLogo: Mark FreierInnenillustrationen: Jörg KleudgenSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-429-9Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Für die Idee zu Der Besucher möchte ich

mich herzlich bei Jörg Kleudgen bedanken.

Der Besucher

Die Landschaft lag kalt und still im Licht einer schwachen Sonne. Hohe Klippen und Felswände warfen Schatten von undurchdringlicher Dunkelheit. Nichts rührte sich. Das Auge glitt über eine tote, wüste Einöde, uralte, abgerundete Berge, steile Klippen, schwarze Flächen; eine weiße Wüste, die zerklüfteten Zonen an ihren Rändern.

Plötzlich geriet alles in Bewegung. Der Boden brach auf und schob sich in Schollen übereinander. Stücke, deren Formen einer komplizierten Geometrie zu folgen schienen, stiegen auf und versanken wieder, wobei sie sich verformten, als bestünden sie aus Gummi. Ein Riss spaltete einen Krater. Schlängelnde Bewegungen zogen sich durch Schluchten. Zwischen hohen Felsen blitzte es auf. Ein gähnendes Loch öffnete sich, das in unergründliche Tiefen zu reichen schien.

Dr. Samuel Osterman schreckte hoch. Für einen Moment war er völlig orientierungslos. Ein Sonnenstrahl traf ihn ins Gesicht. Er musste eingeschlafen sein.

Rasch besann er sich, wo er war. Er saß in seinem Dienstjet, der ihn nach einer anstrengenden Arbeits­woche Richtung Heimat brachte. Osterman sah aus dem Fenster. Die Sonne ergoss ihr strahlendes Licht über eine geschlossene Wolkendecke. Versonnen betrachtete er den weißen, flauschig wirkenden Teppich, der sich weit unter ihm erstreckte. Sie mussten sich in etwa zehntausend Metern Höhe befinden.

Plötzlich spürte Osterman eine totale Einsamkeit, wie er so hoch und abgeschieden über der Erde schwebte. Für einen Moment hatte er das Gefühl, dass das Flugzeug gar nicht mit Mach 2 dahinraste, sondern bewegungslos in der Luft hinge.

Osterman wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Klimaanlage schien nicht richtig eingestellt. Aber eigentlich schwitzte er bei den Gedanken an die Bilder, die auf seinem Laptop lagen und sich in seine Träume gestohlen hatten. Zum hundertsten Mal versuchte er sich einzureden, dass es sich um Übertragungsfehler handeln musste, irgendwelche Datenverformungen, die auf der endlosen Reise durch den Raum stattgefunden hatten. Und zum hundertsten Mal entlarvte er diese schwachen Einsprüche seiner Vernunft als aussichtslose Versuche, die Wirklichkeit zu leugnen.

Er hatte es gesehen. Kurz überkam ihn die Versuchung, den Laptop herauszuholen und sich die Fotos und Filme noch einmal anzusehen, doch er entschied sich dagegen. Er wollte sich nicht erneut mit den beunruhigenden Bildern konfrontieren. Er zögerte auch, weil er der Abhörsicherheit in dieser Höhe misstraute. Und bei der Brisanz der Daten, die sich auf seinem Computer befanden, wollte er nicht das geringste Risiko eingehen. Da wartete er lieber noch ein paar Stunden, bis er in den wirklich sicheren Räumen seiner Villa angekommen war. ­Osterman starrte hinauf in den Himmel, der sich nach oben hin in der Schwärze des Weltraums verlor, als erwartete er von dort eine Antwort, die nie kam. Die Sonne war inzwischen gesunken, die Wolkendecke abgerissen und gab den Blick auf eine weite Landschaft frei, die hauptsächlich aus bewaldeten Bergen bestand.

Auch das Flugzeug sank jetzt. Es hatte den Lande­anflug auf den kleinen Flughafen im Nordwesten der USA nahe der kanadischen Grenze begonnen, der Ostermans Ziel war. Wenig später rollte die Maschine im Licht des beginnenden Abends auf der Landebahn aus. Osterman streifte seinen Mantel über, nahm seine Tasche – die Koffer wurden gerade aus dem Gepäckraum geladen – und trat an die geöffnete Kabinentür. Kurz blieb er am Beginn der Gangway stehen und genoss den kühlen Wind, der über sein Gesicht strich.

Der Flughafen war so klein, dass er problemlos von der gelandeten Maschine zum Abfertigungsgebäude laufen konnte. Dort holte er sein Gepäck ab und wurde von seinem Fahrer erwartet, der ihn zu seinem Landhaus bringen sollte. Charles Putnam war ein hochgewachsener, schmaler Mittvierziger mit noch dunklen Haaren, der durch seine betont seriös-distanzierte Haltung älter wirkte. Bei seinem Anblick dachte Osterman flüchtig darüber nach, dass sein eigenes Haar bereits grau war, obwohl er kaum älter war. Er brachte das mit seinem ausgesprochen stressigen Job in Verbindung. Putnam fuhr schon über zehn Jahre für die Firma. Der Mann machte einen etwas altmodischen Eindruck, ein wenig aus der Zeit gefallen. Osterman fand ­diesen Charakterzug sympathisch. Manchmal stellte er sich vor, ein englischer Lord zu sein mit Putnam als seinem Butler und Vertrauten. Er musste grinsen. Ein schwarzer Lord mit einem weißen Butler: Damit wäre er zwar nicht der erste, aber ungewöhnlich wäre es immer noch.

Auch ohne das hatte er es weit gebracht. Seine Eltern stammten aus Familien, die sich aus der Armut hoch­gearbeitet und es zu bescheidenem Wohlstand geschafft hatten. Die Großeltern hatten noch Not kennengelernt, aus der sie sich aus eigener Kraft befreit und ihren Kindern ein besseres Leben ermöglichen konnten. Daraus hatten sie ihren Stolz gezogen. Sein Vater hatte als Chefingenieur einer großen internationalen Baufirma gearbeitet. Infolgedessen war er nur selten zu Hause gewesen. Leider war er bei einem Arbeitsunfall in China ums Leben gekommen, als Osterman gerade begonnen hatte, mit einem NASA-Stipendium in Harvard Astrophysik zu studieren. Das war typisch für seinen Vater gewesen: Er hatte es nie ausgehalten, nur hinter seinem Schreibtisch zu sitzen, sondern war immer auf die Baustellen gegangen, um sich ein Bild von der Lage vor Ort zu machen.

Seine Mutter hatte in einer Anwaltskanzlei gearbeitet, in der sie sich als Gehilfin bis zu einer recht erfolgreichen Anwältin hochgearbeitet hatte. Inzwischen war sie pensioniert und lebte immer noch allein in ihrem Haus an der Ostküste. Beide hatten ihn gefördert, wo es nur möglich war. Osterman war stolz darauf, nach dem Tod seines Vaters wenigstens seiner Mutter etwas zurückgeben zu können. Er hatte sich nach seinem Eintritt in die NASA zielstrebig nach oben gearbeitet und war inzwischen im Direktorium angekommen.

Osterman dachte mit einer Mischung aus Liebe und Distanziertheit an seine Mutter. Sie war eine nüchterne und disziplinierte Person, die ihre Gefühle immer zurückgehalten hatte, was die Beziehung zu ihr nicht gerade leicht machte. Sein Vater hingegen hatte sich durchaus einem Genuss hingeben können. Von beiden hatte Osterman einen unbedingten Leistungswillen geerbt, von dem er sich selbst jetzt nur schwer lösen konnte. Es gelang ihm jedoch allmählich, den Genießer in sich zuzulassen. Das zeigte sich auch in dem Haus, zu dem sie jetzt fahren würden.

„Mister Putnam, schön, Sie wiederzusehen. Wie geht es Ihnen?“

„Danke der Nachfrage, Sir, die Familie ist wohlauf. Hatten Sie eine gute Reise, Sir?“

Osterman zögerte kurz. „Ja“, entgegnete er. „Und ich freue mich auf mein Haus und einen gemütlichen Abend.“ Das war nur zum Teil gelogen.

Sie verließen die Halle. Der Parkplatz dahinter lag bereits in tiefen Schatten, aber Osterman entdeckte sofort den großen, geländegängigen Chevrolet, den die Firma für schwierigeres Gelände wie dieses hier angeschafft hatte, ihr Weg würde über streckenweise unbefestigte Straßen führen. Das schwarze Ungetüm überragte einen vor ihm stehenden Kleinwagen um fast das Doppelte. Es war in einem ziemlich ausgeprägten Retro-Design gehalten, was wiederum gut zu Putnam passte. Was den Auftraggeber geritten hatte, einen solchen Wagen zu bestellen, verstand Osterman zwar nicht, aber es stellte ihn auf eine nicht näher zu bestimmende Weise zufrieden. Vielleicht eine Selbsttäuschung. Osterman gab sich gerne einen altmodischen Anstrich, war aber weit entfernt davon, realitätsblind zu sein. Back in the good old times: ein schöner Spruch, mehr aber auch nicht. In schwierigen Zeiten – wann waren sie jemals einfach gewesen? – sehnten sich die Leute zurück nach vermeintlich besseren Zeiten.

Das Wagendesign stammte aus einer Zeit, als es noch Rassentrennung gab, antikommunistische Paranoia und Waffenfanatismus. Einige dieser Probleme waren geblieben, doch die wichtigsten waren heute andere. Es war deutlich heißer und trockener geworden. Ehemals fruchtbare Landstriche hatten sich in Steppen und Wüsten verwandelt. Die Flüchtlingsströme aus den Ländern Süd- und Mittelamerikas hatten in den 20er Jahren enorm zugenommen. Keine Mauer und kein Zaun konnten diese Massen aufhalten. In den Südstaaten hatten sich zeitweilig bürgerkriegsartige Zustände entwickelt, und bis heute gab es jedes Jahr hunderte von Toten. Die Stimmen derer, die eine Sezession innerhalb der USA für möglich hielten, wurden immer zahlreicher. Dabei schien es ziemlich gleichgültig zu sein, ob die Republikaner oder die Demokraten an der Macht waren; ihr Einfluss auf die Lage blieb beschränkt und schien sogar zu schwinden. Die Lage war beängstigend.

Dennoch: Osterman mochte das Design. Es war auch nur die äußere Hülle. Unter der Haube tuckerte schon lange kein durstiger Benzinmotor mehr – Benzin war sogar hierzulande inzwischen ausgesprochen teuer –, sondern ein moderner und sehr leiser Elektrohybrid­motor.

Während er es sich auf dem Rücksitz bequem machte, verstaute Putnam das Gepäck im Heck. Dann setzte sich Putnam hinters Steuer, startete den Wagen und fuhr los. Schon nach wenigen Minuten hatten sie das Stadt­zentrum hinter sich gelassen und eine von nur wenigen Häusern flankierte Ausfallstraße erreicht. Bald tauchten sie in die von gewaltigen Bäumen verursachte Dämmerung ein. Osterman betrachtete die vorbeiziehenden düsteren Wälder, die gleich hinter dem kleinen Ort anfingen und sich über tausende von Quadratkilometern erstreckten. Während im Süden immer mehr Wälder niederbrannten, waren sie hier im Norden noch weitgehend intakt. Osterman fragte sich, wie lange das noch so bleiben würde. Wer sich hier verirrt, riskiert immer noch sein Leben, dachte er. Da kann die Welt noch so zivilisiert und vernetzt sein, hier stößt der Mensch noch immer an seine Grenzen.

Obwohl die Sonne noch nicht untergegangen war, war es im Schatten der Bäume ausgesprochen dunkel. Und nicht nur hier, sondern auch anderswo. Osterman versank in düsteren Gedanken, die der zunehmenden Dunkelheit der endlosen Dickichte draußen durchaus entsprachen, von denen sie nur durch beängstigend dünne ­Glasscheiben getrennt waren. Konnten die Aufnahmen eine dritte Mission rechtfertigen? Und was würde er offenbaren müssen, um den Administrator und das Direktorium zu überzeugen? Denn nach wie vor wussten nicht alle maßgeblichen Personen von den unglaublichen Bildern, die sich auf seinem Laptop befanden. Das musste er in den nächsten Tagen ändern. Osterman hatte dies in Gedanken schon hundertmal durchgespielt, und er kam jedes Mal zu demselben Schluss, dass ihm nur rückhaltlose Offenheit helfen konnte. Eigentlich wusste er selbst nicht genau, warum er überhaupt daran dachte, Teile der Aufnahmen unter Verschluss zu halten. Vermutlich, weil sie ihm selbst nach unzähligen Durchläufen immer noch Angst einjagten.

„Sir?“

Osterman fuhr aus seinen Überlegungen auf. „Äh, ja? Sagten Sie etwas?“

„Ich wollte nur wissen, wie lange Sie in The Falls zu bleiben beabsichtigen, Sir.“

„Oh, ich … Ich bin noch nicht sicher, Mister Putnam. Ein paar Tage wahrscheinlich, vielleicht auch eine Woche. Ich werde Ihnen Bescheid geben.“

„Danke, Sir.“ In seiner höflich-distanzierten Weise beendete Putnam das Gespräch und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Straße zu.

Osterman lehnte sich in den Sitz zurück und versuchte ein wenig zu dösen. Es gelang ihm nur unzureichend, immer wieder zogen die Bilder der zerreißenden Landschaften vor seinem geistigen Auge vorüber. Nach einer Weile gab er es auf und starrte aus dem Fenster in die vorbeiziehende Finsternis. Er sah auf die Uhr. In etwa einer halben Stunde würden sie The Falls erreicht haben.

Plötzlich stutzte er. Zwischen den Bäumen glaubte er etwas gesehen zu haben. Da war es wieder. Ein blasses, flackerndes Licht, das in den Wäldern tanzte. Ein Irrlicht, das unruhig hin und her sprang und seine Aufmerksamkeit erregte. Dann glühte es auf und verlosch.

Osterman runzelte die Stirn. Für einen kurzen Moment hatte er das Gefühl gehabt, dass das Licht sie begleiten wollte. Putnam brauchte er nicht zu fragen, der konzentrierte sich ganz auf die Straße und hatte keinen Blick für die geheimnisvollen Tiefen der Wälder. Osterman versank erneut in Gedanken, die ihn das merkwürdige Phänomen bald wieder vergessen ließen.

Die Straße, inzwischen nur noch ein ausgebauter Forstweg, begann sich eine steile Bergflanke hinaufzuschlängeln. Nach einer Weile wurde der Wald lichter und von einer welligen, ansteigenden Landschaft mit Wiesen, Felsen und Bauminseln abgelöst. Bald erreichte der Chevy eine idyllische Senke, die sich als Kerbe den Hang hinunterzog, und rumpelte über eine Brücke, die einen kleinen Fluss überspannte. Dahinter bog Putnam rechts ab und folgte dem Weg flussaufwärts. Nach einigen Minuten bot sich ihnen ein eigenartiges Panorama.

Auf einem leicht erhöhten Plateau neben dem Fluss stand ein großes Haus. Inmitten der wilden Natur aus dichten Wäldern, Wiesen, Felsen und Wasserläufen wirkte die plötzliche Ansammlung streng geometrischer Formen fast surreal. Auf den ersten Blick schien das Gebäude aus mehreren übereinander gestapelten rechtwinkligen Blöcken zu bestehen. Als sich der Wagen näherte, wurden Einzelheiten erkennbar. Die Baukörper waren gegeneinander verschoben und strebten in verschiedene Richtungen, wodurch sie großflächige Überkragungen, Terrassen und Balkone bildeten. In jedem der Blöcke erlaubten großflächige Fensterfronten Einblicke ins Innere. Etwa in der Mitte erhob sich ein turmartiger Aufbau, der alle Etagen miteinander verband. Das Gebäude bestand aus dezent gestrichenem Beton, der wie Sichtbeton wirkte, ohne dessen Nachteile – ein im Laufe der Zeit durch Verschmutzung unausweichlich immer schäbigeres Aussehen – in Kauf nehmen zu müssen.

Osterman war stolz auf dieses Gebäude, bei dessen Planung er nur zu gerne mitgewirkt hatte. Nicht immer zur Freude des Architekten. Dabei hatte er seine Verehrung des weltberühmten Architekten und Visionärs des 20. Jahrhunderts Frank Lloyd Wright einfließen lassen. Vor allem dessen Villa Fallingwater in Pennsylvania hatte ihn immer beeindruckt, weshalb er dieses fast hundert Jahre alte Gebäude als Vorbild für sein eigenes Landhaus genommen hatte. Auch der Name The Falls war eine Reminiszenz an den Villenbau Wrights und nicht nur auf den nahen Wasserfall zurückzuführen, der hinter dem Haus über eine Felsklippe in die Tiefe rauschte.

Als sie sich auf etwa hundert Meter dem Gebäude genähert hatten, kamen sie an ein hohes Tor aus massivem Sicherheitsglas. Es war Teil einer alarmgesicherten Umzäunung, die sich unauffällig in einigem Abstand um das Gebäude zog. Beim Bau hatte Osterman darauf gedrängt, die Beeinträchtigung der Umwelt und der Aussicht so gering wie möglich zu halten. Deshalb waren keine hohen Mauern zum Einsatz gekommen, sondern eine Kombination aus neu entwickelten Schutzgläsern und Sicherheitsdrähten.

Osterman deaktivierte per Fernsteuerung und persönlichem Code die Alarmanlage. Putnam steuerte den großen Chevrolet unter die große, überhängende Betonebene der zweiten Etage. Noch bevor er ihn erreichte, erhellten mehrere Lampen die Dunkelheit unter dem Stockwerk und enthüllten einen großen, mit Kies bestreuten Fahrzeugstellplatz. In der Wand befand sich eine Eingangstür.

Osterman stieg aus und trat aus dem Schatten unter dem Gebäude, um das Abendlicht zu genießen. Während Putnam das Gepäck auslud und ins Haus trug, stand er am Rande des kleinen Plateaus, und atmete langsam und tief. Die Spannung, die ihn die gesamte Reise über festgehalten hatte, begann von ihm abzufallen. Sein Blick wanderte über die umliegenden Berge und Wälder, die still und friedlich im Schein der Abendsonne dalagen, als gäbe es die Bilder in seinem Laptop nicht.

Ihn fröstelte plötzlich. Er zog die Jacke enger um sich und kehrte zum Haus zurück.

Putnam war noch dabei, das Gepäck auf den verschiedenen Etagen zu verteilen. Er wusste, wo er was hinzustellen hatte und genoss Ostermans volles Vertrauen. Osterman schlenderte betont sorglos zum Wagen zurück und sah Putnam zu, wie er die letzten Koffer ins Haus trug. Seine noch auf dem Rücksitz liegende Tasche mit dem Laptop würde der Fahrer nicht anrühren. Er wusste, dass dies ausschließlich dem Direktor vorbehalten war.

Osterman nahm vorsichtig seine Tasche aus dem Wagen und trug sie in sein Wohnzimmer im dritten Geschoss. Dann stieg er die Treppen wieder hinunter, um Putnam zu verabschieden. Kurz besprach er mit ihm noch die Modalitäten der Rückfahrt, dann setzte sich Putnam wieder ans Steuer und fuhr davon. Osterman sah dem davonfahrenden Wagen mit gemischten Gefühlen nach. Er war erleichtert, wieder zu Hause zu sein und für eine Weile seinen Tagesablauf ungestört und nach seinem eigenen Rhythmus gestalten zu können. Gleichzeitig war er beunruhigt, wenn er daran dachte, worin seine Arbeit hier bestehen würde.

Er ging zurück ins Haus und stieg die Treppen zum Wohnzimmer hoch. Dieses war so riesig, dass es fast zwei Drittel des Geschosses einnahm. Der mit unregelmäßigen Granitplatten bedeckte Boden wurde an einigen Stellen von langen, hellen Läufern bedeckt. Ein großer Teil des Raumes war leer, was eine saalartige Atmosphäre hervorrief. Nur an der steinernen Rückwand und vor den großen Panoramafenstern, die sich über die gesamte Süd- und Westseite des Raumes erstreckten, standen einige Möbel: Regale, ein Tisch und Stühle, mehrere Sessel. Mit seiner Leere und rechtwinkligen Aufgeräumtheit strahlte der Raum für Osterman etwas Japanisches aus, ähnlich einem Dojo. Er wusste, dass auch Wright sich in seiner Architektur an Japan orientiert hatte.

Außerdem befand sich hier eine gut ausgestattete Bar. Osterman verspürte noch keine Lust, seine Sachen auszupacken, das meiste hatte sowieso bis morgen Zeit. Als erstes rief er seine Frau an, um ihr mitzuteilen, dass er gut angekommen war und er sich morgen Zeit für ein ausführliches Gespräch nehmen würde. Er erreichte aber nur ihren Anrufbeantworter. Sheila Osterman war selbst in der NASA-Verwaltung tätig und hatte ebenfalls viel zu tun. Oft mussten sie akribisch planen, wenn sie sich einmal sehen wollten.

Osterman mixte sich einen Drink und öffnete eine der großen Panoramascheiben, um frische Abendluft hereinzulassen. Er setzte sich in einen der Sessel vor der Glasfront, nippte an seinem Whisky und sah schweigend zu, wie sich die Sonne dem Horizont näherte und allmählich versank. Der wolkenlose Himmel überzog sich mit abendlichen Farben. Osterman betrachtete den intensiven Bernsteinton des Whiskys in seinem Glas. Echter schottischer, fünfundzwanzig Jahre alter Malt Whisky von einer der letzten kleinen Destillerien auf den schottischen Inseln. Mit den in Mode gekommenen synthetischen Whiskys hatte er sich nie anfreunden können. Auch wenn sie den Geschmack echten Whiskys täuschend echt nachahmen konnten und dabei sogar vor seltenen und teuren Sorten nicht Halt machten, hatte er dieses Zeug immer verabscheut. Aus seiner Sicht waren das Getränke für neureiche Angeber. Das echte Getränk vermittelte ihm ein geerdetes Gefühl.

Schließlich erhob er sich. Zwar wäre er gerne sitzengeblieben, doch er hatte noch einiges zu tun. Zunächst wollte er die Überwachungskameras überprüfen, die die Umgebung des Hauses lückenlos kontrollierten. Die Villa lag sehr einsam und stand oft über längere Zeiträume leer. Zudem hatte Osterman sich hier einen komplett ausgestatteten Arbeitsraum einrichten lassen, der eine direkte Verbindung zum Hauptquartier unterhielt. All dies waren gute Gründe gewesen, eine aufwendige und hochmoderne Überwachungsanlage zu installieren.