Lucus Molyos - Christian Kremer - E-Book

Lucus Molyos E-Book

Christian Kremer

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Beschreibung

Die Zukunft hat begonnen. Sei mit dabei in Lucus Molyos! Nach Jahrzehnten im Koma wacht Steffen ohne sein Gedächtnis in einer Psychiatrie auf und hält sich für Gott. So trifft es sich gut, dass ein gefallener Engel und Jesus Christus dort ebenfalls als Patienten einsitzen. Gemeinsam müssen sie sich einer Bedrohung apokalyptischen Ausmaßes entgegenstellen.

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Ähnliche


Christian Kremer

Lucus Molyos

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Tempus fugit

2. Tremonia

3. Unus pro multis

4. Mors porta vitae

5. Variatio delectat

6. Deus ex machina

7. Volare

8. Homo novus

9. Lucus a non lucendo

10. Angelus deusque

11. Tumor

12. Homo homini lupus

13. Liberatio

14. Virus vivax

15. Sensus vitae

16. Pestilentia

17. Ad portas

Impressum neobooks

1. Tempus fugit

Barto wachte eines Morgens auf und bemerkte, dass die Zukunft begonnen hatte. Von der Morgensonne erleuchtet versank er in dösigen Halbschlaf und träumte ein Potpourri aus den Zukunftsvisionen der vergangenen Jahrtausende. Was war schon Realität geworden? Welche Prophezeiung werde sich erfüllen? Werden gar sieben pompöse Engelsposaunen das biblische Armageddon einleiten?

Etwas Gewaltiges stand bevor. Lange genug hatte er sich der herrschenden Umbruchstimmung schon entziehen können, doch er war zu aufrichtig, die Zeichen der Zeit zu ignorieren. Die Zukunft gehörte ihm. Er gehörte einer neuen Generation an, dem elitären Zirkel, der dem jungen Jahrtausend den frischen Atem der Jugend einhauchen durfte. Um den Planeten mitten ins neue Zeitalter zu stürzen, fehlte bloß noch, dass jemand die Lichtgeschwindigkeit überwinden und Krieg mit Außerirdischen anfangen würde.

Seit über hundert Jahren währte bereits die Blütezeit der menschlichen Experimentierfreudigkeit, die jugendliche Rebellion im Lebenslauf der Menschheit. Sie hatte die Pubertät unseres Planeten eingeläutet. Mit Hilfe der Menschen testete die Erde ihre Grenzen aus. Durch sie genoss die Welt ihre Narrenfreiheit und entdeckte neugierig ihren Körper.

Wo Menschen eifrig groben Unfug trieben, sprossen saftige, eitrige Pickel aus dem Gesicht des blauen Planeten. Die Menschheit drückte den aufkeimenden Zerstörungstrieb unserer verdorbenen Erde frei aus. Sie vollzog ihren Willen zur übelsten Selbstverstümmelung jenseits von peinlichen Tattoos und entzündeten Brustwarzenpiercings. Mutter Erde wütete erbarmungslos. Sie tobte sich mit Nuklearwaffen, Völkermorden, Pandemien und Umweltverschmutzung aus. Sie pubertierte und nahm sich die Zeit, mal richtig auf die Kacke zu hauen. Sie war heiß.

Bartos halb geöffnete Augen blinzelten schlaftrunken in der Sonne. Sonne. Der Wetterbericht hatte für jenen Sommermorgen ungetrübten Sonnenschein nach einer von heftigen Regenschauern durchzogenen Nacht vorausgesagt. Sonne. Die Quelle allen Lebens. Lange hatte sie nicht mehr geschienen. Er hatte vergessen, welche Kraft sie besaß.

Es wurde Zeit, sich den Problemen des jungen Jahrtausends zu stellen. Hungersnöte, Seuchen, Klimaerwärmung, Menschenrechtsverletzungen, Ausbeutung, Krieg, Terrorismus, Völkerwanderungen - alles nahm immer bedrohlichere Züge an. Wie sollte er zu einer lebenswerten Zukunft für die Menschheit beitragen? Stellte es sich nicht schon als schwierig genug dar, seine eigene Zukunft lebenswert zu gestalten?

Während der Schulzeit hatte Barto in seinem Elfenbeinturm gehaust, ohne die Bürde großer Verantwortung auf seinen Schultern zu spüren. Er hatte lediglich dafür Sorge tragen müssen, dass die Noten okay blieben, um sich in der Zwischenzeit mit Sex, Drugs and Rock'n'Roll das Leben zu versüßen. Er hatte für den Moment gelebt. Für die Gegenwart. Doch jetzt hatte er eine Vergangenheit. Die Vergangenheit eines Schülers. Was hatte er gelernt? Was wusste er? Der Weg ist das Ziel. Aber welcher? Etwa der steinige?

Gegenwart wurde zur Vergangenheit und Zukunft zur Gegenwart, während die gleißende Sonne eines mörderischen Sommers Barto endgültig aus seiner Schlaftrunkenheit riss und zu vollem Bewusstsein wachrüttelte. Mit betrunkenem Kopf hatte er in der vorigen Nacht versäumt den Rollladen herunterzulassen. Sein Fenster hatte er noch in weiser Voraussicht geschlossen. Zum einen wegen der für die Nacht prophezeiten sintflutartigen Regenfälle und zum anderen wegen des ganztäglichen Baulärms in der aufgerissenen Straße unter seinem einzigen Fenster. Eine leichte, frische Brise aus der mobilen Klimaanlage vor seinem Nachttisch hatte seinen nackten Körper schließlich sanft in den Schlaf gestreichelt.

Jetzt, gut sechs Stunden später folterten ihn die sengende Hitze der Morgensonne sowie ein bedrohlicher Mangel an Sauerstoff und Wasser. Er schmorte als eine arme Seele in der Hölle des heißesten Tages, den dieses Land jemals zu spüren bekam. Es schien ihm, als habe die Sonne eine Hälfte des Sauerstoffs seines Zimmers in Ozon verbrannt, während sein eigener Stoffwechsel den Rest in Kohlendioxid und Kohlenmonoxid verwandelt habe. Seine verquollenen Augen leuchteten groß auf. Das erste Zeichen erfolgreicher Gehirnaktivität.

Aus dem Schatten seines Nachttischs zog er eine versiegelte Flasche Mineralwasser, die ihm Linderung versprach. Er öffnete sie mit einem Zischen und stürzte, ohne abzusetzen, mehrere tiefe Schlücke in sich hinein. Das frische Wasser weckte wieder seine Lebensgeister, während die Kohlensäure unverzüglich seine Kehle verätzte. Doch es konnte ihm nicht stark genug sprudeln. Jedes noch so kurzlebige Gasbläschen, das in seinem Mund kribbelte, erschien ihm wie eine Perle puren, lebensspendenden Sauerstoffs.

Barto setzte die Flasche ab und legte laut rülpsend eine Verschnaufpause in der prallen Sonne ein. Schnell stellte er fest, dass die Sonnenbestrahlung weit jenseits des Erträglichen lag. Ohne Umschweife siedelte er seinen verschwitzten Leib in die Schattenzone seines Bettes um. Mit einem rettenden Griff aus seinem Bett heraus drehte er seine mobile Klimaanlage hoch und orkanartig wurde ihm die abgestandene Luft seiner kleinen Einzimmerwohnung tiefgekühlt und frisch recycelt ins Gesicht geblasen.

Jetzt konnte er sich wieder in die ersehnte Unbeweglichkeit zurückfallen lassen. Von Kopf bis Fuß überzog ihn ein schmieriger Schweißfilm, der sein ultramarinblaues Spannbettlaken klamm an seinem Körper kleben ließ, ihn aber nicht weiter daran hinderte, sich gemütlich in seine beiden riesigen, mokkafarbenen Schlafkissen zu lümmeln. Er genoss vielmehr die Verdunstungskälte, die ihm sein klebriger Schweiß im frostigen Blizzard der Klimaanlage bescherte. Halb sitzend, halb liegend beobachtete er den Staub, wie er im Sonnenschein durch seine neue, seine erste und, wer weiß, vielleicht auch einzige und letzte Studentenbude tanzte.

Nach ihrem schmutzigen Tanz setzten sich viele der Staubteilchen auf Bartos verschlissener Akustikgitarre sowie einer handvoll zusammengewürfelter Umzugskartons und deren chaotisch ausgespienem Inhalt zur wohlverdienten Ruhe. Die staubige Mehrheit blieb allerdings tragischerweise im Filter der Klimaanlage hängen. Die offene Mineralwasserflasche ruhte locker in Bartos Hand und Barto zufrieden in seinen überdimensional kuscheligen Kissen, als sei Schwerkraft nichts weiter als die Erfindung eines Haufens weltfremder Physiker.

Zum monotonen Surren der Klimaanlage gesellte sich die gedämpfte Sirene einer fernen Ambulanz, die irgendwo zwischen innerstädtischen Häuserschluchten zu einem tödlichen Verkehrsunfall junger Hobbyrennfahrer preschte. Die rivalisierenden Motorsport-Gangs ignorierten abfällig das allgemeine Fahrverbot. Seit dem Morgengrauen lieferten sie sich in protzigen, frisierten und klimatisierten Freizeitboliden spektakuläre Verfolgungsjagden durch die freien sonnigen und anfangs noch regennassen Straßen des Ruhrpotts. Nachdem die Polizei mit Geheul und Hubschrauberunterstützung schnell die Verfolgung aufgenommen hatte, klinkte sich nun als plärrendes Schlusslicht jener Krankenwagen ins Rennen ein.

In dem Moment, als die Sirene verstummte, dachte Barto an einen beliebigen altersschwachen Greis, der vermutlich wieder irgendwo umgekippt war. Er vergaß den Gedanken. Er bemerkte, dass die Straßen- und Tiefbauarbeiter unter seinem Fenster erstaunlicherweise überhaupt keinen Krach produzierten. Mittagspause? Hitzefrei? Auch diese Gedanken verließen ihn.

Die Wände seines Appartements lullten ihn ein in frisch getrocknetes, narkotisch leuchtendes Ligurisches Gelb und hielten ihm die Schicksale dieses brodelnden Hexenkessels noch sicher vom Leib. Einsam neben seinem Fenster hing ein großes gerahmtes Panorama-Poster, das seine kalifornische Lieblingsband bei einem Konzert unter der Sonne Rio de Janeiros zeigte. An der Wand gegenüber seinem Bett war in knapp zwei Meter Höhe ein zwei Meter langer, 15 cm schmaler, schwarzer Kasten angebracht. Auf Bartos Sprachbefehl oder per Knopfdruck wäre aus dem Kasten eine weiße Videoleinwand nach unten ausgefahren. Auf einem Meter Höhe wäre sie anschließend mit der Eisenleiste ihres unteren Endes an einer waagerechten, zwei Meter langen Elektromagnetleiste haften geblieben, um so stramm gespannt auf die Projektionen des 3-D-Beamers über Bartos Bett zu warten.

Seine gelben Wände hinterließen einen ästhetisch so sauberen Eindruck, dass sich der chaotische Rest seiner Wohnung davon besser eine gute Scheibe hätte abschneiden sollen. Um vernünftig Ordnung zu schaffen, fehlte Barto als Erstes ein Schrank, in den er seinen ganzen Kram hätte ordentlich verstauen können. Er wusste, dass er an diesem Tag auch ohne Schrank auf Anhieb genug produktive Aufräumarbeit hätte leisten können. Allein die Planen und Zeitungen voll angetrockneter, gelber Farbe wegzuschmeißen, die zusammengeknüllt in der Ecke neben dem gelb beschmierten, größtenteils noch orangefarbenen Plastikeimer lagen, wäre ein guter Anfang gewesen. Das Einzige jedoch, was jetzt seine Zustimmung gewann, war liegen zu bleiben. Liegen bleiben und entspannen. Vielleicht nochmal einschlummern. Am liebsten ins Zauberreich der Träume entschweben, um unter Umständen als edler Krieger gegen ekelerregende Trolle zu kämpfen.

Barto schob die Wasserflasche auf den Nachttisch und sein bescheidener Wunsch nach erholsamem Wohlbefinden schien sich für eine Weile problemlos zu erfüllen. So lange, bis er merkte, wie verdammt dringend er pissen musste. Es kam erschwerend hinzu, dass seine Morgenlatte ihn garantiert daran hindern werde, seinem Harndrang freien Lauf zu lassen. Ihm wurde bewusst, dass Aufstehen ein viel kleineres Übel bedeutete als an Urin-Nieren-Rückstau zu sterben. Mit aller Kraft stellte er sich hin und torkelte benommen an diversen Hindernissen vorbei ins Badezimmer. Ihm drohte schwarz vor Augen zu werden. Gerade rechtzeitig schaffte er noch sich am Waschbecken abzustützen.

Als sein Blut wieder in den Kopf gepumpt wurde und er durch den Spiegel in seine schmalen Augenschlitze schaute, erschütterten zwei tiefe ohrenbetäubende Glockenschläge sein Trommelfell und verstärkten seine just eingesetzten pulsierenden Kopfschmerzen. Es folgte das lang gezogene Zusammenspiel von Schlagzeug, E-Gitarren und Bass aus den Tagen Metallicas, als Cliff Burton noch die Saiten zupfte. Barto hatte seine Hi-Fi-Anlagedarauf programmiert, aus zwei bombastischen Boxen For Whom The Bell Tolls zu spielen, sobald jemand zwischen sechs Uhr morgens und zwölf Uhr mittags den Bewegungssensor im Badezimmer auslösen sollte. Nachdem er die Musik mit einer raschen Handbewegung etwas leiser gestellt hatte, richtete er sich auf und versuchte freihändig auf zwei Beinen zu stehen. Schnell bekam er weiche Knie und musste neuen Halt suchen. Mit ausgestreckten Armen fing er sich an den Wandfliesen rechts und links seines Spiegels ab. Während sich sein Kreislauf stabilisierte, hob er sein Haupt und schaute zwischen seiner zerwuschelten, dunkelblonden Mähne heraus in den Spiegel.

„Die Zukunft hat begonnen“, schoss ihm wieder durch den Kopf. Der Blick in den Spiegel glich eher dem Blick in die Kristallkugel einer Wahrsagerin. Er sah sich als alten müden Mann, dem allein der Tod etwas Neues bringen konnte. Dabei durchlebte er gerade erst sein 20. Lebensjahr. Nein, so kannte er sich nicht. In ihm steckte Drive. Er versprühte Esprit. Sie nannten ihn El Barto. Ein Anarcho nach bestem Gewissen. Ein Kleinstadtrebell mit Cojones und Idealen. Und doch nur ein weiterer Fremder in der großen Stadt.

„Durchs Gesicht waschen, Duschen, 'ne gute Portion Cornflakes mit Milch, ein Energydrink und du bist der Prototyp des Teenstars“, versuchte er sich einzureden, während martialischer Gesang aus den Lautsprechern tönte. „So what?“, murmelte Barto und fragte sich, warum er das so lange nicht mehr gehört hatte. Er erinnerte sich, dass er selten vor zwölf Uhr seinen Arsch aus dem Bett bewegte.

Ihm wurde bewusst, dass zu langes Schlafen und launische Unentschlossenheit die beiden einzigen Gründe gegen eine frühzeitige Einschreibung blieben. Die Uhr zeigte 10:28 Uhr und er stand mehr oder weniger aufrecht und aufgeweckt auf seinen Füßen, was er als notwendige und hinreichende Bedingung ansah, sich genau an diesem Tag zu immatrikulieren. Für Geschichte. Oder Biologie. Oder beides auf Lehramt. Oder Musik kombiniert mit Sport - auf Lehramt?! Hatte er die Schule wirklich nur verlassen, um wieder zu ihr zurückzukehren? Er fühlte sich massiv unter Druck gesetzt, eine sehr wohl überlegte und endgültige Entscheidung zu treffen.

Vor zwei Wochen hatte sich die Welt noch in bester Ordnung befunden. Anfang August war er von Flensburg nach Dortmund gezogen und mit Schmetterlingen im Bauch hatte er sich auf Anjas Ankunft im September gefreut. Sein künftiger Studiengang hatte bei der Wahl seines Studienortes eine untergeordnete Rolle gespielt. In Anjas Nähe zu bleiben hatte er oberste Priorität eingeräumt. Sowohl die Technische Universität als auch die Dortmunder Fachhochschule sowie die Ruhr-Uni in Bochum unterbreiteten ihm ein stolzes, breit gefächertes Angebot, aus dem er frei wählen konnte, ohne sich vorher für irgendetwas bewerben zu müssen. Ein Leben in einer anderen Stadt als Dortmund hatte er gar nicht erst erwogen. Anja zog es nach Dortmund, also folgte er. Sie war seine große Liebe.

Doch seit Barto in Dortmund wohnte, flatterten die Schmetterlinge in seinem Bauch immer zaghafter. Die ersten zwei Wochen in der fremden Stadt hatte er viel mit Nachdenken verbracht. Es ging um seine Zukunft, um einen Beruf, den er tagein, tagaus fast 50 Jahre lang bereit sein sollte zu ertragen. Er liebte Anja. Er liebte sie in einer schnelllebigen Zeit, an einem Wendepunkt in ihrem und in seinem Leben. Alle Möglichkeiten standen offen. Anja könnte zu einer süßen Jugenderinnerung verblassen oder gar zu einer unausstehlichen Zicke mutieren. Sein Studium und sein Beruf würden auf alle Fälle bleiben. Hatte sie ihm letztlich nicht nur die rosarote Brille, sondern dazu noch ein rosarotes Paar Scheuklappen aufgesetzt? Die Zweifel regten sich nun zu spät, weil er sich bereits vor Monaten entschieden hatte, für Anja und für Dortmund.

Die nächste Entscheidung drängte ihn und er fällte sie. So entschloss er sich, aus dem Stegreif heraus der TU Dortmund eine Chance zu geben. Eine letzte weise Entscheidung über die endgültige Wahl seines Studiengangs stand noch aus. Vor allen Dingen wollte er zügig und ohne Umwege studieren, um seine Verschuldung möglichst gering zu halten. Barto verschob seine Überlegungen kurzerhand auf später, wandte sich mit seinem erschlafften Penis zwischen den Fingern dem Klo zu und begann erleichtert zu pinkeln, während gewaltige Glockenschläge ihre Akzente in der Metal-Hymne setzten.

2. Tremonia

Die kantigen schwarzen Buchstaben des Schriftzugs Dull In The Skull in dem blauen Oval auf der Brust seines karminroten T-Shirts gingen Barto stolz voran auf seinem Spaziergang durch die brütende Hitze der Dortmunder Innenstadt. Wie angekündigt hatten nächtliche Regenfälle die Stadt sauber gespült und die erdrückende Schwüle fortgetrieben. Der frische Atem der Pflanzen und die überquellende Emscher bezeugten als Einzige diesen Wolkenbruch, der in den letzten drei Stunden Dunkelheit, in denen Barto tief und fest geschlummert hatte, die sieben Weltmeere hatte niederprasseln lassen. Ausufernde Pfützen, spontane Seen und unbeirrbare Sturzbäche und Rinnsale hatte es dabei reichlich gegeben. Doch kaum hatte sich die Sonne aus dem roten Bereich gehievt, waren sie schon bald rückstandslos versickert und verdampft.

Barto trug das erwähnte karminrote T-Shirt, eine beigefarbige kurze Hose, lederne Sandalen und schwarze Kopfhörer, die ihn mit der Bob-Marley-Datei aus seiner Hosentasche berieselten und ihm halfen seine schulterlangen Haare aus dem Gesicht zu halten. Auf seinem Rücken beherbergte er in einem kleinen schwarzen Rucksack sein Abiturzeugnis und eine Flasche Sonnenspray. Beim triumphierenden Blick zum wolkenlosen Himmel schützte ihn vor der UV-Strahlung noch eine dezente Sonnenbrille, die fest auf seiner breiten, schmierig glänzenden Nase saß. Lediglich das lose, grobmaschige Geflecht weißer Kondensstreifen weit entfernter Flugzeuge legte sich an jenem Sommertag über den klaren, blauen Himmel. Mit Lichtschutzfaktor 50 auf seiner Seite hatte Barto im Kampf gegen den Hautkrebs erneut einen Tag für sich gewonnen. Sein eiserner Schwur, sich unter keinen Umständen jemals wieder einen Sonnenbrand einzuhandeln, hatte sich die Jahre über unauslöschlich in sein Bewusstsein gebrannt.

So erfreute ihn dieser Sommer mit einer Sonne, die ausschließlich Gutes vollbringen konnte. Dazu ein Soundtrack, der den akustischen Dreck dieser Welt einfach ausblendete und durch süßen, harmonischen Wohlklang ersetzte. So entging ihm aber auch das vergnügte Zwitschern der städtischen Singvögel, die zu neuem Leben erweckt von den Dächern und Baumwipfeln herab ihre Begeisterung über das ungetrübte Wetter in die Welt hinausträllerten. Barto freute sich auf diesen Tag. Er freute sich darauf, in die Emscher zu springen, um sich im Schatten des Westfalenstadions durch die Bolmke treiben zu lassen.

Abgesehen von der alarmierenden Luftverschmutzung durch Stickoxide ächzte das Revier seit Monaten unter extremer Hitze, dem beißenden Rauch regionaler und überregionaler Brände sowie den beiden Sommerklassikern UV-Strahlung und Ozon. Zuletzt hatten dichter Nebel, Smog und eine unerträgliche Schwüle unter einer geschlossenen Wolkenglocke die Großstadtbewohner bis aufs Blut geplagt. Derart ungemütliche Bedingungen für einen Aufenthalt im Freien hatten im gesamten Ruhrgebiet die Bürgersteige und Fußgängerzonen leer gefegt. Seit Wochen durften wegen des verhängten Fahrverbots höchstens Sondereinsatzwagen sowie Elektro- und Wasserstoffautos ihre einsamen Runden durch die lebensfeindlichen Straßen ziehen. Der kochende Pott hatte wie eine gespenstische Ansammlung im Dunst versinkender Geisterstädte gewirkt.

Heute dagegen wimmelte es auf allen freien Flächen. Ob in den Straßen, Parks, Wiesen, Freibädern, an den Flüssen und Seen oder in der aufblühenden Außengastronomie, überall tummelten sich Sonnenanbeter, um ihre Sucht nach natürlichem Licht zu stillen. Als er am hohen Metallgitterzaun eines Basketballplatzes vorbeitrottete, amüsierte ihn die Naivität einer Gruppe unerschütterlicher Teenager. Schwitzend und schnaufend pausierten sie im Schatten, um ihre Getränkereserven zu plündern und dem drohenden Kreislaufkollaps zu entgehen. Nach etwas Passspiel und zwei unspektakulären Rebounds am Anfang des Spiels war der überschwängliche Spieltrieb, der ihnen zu Hause noch in den Gliedern gesteckt hatte, in der Hitze restlos verpufft. Heute erlebte Barto nicht nur den heißesten, sondern auch einen der seltenen Tage dieses Spätsommers, an denen Wolken und Smog dem Sonnenschein ungehindert Durchlass gewährten.

Als er auf dem Ostenhellweg die belebte Dortmunder Konsummeile betrat, erblickte er, wohin er nur schaute, knackig zarte weibliche Körper, die mit sowohl kurzen engen als auch luftig weiten Textilien spärlich bedeckt in der Sonne glitzerten und vor seinen Augen verführerisch ihre Körper bewegten. Barto badete in einem Lavastrom sexueller Reize. Die makellos gebauten Ladies und Señoritas, die ihn wie heiße, feuchte Wellen umspülten, reduzierten ihn sofort auf den Urinstinkt der Fortpflanzung. Der Moment, in dem Bartos Durst seinen Sexualtrieb vom Thron schubste, ließ nicht lange auf sich warten. Als Barto seine Aufmerksamkeit auf das Getränkeangebot der Fußgängerzone lenken musste, wurde er sich der Uhrzeit, des S-Bahn-Fahrplans und der Tatsache bewusst, dass ihm die geringste Ahnung fehlte, wie viel Zeit er noch für den weiteren Fußweg einplanen musste. Eile packte ihn und er lief gehetzten Schrittes weiter, in der Hoffnung, spätestens am Bahnhof seinen Durst stillen zu können.

Am Ende der Katharinenstraße erreichte Barto mit einem bequemen Zeitpolster im Nacken, aber erschöpft und triefend vor Schweiß, die lange breite Treppe, die zum Hauptbahnhof hinunterführte. Er verlangsamte zum Stillstand, beendete den Redemption Song und verstaute seine Kopfhörer im Rucksack. Während sein Blick am Deutschen Fußballmuseum vorbei über den Vorplatz und den Haupteingang des Bahnhofs schweifte, hielt er geplagt Ausschau nach der erstbesten Möglichkeit, irgendetwas zu trinken. Die Fast-Food-Ketten konnte er allesamt nicht leiden und die Warteschlange beim Dönermann erschien ihm viel zu lang.

Seine Augen suchten weiter und fokussierten das „Hot Pot“, einen kleinen unscheinbaren Coffee-Shop, der direkt neben der Wache der Bundespolizei lag und als einziger Coffee-Shop in der Gegend seine Räumlichkeiten von der Deutschen Bahn mietete. So genoss der Laden seine profitable Monopolstellung im Hauptbahnhof und den seriösten Ruf nördlich der Innenstadt. Auf seinem Weg die Treppe hinab begann Barto zunehmend Gefallen an der Idee zu finden, sich von ein wenig gutem THC kurz vor der Einschreibung geistesblitzartig bei der Wahl seines Studiums inspirieren zu lassen. Der Ärger über seine Dummheit, nichts zu trinken eingepackt zu haben, versank gleichzeitig in den Schoß der Vergessenheit.

Mit seinem Handy bestätigte Barto die Rechnung von 29,96 € und wartete darauf, dass auf dem Display der Kasse „Zahlung erfolgt“ erscheine.

„Dein Konto ist nicht gedeckt“, teilte ihm der langhaarige, fettbäuchige Dealer mit, während er sich zu voller gebieterischer Größe aufrichtete.

Beim Versuch, 3 g Gras, eine vorgedrehte Tüte und zwei gierig ausgetrunkene Gläser Apfelschorle zu bezahlen, bereute Barto bitter, dass er seine Finanzplanung bisher so sträflich vernachlässigt hatte. Zwischen den beiden Männern herrschte einen Moment lang versteinertes Schweigen. Lediglich das Stimmengewirr der wenigen Gäste, das Surren der Deckenventilatoren und hypnotischer Trip-Hop drangen an ihr Ohr. Eine Rauchwolke zog hinter Bartos Rücken vorbei auf dem Weg zum Ladenschaufenster, um noch etwas vom Sonnenschein zu erhaschen. Das lichtdurchflutete Schaufenster bildete die einzige Lichtquelle, die den Verkaufsraum erhellte, so dass der hintere Bereich eher schummrig ausfiel. Als der Dealer mit einer flüchtigen Handbewegung die lästige Fliege von den Schweißperlen auf seiner hohen Stirn verscheuchte, hatte Barto sich wieder gesammelt. „Ich bitte meine Mutter um Geld. Die schickt mir auf jeden Fall was!“, schlug er vor und wählte mit seinem Handy die Nummer seiner Mutter.

Den dicken Hünen hinter der Kasse, der mit langem schwarzen Haar und vollem Rauschebart versuchte seine Geheimratsecken mehr als wett zu machen, schien das bisher nicht sonderlich zu beeindrucken. Er überwachte seinen Kunden nach außen hin geduldig, ohne sein Pokerface zu verziehen. Innerlich jedoch begann ihn dieser Motherfucker, diese Zecke, dieser Ostfriese, dem alles in den Arsch geschoben wurde, wahnsinnig zu nerven.

„Leider die Mailbox“, entschuldigte sich Barto, aber Plan B ließ nicht lange auf sich warten: „Ich ruf meinen Vater an.“

Der Dealer lehnte sich auf seine Stehhilfe zurück, um seine Haare erneut zum festen Zopf zu binden. Er hatte inzwischen eingesehen, dass die Arbeit für ihn heute Morgen wirklich keinen Stress bedeuten musste und er mit solchen Stonern schließlich seine Brötchen verdiente. Sein Tagesgeschäft lief ziemlich schleppend an. Bloß zwei Sitzgruppen waren besetzt. An einem Tisch lachten sich vier Oberstufenschüler zwischen ihren Fressattacken über irgendeinen Bullshit schlapp, während in der dunklen Sofaecke ein Punker-Pärchen reiferen Alters leidenschaftlich seine Zungenpiercings ineinander hakte. Davon abgesehen musste der dicke Chef mit seinem hageren, jungen türkischen Angestellten, der wenige Meter entfernt die neuste Ausgabe von Auto, Motor, Sport studierte, hin und wieder Laufkundschaft bedienen.

Barto hegte wenig Hoffnung, spontan Geld von seinem Vater zu erhalten. Er wusste, dass er montagvormittags unterrichten musste und nicht zu erreichen war. Zudem verhielt sich sein Vater in finanziellen Angelegenheiten lange nicht so großzügig wie seine Mutter. Als Freizeichen seines Handys erklangen in Bartos Ohr ruhige Keyboardklänge, die langsam Pink Floyd's 13-Minuten-Opus Shine On You Crazy Diamond part I einläuteten.

Der Verkäufer verfinsterte sein Gesicht und ähnelte trotz seines halb aufgeknöpften grasgrünen, kurzärmeligen Hemdes, aus dem sein Brusthaar wie struppiges Unkraut quoll, immer mehr einem überzeugten Mitglied der Satanistenszene als einem Anhänger der grün-pazifistischen Bewegung.

„Moin, Bart. Alles in Butter auf’m Kutter?“

„Moin, Moin. Alles Paletti in Cincinnati. Hab leider grad kein’ Zeit zum Schnacken. Ich steh im Laden und kann nicht zahlen, kannst du mir 30 € schicken? Bitte!“

„Was hast du gekauft?“

„Saft.“

„Sehr geehrter Herr Baumgart, Ihr Guthaben ist aufgebraucht. Ein weiterer Kredit kann Ihnen leider nicht gewährt werden. Laden Sie Ihr Konto bald wieder auf!“ Eine freundliche Frauenstimme bereitete dem Vater-Sohn-Gespräch ein jähes Ende.

„Jo! Danke, Papa! Tschüss!“, sprach Barto unbeirrt weiter und legte sein Handy auf die hölzerne Theke. „Es muss jeden Moment kommen“, erklärte er dem Ladenbesitzer mit einem versöhnlichen Lächeln und hoffte, dass das nicht gelogen war. Der Respekt einflößende Blick des Drogenhändlers ließ Barto auf die Theke schauen, wo er eine Stubenfliege entdeckte. Ohne Vorwarnung drosch der Fettsack mit der gerollten Westfälischen Rundschau auf das kleine, ahnungslose Insekt ein. Barto schreckte zusammen und nach dem zweiten und letzten Schlag endete der Spuk. Der Fliegenmatsch blieb an der Zeitung kleben und Bartos Handy-Bildschirm leuchtete auf. Eine 10-Euro-Spende seines Vaters war eingegangen. So konnte er sich zumindest die Apfelschorle und den Joint leisten. „Hauptsache, jetzt ein bisschen das Tempo anziehen, wenn das heute mit der Einschreibung noch was werden will“, dachte er und verließ hastig den Shop.

Als Barto rechtzeitig die Rolltreppe zu seiner S-Bahn bestieg, gönnte er sich wieder Ruhe. Er zog sein Handy aus der Tasche, um etwas Musik für die Fahrt spielen zu lassen. Als er sich seinen Kopfhörern widmen wollte, fehlte ihm dazu sein Rucksack. Am Ende der Rolltreppe fand er sich damit ab, dass das heute mit der Einschreibung definitiv nichts mehr werden wolle. Er kehrte vor den geöffneten Türen seiner wartenden S-Bahn um, um wenigstens noch seine Kopfhörer und sein Zeugnis zu retten.

Auf seinem Rückweg unter der gläsernen Kuppel des Hauptbahnhofs kam ihm im Menschenstrom ein solariumgebräunter, junger Mann mit Sonnenbrille und schwarzen, auffällig gegelten Haaren entgegen. Er trug ein bedrucktes, sandfarbiges T-Shirt, rote Shorts und blaue Sneakers. Während der Bursche einen rauchenden Joint in der Hand hielt, ließ er sich von Sennheiser-Kopfhörern beschallen, die Bartos just verklüngeltem Modell bis ins Detail glichen. Irritiert blieb Barto stehen. Der Typ surfte auf der Welle seiner Musikdatei vorbei, ohne Barto die geringste Beachtung zu schenken. Seltsam. Barto verharrte einen Moment, bevor er ihm zügig zu folgen begann.

Entschlossen ihn auf die Kopfhörer anzusprechen, hatte er ihn fast eingeholt, als der Verfolgte auf die Bahnhofsuhr schaute und zu der Rolltreppe rannte, auf der Barto zuvor seinen Verlust bemerkt hatte. Barto übernahm den Spurt. Der Typ ließ den Joint fallen und verschwand um die Ecke. Barto hastete ihm unterm rot blinkenden Gleis-Display vorbei über die Treppe bis zur Bahn hinterher. Vergebens. Die Türen hatten sich geschlossen. Während sich die Waggons in Bewegung setzten, grinste der bekiffte, schadenfrohe Sack mit den Kopfhörern heraus.

Wütend trat Barto laut scheppernd gegen die nächste Mülltonne und schreckte damit eine kleine Gruppe wartender Fahrgäste auf dem gegenüberliegenden Gleis auf. Sie drehten sich um und sahen Barto noch von dannen ziehen, bevor sie sich wieder gleichgültig ihrem leeren Gleis zuwandten. Es konnte noch kommen, was wollte. Barto verfluchte diesen Tag schon am Vormittag.

3. Unus pro multis

„Na, hast du dich eben auf'm Bahnhofsklo prostituiert?“, schmiss ihm der fette Dealer höhnisch an den Kopf, als er Barto auf sich zuschlurfen sah. Mit einem Metalleimer und einem großen buschigen Pinsel in der Hand stand er in anthrazitfarbener Jogginghose, schwarzen Sandalen und seinem verschwitzten kurzärmligen grünen Hemd vor der Theke auf dem Weg zum verlassenen, zugemüllten Tisch der Oberstufenschüler. „Was kannst du dir denn für einmal Schwanzlutschen leisten? Wieder 3 g White Widow und vielleicht noch ...?“

„Ich hab meinen Rucksack hier vergessen!“, redete Barto laut und deutlich dazwischen, während er versuchte sich nicht provozieren zu lassen. „Ein kleiner schwarzer. Da waren Sennheiser-Kopfhörer, mein Abiturzeugnis und eine Flasche Sonnenspray drin. Da hab ich ihn abgesetzt.“ Er zeigte zum Kassenbereich.

Der Händler stampfte zum verlassenen Tisch, ließ seelenruhig die ausgesaugten Trinkpäckchen, die leeren Keks-, Chips- und Schokoladenschachteln in den Eimer fallen und leerte mit Pinsel und stoischer Sorgfalt den Aschenbecher aus. Als Barto den Mund öffnete, um erneut auf sich aufmerksam zu machen, schaute ihn der Gigant mit seinen durchdringenden Augen an, ließ den Pinsel in seine Hosentasche gleiten und erwiderte lächelnd: „Ja, dann komm mal mit!“

Barto folgte ihm bereitwillig zu der Stahltür mit dem runden stählernen Knauf und der schwarzen Aufschrift „PRIVAT“.

„Hey Erdal! Räum weiter auf!“, befahl der Ladenbesitzer seinem verpickelten, türkischen Mitarbeiter, der ein kurzes Kopfnicken zurückwarf, um sich gleich wieder dem Herauslösen des Posters aus der Mitte seines Motorsportmagazins zu widmen. Der Cannabishändler zog sein Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete die massive Stahltür, bevor beide ins fensterlose, aber hell erleuchtete, penibel aufgeräumte und klinisch saubere Büro eintraten. Als die Tür hinter Barto ins Schloss fiel, schüttete der Dealer den Inhalt seines Metalleimers in den Müllschacht, der in der vor ihm liegenden Ecke des geräumigen Büros die Reststoffe ihrer Trennung und Wiederverwertung bzw. Zerkleinerung und Vernichtung zuführte. Darüber, direkt unter der Decke, fand in der Wand hinter einer Blende aus Stahllamellen ein Lüftungsschacht sein Ende.

Von Barto aus gesehen rechts neben dem Dicken stand ein schwarzer Drehsessel vor einem Schreibtisch mit schwarzem Gestell, grauen Schubladen und gläserner Platte. Auf der Glasplatte leuchtete eine weiße Lampe und davor lagen ein grüner Schnellhefter, einzelne Zettel, diverse klassische Büroartikel und ein benutzter gläserner Aschenbecher. Unmittelbar an den Tisch reihten sich ein heller Deckenfluter, ein klobiger, zweiflügeliger Panzerschrank und eine riesige Tiefkühltruhe auf. In der Wand zu Bartos Linken versperrte eine weitere massive Stahltür den Durchgang. An der selben Wand, zwischen dieser Tür und dem Müllschacht, bot ein breites, tiefes, eckiges, weißes Waschbecken mit einem großen, an der Wand befestigten Seifenspender und einem blutroten Handtuch eine annehmbare Waschmöglichkeit.

Direkt zu Bartos Rechten unter einem ausgeschalteten Wandbildschirm stapelte sich auf einem dunklen, vermackten Holztisch ein gutes Dutzend Haschischplatten neben einem Hackebeil. In der schräg gegenüberliegenden rechten Ecke nahe der Tiefkühltruhe fiel Barto des Weiteren ein schlichtes Holzbett ins Auge, dessen Kopfkissen ebenso wie die beiden übereinander gelegten Matratzen mit weißer Wäsche bezogen waren. Zu dem ordentlich zurechtgelegten Kissen gesellte sich eine dunkelbraune, einmal sorgfältig gefaltete Wolldecke. Dem Fußende des Bettes gegenüber luden in einer weiteren Ecke ein Sofa mit verschlissenem dunkelblauem Cordbezug und davor ein heller, hölzerner Couchtisch mit olivgrüner Tischdecke zum gemütlichen Verweilen ein.

Nachdem der Dealer seinen Mülleimer abgesetzt hatte, wandte er sich Barto zu und fragte: „Warst du schon mal in Südamerika?“

„Was?“, entgegnete Barto.

„Ich kenne aber kein Land, das ‚Was’ heißt“, brüllte ihn der Dicke mit strenger Stimme an.

Kurz musste Barto über den Humor des Mannes schmunzeln, bevor er sich nochmals freundlich nach seinem Rucksack erkundigte. Daraufhin holte der Händler aus der Schreibtischschublade hinter sich ein kleines mit Ornamenten verziertes Holzröhrchen hervor, hielt sich ein Ende davon an den Mund und drehte sich zu Barto. Im nächsten Moment spürte Barto den Stich eines Pfeils in seiner Brust und sackte in sich zusammen. Sein Kopf schlug auf den Boden auf und Barto blieb ohnmächtig auf der Seite liegen.

Bald kehrte zusammen mit seinem Bewusstsein die schreckliche Realität mit unerträglichen Kopfschmerzen und einer klaffenden Platzwunde zurück. Er lag in regloser, annähernd stabiler Seitenlage auf dem Boden, während ihn grenzenlose Panik durchfuhr. Sein Herz fing an zu rasen. Er wollte aufstehen, aber er konnte nicht. Er wollte sich irgendwie bewegen, sich wegdrehen, sich verteidigen und ganz besonders den schmerzhaften Giftpfeil aus seiner wild krampfenden Brust ziehen. Er konnte nicht.

Ein höllisches Brennen entfachte sich in seiner Einstichwunde und breitete sich wie ein Lauffeuer in seinem gesamten Körper aus. Er war motorisch gelähmt, aber bei vollem Bewusstsein. Nur noch seine Augen gehorchten seinem Willen. Der Dealer stapfte auf ihn zu und Barto setzte alles daran, ihn anzuschreien. Doch es führte bloß zu einem von Wut und Schmerz verzehrten Blick aus den Augenwinkeln.

„Als ich in deinem Alter war“, erzählte er und zog Barto den Pfeil aus der Brust, „nutzte ich die Chance, die letzten verbliebenen Indiostämme zu besuchen. Das war eine unglaublich lehrreiche Erfahrung.“

Das orangefarbige Lichtsignal des Wandbildschirms und die Star-Wars-Titelmelodie unterbrachen seinen Monolog. Er schaute auf und befahl: „Erwidern!“

Der Bildschirm blendete Erdal ein, wie er wenige Meter entfernt hinter der hölzernen Theke an der Kasse stand und einen kleinen geöffneten schwarzen Rucksack hochhielt. „Ey, Schaffner! Ich hab was in'er Ecke gefunden. Da is'n Zeugnis und Sonnenspray drin.“

„Ich komme!“, entgegnete sein Vorgesetzter, stampfte zum Monitor, beendete das Gespräch, legte den Pfeil neben den Haschischplatten ab und kehrte zu Barto zurück. Schnaufend nahm er Bartos Beine in die Hand und zog ihn wie ein Stück sperriges Frachtgut in die Ecke hinter der Tür, wobei Bartos schleifende Kopfwunde sporadisch, aber sehr kontrastreich, eine rote Blutspur auf den weißen Bodenfliesen hinterließ. Barto blieb schließlich mit dem Kopf zu den Türangeln und dem Gesicht zum Boden liegen. „Nicht weglaufen!“, befahl der Witzbold und trat hinaus.

Barto verzichtete darauf, sich die Horrorszenarien, die ihm schwanten, auszumalen. Stattdessen begann er stumm und verzweifelt zu beten: „Lieber Gott, bitte hilf mir! Rette mich! Linder meine Schmerzen! Vergib mir, dass ich an dir gezweifelt habe! Ich bin ein Sünder. Vergib mir meine Sünden! Rette meine Seele und rette mein Leben! Ich bin zu wichtig für diese Welt. Ich darf noch nicht sterben. Steh mir bei! Lass diesen Wichser einen Herzinfarkt erleiden, vom Blitz treffen oder einfach vom Erdboden verschlucken! Mach was! Vater unser, im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden! Unser tägliches Brot gib uns heute und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern und Gläubigern! Amen.“

Barto konzentrierte sich noch einmal mit aller Macht darauf, sich wenigstens ansatzweise zu bewegen. Vergebens. Zu seinem schwachen Trost ließen langsam die Krämpfe und Schmerzen nach. „Ruhig bleiben, Bartholomäus“, redete er sich ein, „dir wird nichts passieren. Wahrscheinlich ist das nur der derb beschissene Scherz eines harmlosen Psychopathen. Er kommt gleich wieder, spritzt mir das Gegengift, ich kann wieder aufstehen, er lacht sich fett und ich breche ihm die Nase!“

Sein Handy vibrierte. Vielleicht Papa oder Mama? Vielleicht Anja! Oh, süße Anja! Sie war doch dazu bestimmt, die Frau seines Lebens, die Mutter seiner Kinder zu werden! Konnte er dann so jung überhaupt sterben? Das wäre definitiv gegen das Schicksal. Aber nichts konnte stärker als das Schicksal sein. Er spürte ganz deutlich, dass sein Leben so einfach nicht enden durfte.

Nach dem zweiten Vibrieren seines Handys begann der Feel Good Hit Of The Summer von den Queens Of The Stone Age aus seiner Hosentasche zu schallen. Es war auch möglich, dass ihm sein von Metastasen zerfressener Opa alles Gute zum Studienbeginn wünschen wollte. Die Gnadenlosigkeit des Todes ließ ihn in tiefe Traurigkeit versinken. Auch das Verstummen seines Handys, das Ausbleiben der Krämpfe und der Rückzug seiner brennenden Schmerzen in die Einstichwunde des giftgetränkten Pfeils konnten daran nicht das Geringste ändern.

Als der Dealer mit Bartos Rucksack zurückkehrte, floss über Bartos Gesicht ein Strom aus Tränen, der sich mit dem Blut seiner frischen Kopfwunde seinen Weg nach unten bahnte, um auf den weißen Fliesen in einer kleinen, hellroten Lache zu münden. Der Ladenbesitzer schleuderte den Rucksack in seinen Drehsessel, kniete sich schwerfällig neben Barto und durchsuchte Bartos Hosentaschen. Dass Barto weinte, bemerkte er nicht. Schnell wurde er fündig und zog Bartos Joint, sein Handy und sein Portemonnaie heraus. Nachdem er sich aufgerichtet hatte, ging er zum Schreibtisch, legte das Handy und die Geldbörse auf den Tisch und fläzte sich mit Bartos Rucksack auf dem Schoß in den Sessel.

Der Hanfhändler zündete den Spliff an und paffte gemütlich ein paar tiefe Züge, bevor er ihn in dem gläsernen Aschenbecher zur sicheren Aufbewahrung ablegte. Mit seinen mächtigen, fleischigen Wurstfingern, die aus seiner dichten Armbehaarung herauswuchsen, trennte er den Akku und die SIM-Karte von Bartos Handy, legte die drei Teile auf den Tisch und breitete daneben den Inhalt des Bartholomäus’schen Portemonnaies aus. Nachdem er eilig Bartos Kärtchen- und Zettelwirtschaft durchforstet hatte, warf er einen interessierteren Blick auf Bartos Personalausweis sowie seinen Unfallhilfe- und Blutspenderpass. Alsdann holte er den grünen Schnellhefter und einen Bleistift vom Schreibtisch, um einige Notizen aufzuzeichnen.

„Du fragst dich sicherlich, was das hier soll.“ Der Dealer klemmte sich erneut den Joint zwischen die Finger, nahm einen weiteren tiefen Zug und schien kurz nachzudenken. „Kennst du die oberste Kifferregel?“, fragte er ihn schließlich. Barto verstand beim besten Willen nicht, was der Dicke von ihm wollte, und starrte durch seine verheulten Augen hilflos auf den Boden. Der Fettwanst ließ seinen massigen Oberkörper nach vorne schnellen und riss sein Maul auf. „Wer baut, der haut! Egal wessen Weed, Blättchen oder Tabak es ist!“, brüllte er mit rot anlaufendem Kopf und in lautem Kasernenton, bevor er sich wieder langsam und tief durchatmend zurücklehnte. Von einem neuen Geist beseelt betrachtete er lächelnd und voller Stolz sein gedrehtes, qualmendes Werk, bevor er es im Aschenbecher ausdrückte.

„So. Was haben wir denn hier?“, fragte er gespannt, als er Bartos Zeugnis aus dem Rucksack und anschließend in Augenschein nahm. „Ahhh, soziales Engagement!“, lobte der Fette ironisch. „Ja, aber jetzt mal ehrlich“, sagte er nach eingehender Lektüre ernster, „jedes Jahr 13 bis 15 Punkte in Sport sind durchaus respektabel - und selten.“

Aus dem zerzausten Barthaar des Kaufmannes erhob sich ein breites, freches Grinsen. Er steckte das Zeugnis in den Rucksack und stellte den Rucksack neben den Stuhl. „Das zeugt von Kondition und gesunden Organen. Du bist ein Prachtexemplar!“, befand der Dicke und klatschte zufrieden in die Hände.

Er holte sein Handy aus der Tasche, wählte eine Nummer und hielt es sich ans Ohr. Nach einer stillen Minute, in der er sich Weiteres notiert hatte, fing er an zu reden: „Guten Morgen, Frank. Ich hab was für dich. Sportler, männlich, 19 Jahre, 0 positiv, 1,83 m.“ Der Dealer schwieg und lauschte. „Keine Stunde. Der Körper ist noch warm. Du kriegst beide Nieren mit der Bauchspeicheldrüse zum vereinbarten Preis. Bist du auch an Lunge, Penis oder Hoden interessiert? - Okay. - Ich hab schon einen Direktabnehmer für das Herz. Da ist nichts mehr zu machen. - Du kannst dir ja auf dem Hinweg mal überlegen, was du bereit bist für ein anderes Herz gleicher Qualität hinzublättern. Vielleicht kann ich dir in den nächsten Tagen ja noch eins besorgen. - Kannst du in einer halben Stunde hier sein? - Halb eins ist auch gut. - Ruf bitte kurz durch, bevor du reinkommst! - Bis nachher!“

Der Händler beendete das Gespräch und wählte erneut. „Guten Morgen! Ich habe ein frisches, gesundes Herz für Sie. - Diese Leitung ist garantiert abhörsicher. - Ein gesunder durchtrainierter 19-jähriger Maurer, Blutgruppe 0 positiv, 1,83 m. Vom Gerüst gefallen. Sofort tot. Ein Illegaler ohne Arbeitserlaubnis, weder Freunde noch Familie hier in Deutschland. Niemand wird ihn so schnell vermissen. - 90 000. Aufgeteilt in neun Bündel mit jeweils hundert 100-Euro-Scheinen.“ Der Dealer schwieg und runzelte die Stirn. „An dem Preis ist nicht mehr zu rütteln. Ich möchte Sie höflich daran erinnern, dass man das Organ morgen wegschmeißen kann und wir beide uns hier nicht leisten können Zeit zu vertrödeln. - Sie können mir vertrauen, dass alle Spuren verwischt werden. - Sie schicken einen Kurier mit dem Geld und der Kühlbox zum Dortmunder Hauptbahnhof. Er soll pünktlich um 13 Uhr einen kleinen Coffee-Shop namens Hot Pot am Südeingang des Hauptbahnhofs betreten. - 13 Uhr. Hot Pot. Es ist unbedingt erforderlich, dass der Kurier zur Bestätigung kurz bei mir durchruft, bevor er den Laden betritt. Er kommt alleine oder der Deal platzt. - Ja. Jeder Anruf an diese Nummer liegt unter dem Radar der Behörden. Ich habe viel Geld und Mühe in die Verschlüsselungstechnik gesteckt und ich würde niemals so frei von der Leber weg quatschen, wenn ich mir nicht absolut sicher wäre. - Er soll Erdal, meinen Assistenten, nach ,Boca Loca' fragen. Erdal wird ihn dann in die Küche führen, wo die Übergabe erfolgt. - Richtig. - Es hat mich gefreut mit Ihnen Geschäfte zu machen. Gute Genesung.“

Der Händler legte auf und seufzte leise, bevor er weitere Notizen niederschrieb und seinen nächsten Kunden anrief. „Guten Morgen! Ich habe eine Leber für Sie besorgt. - Ich hab sie noch nicht gesehen, aber ich gehe davon aus, dass sie das ist. - Ein 19-Jähriger Teenager mit gesundem, athletischem Körper. - Mehr darf ich zum Spender nicht sagen. - Der Kurier soll auf die Minute pünktlich um halb zwei, also 14:30 Uhr, äh, ich meine um 13:30 Uhr, mit den 80 000 € und einer Kühlbox am Südausgang des Dortmunder Hauptbahnhofs den Coffee-Shop Hot Pot betreten. Die Übergabe erfolgt in der Küche. Das Kennwort gegenüber meinem türkischen Angestellten heißt ‚Burn Down Babylon’. Haben Sie noch Fragen? - Wenn McDonald’s und Subway rechts von Ihnen liegen, gehen Sie weiter nach links und nach wenigen Metern sehen Sie auf der linken Seite das Hot Pot. Veranlassen Sie bitte, dass der Kurier zehn Minuten vorher, also pünktlich um 13:20 Uhr, zur Bestätigung kurz bei mir durchruft! - Es hat mich gefreut mit Ihnen Geschäfte zu machen. Ich wünsche Ihrem Auftraggeber gute Besserung.“

Der Dealer beendete das Gespräch und kritzelte eine letzte Notiz. Danach erhob er sich aus seinem Stuhl, bewegte sich zwei Schritte zu seinem gepanzerten, zweiflügeligen Büroschrank und entriegelte das zugehörige Schloss mit einem speziellen Sicherheitsschlüssel aus seinem Schlüsselbund. Aus der linken Schrankhälfte holte er die folgenden, steril verpackten Gegenstände hervor: Den größten weißen Kittel, den die Konfektion zu bieten hatte, einen dicken Plastikbeutel prall gefüllt mit Tupfern, ein Paar weiße Latexhandschuhe und weiterhin eine OP-Haube, eine OP-Hose, einen medizinischen Atemschutz, ein Paar Schuhüberzieher – alles in Hellgrün – sowie Skalpelle, Haken, Klemmen und weitere chirurgische Instrumente auf einem Metalltablett. Nachdem er dies alles auf dem Tisch abgelegt hatte, griff er sich eine elektrische Knochensäge mit einem steril verpackten Sägeblatt, eine ebenfalls steril verpackte weiße Plastikplane und legte beides in den Drehsessel. Als letztes entnahm er der linken Schrankhälfte ein gelbes, zylinderförmiges, aber nach oben schmal zulaufendes Behältnis, das mit fast einem Liter Jodtinktur gefüllt war. Die gelbe Flasche Desinfektionsmittel wurde von einem schwarzen Schraubverschluss verschlossen, an dessen Innenseite, versteckt in dem Gefäß, ein Pinsel zum Auftragen befestigt war.

Der Organhändler stellte die Tinktur auf den Tisch und öffnete die rechte Schranktür, hinter der sich ein Kühlschrank verbarg. Aus diesem holte er zwei verschlossene Plexiglasbehälter mit knapp einem Liter transparenter Nährstofflösung darin und stellte sie auf die Tiefkühltruhe. Er schaltete noch eine gleißend helle Deckenleuchte ein, bevor er sich minutenlang, gründlich und fröhlich pfeifend die Hände mit Wasser und Seife wusch. Danach zog er sich, seinen Rücken Barto zugewandt, die Atemmaske, die OP-Haube und -Hose, den Kittel und die Schuhüberzieher an, während er sich mit gedämpfter, undeutlicher Stimme wieder seinem Opfer mitteilte: „Seit der Legalisierung kann ich vom Dopehandel allein schlecht leben. Hohe Steuern, Miete, Auflagen und so'n Stuff. Da hab ich Organhandel für mich entdeckt. Was für Summen da über den Tisch gehen, hast du ja gehört. Und der Shop ist für mich die beste Tarnung! Wer von den Perzern da draußen ist mir schon ein gefährlicher Zeuge?“