Lovecrafts Schriften des Grauens 17: Cthulhu Libria Neo -  - E-Book

Lovecrafts Schriften des Grauens 17: Cthulhu Libria Neo E-Book

0,0

Beschreibung

Die zweite Ausgabe des CTHULHU LIBRIA NEO-Magazins legt den Schwerpunkt auf Horror in Eisenbahnen. Mit Kurzgeschichten von Silke Brandt, Markus Müller, Marius von der Forst, Ina Elbracht, Christopher Müller u. a. Zahlreiche weitere Beiträge und Illustrationen machen das CLN zu einem einzigartigen Magazin der Weird Fiction.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 308

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jörg Kleudgen (Hrsg.)CTHULHU LIBRIA NEO 2

In dieser Reihe bisher erschienen:

2101 William Meikle Das Amulett

2102 Roman Sander (Hrsg.) Götter des Grauens

2103 Andreas Ackermann Das Mysterium dunkler Träume

2104 Jörg Kleudgen & Uwe Vöhl Stolzenstein

2105 Andreas Zwengel Kinder des Yig

2106 W. H. Pugmire Der dunkle Fremde

2107 Tobias Reckermann Gotheim an der Ur

2108 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Xulhu

2109 Rainer Zuch Planet des dunklen Horizonts

2110 K. R. Sanders & Jörg Kleudgen Die Klinge von Umao Mo

2111 Arthur Gordon Wolf Mr. Munchkin

2112 Arthur Gordon Wolf Red Meadows

2113 Tobias Reckermann Rückkehr nach Gotheim

2114 Erik R. Andara Hinaus durch die zweite Tür

2115 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo

2116 Adam Hülseweh Das Vexyr von Vettseiffen

2117 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 2

2118 Alfred Wallon Salzburger Albträume

Jörg Kleudgen (Hrsg.)

Cthulhu Libria Neo 2

Diese Reihe erscheint als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2021 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg Kleudgen & Eric HantschTexte: Jörg Kleudgen, Uwe Voehl, Rainer Zuch, Thomas Ulbrich, Torsten Scheib, Silke Brandt, Markus Müller, Christopher Müller, Ina Elbracht, Amelia B. Edwards, Andreas Giesbert, Tobias Reckermann, Marius von der Forst, Elmar Huber, E. L. Brecht, Ross Sanders, Michael Kaiser, Eric HantschÜbersetzungen: Uwe Sommerlad (Amelia B. Edwards: Der Ingenieur)Illustrationen: Jörg Kleudgen (Titelgrafik, In den Fängen der Großen Alten, Das Richmond Haus, Die Großen Alten würfeln nicht, Horror in Eisenbahnen-Artikelgrafik, Javar), David Staege (Der Sound der Großen Alten II), Dagmar Kintzel (Höllenzug), Christopher Müller (Phantastische Ermittler, Vignetten)Fotografien: Dirk Bützer (Nur ein Weg führt zur Totenkirche …)Umschlaggestaltung: Mario HeyerSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-927-0Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Inhaltsverzeichnis
Editorial
Nachtrag
Der Sound der Grossen Alten II
Der vergessene Bücherschrank
Dunkle Gesellschaft, Roman in zehn Regennaechten
Horror in Eisenbahnen
Bahnhoefe, Züge, und wie ich die phantastische Literatur entdeckte
Das Eisenbahnunglück von Staplehurst
Zweiglinie 5 – Der Ingenieur
Die wahren Hintergründe des Unglücks am Gare Montparnasse
Das Licht am Ende des Tunnels ist ein Zug – Stefan Grabinskis „Daemon der Bewegung“
Stile, Motive und Themen
Ein kurzer Blick in die Rezeptionsgeschichte
Die 14 Erzaehlungen des „Demon ruchu“
Im Scheinwerferlicht: Herausgeber und Übersetzer
Der dunkle Punkt am Horizont
In Stefan’s House: A Weird Fiction Tribute to Stefan Grabinski
Interview mit dem Herausgeber und Verleger Jordan Krall
Von Geisterzuegen und Hoellenexpressen
Höllenzug
Bahnhöfe als Orte von Sehnsucht und Hoffnung
Die Großen Alten würfeln nicht
Bahnhöfe als Orte des Grauens
The Phantom of the Rail
Songs über Züge
Freiheit
Abschied
Tod
Aus dem Zentrum des Universums
Phantastische Ermittler
Algernon Blackwoods John Silence
Untote Klassiker
100 Wörter Horror
Wolfgang Altendorf
„Das Geheimnis des siebten Weges“ von Tonke Dragt
Doktor Mazarro
Arndt Ellmer: In den Fängen der Großen Alten
Rezensionen
Tobias Bachmann: Schauer der Vorwelt
H.P. Lovecraft / Francois Baranger: Cthulhus Ruf
Michael Perkampus: Mummenschanz in grossen Hallen, dunkelviolette Geschichten
Hubert Lampo: Die Ankunft des Joachim Stiller
Genius Loci: Nur ein Weg führt zur Totenkirche ...
Janvar
Fußnote

Editorial

Die Eisenbahn … alleine der Begriff ist Poesie. Einst Symbol des Fortschritts, war sie gleichzeitig ein Dämon der Technik, einem Rauch speienden Drachen gleich. Kein Wunder, dass die Kolosse aus Tonnen von Eisen eine nahezu unwiderstehliche Faszination ausübten, gegen die auch Literaten nicht gefeit waren. Wir haben uns in unserem Schwerpunktartikel von verschiedenen Seiten an das Thema angenähert und freuen uns, nicht nur Gedanken über die dunkle Phantastik im Zusammenspiel mit Eisenbahnen und Bahnhöfen, sondern auch exklusive Erzählungen aus diesem Kontext präsentieren zu können.

Wer das CTHULHU LIBRIA NEO-Magazin kennt, weiß, dass es neben dem Heftschwerpunkt eine Reihe nicht minder spannender und informativer Beiträge bietet. So beginnen wir mit dieser Ausgabe die neue Serie „Phantastische Ermittler“, in der sich Elmar Huber zu Beginn mit Algernon Blackwoods Detektivfigur John Silence befasst. In den Rezensionen und Interviews gibt es phantastische Literatur zu entdecken, die meist nicht den Weg auf Bestsellerlisten und in Buchgeschäfte findet, aber ­nichtdestotrotz der Entdeckung wert ist.

Den Anfang dieser Ausgabe von CTHULHU LIBRIA NEO macht Rainer Zuch mit einer umfassenden Betrachtung der Frage, welchen Einfluss H. P. Lovecrafts Werk auf die Musik, inbesondere den Metal, hatte.

Jörg Kleudgen, Februar 2021

Nachtrag

Es ist ein seltsamer, leider von wenig guten Umständen getragener Zufall, dass ich nunmehr diese Zeilen schreibe. Noch einmal bei der Redaktion einer Ausgabe CTHULHU LIBRIA NEO dabei zu sein, hätte ich mir seit der Übergabe an Jörg Kleudgen irgendwie nicht mehr vorstellen können.

Auf der anderen Seite scheint mir der Schwerpunkt des aktuellen Heftes, das seit dem Umzug zum BLITZ-­Verlag ja eigentlich nun ein stattliches Buch ist, fast wie ein Omen: Man fährt mit dem Zug des Lebens, steigt nicht selten einmal um, doch kommt auch nicht weniger selten zurück in einen Bahnhof eingefahren, in dem man lange verweilt hat.

Als ich das CLN 2017, bedingt durch meine Krankheit, an Jörg weitergereicht habe, waren für mich viele Dinge ungewiss. Ich befand mich in einem Geisterzug, aus dem ich zwar letztlich wieder entkommen konnte, jedoch ­allzeit darauf achten muss, einen solchen nicht wieder zu besteigen.

Das Magazin hat viele Inkarnationen durchgemacht. Von einer einfachen Mailingliste (ab 2008) mit dem Namen CTHULHU LIBRIA zum E-Magazin und später zu CTHULHU LIBRIA ÄON. Die letzte, endgültige Metamorphose erlebte es dann 2015 zum CTHULHU LIBRIA NEO, das schließlich unter Jörgs Herausgabe seit 2020 im Oktober beim BLITZ-Verlag ein neues Zuhause gefunden hat. Und nun fuhr der Zeug des Lebens kurz­zeitig auf ein totes Gleis, denn Jörg wurde – wir schreiben den Februar 2021 – von einem Hochwasser betroffen, das seine Familie und Heim in Büdigen empfindlich traf.

Unter diesen Umständen war es mir ein Bedürfnis, CTHULHU LIBRIA NEO – Horror in Eisenbahnen zu Ende zu führen, um Jörg in dieser schweren Zeit beizustehen, so gut es mir möglich war.

Auf diese Weise und ohne es anfangs zu bemerken, hat sich für mich nunmehr ein Kreis geschlossen, und ich kann aufs Neue den Zug des Lebens besteigen, ohne vorhersagen zu können, wohin die Fahrt diesmal geht.

So bleibt mir nur noch, dem geneigten Leser gute Unterhaltung bei dieser Ausgabe des CTHULHU LIBRIA NEO zu wünschen!

Eric Hantsch, Februar 2021

Cthulhu found?

Der Sound der Grossen Alten II

Lovecraftianischer Metal

von Rainer Zuch

Lovecrafts Einfluss auf die zeitgenössische Musik ist ein ziemlich spezifischer. In den meisten Genres der Pop- und Rockmusik kommt er entweder gar nicht oder nur an obskuren Rändern vor. In gewissen Gebieten ist er dafür ausgesprochen stark vertreten. Es sind solche, die eine Affinität zur Nachtseite der Phantasie, vor allem zum Horror mitbringen. Daneben fällt ihre Neigung zu musikalischen Extremen auf. Dies manifestiert sich sowohl inhaltlich wie auch im Umgang mit Harmonien und der Struktur der Musikstücke. In der letzten Ausgabe lenkte Kevin Rössler die Aufmerksamkeit auf die verdienstvolle, Lovecraftschen Gottheiten gewidmete Samplerreihe des Dark Ambient-Labels Cryo Chamber, in der Musiker mittels elektronischer Klangflächen, Rhythmen und Field Recordings düstere Klangteppiche weben, die traditionelle Song- und Satzstrukturen völlig ignorieren und einen eintauchen lassen in eine andere Welt. Nun könnte man sagen, dass die Bezüge zu den Großen Alten in den Samplern nur über die Titel hergestellt werden. Die Musik schafft eine düstere Stimmung und Atmosphäre, verweigert aber aufgrund ihrer Abstraktheit jede konkrete inhaltliche Aussage. Ist der Bezug also vielleicht willkürlich?

Sicher nicht. Es handelt sich ja um etwas, was man „assoziative Programmmusik“ nennen könnte: Die jeweiligen Großen Alten waren das Oberthema, zu denen die einzelnen Musiker etwas ihrer Auffassung nach Passend-­Charakteristisches beitrugen. Warum funktioniert das? Ich denke, dass das an Lovecrafts Geschichten selbst liegt, denn sie bestehen nicht nur aus konkreten Inhalten, Dramaturgien, Protagonisten und Handlungsverläufen. Hinter ihnen steht eine durchaus vage, aber verbindende, philosophische Idee, als deren Ausdruck und partielle Formulierung die einzelnen Geschichten gelesen werden können. Damit meine ich weniger den „Cthulhu-Mythos“, den Lovecraft selbst niemals als ein abgeschlossenes, kohärentes Gebilde konzipiert hat, sondern seine Vorstellung vom Kosmos als einen unendlichen, leeren und menschenfeindlichen Raum, in dem der Mensch höchstens zufällig und als unbedeutende Ausnahme existiert. Lovecrafts Große Alte lassen sich auch als Metaphern einer Art Ur-Angst der Moderne lesen, die mit dem Verlust grundlegender Sicherheiten aufkam: das Verschwinden einer „göttlichen Weltordnung“, die Entdeckung der Unendlichkeit des Weltraums und die in den Naturwissenschaften und der Psychologie formulierte Erkenntnis, dass wir die Welt überhaupt nicht objektiv wahrnehmen können. Der Kosmos war leer, grausam und wahlweise blind-mechanistisch oder willkürlich-unvorhersagbar geworden. Auch diese Ängste sind sehr abstrakt. Es ist deshalb durchaus passend, wenn finsteren musikalischen Werken Namen aus der Lovecraftschen „Götter“-Welt gegeben werden.

Neben den elektronischen Welten des Dark Ambient bringen offenbar Hardrock und Metal die besten Voraussetzungen mit, um dem Einfluss des Meisters zu erliegen. Man kann die Bands kaum zählen, die nicht wenigstens gelegentlich Referenzen fallen lassen. Vor allem die verschiedenen Spielarten des extremen Metals haben eine Affinität zur Welt Lovecrafts entwickelt. Das Spektrum reicht von gelegentlichen Andeutungen bis hin zur vollständigen „Lovecraftisierung“ der Musik. Mal werden bestimmte Namen und Begriffe ohne weitere Zusammenhänge aufgegriffen, wie etwa Celtic Frost auf ihrem Debutalbum Morbid Tales (1984) die Namen „Azathoth“ und „Yog-Sothoth“ wohl lediglich als atmosphärische Details fallen lassen. Viele Bands widmen HPL das eine oder andere Stück, etwa Metallica mit ihrem Instrumental „The Call of Ktulu“ (auf Ride The Lightning, 1984) oder „The Thing That Should Not Be“ (auf Master of Puppets, 1986), Mercyful Fates „The Mad Arab“ (auf Time, 1994) oder das Instrumental „Die Ratten im Gemäuer“ der deutschen Black Metaller Nocte Obducta (auf Taverne – In Schatten schäbiger Spelunken, 2000), um nur einige zu nennen. Mekong Delta brachten mit The Music of Erich Zann 1987 ein Fast-Konzept-Album heraus, in dem die entsprechende Geschichte HPLs als Klammer dient. Einen recht guten Überblick gibt übrigens Gary Hill in seinem 2006 erschienenen Buch The Strange Sound of Cthulhu. Von H.P. Lovecraft inspirierte Musik (deutsch: Rudolstadt: Edition Roter Drache, 2011). Es ist zwar nicht besonders gut geschrieben und der Autor nervt mit metaphorisch völlig überladenen Songbeschreibungen, ist aber ein kenntnis- und detailreiches Kompendium mit einer Reichweite bis zum Beginn der 2000er Jahre.

Seit etwa 20 Jahren scheinen die Sterne für Lovecraft-Metal besonders günstig zu stehen. Um und nach 2000 tauchten eine ganze Reihe von neuen Bands auf, die sich mit HPL beschäftigen. Einige widmen sich ihm eher im Vorbeigehen, sie sind ein Indiz dafür, wie selbstverständlich sein Einfluss inzwischen genommen werden kann. Die deutschen Schwarzmetaller Dark Fortress sind hierfür ein Beispiel. Ihre Musik könnte man als eine Mischung aus Black und Progressive Metal bezeichnen; sie verbinden die Black Metal-typische kalte Wut und Aggressivität mit zunehmend komplexer werdenden Songstrukturen. In ihren Alben breiten sie einen vielschichtigen und gelegentlich literarisch fundierten Kosmos aus, der von Spiritismus über dämonologische und mythologische Themen bis zu einem metaphysisch-­kosmologischen Nihilismus reicht; auf dem Album Venereal Dawn (2014) orientieren sie sich außerdem an den Werken Stephen R. Donaldsons. Viel davon ist thematisch an Lovecraft anschlussfähig, konkrete Hinweise sind aber rar und treten nur versteckt auf. Immerhin: Bis 2005 nannte sich ihr Sänger Azathoth. „The Silver Gate“(auf Eidolon, 2007) könnte im Titel eine Anspielung auf „Der Silberschlüssel“ und „Durch die Tore des Silberschlüssels“ enthalten und erwähnt den Namen „Ny-Ar-Rut-Hotep“, in dem kaum verhüllt Nyarlathotep anklingt. Im Text von „Cohorror“ auf dem gleichen Album, in dem es um kosmische und jenseitige Schrecken geht, findet sich die Zeile „Dreaming and dead“. „Lloigor“ (auf Venereal Dawn) greift dann explizit auf Wesen aus dem Lovecraft-Kosmos zurück, die allerdings nicht von HPL selbst, sondern von August Derleth erfunden wurden, und schaffen mit der Zeile „a thousand young drip from the sky to feed“ eine neuartige Verbindung zu Shub-Niggurath. Lovecraft spielt bei Dark Fortress also eher eine Nebenrolle, sie sind aber ein gutes Beispiel für die Anschlussfähigkeit von HPLs Kosmos an die im Black Metal verbreitete pessimistische und nihilistische Weltanschauung, die schwarzromantische und satanistische Themen bis hin zu „anti-kosmischen“ Perspektiven umfasst.

In eine ähnliche inhaltliche Kerbe schlagen die Marburger Into Coffin in „Crawling in Chaos“ (auf The Majestic Supremacy of Cosmic Chaos, 2017). Ihre Musik mischt Death und Doom Metal, geht also in eine ganz andere Richtung: Finstere Growls, gebremste, langsame Rhythmik, ausufernde Stücke von durchweg über zehn Minuten Länge, die man nicht mehr als Songs bezeichnen kann. Das genannte Stück erwähnt keinen einzigen Großen Alten, jedoch ist die Bezeichnung „Crawling Chaos“ so eng mit Nyarlathotep verbunden, dass dieser sehr wohl anwesend gemacht wird. Die im Text ­hervorgerufenen apokalyptisch-kosmischen Visionen und das tentakeldurchzogene Artwork unterstreichen das nachdrücklich.

Andere Bands gehen wesentlich weiter. Sie nehmen Lovecraft als einen Schwerpunkt oder sogar als alleiniges Themenfeld in Anspruch. Den Anfang sollen The Vision Bleak machen, ein seit 2000 existierendes Bandprojekt von Markus Stock (alias Ulf Theodor Schwadorf) und Tobias Schönemann (Allen B. Konstanz), in dem sie sich der verschiedensten literarischen und cineastischen Quellen der schwarzen Romantik und Phantastik bedienen. Ihre von ihnen als „Horror-Metal“ bezeichnete Musik verbindet melodischen Metal mit symphonischen und Death-Metal-Elementen. Indem die Band auf eine ganze Reihe von Autoren zurückgreift – neben Lovecraft etwa Lord Byron und Poe –, aber auch Filme und verschiedene Sagen und Legenden verwendet, stellt sie einen größeren literarischen und erzählerischen Zusammenhang im Genre des Horrors her. Man könnte sagen, dass viele ihre Stücke ein musikalisches Äquivalent zur Struktur einer Kurzgeschichte darstellen, denn es handelt sich um klassische Songs mit traditioneller Dramaturgie im besten Sinne; weiter unten werden wir auf Musiker stoßen, die dies nicht mehr tun. Die literarischen Anspielungen fließen auch in die Gestaltung der Booklets und Digipaks ein, die wie alte, verbräunte Bücher, Alben oder Grimoires daherkommen. Lovecraft-Bezüge finden sich auf nahezu allen Platten. „Horror of Antarctica” (auf The Deathship Has a New Captain, 2003) widmet sich „­Bergen des Wahnsinns“, der Text ist ­allerdings so ­allgemein gehalten, dass die Credits ebenso an Poes „Arthur Gordon Pym“ gehen können. Das Nachfolge­album Carpathia (2005) ist das lovecraftianische Glanzstück der Band. Der Untertitel „A Dramatic Poem“ offenbart seinen Charakter als Konzeptalbum. Erzählt wird eine schwarzromantische Schauergeschichte, in der Motive aus Dracula mit dem „Cthulhu-Mythos“ verwoben werden. Die einzelnen Songs entsprechen dabei Kapiteln. Das Herzstück des 2007er-Albums The Wolves Go Hunt Their Prey ist „The Black Pharaoh Trilogy”, die sich um die Gestalt des schwarzen Pharaos Nephren-Ka dreht, die Lovecraft in „Der leuchtende Trapezoeder“ erwähnt. Auch der Song “Evil is of Old Date” verdient Erwähnung, weil er auf eine sehr allgemeine Weise mit HPL-Bezügen spielt. Set Sail to Mystery (2010) vertont laut Booklet „an eight parted journey through the realms of the supernatural and the dark corners which reside within the soul of each of us”. Das literarische Programm ist hier besonders augenfällig. Es geht von Lord Byron über Poe zu Lovecrafts „The Outsider” und von da aus zu dem Lovecraft-Zeitgenossen Clark Ashton Smith („Mother Nothingness“). Danach beginnen sich HPLs Spuren im Schaffen der Band zu verlieren; einzig „The Whine of the Cemetery Hound” auf ihrem bislang letzten Album The Unknown (2016) enthält Referenzen zu „Der Hund“.

Begeben wir uns nun in extremere Gefilde. Hier fallen zwei Dinge auf. Zum einen nimmt die Zahl der Musiker mit Lovecraft-Bezügen schlagartig zu, zum anderen lösen sich traditionelle Songstrukturen zunehmend auf. Nach meiner Überzeugung hängt das zusammen. Inhaltlich finden wir verschiedene Herangehensweisen: Mal stellen die Stücke bestimmte Figuren oder Orte aus dem Lovecraft-Universum in den Mittelpunkt, die dann auf eine atmosphärische Weise imaginiert oder auch eigenständig weiterentwickelt werden, mal sind es bestimmte Geschichten; es werden aber auch regelrechte rituelle Anrufungen inszeniert.

Die französischen Black-Metaller The Great Old Ones, gegründet 2009, tragen den Lovecraft-Bezug bereits im Namen und widmen sich ausschließlich seinem Werk. Ihre musikalische Ausrichtung lässt bereits Interessantes vermuten, denn das als atmosphärischer, Ambient oder einfallslos als Post Black Metal bezeichnete Subgenre (oder Sub-Sub-Genre) verbindet die klirrende Kälte und Raserei des traditionellen Black Metal mit atmosphärischen Klanglandschaften und der Neigung zu episch ausgreifenden Songlängen, die gelegentlich die Zehn-Minuten-­Marke überschreiten. Al Azif, das Debut-Album von 2012, nähert sich den Großen Alten von mehreren Seiten. „Al Azif“ und „Visions of R’lyeh“ greifen Figuren und Orte auf, während „Rue d’Auseil“ sich mit „Die Musik des Erich Zann“ eine konkrete Geschichte herausgreift. Demgegenüber thematisiert „The Truth“ die generelle Position eines sein Schicksal verfluchenden lovecraftianischen Forschers, der die entsetzliche Wahrheit gesehen hat und dem niemand glaubt. Ihr jüngstes Album, Cosmicism (2019), verschiebt diesen Fokus ein wenig und nimmt sich einzelne Große Alte vor: Yog-Sothoth, Shub-Niggurath, Azathoth und Nyarlathotep bekommen je eigene Stücke gewidmet; mit „Lost Carcosa“ holen TGOO einen bei Lovecraft nur selten genannten Ort an die Oberfläche.

Tekeli-Li (2014), das aus meiner Sicht beste Album der Band, ist ein Konzeptalbum zu „Berge des ­Wahnsinns“ und ist damit eine der ganz wenigen Alben überhaupt, die sich auf eine einzige Geschichte konzentrieren. (Als Vergleich könnte man die Funeral Doom-Band Ahab heran­ziehen, deren Alben sich an Seefahrer-­Horrorstories von Poe, William Hope Hodgson und am realen Vorbild für Melvilles Moby Dick orientieren.) Im Wechsel von atmosphärischen Ein- und Überleitungen und meist recht langen, ausufernden schwarzmetallischen Tracks, geschrienen und gesprochenen Passagen, entsteht ein vielteiliger und abwechslungsreicher Spannungsbogen. Die Texte bekommen durch das Black Metal-typische hohe Schreien zusammen mit den sich an kein Versmaß haltenden Texten – auch das ein im Black Metal häufig anzutreffendes Stil­mittel – eine wahnsinnige und deklamatorische Wirkung, als seien sie als Anrufungen der Großen Alten gedacht; gleichzeitig werden die Aufnahmen an vielen Stellen von einer tiefen Melancholie und Verlorenheit durchweht. Als wäre das nicht genug, wiederholt die Band ihre Vorgehensweise 2017 auf dem gleichen Niveau mit EOD: A Tale of Dark Legacy, das sich Schatten über Innsmouth widmet.

Ultar sind TGOO nicht unähnlich. Die 2016 in Rußland gegründete Band hat bislang zwei Studioalben veröffentlicht: Kadath (2016) und Pantheon MMXIX (2019). Ihr Post Black Metal ist vergleichbar dem von TGOO; auch er ist von einer starken Dynamik von Lautstärke und Geschwindigkeit und großer Intensität geprägt, erreicht aber nicht die Komplexität der Franzosen. Die meisten Stücke sind nach Großen Alten benannt, etwa „Father Dagon“, „Shub-Niggurath“ oder „Yog-Sothoth“. Die Texte, soweit zugänglich, scheinen sich aber eher um persönliche Gefühle der Verlorenheit, Trauer und Melancholie zu drehen.

Mit Sulphur Aeon wird das Genre gewechselt. Die Band spielt einen atmosphärisch dichten und wuchtigen Death Metal und hat bislang eine EP und drei Alben veröffentlicht. Die Gestaltung ist aufwendig. Alle Alben kommen in einem schwarzen, silberfarben bedrucktem Schuber, die Cover werden von phantastischen, monströsen und detailreichen Gemälden des schwedischen Künstlers Ola Larsson geschmückt, die Booklets sind mit anspielungsreichen Zeichnungen versehen und die Texte aufwendig und abwechslungsreich gesetzt: Hier hat sich jemand richtig Arbeit gemacht. Artwork und Musik verbinden sich zu finsteren Gesamtkunstwerken. Sulphur Aeon betonen stärker als die anderen genannten Bands die ritualistischen und kultistischen Aspekte: Die Texte gleichen oft Anrufungen der Großen Alten („Oh Yog ­Sothoth – Thou art the Gate / Oh Yog Sothoth – Unite once again with your Kin“, in „He is the Gate“, auf Gateway to the Antisphere, 2016) oder Beschwörungen furchtbarer Orte („Onwards… towards Kadath!“, ebd.). Auf ihrem ersten Album, Swallowed by the Ocean’s Tide (2012) konzentrieren sie sich auf den unterseeisch träumenden Cthulhu und stellen auch andere unheimliche Seelegenden in seinen Dienst. Die nächsten Alben, ­Gateway to the Antisphere (2014) und The Scythe of Cosmic Chaos (2018) weiten den Blick dann auf den gesamten Kontinent Lovecraft.

Kommen wir nun zu einem speziellen Fall. Die amerikanische Ein-Mann-Band Catacombs von John Del Russi aka Xathagorra Mlandroth spielt Funeral Doom Metal. Diese sehr eigenartige Spielart eines metallischen Subgenres fällt ziemlich aus dem Rahmen, weil sie das, was man eigentlich als Kern von Rockmusik und Metal kennt: Energie, intensive Emotionen, ein treibendes Nach-vorn-Gehen, fast völlig negiert und die Musik regelrecht erstarren lässt. Extrem schleppende Rhythmen, Pulse, die sich dem Scheintod nähern, eisige Kälte, tiefer Pessimismus und apokalyptische Visionen erstarrter Welten gehören zum Programm. Dass das einzige Album der Band, In the Depths of R’lyeh (2006), sich in sieben halb erstorbenen, bis zu 18 Minuten langen Tracks der Behausung Cthulhus widmet, ist außerordentlich passend; Musik und Inhalt gehen hier eine einzigartige Verbindung ein.

Das ist aber noch nicht das Ende der Fahnenstange der von Lovecraft inspirierten Merkwürdigkeiten. Eine derart extreme und abgründige Musik, wie sie die ­experimentellen Todesmetaller Portal aus Australien zu Gehör bringen, dürfte nur selten, wenn überhaupt, an das Ohr normaler Hörer*innen dringen. Dabei existiert ein ganzer musikalischer Untergrund mit zahllosen Bands, die auf die ein oder andere Weise nicht nur die Grenzen des Metal, sondern von Musik überhaupt in Bereiche ausweiten, in denen ihnen nur wenige zu folgen bereit sind. Portal wurden 1994 gegründet und haben bis heute fünf Alben veröffentlicht. Lovecraft gehört durchaus zu ihren wichtigen Inspirationen, die Band lehnt es aber ab, als lovecraftianische Band wahrgenommen zu werden. In der Tat ist ihr Fokus auf ein weit umfänglicheres Feld des Horrors gerichtet, das die Schauerromantik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Steampunk-Anklänge und esoterische Lehren einschließt. Die Musik steht im Dienst von Bildern und Klängen absoluter Finsternis, die sie beschwören wollen. Lovecraft scheint hier eine kräftige Starthilfe gegeben zu haben. „Transcending a Mere ­Multiverse” (Seepia, 2003) war von Azathoth und Cthulhu inspiriert. Ein 2006 erschienenes Demo benannte die Band The Lurker at the Treshold. Outré (2007) enthält „Omnipotent Crawling Chaos“, eine Nyarlathotep-Beschwörung, und „13 Globes“, das sich Yog-Sothoth widmet. Aber schon auf diesem Album zerlegen ­Portal ihre Texte immer stärker in zum Teil mehrsprachige Fragmente. Auf Vexovoid (2013) wird dieses Spiel bis zur völligen Unverständlichkeit getrieben, hier werden gar Wörter durch Kombinationen und Verdichtungen neu geschaffen. Von Lovecraft ist nirgends mehr die Rede, aber dennoch stellt sich gerade hier die Frage, ob er und seine Ideen nicht überall gegenwärtig sind. Anders ausgedrückt: In einem Interview von 2014 bringt die Band zum Ausdruck, dass Lovecraft für sie inzwischen zu einer Oberflächenerscheinung geworden ist, die tiefere und dunklere Ideen eher verberge.

Vielleicht würde HPL ihnen sogar recht geben. Vielleicht haben Portal von allen genannten Bands HPL am besten verstanden, indem sie sich von ihm, oder besser: von seinen Figurationen wie den Großen Alten, wieder gelöst haben. Sie haben die Großen Alten genutzt wie ein Tor, um zu der Finsternis zu gelangen, die sie eigentlich meinen – und die vielleicht auch Lovecraft gemeint hatte: ein gestaltloser und alles überwältigender kosmischer Schrecken, der nur durch amorphe Wesenheiten symbolisiert werden kann, die sich sogar in der Darstellung einer konkreten Form verweigern. Portals Musik ist entsprechend: Zwar sind ihre Stücke nie besonders lang, aber bewusst strukturlos, laut und krachend, fast arhythmisch, beschwörend und kaum verständlich.

Lovecraft selbst hätte sich über seinen Einfluss auf die Musik sicher sehr gewundert. Die hier vorgestellten Beispiele hätte er wahrscheinlich überhaupt nicht als Musik identifiziert, sondern als kakophonischen Wahnsinn abgeurteilt – was wiederum ausgesprochen passend wäre. Er hätte es sicher aber auch deshalb nicht nachvollziehen können, weil er mit Musik generell kaum etwas anfangen konnte. Wie er 1930 in einem Brief an August Derleth schrieb, war Musik für ihn „eine Kunstform, die ich nicht begreife“ („an art which I cannot understand“) (zitiert nach The Strange Sound of Cthulhu, S. 16), und auch in der großen Biographie von S. T. Joshi finden sich so gut wie keine Hinweise auf ein Interesse an Musik. Im Gegenteil: In seiner Kindheit musste Lovecraft Geige lernen, was bei ihm einen lebenslangen Abscheu vor klassischer Musik auslöste. Klänge hingegen, ihre Wahrnehmung und psychischen Auswirkungen (und hier steht er fest in einer romantischen Tradition) spielen in vielen seiner Geschichten eine Rolle. Die Musik, die in seinen Geschichten vorkommt, ist auch eher hier zu verorten: Wildes Trommeln und unmelodisches Flötenspiel begleiten abscheuliche Prozessionen und bestialische Rituale, wie in Nyarlathotep, Das Mond-Moor, Das Fest, Gefangen bei den Pharaonen, Grauen in Red Hook, Cthulhus Ruf und dem Fragment Das uralte Volk. Nur in einigen frühen Geschichten (Das weiße Schiff, Iranons Suche) kommen Wohlklänge und schöne Gesänge vor; in Das Grab wird ein georgianisches Trinklied zitiert. Die Musik des Erich Zann ist tatsächlich die einzige Geschichte, in der Musik eine tragende Rolle spielt, aber auch hier ist sie wild, kakophonisch, angstbesetzt und scheint eher Klang und Geräusch nahezustehen als Musik in dem Sinne, wie Lovecraft sie zu seinen Lebzeiten hören konnte.

Damit schließt sich der Bogen. In „A Thousand Young“ von The Great Old Onesheißt es:

„I hear people chanting

in this strange recording

Frantic and horrified, I hear people in hoards

Abject incantations, a call for their Lords”

Es geht Lovecraft um unmenschliche Klänge, und darum geht es Extrem-Metallern auf ihre Weise ebenfalls. Die extremen Ausdrucksformen, über die sich deren Musik definiert, reißen die Grenzen konventioneller Tonalität zu reinem Klang, Geräusch und Lärm ein. Die Stimmen, die man hört, singen eher selten, sondern sie schreien, kreischen und growlen, sie klingen bewusst monströs, unmenschlich, inhuman. Klassische Songformate und Kompositionsschemata werden zugunsten atmosphärischer und gelegentlich symphonischer Klanglandschaften aufgebrochen. Und, wie am Anfang angedeutet und vielleicht ebenso wichtig: HPLs Geschichten transportieren auch eine Idee, sie sind Ausdruck einer Geisteshaltung. Das trifft im extremen Metal auf eine Musik, die sich selbst oft als Ausdruck von Vorstellungen und Weltanschauungen versteht, die überwiegend von Melancholie, Wut und Verzweiflung, Pessimismus und Nihilismus geprägt sind, oder, wie im Black Metal häufig, von der Vorstellung einer übermächtigen Natur. Und welche Musik würde besser zu den Großen Alten passen als eine, die als Klang aus der Hölle daherkommt?

Jörg Kleudgen

Der vergessene Bücherschrank

Gert Loschuetz

Dunkle Gesellschaft, Roman in zehn Regennaechten

(Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2005, 220 Seiten, 19,90 EUR)

„Meine Nachtwege sind überflutet, deshalb lenke ich meine Schritte zur anderen Seite, weg von den Asphaltwegen, vorbei an dem aufgegebenen Gasthaus, an Hecken und Zäunen, bis ein Stück hinter dem Krüppelwald die Kalikegel auftauchen …“

(Gert Loschütz: Dunkle Gesellschaft, S. 142)

Manche Bücher scheinen einem zuzurufen: „Nimm mich mit!“ So war es auch mit Gert Loschütz’ Roman Dunkle Gesellschaft. Ein Buch eines 1946 in Genthin geborenen, heute in Frankfurt lebenden Autors, veröffentlicht in der Frankfurter Verlagsanstalt, gefunden in einem Frankfurter Bücherschrank. Im Gegensatz zum Titel versprach der Umschlag kein phantastisches Buch. Er zeigt eine verregnete Flusslandschaft aus dem Auto heraus fotografiert. Trotzdem musste ich es einfach mitnehmen, und von dem Moment an hatte ich keine Ruhe, bis ich endlich darin lesen konnte. Das tat ich, immer wenn ich im Garten war, im Hochsommer, während des Überganges zum Herbst und schließlich im Winter, und ich fand meine Überlegung bestätigt, dass nicht (nur) das, was ein Autor in ein Buch hineinschreibt, als Atmosphäre ­empfunden wird, sondern auch das, was der Leser an eigener Gemütslage, Umgebung und Situation beisteuert. So hat jede einzelne Geschichte dieses Bandes beim Lesen für mich eine eigene Prägung erfahren. „Schlafwagenfahrer“ etwa, bei dem nach einem Tag mit knapp 40° C im Schatten abends ein erlösender Regenguss niederging. Und während der Protagonist Thomas das rätselhafte Verschwinden seines Kollegen Wilhelm beschreibt, musste ich an meine eigenen Fahrten im Liegewagen denken.

Doch beginnen wir mit der Titelgeschichte, die – nicht mehr als eine kurze Einleitung – in die dunkle Gesellschaft einführt: „Diese aber saßen wie Schaufensterpuppen auf ihren Bänken, die Hände im Schoß, keine Miene regte sich in den blassen, ja weißen Gesichtern, ihr Blick ging nach vorn, und ihr Mund war ein dünner Strich …“ (S. 8 f.). Sie geht quasi nahtlos über in Thomas’ Erinnerungen an seine Zeit am Royal Naval College, an den dunkelhäutigen Kommilitonen Daniel, der nach einer Begegnung mit den von ihm sogenannten „Starren“ plötzlich durch einen anderen Schüler ersetzt wird, und den mysteriösen Tod des Lehrers Moorehead, an dem er sich mitschuldig fühlt. Loschütz löst die dunklen Andeutungen, das etwas Böses im Gange ist, nicht auf; ein Gefühl der Bedrohung bleibt immanent.

„Der Garten“ spielt im deutschen Osten an der Spree, und die dunkle Gesellschaft begegnet Thomas diesmal in Gestalt eines Gemäldes, das seinem Erschaffer kein Glück brachte; er fiel bei den Machthabern in Ungnade. Die Geschichte ist aber eher ein Beziehungsdrama über eine Liebe, die so tief ist, dass einer der Liebenden sie nicht mehr erträgt.

„Glendenning“ scheint ein Name zu sein, und es ist der Titel der magischsten und zentralen Erzählung des Bandes. Ein Name, aber wem gehört er? Ist es Thomas selbst, der während eines unfreiwilligen Aufenthalts in New York seltsame und beunruhigende Beobachtungen von unterschwelliger Gewalt macht, oder ein Mann, der ihm zweimal begegnet und den Namen als Erster ausgesprochen hat? In einer bedrohlichen Kulisse, die an Alan Parkers Psychothriller „Angel Heart“ aus dem Jahr 1987 erinnert, ist Thomas einem Rätsel auf der Spur, das ihn vom Laden eines Wahrsagers durch mehrere Hinterhöfe zu einer Halle führt, in der er von einer spirituellen Versammlung als Erlösergestalt begrüßt wird. „Und in die Gesichter war eine graue, gehetzte Müdigkeit eingegraben, gemildert einzig durch das Leuchten, das die Ver­zückung über mein (oder besser: Glendennings) Erscheinen auf ihre Mienen gezaubert hatte. (…) Sie wandten mir ihre heißen Gesichter zu, hielten mir ihre Uhren entgegen, und ich denke, es fehlte nicht viel, dass sie sich unter diesem anhaltenden, aus ihrer Brust dringenden Summen vom Boden erhoben und in der Luft zu schweben begonnen hätten.“ (S. 98 f.).

Und auch den Fremden trifft er hier wieder, Hobbes, der eine Art Priester zu sein scheint. Alle wissen genau, was sie zu tun haben, alle außer Thomas, der am nächsten Tag aus einem unbestimmten Gefühl heraus aus der Stadt flieht und auf dieser Flucht von einer Reihe von ­Anschlägen erfährt, die allesamt Glendenning zugeschrieben werden.

Die Geschichte ist ein Meisterwerk, das unter Beweis stellt, wie wenig die dunkle Phantastik auf schaurige Monster oder eine blutdurchtränkte Handlung angewiesen ist, wenn sie Spannung und Atmosphäre zu erschaffen sucht. Sie ist großartig konstruiert und ausgewogen komponiert.

Ist es möglich, dass einem ein wildfremder Mensch bekannt vorkommt und andersherum, man selbst einem Fremden? Thomas hat „Katharina“ als Kind aus den Augen verloren, und wie auch in den anderen Geschichten des Bandes geschah dies unter merkwürdigen Umständen. Als er sie nach Jahrzehnten wiederzusehen glaubt, ist er nicht sicher. Auch in ihrem Blick bemerkt er ein Wiedererkennen. Während er ihr unbemerkt folgt und sie beobachtet, überfallen ihn Erinnerungen. Es kommt zu einer zweiten Begegnung, aber Thomas nutzt die Gelegenheit nicht, und Katharina, oder die Frau, die ihr gleicht, entgleitet ihm vollends.

„Null Vierzig“ zeigt der Bildschirm immer wieder an, und Thomas fragt sich, ob damit wohl ein geheimer Code gemeint ist. Wird etwas geschehen, oder ist es bereits geschehen? Einmal mehr ist er unsicher, was Erinnerung ist und was Einbildung. Nur der Ort, der steht fest, und der allgegenwärtige Regen. In der Zeit des Kalten Krieges muss es sich zugetragen haben. Da wollte der Binnenschiffer einer Frau zur Flucht verhelfen. Der Plan scheint gescheitert, doch Thomas kann nicht genau sagen, was damals wirklich geschehen ist.

„Der Irrtum“ knüpft daran an, zumindest ist der Schauplatz des Geschehens in dieser und in den beiden letzten Erzählungen, „Es ist noch nicht Freitag“ und „Der Schlüssel“, derselbe. Allerdings scheint der Autor hier das ursprüngliche Motiv mehr und mehr aus den Augen zu verlieren, nämlich die dunkle Gesellschaft, die ihm eingangs immer wieder begegnet ist. Der Titel des Buches bezieht sich nun mehr und mehr auf das Dunkle in unserer Mitte: Mord, Prostitution, Ehebruch ... und am Schluss versinkt die ganze Welt im nicht enden wollenden Regen, der auch Thomas beinah mitreißt. Letztendlich entkommt er und hat eine letzte Begegnung mit der dunklen Gesellschaft: „… es war ein großer Reisebus mit schwarzen Scheiben, hinter denen man niemanden, nichts, nicht das Geringste erkennen konnte; er stand da wie leer, wie abgestellt, aber er war nicht leer. Ich glaubte (und glaube immer noch), dass in ihm dieselben Leute saßen, die uns von der Autobahnbrücke entgegengesehen hatten.“ (S. 218 f.).

Und ich? Ein halbes Jahr lang hat mich das Buch durch den Garten begleitet. Ich habe Leben heranwachsen und wieder vergehen gesehen. Das ist der Lauf der Dinge, an dem wir nichts ändern können. Und das ist gut so.

[JK]

Horror in Eisenbahnen

Schnell! schnell, mein Schmied! mit des Rosses Beschlag!Derweil du zauderst, verstreicht der Tag. –„Wie dampfet dein ungeheures Pferd!Wo eilst du so hin, mein Ritter wert?“

Adelbert von Chamisso: „Das Dampfroß“ (Weidmannsche Buchhandlung, Leipzig, 1837)

Bahnhoefe, Züge, und wie ich die phantastische Literatur entdeckte

von Thomas Ulbrich

„Das Leben ein Bahnhof, ein Kommen und Gehen, ein Finden, Verlieren und nie wieder Sehen.“

(aus „Der Bahnhof“ der Band GONG, dieser Titel zählte 1981 in der DDR zu den erfolgreichsten Songs; dies sei nur nebenbei erwähnt)

Bahnhöfe sind und waren schon immer Orte der Begegnung. In Zügen konnte man seine Heimat, sein gewohntes Umfeld verlassen, um seinen Träumen hinterher oder nachzureisen. Oder man fuhr ganz profan jeden Tag einfach zur Arbeit, so wie es der Verfasser macht.

Ich selber bin in dieser Lage, dass ich seit meiner Ausbildung im Jahre 1980 fast ununterbrochen Bahnhöfen und Zügen begegne. In frühesten Kindeszeiten fuhr ich noch auf den mit alten Dampfloks betriebenen Zügen mit. Viele Erinnerungen daran habe ich leider nicht mehr; ich kann mich nur noch einer gewaltigen Rauchwolke entsinnen, welche fast die gesamten vorderen Eisenbahnwagen verhüllte und sich langsam ausweitete.

Das wahre Abenteuer begann mit der „grandiosen“ Lehrzeit, einen ungeliebten Beruf zu erlernen. An diesem ersten Tag traf ich viele meiner Schulfreunde und -kameraden, die ebenfalls ihre Reise des Lebens mit dieser Zugfahrt antraten. Auch da erwies sich der alte, heruntergekommene Bahnhof in Krippen (der Ort, der zu Bad Schandau in Sachsen gehört und nach der Wende freundlich eingemeindet wurde, eigentlich mein Heimatort) wieder als ein Ort der Begegnung; Zeit für ein letztes Gespräch, Zeit für einen schüchternen Seitenblick zu den Mädchen herüber, welche sich hübsch gemacht hatten, Zeit, um allen noch einmal Glück zu wünschen. Dann begann mit dieser ersten Fahrt in Richtung Erwachsensein für alle eine Reise in eine unbekannte Zukunft. Jeder von uns stieg damals an einem anderen Bahnhof aus, ging seiner Bestimmung entgegen, erst einmal dem Ort, wo die Lehre beginnen würde.

Am nächsten Tag waren wir schon weniger geworden. Die ersten waren schon in Internaten gelandet und fuhren erst an den Wochenenden wieder nach Hause. Ja, und man sah sich seit dieser Zeit immer etwas weniger; meine Freunde lernten andere Menschen kennen und zogen fort aus der Heimat. Der Ort der Begegnung wurde zu einem Ort des Verlustes, und viele ließen sich von den Stürmen der Zeit verwehen. Gerade diejenigen, die man am meisten gemocht hat, sieht man vielleicht niemals wieder. So soll einer meiner besten Freunde, dem ich nach der Schule niemals mehr begegnete, bereits verstorben sein, wie ich auf dem letzten Klassentreffen erfuhr.

Ja, auch meine Zugfahrt war für mich eine Reise in eine unbekannte Zukunft. Das Fahren mit der Deutschen Reichsbahn war durchaus bequem, aber im Sommer zu heiß, und im Winter meist auch, da übertrieben geheizt wurde. Die Zugfenster konnte man allerdings noch selbständig öffnen, und an den Verspätungen hat sich auch mit der Deutsche Bahn AG nichts geändert. Fahrkarten kosteten entschieden weniger als heute. Die Schaffner kontrollierten auf der Fahrt von Krippen nach Dresden manchmal bis zu dreimal, ob man ein gültiges Billett besaß.

Natürlich beobachtete der Verfasser während der zahlreichen Fahrten auch die anderen Reisenden, ihre Gespräche, ihre Handlungen. Und er entdeckte damals neben dem Heavy Metal – auch in der DDR liefen AC/DC oder Motörhead in den mitgeführten Kassettenrecordern – die phantastische Literatur.

Um zur Berufsschule in Dresden zu gelangen, musste ich vom Bahnhof aus mit der Straßenbahn durch die halbe Stadt fahren. Nicht selten war ich am späten Nachmittag oder Abend auf dem heimeligen Dresdner Hauptbahnhof für mich alleine, und manchmal hatte ich, um die Wartezeit inklusive der Verspätung des Zuges zu überbrücken, ein Buch einstecken. Gute Bücher gab es bei uns ­entweder in einer Leihbücherei oder unter dem Ladentisch.

Damals wie auch heute lebten viele Tauben hoch oben im Kuppelgewölbe des Bahnhofs. Nachdem ich mir in der Mitropa (Bewirtungsgesellschaft auf Bahnhöfen und Raststätten in der DDR) des Bahnhofs manchmal einen Muckefuck-Kaffee oder eine Bockwurst gekauft hatte, war immer noch genug Zeit, bis der Zug erwartet wurde, beziehungsweise man hatte bereits die Verspätung durchgegeben. Lautsprecheransagen versteht man heute übrigens nach genauso schlecht wie damals.

Eines Abends geschah ein Wunder. Der Hauptbahnhof in Dresden wurde für mich zum Ort der Begegnung. Ich begegnete der phantastischen Literatur, die zu einer meiner größten Passionen wurde. Ganz zufällig hatte ich zwei Bücher aus dem heimischen Bücherschrank eingepackt, einen Band mit Erzählungen E. T. A. Hoffmanns und die „Meistererzählungen“ Robert L. Stevensons. Und damit begann meine eigene, persönliche Reise in eine unbekannte, aufregende Zukunft ...

Von Stevenson hatte ich vorher nur „Die Schatzinsel“ gekannt, durch eine Serie, die auch im DDR-Fernsehen gesendet worden war, durch den Roman und durch die geniale DDR-Schallplattenvertonung mit exzellenten Sprechern. Hier gab es nun „Die tollen Männer“, das dämonische Doppelgängerstück „Markheim“ und „Der Flaschenteufel“ (von Murnau verfilmt), oder das nicht minder grandiose „Die Insel der Stimmen“.

Hoffmann konnte mich von Anfang an fesseln. Ich zähle ihn trotz des Alters seiner Werke noch immer zu meinen Lieblingsautoren. Ich habe damals auf dem düsteren Bahnhof in Dresden an ein rostiges Geländer gelehnt „Hyänen“, „Der Sandmann“, „Der goldene Topf“, „Geschichte von dem verlorenen Spiegelbild“ und seine besten, düstersten Geschichten „Der Elementargeist“ und „Ignaz Denner“ für mich entdeckt, und das DDR-Fernsehen hat „Die Brautwahl“ mit dem großartigen Herwart Grosse als helfendem Geist (oder Dämon) Leonard in der Hauptrolle verfilmt (leider seitdem niemals wieder gesehen).