Lovecrafts Schriften des Grauens 15: Cthulhu Libria Neo -  - E-Book

Lovecrafts Schriften des Grauens 15: Cthulhu Libria Neo E-Book

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Beschreibung

Nach jahrelangem Bestehen als Geheimtipp für die Freunde dunkler Phantastik findet das CTHULHU LIBRIA NEO-Magazin mit seiner zehnten Ausgabe ein neues Zuhause im BLITZ-Verlag.Mit seinem Schwerpunkt Die Poe-Rezeption in der deutschen phantastischen Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Markus K. Korb und begleitenden Beiträgen sowie Erzählungen von Uwe Voehl, Jörg Kleudgen, Christopher Müller und E. L. Brecht enthält das Magazin auch diesmal die gewohnten Rubriken Genius Loci, Der vergessene Bücherschrank und vieles mehr.

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Seitenzahl: 252

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Jörg Kleudgen (Hrsg.)CTHULHU LIBRIA NEO

In dieser Reihe bisher erschienen:

2101 William Meikle Das Amulett

2102 Roman Sander (Hrsg.) Götter des Grauens

2103 Andreas Ackermann Das Mysterium dunkler Träume

2104 Jörg Kleudgen & Uwe Vöhl Stolzenstein

2105 Andreas Zwengel Kinder des Yig

2106 W. H. Pugmire Der dunkle Fremde

2107 Tobias Reckermann Gotheim an der Ur

2108 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Xulhu

2109 Rainer Zuch Planet des dunklen Horizonts

2110 K. R. Sanders & Jörg Kleudgen Die Klinge von Umao Mo

2111 Arthur Gordon Wolf Mr. Munchkin

2112 Arthur Gordon Wolf Red Meadows

2113 Tobias Reckermann Rückkehr nach Gotheim

2114 Erik R. Andara Hinaus durch die zweite Tür

2115 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo

Jörg Kleudgen (Hrsg.)

Cthulhu Libria Neo

Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2021 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KleudgenTexte: Jörg Kleudgen [JK], K. R. Sanders [KR], Markus K. Korb, Elmar Huber [ElHu], Christopher Müller, Uwe Voehl, Nils Gampert, Axel Weiß, Thomas Ulbrich, E. L. Brecht, Eric Hantsch, Marius von der Forst, Andreas Ackermann [AA]Illustrationen: Jörg Kleudgen (Titelgrafik, Carlos Ruiz Zafón, „… morgen tot!“,„Nachtwandler“), Christopher Müller („Zur Poe-Rezeption …“, „Alle Farben; Schwarz“), Axel Weiß („Homes and Shrines of Poe”)Fotografien: Sandra Meyer („Das (Anti)Kolonialdenkmal in Bremen“), Ina Elbracht („Von Vampiren, Ghulen und Todesengeln“)Umschlaggestaltung: Mario HeyerSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-925-6Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Editorial

Cthulhu Libria, Cthulhu Libria Äon und ­schließlich Cthulhu Libria Neo … die Geschichte ­dieses Magazins ist lang und wechselhaft. Von der von Eric Hantsch herausgegebenen Bücherliste hat es sich immer wieder weiterentwickelt und neu erfunden, bis es zu seiner jetzigen Inkarnation gelangte. Wie der sperrige Name erahnen lässt, ist das CLN nicht für ein möglichst breites Publikum konzipiert. Es ist aber auch nicht so sehr auf Themen rund um das Werk H. P. ­Lovecrafts fixiert, wie sein Titel vermuten lassen könnte. Die dunkle Phantastik und ihre Randbereiche bilden das Gewässer, in dem wir nach schaurigen Geschichten, interessanten Interviews, Kritiken und Essays fischen. In der vorliegenden Ausgabe - der ersten, die unter dem Schirm des BLITZ-Verlages erscheint - heben wir einen besonderen Schatz. Den diesmaligen Schwerpunkt bildet ­Markus K. Korbs vor rund zwanzig Jahren als Studienarbeit entstandener Beitrag „Zur Poe-Rezeption in der deutschen phantastischen Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts“, der somit endlich einer ­interessierten Leserschaft zugänglich gemacht wird. Und wie das schon in der Vergangenheit beim CLN oft der Fall war, fanden sich wie auf wunderbare Weise Begleitartikel, die das Thema vertiefen.

Das Ergebnis ist genauso, wie wir uns das Magazin immer gewünscht haben: unterhaltsam, reichhaltig und tiefgründig.

Wir wünschen viel Vergnügen mit der Lektüre.

Jörg Kleudgen

Carlos Ruiz Zafón (* 25.09.1964; † 19. Juni 2020)

Adios, Don Carlos – Der Versuch eines Nachrufs

Gerade wenn man denkt, das Jahr 2020 kann nicht mehr wesentlich schlechter werden, reißt der Krebs einen weiteren großen Künstler aus dem Leben.

Ich erinnere mich, als ich begann, im „Schatten des Windes“ zu lesen, und ich gebe unumwunden zu, dass die ersten rund 100 bis 150 Seiten ziemlich zäh waren. Aber nachdem Zafón sein Feld bestellt, die katalanische Metropole Barcelona und die Familie Sempere ausgebreitet hatte, begann die Geschichte zu wirken. Und der Strudel, der sich daraus ergab, ließ mich die kommenden Monate nicht zur Ruhe kommen. Mit Ausnahme der Novelle „Gaudi in Manhattan“ verschlang ich alles von ihm und wartete sehnsüchtig auf den Abschluss „Das Labyrinth der Lichter“, das die Geschichte des Friedhofs der vergessenen Bücher zu einem würdigen Ende brachte. Kaum zu glauben, dass dieses Buch das letzte gewesen sein soll, das aus der Feder dieses so begabten Wörterschmieds stammt.

Ich will mich hier nicht über die Bücher selbst auslassen. Es wird in der nahen Zukunft die Gelegenheit geben, das eine oder andere Buch von ihm zu besprechen und damit das Vermächtnis Zafóns dem einen oder anderen nahezubringen.

Für mich persönlich war „Marina“ eine sprichwörtliche Offenbarung. Es führte mir vor Augen was alles möglich ist, wenn man das Handwerk des Erzählens zu einer wahren Meisterschaft vorantreibt. Zafóns Schreibstil verwischt die Grenzen der Literaturgenres. ­Historischer Roman, magischer Realismus, Familiendrama, Liebesroman, Kriegsdrama … wortgewaltig, mit der richtigen Mischung aus kalten ­Szenarien und ­warmen Klangfarben, tiefen Charakteren und einem Händchen dafür, die nähere Geschichte ­Spaniens als Hintergrund zu nutzen, stellt uns Zafón sein Barcelona vor. Irgendwo zwischen der Historie und der Moderne.

Seine Coming-of-Age-Romane lassen seine Leser wieder zurückfinden in eine Zeit, in der man schmerzhaft lernen musste, dass man kein Kind mehr ist, aber auch lange noch nicht verstanden hat, dass man noch nicht erwachsen ist.

Als ich am Freitag den 19. Juni lesen musste, dass Carlos Ruiz Zafón verstorben ist, saß ich einige Minuten wortlos vor meinem Computer. Der Wind war verweht und nur sein Schatten geblieben.

Im spanischen Sprachgebrauch steht Don für einen besonderen, verdienten Mann. Es ist eine Ehrbezeichnung die man Lehrern, Bürgermeistern, Firmenchefs oder Familienoberhäuptern entgegenbringt. Zafóns Werk hat meine Art zu schreiben beeinflusst und neben dem Wunsch, so schreiben zu können wie er, auch das lange begrabene Bedürfnis wiedererweckt, Spanisch zu lernen. Er und seine Erzählstimme werden in der Welt der Literatur fehlen, ja, eine vielleicht nicht zu schließende Lücke hinterlassen.

Seine Bücher allerdings werden nicht vergessen werden. Man wird sie nicht suchen müssen, in einer geheimen Biblio­thek, versteckt in einer der Seitenstraßen von Barcelona ...

Adios Don Carlos, descansa en paz.

[KR]

Zur Poe-Rezeption in der deutschen phantastischen Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts

von Markus K. Korb

1. Einleitung

„Glauben Sie an Gespenster?“ -

„Nein, aber ich habe Angst vor ihnen.“

Dieses Bonmot beinhaltet in treffender Weise die rezeptionsästhetische Komponente der phantastischen Literatur und könnte auch als deren Quintessenz bezeichnet werden. Der Ausspruch der Madame Deffand kennzeichnet aber auch die Grundhaltung vieler Autoren des Phantastischen, einer Literatur, die seit der Aufklärung starke Verbreitung gefunden hat.

Im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts tauchte eine Vielzahl von Werken auf der literarischen Bühne auf, die unter den Begriffen „Seltsame Geschichten“, „Merkwürdige Geschichten“ oder „Absonderliche Geschichten“ publiziert wurden. Erst später erschien der Begriff „Phantastische Novellen“ als Untertitel der Veröffentlichungen.

Als derjenige Autor, der die Renaissance der Phantastik gegen Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts einleitete, darf Oscar Adolf Hermann Schmitz (1873-1931) gelten. Sein spektakulärer Band „Haschisch“ (in der Zeit von 1897 bis 1900 entstanden und 1902 zum ersten Mal erschienen) hat mit seinen Schilderungen von Drogen­experimenten und dem Bruch von religiösen Tabus nicht nur in literarischen Kreisen für Aufsehen gesorgt.

E. T. A. Hoffmann

Der phantastischen Literatur war in Deutschland seit der Romantik mit dem als „Gespenster­hoffmann“ geschmähten E.T.A. Hoffmann keine durchgehend literarisch geachtete Tradition beschieden. Gespenstergeschichten wurden vom Bürgertum als „Dienstboten­literatur“ abgewertet, da sie nicht die Ideale der Aufklärung und des Klassizismus predigten, sondern im Gegenteil die Welt als undurchschaubar darstellten, die kreatürliche Angst ohne eine Möglichkeit zur Überwindung zeigten, und so die „Erhabenheit“ des klassischen Ideals negierten.

Ein anderer Autor der Phantastik lebte, litt und schrieb von 1809 bis 1849 in Amerika. Er hieß Edgar Allan Poe, war Amerikaner englischer Abstammung und sollte der Leitstern für eine ganze Generation von französischen Schriftstellern, den Symbolisten, werden. In Amerika war dem Poeten zu Lebzeiten und auch in den ersten Jahrzehnten nach seinem Tod kein großer Erfolg vergönnt. Erst nach seinem Tod lernte Charles Baudelaire ihn kennen und lieben. Er übersetzte sein Werk ins Französische und leitete damit eine Poe-Rezeption ein, die sich von Frankreich aus über den Mittler des ­Symbolismus bis nach Deutschland erstreckte. Die Vertreter des Fin de Siècle, allen voran Stefan George, erkannten in ihm einen geistigen Vorreiter.

Doch die nächste Schriftstellergeneration hatte ihn bereits in ihrer Jugendzeit gelesen, und sie rezipierte ihn auf eine andere Art und Weise. Es ist diese Generation von Autoren, deren Werk eng mit dem des Amerikaners Edgar Allan Poe verwandt ist, die ihm viele Einflüsse verdankt, und die sich auch nicht scheuten, dies öffentlich zu bekunden.

Den fatalen historischen Jahren von 1933 bis 1945 ist der Zustand zuzuschreiben, daß nahezu alle Autoren des untersuchten Zeitraums der Vergessenheit anheimgefallen sind. Entweder wurden ihre Schriften durch die National­sozialisten verbannt und niemals wieder aufgelegt, oder die Autoren hatten sich an die neuen Macht­haber angebiedert und wurden so den Vertretern der Nachkriegs­literatur verdächtig, was ebenfalls zur Folge hatte, daß sie nicht mehr gedruckt wurden. Zugegebenermaßen ist nicht alles Gold, was in den ersten dreißig Jahren des Jahrhunderts publiziert wurde. Manches mutet doch sehr „völkisch“ an und kann die Patina des „Deutschtums“ nicht verleugnen. Andererseits wurden dem Leser nach 1945 Autoren vorenthalten, welche die deutsche Phantastik um einige interessante Nuancen bereichert haben. Seien es nun kleine oder große Veränderungen, die sie geleistet haben, mögen auch die Qualitäten unterschiedlich sein, wichtig ist die Feststellung: Eine polychrome Auffächerung der phantastischen Werke deutet auf eine lebendige und überaus bunte ­Literaturszene hin. Die Vielfalt der deutschen phantastischen Literatur unseres Jahrhunderts kann nur gezeigt werden, wenn man seinen Blick auch auf das erste Viertel des 20. Jahrhunderts lenkt, als sich eine zweite Blüte der Phantastik in Deutschland ankündigte, von deren Beliebtheit die großen Auflagenzahlen ihrer einzelnen Vertreter Zeugnis geben können. Die Autoren Hanns Heinz Ewers, Karl Hans Strobl und ­Alexander Moritz Frey repräsentieren einen willkürlichen, synchronen Querschnitt durch die Menge an Schriftstellern des untersuchten Zeitraums, deren Werk durch zahlreiche Einflüsse den Erzählungen und theoretischen Schriften von Edgar Allan Poe verpflichtet ist.

Es soll in dieser Arbeit untersucht werden, wie die einzelnen Autoren Edgar Allan Poe rezipierten, und wie dessen Einfluß auf ihre eigene Art zu schreiben in ihren jeweiligen Werken nachgewiesen werden kann. Andererseits sollen auch die Differenzen und Besonderheiten der einzelnen Autoren betont werden, in denen sie sich vom Werk Edgar Allan Poes abheben. Dabei muß dem Umstand Rechnung getragen werden, daß sich Edgar Allan Poe sowohl als Autor von Erzählungen, wie auch von theoretischen Schriften, die sich mit dem Verfassen von Literatur auseinandersetzen, hervorgetan hat. ­Deshalb muß das Analyseinstrument der vorliegenden Arbeit beide Bereiche in den Werken der zu untersuchenden Autoren erfassen und durchdringen. Das Raster, das diese Ausarbeitung erst ermöglicht, soll deshalb eine Untersuchung der Motivkomplexe sein, die mit einer gesonderten Analyse von Sprache und Komposition der jeweiligen Autoren gekoppelt wird, wobei beides im Vergleich zu Poe stehen muß, um Parallelen und Kontraste abbilden zu können.

Dabei beschränkt sich die Textauswahl auf Erzählungen, in denen entweder der Einfluß Poes oder die Differenzen zu ihm besonders deutlich herausgearbeitet werden kann.

Die Erzählungen Poes werden im fortlaufenden Text nach der Virginia Edition zitiert und tauchen in den Fußnoten dementsprechend unter dem Kürzel „VaEd“ mit nachfolgender Bandzählung und Seitenzahl auf.

Die Quellenbände der untersuchten Autoren, aus denen die einzelnen Erzählungen entnommen wurden, werden nur bei der ersten Nennung im Fußnotentext erwähnt. Gleiches gilt für die Sekundärliteratur.

2. Begriffsbestimmung „Phantastik“
2.1 Forschungsstand

Die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema „Phantastik“ hat in den letzten drei Jahrzehnten zu einer Fülle von Theorieansätzen geführt, wie denn nun der Begriff „Phantastik“ zu definieren sei.

Louis Vax legt seine Begriffsbestimmung im ersten Kapitel seines Buches „L’Art et la litterature fantastiques“ folgendermaßen dar:

Die phantastische Erzählung liebt es dagegen, uns Menschen, wie wir es sind, vor Augen zu führen, die sich in unserer Alltagswelt bewegen und auf einmal mit dem Unerklärlichen konfrontiert werden. Während das Märchenhafte eine Welt aufbaut, die sich außerhalb der Wirklichkeit befindet und in der das Unmögliche, der Skandal, also nicht existieren kann, findet das Phantastische gerade seinen Ursprung in den Konflikten zwischen dem Realen und dem Möglichen.

Vax pendelt an dieser Stelle zwischen drei Begriffen „das Unmögliche“, „der Skandal“ und „das Mögliche“, was seiner Theorie zu keiner klaren Linie verhilft und seine These verwischt. Trotzdem wurde sie zur Grundlage weiterer Definitionsversuche.

Roger Caillois greift die These auf und formuliert seine Behauptung wesentlich klarer:

Das Phantastische dagegen offenbart ein Ärgernis, einen Riß, einen befremdenden, fast unerträglichen Einbruch in die wirkliche Welt.

Und weiterhin sei das Phantastische „[...] das Unmögliche, das unerwartet in einer Welt auftaucht, aus der das Unmögliche per definitionem verbannt worden ist.“ ­Caillois sieht das Phantastische in unmittelbarer Nähe zum Märchen, wenn er sagt:

Es ist notwendig, die Eigenheiten des Phantastischen aus einer Konfrontation mit denen des Märchens zu bestimmen.

Hans Richard Brittnacher greift diese These an, indem er die Nähe des Phantastischen zum Märchen negiert und an dessen Stelle die Sage setzt:

[...] das Beängstigende und Entsetzliche der Phantastik hat eher in der Sage seinen Platz.[...] Das Märchen hat als stoffliche Quelle für die Phantastik nicht einmal sekundäre Bedeutung [...] Auch in formanalytischer Hinsicht sowie im Hinblick auf Erzählebene, Wahrheitsanspruch, Handlungsverlauf, im Ausgang des Geschehens, in der Zeichnung des Protagonisten und der Atmosphäre ist die phantastische Literatur eher der Sage als dem Märchen verwandt.

Dem ist zuzustimmen, denn Brittnacher weist zurecht auf Besonderheiten hin, die für die phantastische Literatur evident und mit den Ausdrucksformen der Sage weitgehend deckungsgleich sind.

Die weiteren Schlußfolgerungen Caillois’ sind ebenfalls kritisch zu beleuchten, wenn er behauptet:

[...] daß die Phantastik das Märchen abgelöst hat und die Science Fiction allmählich die Phantastik in der Art des letzten Jahrhunderts ablöst.

Für diese These ist von Caillois kein empirischer Beweis vorgelegt worden und erweist sich daher als Spekulation. Ein Blick in die Bestsellerlisten oder Verlagskataloge ist Gegenbeweis genug. Offensichtlich ist das Interesse an der Phantastik, auch von seiten der Autoren, ungebrochen. Die obige Feststellung widerlegt auch die Behauptung Todorovs, der als Schlußfolgerung seiner Ausführungen über die Psychoanalyse festschreiben will:

[...] die Psychoanalyse hat die phantastische Literatur ersetzt und damit überflüssig gemacht. Man hat es heutzutage nicht mehr nötig, auf den Teufel zurückzugreifen, um über eine exzessive sexuelle Begierde sprechen zu können.

Stanislav Lem hat in seiner teilweise überspitzten Gegendarstellung zu Todorov folgendermaßen erwidert:

[...] ad extremum geführt, bedeutet Todorovs These, daß das Phantastische eigentlich von der Zensur erschaffen wurde, denn es stellt ein Umgehungsmanöver ihrer Schranken dar.

Anhand von de Sades „Juliette“ zeigt Lern die Koexistenz von Phantastischem und Obszönem auf, was ja nach der Todorovschen Definition undenkbar wäre. Die weitere Forschung kommt in einem Punkt zu einer Übereinkunft, so z.B. wenn Tzvetan Todorov im zweiten Kapitel seiner Monographie „Einführung in die fantastische Literatur“die Definition des Fantastischen vornimmt:

In einer Welt, die durchaus die unsere ist, die, die wir kennen, eine Welt ohne Teufel, Sylphiden oder Vampire, geschieht ein Ereignis, das sich aus den Gesetzen eben dieser vertrauten Welt nicht erklären läßt.

Ähnlich liest sich die These Georges Jacquemins’, wenn er das Phantastische als den Ort klassifiziert, „[...] an dem sich Ereignisse vollziehen, die von der Ratio nicht analysiert werden können [...]“.

Dieter Penning faßt diesen Konsens folgendermaßen zusammen und ordnet so die verschiedenen Auffassungen unter eine Definition von Phantastik ein:

Die Zentralthese lautet bei den meisten [...], daß das Phantastische der Konflikt zweier vom Standpunkt der Rationalität aus unvereinbarer Ordnungen bzw. Logiken ist, nämlich einer empirischen und einer spirituellen [...]

Über die Art jedoch, wie sich das Phantastische manifestiert, gehen die Meinungen auseinander. War es bei Caillois noch ein „Riß“, so vollzieht sich die Manifestation bei Dieter Penzoldt „[...] Schritt für Schritt [...]“. Das Phantastische ist für Penzoldt eine Klimax, wobei „[...] der Autor ihn [den Leser, MK] aus seiner Alltagswelt in das Gebiet der reinen Phantasie [...]“führt. In ähnlicher Weise äußert sich Thomas Owen in einem Interview:

Beim Phantastischen gibt es eine Korrosion des Alltäglichen. Nicht so sehr der Riß ist phantastisch, sondern vielmehr dieses allmähliche Zerfallen, diese Korrumpierung, die sich langsam ausbreitet [...]

Der Grundkonsens der Forschung über zwei divergierende Darstellungsebenen bleibt jedoch bestehen. Als weiteres Konstituens der phantastischen Literatur legt Todorov die „Unschlüssigkeit“ fest:

Das Fantastische ist die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat.

Die Unschlüssigkeit wird noch genauer definiert, wenn Todorov weiter ausführt:

Zuerst einmal muß der Text den Leser zwingen, die Welt der handelnden Personen wie eine Welt lebender Personen zu betrachten, und ihn unschlüssig werden lassen angesichts der Frage, ob die evozierten Ereignisse einer natürlichen oder übernatürlichen Erklärung bedürfen. Des weiteren kann diese Unschlüssigkeit dann gleichfalls von einer handelnden Person empfunden werden; so wird die Rolle des Lesers sozusagen einer handelnden Person anvertraut und zur gleichen Zeit findet die Unschlüssigkeit ihre Darstellung, sie wird zu einem der Themen des Werks; im Falle einer naiven Lektüre identifiziert sich der reale Leser mit der handelnden Person.

Weiter legt Todorov die Unschlüssigkeit als Funktion des Textes fest, die einem implizierten Leser zugeschrieben wird, der im Verlauf seiner Thesen jedoch immer mehr dem realen Leser ähnelt, bis er sogar Funktionen übernimmt, die nur ein realer Leser zu leisten imstande ist.

Todorov siedelt die Phantastik an der Grenze zweier Gattungen an, wenn er davon spricht, daß der Leser am Ende der Lektüre eine Entscheidung über die Ereignisse der Handlung zu fallen habe und sie dann in eine andere Kategorie überführe. Die Gattungen teilen sich nach ­Todorov wie folgt auf:

Wie aus der schematischen Darstellung erkenntlich wird, befindet sich die Phantastik nach Todorov als Grenzphänomen zweier Gattungen zwischen dem Fantastisch-Unheimlichen und dem Fantastisch-Wunderbaren. Die Phantastik als Gattung wird somit von Todorov gelöscht, sie erscheint als Grenzphänomen.

Die Todorovsche Bedingung der Ambiguität, respektive der Unschlüssigkeit, ist nach Meinung Cersowskys zu inflexibel gefaßt, wie er in seinen Bemerkungen zu Poe nachweist.Demnach gibt es Texte, denen eine „potenzierte Unbestimmtheit“ zu eigen ist, und die auch zur Gattung der phantastischen Literatur zu zählen sind.

Diese Behauptung weist einen richtigen Weg, der an dieser Stelle beschritten werden soll. In ähnlicher Weise spricht auch Andrzej Zgorzelski über die textimmanenten Bedingungen der phantastischen Literatur:

Jede in einem literarischen Werk geschaffene Welt bildet eine Art Realität. Die Gesetze, die eine solche Realität beherrschen, mögen mit denen der empirischen Realität ähnlich oder unähnlich sein, sie sind nie mit ihnen identisch.

Das Phantastische trete dann in Erscheinung, wenn „[...] die Gesetze der fiktiven Welt zerbrechen“ [Hervorhebung von A.Z.]. Dieser Ansatz hat den Vorteil, nicht mehr zwingend mit außerliterarischen Elementen arbeiten zu müssen und sich konkret am vorliegenden Text zu orientieren.

Doch die Ausklammerung der empirischen Realität führt zu der Problematik der Rezeptionsästhetik. Zgorzelski gesteht dem Erzähler, dem Protagonisten und auch dem Adressaten (Leser!) Reaktionen wie „[...] Erstaunen oder Entsetzen gegenüber der neuen Form der fiktiven Welt [...]“ zu, was zur Frage führt, woran der Adressat das Entsetzen festmachen soll, wenn nicht an dem Bruch der Gesetze der empirischen Welt, da er ansonsten nichts mit der literarischen Welt und ihren Bewohnern gemein hat.

Weiterhin wären alle Beglaubigungsmethoden, Verifizierungselemente und Erzählformen der Autoren sinn- und zwecklos, wenn sie sich nicht an einen realen Leser wenden würden, der von dem (möglichen) Wahrheitsgehalt des Dargestellten (zumindest für die Zeit der Lektüre) überzeugt werden soll. Diese beschriebenen Effekte führen zu rezeptionsästhetischen Überlegungen, um die Phantastik genauer zu umreißen.

2.2 Ansatz der Untersuchung

Die Grundlage dieser Arbeit ist ein Phantastikbegriff, der sich an die von Andrej Zgorzelski aufgestellte Theorie anschließt, sie aber um eine rezeptionsästhetische Komponente erweitern will. Diese Erweiterung wird dadurch notwendig, da den Texten stets eine Wirkungskomponente mitgegeben ist. Sei es die Evokation von Angst, eine Unsicherheit gegenüber dem genormten Wirklichkeitsbegriff, Zeitkritik in reaktionärer, konservativer oder progressiver Form oder Anderes. Die Phantastik ist stets Träger einer Funktion, mag sie versteckt sein, oder sich offen dem Leser zeigen. Durch diesen textimmanenten Vorsatz ist es nötig, die Welt, in der das fiktive Geschehen spielt, nicht auf irgendeine beliebige Art und Weise zu gestalten, sondern sich so weit als möglich an die reale Wirklichkeitssicht des Lesers heranzutasten, um mit dem Bruch der Gesetze der fiktiven Welt zugleich ein Signal des Ordnungskonfliktes zu geben und die Störung der Gesetze entweder als das zu Korrigierende, oder als das Korrigierende auszuweisen.

Die Phantastik hat zweifellos auch einen Unterhaltungswert, ihre Funktion kann jedoch nicht pauschal auf diesen allein fixiert werden. Diese Behauptung wird am Beispiel Alexander Moritz Freys explizit herausgearbeitet werden können.

Die Annäherung der Phantastik an die empirische Wirklichkeit dient aber mehreren Zielen:

Die Phantastik muß, um ihren rezeptionsästhetischen Effekt zu erzielen, die Ungläubigkeit des modernen Rezipienten überwinden. Dadurch ist der Autor gezwungen, Beglaubigungsstrategien einzubauen, die den Leser einerseits zum Zustimmen bewegen sollen (real existierende Orte, historische Ereignisse, Namen, Daten, fingierter Manuskriptfund, der oralen Erzählsituation nachempfundene Erzählform - dadurch Schaffung einer intimen Atmosphäre, dadurch erhöhter Authentizitätscharakter des Erzählers, usw.), ihn andererseits empfänglich für die phantastische Begebenheit machen sollen.Durch die Schaffung einer Literaturwirklichkeit, die der empirischen Wirklichkeit so nahe wie möglich kommt, wird das Eintreten der phantastische Begebenheit durch den Leser drastischer empfunden, als es in einer literarischen Wirklichkeit der Fall wäre, die prinzipiell schon das Erscheinen von der empirischen Weitsicht diametral entgegengesetzten Phänomenen als Strukturelement beinhaltet. Rücknahmen des phantastischen Charakters durch natürliche Erklärungen, die für den Leser nicht überzeugend genug im Text verankert werden, bewirken eine Unschlüssigkeit im Todorovschen Sinne, wobei die Entscheidung des Lesers mitunter schon durch die obengenannten Strategien des Autors in eine bestimmte Richtung gelenkt worden sein kann.Die literarische Wirklichkeit muß sich auch deshalb möglichst dem empirisch vertrauten anlehnen, um die Botschaften als solche auch dechiffrierbar zu machen. In einer „Fantasy“ Welt wäre eine versteckte Botschaft zwar auch möglich, doch würde sie leichter „überlesen“ werden, da die geschilderte Welt nichts mit der bekannten gemein hat, oder die Botschaft müßte allgemeiner Natur sein, wie etwa „Humanität“, da durch die Fremdheit der Fantasy-Welt bedingt, die Angriffspunkte für eine Kritik an realen Gegebenheiten gering sind.

Die Phantastik beinhaltet vielfältige Möglichkeiten des künstlerischen Ausdrucks: Kritik (jeglicher Couleur), pure Unterhaltung, philosophische Experimente und Ähnliches mehr, wobei Mischformen an der Tagesordnung sind. An dieser Stelle ist anzumerken, daß nicht alle Werke der Phantastischen Literatur eine Unschlüssigkeit im Todorovschen Sinn erzeugen (vgl. die potenzierte Unschlüssigkeit bei Edgar Allan Poe etwa, oder die eindeutig mystischen Werke Gustav Meyrinks, die von einer Grundhaltung des Autors Zeugnis geben). Die Unschlüssigkeit ist also kein zwingendes Konstituens der Phantastik. Sie ist eines unter mehreren gleichrangigen Merkmalen der phantastischen Literatur.

Die zweite Wirklichkeit, die ein phantastischer Text evoziert, kann sich in der Darstellung von Traum, Rausch oder Wahnzuständen manifestieren, muß also nicht in einem transzendentalen Sinne „übersinnlich“ sein. Andererseits ist auch dieses möglich, wie verschiedene Autoren des untersuchten Zeitraumes beweisen.

Darüber hinaus soll betont werden, daß eine Einordnung der Texte in einen sozialhistorischen Kontext sinnvoll erscheint, da die Phantastik durch die Jahrhunderte ihrer Geschichte jeweils in modifizierter Form auftritt, ihre Stoffe und ihre Behandlung durchaus variieren. Eine Aufstellung von puren Motivkatalogen, die ohne eine Berücksichtigung von Kontexten auskommen, ist deshalb wenig sinnvoll, wie auch Vax betont:

Nicht das Motiv ist das Wichtigste, sondern die Art, in der es gebraucht wird.

Diese Arbeit will auch die Evokation von Angst als rezeptionsästhetischen Effekt der Phantastik nicht leugnen. Das Hervorrufen von Angst beim Rezipienten ist ein Wesensmerkmal der Phantastik. Todorov bemerkt dazu:

Die Angst ist zwar oft mit dem Fantastischen verbunden, nicht aber eine seiner notwendigen Bedingungen.

Dem ist zuzustimmen, doch keinesfalls darf daraus die Schlußfolgerung gezogen werden, daß die Erzeugung von Angst als rezeptionsästhetisches Element der Phantastik kein Bestandteil hinsichtlich einer literaturtheoretischen Überlegung sein darf. Todorov übersieht bei seiner Aussage, daß die Phantastik nicht von der Nervenstärke des Lesers abhängig gemacht werden dürfe, daß seine eigene Unschlüssigkeitsthese ebenfalls von einer ­Fähigkeit des realen Lesers abhängt, wie Lem anmerkt. Eine Fähigkeit des Lesers kann es aber auch sein, sich auf die Regeln der Phantastik einzulassen. Die Angst ist jedoch nicht nur beim Leser zu suchen, sondern kann auch beim Protagonisten der Erzählung auftreten. Dieser ist die Identifikationsfigur des Rezipienten, von dem ein nahezu naives Lesen gefordert wird, um die phantastische Literatur in vollem Maße genießen zu können. Die Angst des Protagonisten soll sich im idealen Fall auf den Leser übertragen.

Die Ausführungen Gero von Wilperts über die literarische Angst sind nicht nur für die Behandlung der Gespenstergeschichte fruchtbar, sondern auch für die Auseinandersetzung mit der phantastischen Literatur:

Auch die artifizielle literarische oder historische Angst, die künstlich und stellvertretend für das Urerlebnis eintreten kann, ist bei aller Einfühlung in die literarischen Figuren eine sekundäre Reaktion, Surrogat, Armsessel-Angst und sich ihrer Künstlichkeit bewußt. [...]

Sie wird erst dann zur selbstbezogenen, primären Angst, wenn man daraus den Schluß zieht, daß Ähnliches auch an anderen Orten und zu anderen Zeiten anderen Personen oder gar einem selbst zustoßen könnte, und die Wirkung solcher Ereignisse auf die eigene Psyche antizipiert.

Angst sei demnach vor allem das Resultat aus der Überlegung, „[...] daß es vielleicht noch mehr Wirklichkeiten geben könnte als unsere.“ Doch das ist nur eine von vielen Ängsten, die durch Phantastik evoziert werden können. Die Beschäftigung mit der personalen Bewußtseinsintegrität ist eine andere. Dieser Angst ist vor allem der amerikanische Schriftsteller Edgar Allan Poe verpflichtet, der zum literarischen Vorbild für einige wichtige Vertreter des zu behandelnden Zeitraums wurde: Hanns Heinz Ewers, Karl Hans Strobl und Alexander Moritz Frey.

Die vorliegende Arbeit versucht, anhand von Gegenüberstellungen einzelner Texte der deutschen Phantastik-­Autoren mit ausgewählten Erzählungen und theoretischen Texten Edgar Allan Poes, Nahtstellen aufzuzeigen, an denen die jeweilige personale Rezeption Poes bei den Autoren nachweisbar wird.

Dabei wird weder ein Anspruch auf den Nachweis von Epigonentum erhoben, noch soll eine philologisch-literarische Wertung der Texte und Autoren gegeben werden.

Es kann nicht Aufgabe einer Rezeptionsuntersuchung sein, Qualitätsmaßstäbe aus der kanonisierten Literatur zu übernehmen, oder neu zu entwickeln, im Gegenteil. Eine wertfreie Untersuchung steht nicht unter dem Druck, qualitätskritisch vorgehen zu müssen und dies anhand von Musterbeispielen zu belegen, sondern kann sich voll und ganz auf die Beobachtung des gewählten Gegenstandes konzentrieren. Sie führt deshalb zu ­Detailerkenntnissen, die im anderen Fall nicht in der gewünschten Tiefe zu erzielen wären.

3. Die deutsche ­Phantastik und ihre ­Poe-Rezeption

„Das Grauen als sadistisches Spiel“

3.1 HANNS HEINZ EWERS (1871 - 1943)

3.1.1 Das Poe-Essay Hanns Heinz Ewers’

Hanns Heinz Ewers hat in seinem Poe Essay seine persönliche Interpretation der Bedeutung Poes für die Literatur gegeben, die wiederum auf seine eigenen Werke vorausweist.

Wie im Folgenden erkenntlich werden soll, ist die Poe-Rezeption von Hanns Heinz Ewers vorwiegend empathischer und emotionaler Natur, was seine Perspektive in entscheidender Weise beeinflußt hat.

Der Text, entstanden 1905 in Granada, wird durch eine Widmung an Gustav Meyrink eingeleitet, der ein Zitat von Poes „Eureka“ zugrundeliegt, wie Cersowsky herausgestellt hat:

Gustav Meyrink, dem Rauschkünstler, dem Träumer, der an Träume glaubt als an das einzig Wirkliche - wie es Poe tat, wie es der tut, der dies schrieb...

Im Vergleich dazu Poe:

[...] - to the dreamers and those who put faith in dreams as in the only realities [...]

Dem folgt eine Passage, die Ewers in dichterischer Beschreibung seines Alhambra-Aufenthaltes zeigt, gefolgt von der einleitenden Überlegung, in welcher er den Leser vor einer kritiklosen Übernahme von Rezensentenmeinungen über „[...] den Künstler, den man liebt“ warnt. Der Leser solle zunächst alle Werke der Rezensenten gelesen haben, bevor er sich mit deren kritischen Texten über den Autoren auseinandersetzt:

Lies es nicht eher, [...], bis du weißt: sie [die ­Kritiker, MK] haben ein Recht, über deinen Künstler zu ­sprechen.

Genau genommen warnt Ewers hier also auch vor seiner Beurteilung und regt gleichzeitig dazu an, seine eigenen Werke zu lesen.

Als nächstes greift Ewers in seinem Essay die verschiedenen Quellen der Kritik an. Zunächst erwähnt er Rufus Wilmot Griswold, Poes literarischer Nachlaßverwalter, der erwiesenermaßen nichts unversucht ließ, Edgar Allan Poe posthum zu verleumden.In Ewers Worten:

Diesen gräßlichen Griswold muß ich vergessen, dessen ganze Poebiographie nichts anderes ist, als ein giftiges Ausspucken: „Er soff, er soff, pfui doch, er soff!“

Die Verleumdungskampagne, von Lennig ein „[...] Rachewerk eines haßerfüllten Literaten [...]“ genannt, erreichte seine Wirkung nicht allein aufgrund der Griswoldschen Bemühungen, sondern auch aufgrund der Tatsache, daß der durch die Nordstaaten gewonnene Bürgerkrieg die puritanischen Ressentiments gegenüber dem Südstaatler Poe erstarken ließ. Dazu meint Lennig:

Denn Poe, jener erklärte Mann des Südens, gehörte mit einer absurden Folgerichtigkeit zu den bestraften Verlierern, er war fortan auch eine exemplarische Personifizierung all dessen, was man am Süden verdammt und verabscheut und worüber man mit Gottes Hilfe gesiegt hatte - nicht etwa, weil man nur anders, sondern weil man einfach besser war.

Doch Ewers reflektiert nicht so tief. Er ist aber nicht nur gegen Griswold wegen dessen Worte aufgebracht, auch John Henry Ingram entfacht seinen Ärger. John Henry Ingram hatte 1880 eine Poe-Biographie herausgebracht, die das durch Griswold verzerrte Bild Poes in ein rechtes Licht zu rücken bemüht war. Ingrams Biographie wird bei Ewers zu einem philisterhaften Ehrenrettungsversuch stilisiert, der ihm noch furchtbarer anmutet, als die Griswoldsche Verleumdungsstrategie.

Nach einer Kurzbiographie Edgar Allan Poes und einem Abschnitt aus der Realität Alhambras, in der die Biographen Griswold und Ingram vor Ewers phantomhaft auftreten (das Poe-Essay - ein phantastischer Text?) geht Hanns Heinz Ewers mit den Engländern ins Gericht und beteuert:

Ich bin doch froh, daß ich ein Deutscher bin! Deutschlands große Männer durften - - unsittlich sein. Unsittlich - das heißt: nicht eben genau so sittlich, wie die guten Bürger und die Pfaffen.

Anschließend wird Ewers genauer und nennt den Grund für seine Poe-Bewunderung:

Wir aber, die wir nicht den geringsten Anspruch auf bürgerliche und pfäffische Sittenreinheit machen, wir lieben ihn, wenn er auch trank. Ja noch mehr, wir lieben ihn, weil er trank, denn wir wissen, daß eben aus diesem Gifte, das seinen Leib zerstörte, reinste Blüten entsproßten, deren Kunstwerte unvergänglich sind.

Diese Äußerung verdient Beachtung, zeigt sie doch einen bemerkenswerten Zug, der die Poe-Rezeption Ewers mit der Baudelaires verbindet: Poes Werke werden vorwiegend als Rauschkunst deklariert. Baudelaire schreibt in einem Vorwort zu Poes Werken:

Ich glaube, daß in vielen Fällen - gewiß nicht allen - die Bezechtheit Poes ein mnemonisches Mittel war, eine Arbeitsmethode, eine energische und tödliche Methode, die aber seiner leidenschaftlichen Natur entsprach. Der Dichter hatte das Trinken gelernt [...]

Ewers geht noch detaillierter auf den rauschhaften Arbeitsvorgang Poes ein, wobei er zusätzlich E.T.A. Hoffmann und Charles Baudelaire zu den Rauschkünstlern rechnet:

Es wird einmal eine Zeit kommen, wo man mitleidig lächeln wird über die breiten Landstraßen unserer rauschlosen Kunst, die nur spärlich hier und da durch des Alkohols trübe Laternen erhellt werden. Eine Zeit, für die die Begriffe Rausch und Kunst ein untrennbares Ganzes sind, die nur innerhalb der großen Rauschkunst Unterschiede kennt.

Dann erst wird man den Pfadfindern die hohe Stelle geben, die ihnen gebührt, den Hoffmann, Baudelaire, Poe - den Künstlern, die zuerst bewußt mit dem Rausche arbeiteten.

Baudelaire