Lovecrafts Schriften des Grauens 10: Die Klinge von Umao Mo - K.R. Sanders - E-Book

Lovecrafts Schriften des Grauens 10: Die Klinge von Umao Mo E-Book

K. R. Sanders

0,0

Beschreibung

2015Die Sonde New Horizons verschwindet auf der Höhe des Zwergplaneten Pluto am Rande des Sonnensystems spurlos.2037Die Sonde New Horizons II erreicht den Pluto und geht ebenfalls auf mysteriöse Weise verloren. Zuvor sendet sie bestürzende Bilder von Resten einer außerirdischen Zivilisation auf dem Zwergplaneten zur Erde.2065Die bemannte Mission New Horizons III startet zum Pluto. Sie soll das Schicksal der Sonden aufklären und nach Spuren der Außerirdischen suchen. Doch die Astronauten stoßen auf ein uraltes kosmisches Grauen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 136

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



K. R. Sanders & Jörg KleudgenDie Klinge von Umao Mo

In dieser Reihe bisher erschienen:

2101 William Meikle Das Amulett

2102 Roman Sander (Hrsg.) Götter des Grauens

2103 Andreas Ackermann Das Mysterium dunkler Träume

2104 Jörg Kleudgen & Uwe Vöhl Stolzenstein

2105 Andreas Zwengel Kinder des Yig

2106 W. H. Pugmire Der dunkle Fremde

2107 Tobias Reckermann Gotheim an der Ur

2108 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Xulhu

2109 Rainer Zuch Planet des dunklen Horizonts

2110 K. R. Sanders & Jörg Kleudgen Die Klinge von Umao Mo

2111 Arthur Gordon Wolf Mr. Munchkin

2112 Arthur Gordon Wolf Red Meadows

K. R. Sanders & Jörg Kleudgen

Die Klinge vonUmao Mo

Diese Reihe erscheint als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2020 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KleudgenTitelbild: Mario HeyerUmschlaggestaltung: Mario HeyerLogo: Mark FreierInnenillustrationen: Jörg KleudgenSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-430-5Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Vorgeschichte

Kenzai Abe ließ den Wagen am Straßenrand ausrollen und blieb hinter dem Steuer sitzen. Im Halteverbot zu parken, rief bei ihm immer noch Unwohlsein hervor, obwohl es abwegig war, dass er einen Strafzettel bekommen würde. Er blickte in den Rückspiegel, doch es war niemand zu sehen. Kein Auto auf der Straße, kein Mensch auf den staubigen Gehwegen, niemand in den Geschäften. Er befand sich in einer Geisterstadt, kein Zweifel.

Längere Zeit hätte an diesem Ort auch niemand überleben können. Das Dosimeter im Handschuhfach zeigte eine Strahlenbelastung von 180 Millisievert. Dabei war er vom Zentrum der Zone, die vom Zwischenfall betroffen gewesen war, der größten Katastrophe, die Japan je heimgesucht hatte, noch gut zehn Kilometer weit entfernt.

Kenzai überprüfte den Sitz seiner Schutzkleidung, bevor er den Wagen verließ. Es war keine gute Idee gewesen, so spät aufzubrechen, dass er die Stadt erst gegen Mittag erreichte. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht, und die ohnehin seit Wochen anhaltend hohen Temperaturen würden eher noch weiter ansteigen. Aber seitdem die Schutzzone ausgeweitet worden war, dauerte die Anfahrt über die teilweise zugewucherten Straßen noch mal zwei Stunden länger. Nicht mehr lange, und man würde viele Orte nur noch mit dem Helikopter erreichen.

Während der ersten Schritte verspürte er noch eine Nervosität, doch allmählich wich dieses Gefühl. Je weiter er sich von seinem Fahrzeug entfernte, umso mehr begann er die Umgebung wahrzunehmen. Neben dem wilden Wuchs der Pflanzen sah er vereinzelt liegen gebliebene Fahrzeuge, rostige Lastwagen, SUVs, Limousinen und Kleinwagen.

Langsam näherte er sich einem Supermarkt, dessen Regale zum Teil umgestürzt waren, sodass der Inhalt auf dem Boden verstreut lag. Kenzai betrat den Laden. In der Lebensmittelauslage reihten sich skelettierte und mumifizierte Fische, zur Unkenntlichkeit verdorrtes Obst und von einer dicken Staub- und Schimmelschicht bedeckte Backwaren aneinander. Beim Blick auf den Ständer mit den Tageszeitungen verstärkte sich sein mulmiges Gefühl. Es schlug ihm auf den Magen, die Schlagzeilen vom Tag des Zwischenfalls zu lesen.

Kurz darauf fand er sich auf der Straße wieder. Er stieg eine verwitterte Treppe hinab und erreichte, nachdem er einen dornigen, verdorrten Busch beiseitegedrückt hatte, die Gleise der S-Bahn. Am Bahnsteig war noch der Plan mit den Abfahrtszeiten und einer schematischen Darstellung des Gleisnetzes zu sehen.

Kenzai Abe nahm sich vor, einen der größeren Bahnhöfe aufzusuchen. Wo einst viele Menschen gewesen waren, fand er womöglich aufschlussreiche Spuren und Hinweise. Er erinnerte sich an den alten Güterbahnhof, auf dem sein Großvater gearbeitet hatte. Im Krieg waren von dort aus Material und Soldaten verfrachtet worden.

Er wollte aber nicht den in Tunneln liegenden Gleisen folgen, sondern den Weg durch die Stadt nehmen. Einstmals hatten sich dort viele Geschäfte und kleine Nudelrestaurants befunden. Dicht an dicht hatten sie gestanden, und Kenzai konnte sich lebhaft vorstellen, wie in den Abendstunden die Menschen durch die Straßen geströmt sein mochten. An den Wänden hingen noch Plakate. Zeit und Wetter hatten dem Papier zugesetzt, aber sie suggerierten ein Stück Normalität in einer Welt, in der ansonsten nichts mehr normal war.

Als er das Wohngebiet hinter sich gelassen hatte, lichtete sich die Bebauung. Der rissige Asphalt wies ihm den Weg zum Güterbahnhof. Die Katastrophe war so überraschend hereingebrochen, dass man die Züge nicht mehr hatte evakuieren können. Sie verrotteten.

Er fragte sich, ob die Graffitis bereits vor dem Zwischenfall aufgesprüht worden waren. Sie erstreckten sich über ganze Züge. Der umtriebigste Sprayer nannte sich Yok Sotot. Seine Tags fanden sich auf nahezu jeder freien Fläche. Kenzai trat näher an den vordersten der Güterwaggons heran, dessen Flanke aufgerissen, ja schier zerfetzt war, und strich mit dem Handschuh über das Holz. Es war mit feinen Kristallen überzogen wie von Raureif. Das Meer war nicht weit entfernt. Es mochte sich um harmloses Salz handeln, doch sein Instinkt ließ ihn zurückweichen.

Ein Blick auf den Geigerzähler zeigte Kenzai, dass die Strahlung hier geringer war als in der Stadtmitte. Da er sich näher am mutmaßlichen Zentrum der Katastrophe befand, hätte es genau andersherum sein müssen. Er beschloss, dem Phänomen nachzugehen und wandte sich nach Süden, dem Meer zu.

Es war leicht, sich in der Stadt zu orientieren, da das Straßennetz beim Wiederaufbau nach dem Krieg wie ein lineares Raster angelegt worden war. Es gab Straßen, die parallel zum Strand verliefen und andere, die diese im rechten Winkel kreuzten.

Kenzai bemerkte an den Fassaden der Gebäude, die überwiegend aus den 1950er-Jahren stammten, weitere Kristalle, die in der Gluthitze schillerten. Wie Puder erschien ihm dieser Belag.

Die Hitze durchdrang allmählich auch seinen Schutzanzug und ließ die Luft darin stickig werden. Als er den Strand erreichte, überkam ihn Lust, ihn abzustreifen, um ins Meer zu springen. Doch der Sand war nicht weiß, wie er ihn in Erinnerung hatte, sondern grau. Die See zeigte sich schaumig aufgewühlt, und dicke Büschel von Algen schienen darin zu treiben. Auch konnte er angeschwemmten Müll und anderen Unrat unter dem Strandgut erkennen. Hier eine leere Öldose, dort eine angespülte Planke oder ein Stück Netz, das wahrscheinlich noch aus der Zeit stammte, da in diesen Gewässern gefischt worden war. Kenzai hatte von Mutationen gehört. Fischer hatten Dinge in ihren Netzen gefunden, die sie voller Abscheu wieder ins Meer zurückgeworfen hatten. Schlimmer noch waren aber die Bruchstücke, die die Flut an Land warf, und die viel Raum für Phantasien ließen.

Linkerhand machte er das alte Zementwerk aus, das sich gegen die Sonne beinahe schwarz in den Himmel erhob. Als er eine Bewegung am Strand unweit des gigantischen Bauwerks bemerkte, vermutete er ein Stück Plastikfolie, das an Land gespült worden war und nun im Wind flatterte.

Sein Atem stockte. Spielten ihm seine Augen einen Streich? Er kniff die Augen zusammen und wischte sich mit dem Handschuh über seinen Sichtschutz. Phantasierte er? Hier konnte, hier durfte es kein menschliches Leben geben! Niemand hätte die Strahlung längere Zeit überlebt.

Die Gestalt, die offensichtlich keinen Schutzanzug trug, schien zu zögern, als Kenzai sich in Bewegung setzte. Er lief, so schnell es sein Anzug zuließ, und als er zu einer Lücke im ehemaligen Sicherheitszaun gelangte, brannte die Luft in seinen Lungen wie Feuer.

Die Gestalt stand nun im Schatten eines mächtigen Silos. Wartete sie auf ihn? Vorsichtig wand sich Kenzai durch die Zaunlücke. Ein Riss in seinem Anzug wäre einem Todesurteil gleichgekommen. Inzwischen hatte sich die fremde Gestalt wieder in Bewegung gesetzt und eine Gebäudeecke umrundet. Kenzai war sich sicher, dass er ein Mädchen oder eine junge Frau vor sich hatte.

Widerstrebend folgte er ihr. Es konnte sich um eine Falle handeln. Vielleicht versuchte sie ihn irgendwohin zu locken.

Er trat durch ein Tor in einen kleineren Hof und sah, dass sie nicht weit von ihm entfernt stehen geblieben war.

Der Schleier, der ihren Körper verdeckte, verhüllte auch das Gesicht des Mädchens. Als eine Windbö den dünnen Stoff lüftete, keuchte Kenzai auf.

Was er sah, war nicht möglich.

Es war Kasumi. Aber Kasumi war seit zwanzig Jahren tot.

1. Kapitel: Hisako Matsuta

„Völlig verschwunden, meinen Sie?“ Hisako Matsuta schüttelte ungläubig den Kopf. „Glauben Sie, dass er einen Unfall hatte?“

„Das haben wir bei den ersten beiden Männern tatsächlich noch angenommen“, bestätigte Miyamoto Katsun, der Regierungsbeauftragte, der Hisako in sein Büro gerufen hatte. „Die Wahrheit ist, dass niemand weiß, was Abe und den anderen zugestoßen ist. Ob sie noch leben oder nicht, ob sie etwas gefunden haben, oder … ob sie von etwas gefunden worden sind.“

Hisakos gefaltete Hände verkrampften sich, er hatte die versteckte Andeutung durchaus verstanden. Obwohl eine Klimaanlage verhindern sollte, dass es zu warm im Büro des wissenschaftlichen Mitarbeiters im Katastrophenschutzamt wurde, trieb die erbarmungslos am Himmel strahlende Sonne den beiden Männern einen Schweißfilm auf die Stirn.

Katsuns Büro war funktional, geradezu nüchtern ausgestattet. Ein Bild, das den Mann mit den grauen Schläfen im Kreis seiner Familie zeigte, war die einzige persönliche Note. Alles andere wirkte austauschbar und steril. Der Raum ließ nicht darauf schließen, dass Katsun zu den wichtigsten Männern im Zusammenhang mit dem Zwischenfall gehörte, bei dem viele tausend Menschen ihr Leben verloren hatten. Katsun sammelte die Informationen, die ihn über verschiedene Kanäle erreichten, und gab sie gefiltert in kleinen Dosen an die Öffentlichkeit weiter. So verträglich wie möglich, um den Ausbruch einer Panik zu verhindern.

„Aber warum haben Sie mich hierherbestellt, Katsun-san? Wie kann ein unbedeutender Ingenieur wie ich Ihnen Antworten liefern, die Ihnen die Mitarbeiter Ihres mächtigen Amtes nicht beschaffen konnten?“ Hisako hatte das Gefühl, wertvolle Zeit zu verschwenden. In seinem Büro lag noch eine Menge Arbeit, die erledigt werden musste. Und auch wenn ihn sein Vorgesetzter persönlich vom Termin bei Katsun unterrichtet hatte, so war ihm klar, dass es keinen guten Eindruck in der Firma hinterlassen würde, wenn er länger als dringend erforderlich abwesend blieb.

„Wissen Sie … unsere Kundschafter sind nicht der einzige Weg, auf dem wir uns ein Bild von der Sperrzone machen. Wir benutzen auch hoch technisierte Drohnen, wie sie von Ihnen konstruiert werden.“ Katsun holte einen Stapel Fotografien aus der Schublade hervor und breitete sie auf der grauen Schreibtischunterlage aus. „Sie sind ein hervorragender Ingenieur. Ohne Sie wären diese Bilder nicht möglich gewesen. Wie ich hörte, haben Sie Ihre Laufbahn als Feinmechaniker begonnen…“ Katsun lächelte. „Sie haben es weit gebracht, also machen Sie sich bitte nicht kleiner als Sie sind!“ Er reichte eines der Bilder Hisako. „Schauen Sie sich bitte diese Fotografie an und sagen Sie mir bitte, was Sie darauf sehen!“

Zuerst konnte Matsuta nichts Auffälliges erkennen, bei genauerem Hinsehen jedoch blieb sein Blick an einem Schriftzug hängen, der in ihm eine Flut an Erinnerungen heraufbeschwor. „Ich … ich verstehe nicht“, stammelte er.

„Nun, ich will Ihnen helfen. Aber bitte stellen Sie meine Geduld nicht zu sehr auf die Probe, Matsuta-san! Das tun die Reporter mit ihren neugierigen Nachfragen schon hinreichend, besonders die aus dem Ausland.“ Katsun richtete sich langsam auf und wandte sich dem Fenster zu. Dann fuhr er fort: „Ich habe mich eingehend über Sie und Ihren Werdegang informiert. Wenn man Ihrer Vita Glauben schenken darf, waren Sie bereits während Ihrer Ausbildung ein echtes Wunderkind. Sie besitzen ein brillantes technisches Verständnis und haben das Handwerk der Schmiedekunst von Grund auf gelernt.“ Katsun wandte sich unendlich langsam wieder seinem Gesprächspartner zu. „Und da liegt Ihr Geheimnis, nicht wahr? Sie lassen niemanden wissen, wo Sie sich dieses Wissen angeeignet haben.“

„Ich hatte einen Meister, der mir zeigte, wie man die Seele der verschiedenen Metalle erkennt und sie entsprechend formt. Das ist alles.“

Katsun lachte trocken. „Sie wissen genau wie ich, dass dies nicht die ganze Wahrheit ist. Sie kennen und können mehr! Und deshalb wissen Sie auch, was sich hinter diesem Schriftzug verbirgt. Sie wissen, dass ich recht habe!“

Hisako nickte, setzte aber gleichzeitig zu einer Erwiderung an. „Das stimmt. Ich habe diesen Schriftzug schon mal gesehen. Aber das war in einem anderen Leben.“

Hisako öffnete die Tür zu seinem Appartement und war einmal mehr von dem Blick über die Stadt fasziniert, der auch nach Jahren noch spektakulär war. Von den Zerstörungen des 6. August 1945 war nichts mehr zu erkennen, nur im kollektiven Bewusstsein der Menschen, die in Hiroshima lebten, war eine unheilbare Narbe zurückgeblieben. Das Schicksal Japans schien seit jenem Tag untrennbar mit der Macht der Atome verknüpft zu sein, und der schlimme Zwischenfall, der einen weiten Landstrich auf lange Zeit unbewohnbar gemacht hatte, war nur ein weiteres in einer Reihe von schrecklichen Ereignissen.

Während er lustlos in dem Harumaki herumstocherte, das er sich an der U-Bahn-Haltestelle hatte abpacken lassen, ging Hisako in Gedanken durch, was er an Informationen von Katsun erhalten hatte. Und er musste an jenen merkwürdigen Schriftzug denken. Katsun musste mit dem Weg des Kedo vertraut sein, nach dessen Lehren es möglich war, Dinge mit einem Zauber zu durchweben, um ihnen Macht zu verleihen. Mit wissenschaftlichen Methoden hatte man angeblich nie nachweisen können, dass diese Praktiken eine Wirkung besaßen. Aber wenn Hisako die alten Worte sprach, während er eine Klinge schmiedete, veränderte sich die Struktur des Metalls. Er war davon überzeugt, dass ihm seine verschiedenen Messreihen recht gaben. Aber im Grunde genügte ihm der Glaube an die Wirkung der alten Zauber. Und er erinnerte sich noch zu gut an die Warnung Meister Honshas. Hütet Euch davor, böse Worte in Eure Arbeit einfließen zu lassen! Es mag mächtigere, ältere Zauber geben als die, die ich Euch gelehrt habe. Doch nicht Ihr beherrscht sie, sondern sie Euch!

Hisako hatte das Bedürfnis, mit jemandem zu reden, der wusste, wovon er sprach. Ihm fiel niemand anderes als Han ein, ein früherer Mitschüler und Freund. Er hatte als der Beste seines Jahrgangs gegolten und war dann letztlich doch gescheitert. Meister Honsha hatte ihn vor der Prüfung der Schule verwiesen. Han hatte Hisako nie verraten, was damals wirklich geschehen war, aber er hatte den Kontakt zu seinem Freund aufrechterhalten, auch dann noch, als beide völlig unterschiedliche Wege eingeschlagen hatten. Hisako wusste nie, wo Han sich gerade aufhielt, aber er hatte Hisako eine Mobilfunknummer anvertraut, unter der er bislang immer zu erreichen gewesen war.

Der Nebel waberte über dem schmutzigen Wasser des Hafens im Minami-Bezirk, und Hisako zuckte jedes Mal unwillkürlich zusammen, wenn sich aus den Dunstschwaden eine Gestalt löste und auf ihn zukam. Um diese Uhrzeit verirrten sich nur noch wenige Menschen hierher. Es gab zu viele zwielichtige Gestalten, denen der Hafen­bezirk als Zuhause diente, aber auch solche, die sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen wollten, weil sie sich ihres Äußeren schämten. Auch nach all den Jahrzehnten litt die Bevölkerung der Stadt noch unter den Auswirkungen der Strahlung. Deformationen und Tumorerkrankungen waren häufiger als anderswo, und zahlreiche Kinder, die in dieser Präfektur geboren wurden, waren von vornherein zum Tode verurteilt.

Das Hafenviertel bot einen dankbaren Nährgrund für schaurige Mythen. Zwischen all dem Unrat erwartete man förmlich, das Abnorme zu finden. Hisako fühlte sich an die Atmosphäre der Kaiju-Filme erinnert. Gerade die frühen Werke aus den späten Fünfzigerjahren des alten Jahrhunderts hatten sich häufig mit den Folgen der Atombombenwürfe auseinandergesetzt.

„Moshi moshi, Hisako. Wie geht es dir, alter Freund?“, hatte sich Han gemeldet, als Hisako ihn angerufen hatte. Er klang nicht überrascht. Generell war er jemand, der seine Gefühle nicht so schnell preisgab. Han war immer ein Musterbeispiel an Selbstbeherrschung und Disziplin gewesen.

„Es geht mir soweit gut, mein Freund. Aber ich rufe dich nicht unserer alten Freundschaft wegen an. Obwohl … Vielleicht doch …“

„Wenn du so herumdruckst, geht es um Umao Mo“, stellte Han fest.

„Verzeih mir, aber ich brauche wirklich deinen Rat.“ Hisako überlegte, ob die Telefonverbindung sicher genug war, um seine Vermutungen zu äußern. „Ich glaube, wir haben ein großes Problem. Ich habe Zeichen gesehen … oder vielmehr … man hat mir ein Zeichen gezeigt. Ich wüsste gerne, wie du darüber denkst. Können wir uns treffen?“

Han dachte kurz nach. Er kannte den Freund gut genug, um zu wissen, dass dieser ihn nicht grundlos um Hilfe bat. „Ein Zeichen. Welches?“

„Es war der Name Yok Sotot.“

Für einen Augenblick schien sich die Zeit unendlich zu dehnen. Solche Macht steckte alleine in den Lauten, die das Zeichen formten.

„Das ist ernst“, meinte Han mit einem besorgten Unterton. „Wir müssen das unter uns besprechen. Ich melde mich bei dir, und dann treffen wir uns an einem sicheren Ort.“

Ein sicherer Ort. Das war die von Han gewählte Formulierung gewesen. Vor einer Stunde war die Textnachricht auf Hisakos Mobiltelefon eingegangen, die ihm genau diesen Treffpunkt und diese Uhrzeit nannte. Was ihm jedoch um diese Uhrzeit am Hafen sicher erschien, wollte sich Hisako nicht erschließen.