Lukas und das Geheimnis des Geisterwaldes - Goetz Markgraf - E-Book

Lukas und das Geheimnis des Geisterwaldes E-Book

Goetz Markgraf

4,8

Beschreibung

Der elfjährige Lukas und sein Freund Nico sind fasziniert von einem geheimnisvollen grünen Leuchten im Geisterwald. Durch Zufall stoßen sie auf die Quelle des Lichtes. Eine turbulente Zeit beginnt, in der die beiden Jungen außerirdische Freunde finden, entscheidend zur Lösung eines kniffligen Problems beitragen und abenteuerliche Reisen weit über die Grenzen unseres Planeten unternehmen. Ein spannendes und mitreißendes Buch, das nebenbei interessantes Wissen über den Weltraum vermittelt.

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In der Geisterwald-Trilogie sind erschienen:

Band 1: Lukas und das Geheimnis des Geisterwaldes

Band 2: Lukas und der Notruf vom Jupiter

Band 3: Lukas und die Gefahr von der Venus

Inhaltsverzeichnis

Die Ankunft

Der erste Schultag

Lukas traut seinen Ohren nicht

Das Rätsel des Geisterwaldes

Ein Blick ins Weltall

Sonne, Mond und Sterne

Im Geisterwald

Die Forscher entdecken ein großes Geheimnis

Die Kuppel im Wald

Unter und über der Erde

Schritte auf dem Mond

Schrecken im Schwimmbad

Behalten oder nicht?

Die Achimsburg

Nico und Lukas bekommen einen Schreck

Kawett erzählt

Geheimer Ort für eine Mine gesucht

Max ist ihnen auf der Spur

Das ist doch nur ein toter Felsbrocken!

Wir sind nicht allein

Die Reise zu den Sternen

Die Ankunft

Lässig und ein bisschen gelangweilt saß er vor den Kontrollen des Steuerpultes. Plötzlich, ohne jede Vorwarnung, erschütterte ein Schlag das Raumschiff. Die Anzeige vor ihm flammte in grellroten Warnfarben auf.

Was ist los?, dachte er noch, da riss ihn eine weitere Erschütterung fast von seinem Hocker. Er krallte sich am Steuerpult fest und sah sich hektisch um. Auf allen Bildschirmen blinkten Alarmsymbole in Rot und Gelb, aus einem schossen Funken. Die großen Monitore zeigten das Schwarz des Weltraums und winzige, weit entfernte Sterne.

Wir sind nicht mehr im Hyperraum!, begriff er. Was ist passiert? Wo ist die Sonne?

Wieder hörte er eine Explosion, wieder schüttelte sich das Schiff. Diesmal konnte er sich nicht halten. Hart schlug er auf dem Boden der Zentrale auf.

Wo ist die Sonne?, dachte er verzweifelt. Wo ist die riesige rotleuchtende Feuerkugel?

Er rappelte sich auf und eilte zu den Kontrollen. Doch erneut wurde das ganze Schiff durchgerüttelt. Wieder riss es ihn von den Füßen. Er wurde quer durch die Zentrale geschleudert.

Der Generator! Entsetzt riss er die Augen auf. Ohne Sonne wird er platzen!

Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er richtig Angst.

Das Schiff bebte unter gewaltigen Erschütterungen. Alles verschwamm vor seinen Augen, seine Schultern taten weh, er zitterte am ganzen Körper.

Wo ist die Sonne?, flehte er in Gedanken. Der Generator braucht doch die Sonne!

Erneut kämpfte er sich hoch und humpelte zu den Kontrollen. Was war schief gelaufen?

Noch einmal krachte es. Ein erneuter Funkenregen aus dem zerstörten Schaltpult ließ ihn zusammenzucken. Zweimal knackte es noch, dann war auf einmal Stille.

Vorsichtig richtete er sich auf und sah sich um. Die Kommandozentrale bot einen fürchterlichen Anblick: zerstörte Steuerungen und rauchende Schaltpulte, dazwischen lagen umgestürzte Hocker. Auf allen noch funktionierenden Anzeigen flackerten rote Warnleuchten.

Mit einem Mal ertönte aus den Tiefen des Schiffes ein langgezogenes, metallisches Stöhnen.

»Was denn jetzt noch?«, murmelte er hilflos vor sich hin. »Bitte nicht der Generator.«

Wieder flehte er: »Wo ist die Sonne?«

Er zwang sich, auf die Bildschirme zu schauen.

Ist das da die Sonne? Soll dieser winzige Lichtpunkt etwa unser Zielstern sein?

Das Schiff war viel zu weit davon entfernt!

Kein Wunder, dass alles überlastet ist, so weit weg. Hier gibt es nicht genug Energie!

Ohne Vorwarnung brach noch einmal ein gewaltiges Krachen los. Erneut wurde er umgerissen und prallte hart gegen eines der Kontrollpulte. Ein Blitz zuckte aus dem Schaltpult zu seiner Rechten.

Zitternd hielt er den Atem an. Kam noch ein Schlag? Mit zusammengekniffenen Augen erwartete er die nächste Explosion.

Doch alles blieb still.

Zögernd fragte er die Anzeigen der Lebenserhaltungssysteme ab.

»Das gibt’s doch nicht«, entfuhr es ihm überrascht. »Die innere Hülle ist noch intakt.«

Wie durch ein Wunder verlor das Schiff keine Atemluft.

»Ruhig«, ermahnte er sich, »ganz ruhig! Erst einmal umschauen. Wo um alles in der Welt sind wir eigentlich?«

Die Ortungsschirme arbeiteten noch. Neugierig schaute er auf die Anzeige. Das Raumschiff trieb am Rande eines kleinen Sonnensystems: acht Planeten und einige weitere große und kleine Himmelskörper. Die kleine gelbe Sonne war etliche Lichtstunden entfernt.

Er schüttelte den Kopf, fassungslos starrte er auf die Daten.

Gelbe Sonne? Acht Planeten?

Dann schrie er verzweifelt: »Das ist das falsche System!«

Der erste Schultag

Der Lärm und das Geschrei der Schüler schallten Lukas entgegen, als er aus dem Auto stieg.

»Bist du sicher, dass wir nicht mitkommen sollen?«, fragte sein Vater.

Das fehlt mir gerade noch, dachte Lukas. Laut sagte er: »Nein, ist schon okay. Ich schaffe das!«

»Viel Spaß in der neuen Schule«, rief seine Mutter. Die Tür klappte zu, sein Vater gab Gas, und der Wagen rauschte davon.

Lukas atmete einmal tief ein, straffte sich und betrat den Schulhof. Eine fremde, neue Welt in einer fremden, neuen Stadt. Vor einer Woche waren er und seine Eltern nach Neuendorf gezogen, und er kannte noch niemanden.

Eigentlich hatte er vorgehabt, in der Nachbarschaft andere Kinder zu treffen, aber der blöde Regen hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die ganze Woche hindurch hatte es wie aus Eimern geschüttet.

Mist!

Er hatte sich so sehr gewünscht, vor dem ersten Schultag jemanden zu kennen, einen Freund zu haben. Jetzt kam er sich ganz klein vor. Diese vielen unbekannten Kinder auf einmal waren ihm unheimlich. Jeder hier kannte die anderen.

Nur ich bin allein, dachte Lukas. Er versuchte, sich Mut zu machen. Bestimmt lerne ich bald jemanden kennen.

Viel half es nicht.

Mit leicht schleppendem Schritt, die Schultern nach vorne, schlurfte er über den Platz. Dabei bemühte er sich, so weit wie möglich am Rand zu bleiben, ohne dass es so aussah, als wolle er sich verstecken.

Lasst mich erst einmal alle in Ruhe, dachte er, lehnte sich mit dem Rücken gegen ein Geländer und besah sich das Treiben auf dem Schulhof.

Eine quirlige Menge von großen und kleinen Kindern, alle redeten durcheinander, einige spielten Fangen, die Älteren standen in Grüppchen herum, irgendwo wurde Fußball gespielt.

Da kam eine Gruppe von vier Jungen auf ihn zu, alle etwa elf Jahre alt, so wie er auch. Der Vorderste der Gang war ein großer, dicklicher Junge, der ziemlich gemein aussah.

Oh nein, dachte Lukas.

Der fremde Junge rief seinen Leuten übertrieben laut zu: »Na, wen haben wir denn hier? Ein neues kleines Häschen?«

Er wandte sich Lukas zu. »Buh! Lauf und versteck’ dich!«

Die anderen lachten im Chor.

Na prima, dachte Lukas und fing leicht an zu zittern. Mein erster Tag, und prompt kommt der Grobian der Schule und macht Stress!

»Schaut euch den an!«, rief der Dicke, dem Lukas’ Unbehagen nicht verborgen geblieben war. »Hat Schiss wie ’n Ochse.«

Wieder erklang das dreistimmige Lachen. Es wirkte fast wie einstudiert.

Schiss wie ein Ochse? Lukas runzelte die Stirn. Was soll das denn heißen?

Der Große verschränkte die Arme und funkelte Lukas an.

»So, jetzt werde ich dir mal erklären, wie das hier läuft. Ich bin auf diesem Schulhof nämlich der Boss und …«

Eine erwachsene Stimme unterbrach ihn in seinem Vortrag. Ruhig, aber bestimmt sagte jemand neben Lukas: »Max, lass den Jungen in Ruhe!«

Der Angesprochene sah auf und grinste den Sprecher frech an.

»Ich tu’ ja gar nix«, meinte er betont unschuldig und schlenderte langsam und gleichgültig mit seinem Gefolge davon. Lukas drehte sich um. Neben ihm stand ein Lehrer. Ohne ein weiteres Wort wandte der sich ab und ging weg. Offenbar hatte er Erfahrung damit, den anderen – Max – zu ermahnen.

Fürs Erste war Lukas in Sicherheit. Ihm war aber klar, dass Max ihn sich wieder vornehmen würde. Trotzdem war er dem Lehrer dankbar, dass er sich eingemischt hatte. Wenn Lukas erst einmal Freunde hätte, dann würde er sich auch nicht mehr so leicht einschüchtern lassen. Normalerweise war er nämlich überhaupt kein Angsthase.

Als der Schulgong ertönte, strömten alle Kinder ins Gebäude. Lukas ließ sich etwas Zeit und kramte den Zettel hervor, den seine Mutter ihm gegeben hatte. »Raum 117« stand darauf. Nach kurzem Suchen hatte er die richtige Klasse gefunden. Vor der geschlossenen Tür atmete er noch einmal tief ein und aus, dann klopfte er an.

»Herein«, erscholl eine freundliche Stimme von der anderen Seite.

Er öffnete die Tür. Seine neue Klasse. Alle starrten ihn an, die Schüler und auch die Lehrerin. Verlegen stammelte er: »Äh … Entschuldigung. Ich bin Lukas Pohl.«

»Ach so, der Neue. Komm nur herein. Herzlich willkommen in der 6b. Ich bin die Frau Siebald.« Sie wandte sich an die Klasse. »Kinder, das ist Lukas Pohl. Seine Eltern sind gerade erst zu uns nach Neuendorf gezogen, er wird ab jetzt in unserer Klasse sein. Komm herein. Such dir einen Platz!«

So etwas hasste er. Wie sollte er sich denn einen Platz aussuchen, wenn er niemanden kannte. Wo waren denn überhaupt freie Plätze? Er sah sich um und konnte drei leere Stühle ausmachen. Und noch etwas konnte er ausmachen: Max! Der dumme Riese vom Schulhof saß vorne in der zweiten Reihe. Und direkt neben ihm war einer der freien Plätze.

Lieber lasse ich mich vierteilen, dachte Lukas. Max grinste ihn so höhnisch an, dass es fast wehtat.

Der zweite freie Platz war mitten in einer Horde von Mädchen. Wäre natürlich ganz nett, aber … nee, dachte er. So inmitten einer Menge gackernder Mädels wollte er dann doch nicht sitzen.

Der dritte freie Platz war ganz hinten in der letzten Reihe. Dort saß ein Junge mit strohblonden Haaren, die wirr und ungekämmt in alle Richtungen standen. Der Junge lächelte ihn fröhlich und aufmunternd an. Das gefiel ihm. Aber noch mehr gefiel ihm der Tornister des Jungen. Auf der Vorderseite war ein großes Raumschiff aufgedruckt. Und das war kein anderes als die Blizzard, das Raumschiff von Captain Amazing, dem Held aus den Comics, die Lukas immer las.

Ihm fiel die Entscheidung nicht schwer. Ohne zu zögern ging er quer durch den Klassenraum auf den Jungen mit seinem genialen Toni zu.

Kaum war er dort, ging ein Stöhnen durch die Klasse, und er meinte so etwas wie »Och ne, nicht zu dem Sönderborg« zu hören.

Lukas wurde unsicher. War es ein Fehler, sich hier hinzusetzen? Der Junge schien nicht besonders beliebt zu sein.

Mist, dachte er, Fettnapf!

Aber dann schaute er noch einmal auf die Blizzard und den lächelnden Jungen, der ihn erwartungsvoll ansah, und setzte sich.

»Hi, ich bin Nico«, zischte der andere ihm zu.

»Und ich bin Lukas«, sagte Lukas.

»Weiß ich, das sagtest du schon«, gab Nico zurück, und beide mussten kichern. Auf einmal schien der Tag ein kleines Bisschen heller geworden zu sein.

In der Pause standen Nico und Lukas zusammen, etwas abseits von den anderen.

»Hey, was ist das für ein genialer Toni«, fragte Lukas.

»Cool, ne?«, fragte Nico. »Hat mir mein Dad geschenkt.«

»Boah ey, einen Toni mit der Blizzard hätte ich auch gerne«, sagte Lukas neidisch.

Nico riss die Augen auf. »Du kennst das Schiff? Du kennst Captain Amazing? Ich dachte immer, ich wäre der Einzige auf der Welt, der das liest.«

»Quatsch!«, rief Lukas. »Ich habe alle Hefte«, fügte er großspurig hinzu.

»Alle?«, staunte Nico ungläubig. »Auch das mit den Sumpfmonstern?«

»Äh …«, sagte Lukas, der sich ein wenig zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte. »Welche Sumpfmonster?«

»Die vom Planeten Xirxelpirk! Die musst du doch kennen! Das ist das beste Heft überhaupt!«

»Na ja, vielleicht habe ich doch nicht alle Hefte«, gab Lukas kleinlaut zu. »Aber ich habe in jedem Fall Heft Nummer eins.«

»Heft eins! ›Das zweite Universum‹!«, rief Nico aus. Zwei vorbeigehende Schülerinnen aus einer höheren Klasse schüttelten den Kopf. Die beiden Jungen merkten es nicht einmal.

»Kann ich mir das Heft mal ausleihen?«

Lukas wurde unsicher. Er kannte Nico ja noch gar nicht. Also sagte er: »Wenn du Zeit hast, dann komm doch nach der Schule mit zu mir, und ich zeige es dir.«

»Super Idee«, rief Nico.

Bei Lukas zu Hause stapelten sich noch etliche Umzugskisten. In der einen Woche, die sie in Neuendorf wohnten, waren seine Eltern nicht dazu gekommen, alles auszupacken.

»Warum hetzen?«, hatte seine Mutter gesagt. »Wir wohnen noch lange genug in diesem Haus.«

Lukas mochte die Unordnung in der Bude. Es hatte Ähnlichkeiten mit seinem Zimmer.

»Da bin ich wieder«, rief Lukas, als er zur Tür hereinkam, aber es war niemand zu Hause. Das war auch nicht zu erwarten gewesen. Mittlerweile wurde es meistens halb drei, bis einer seiner Eltern von der Arbeit kam.

»Wohnst du hier alleine?«, fragte Nico mit großen Augen.

»Blödsinn! Meine Eltern sind im Büro. Sie arbeiten bei einer Werbeagentur«, erwiderte Lukas. »Gerade haben sie den Arbeitgeber gewechselt, daher mussten wir umziehen.«

»Cool, dann hast du ja die Bude für dich ganz alleine«, staunte Nico.

»Manchmal zumindest«, stimmte Lukas zu. »Aber meistens kommt meine Mutter nachmittags nach Hause und arbeitet dann hier am Laptop.«

Nico stöhnte. »Mein Dad ist immer zu Hause. Immer! Er hat sein Labor bei uns im Keller. Manchmal wünschte ich mir, er würde auch mal rausgehen und woanders arbeiten, aber das tut er nie!« Dann blickte er Lukas an. »Kann ich jetzt das Heft sehen?«

»Komm mit, hier geht’s rauf«, sagte Lukas und zog Nico zur Treppe.

In Lukas’ Zimmer herrschte mindestens so ein Durcheinander wie im Flur unten. Aber das Bett war frei und ein Stuhl auch. Lukas suchte, bis er die Umzugskiste mit den Captain Amazing-Heften fand. Er kippte den Inhalt einfach auf den Boden und nahm Heft eins heraus.

Nico hielt es in seinen ausgestreckten Händen vor sich, als wäre es der Goldschatz der Azteken. Lange sagte er nichts, dann: »Wow. Das Heft wollte ich immer schon ’mal lesen.«

Die Jungen setzten sich nebeneinander auf das Bett und verfolgten die Abenteuer des strahlenden Helden Captain Amazing.

Irgendwann viel später klopfte es an die Zimmertür. Lukas’ Mutter war zu Hause.

»Na, wie war es in der Schule? Hoppla, wer ist denn das?«

Lukas strahlte sie an. »Mama, das ist Nico aus meiner Klasse.«

Nico stand auf und sagte: »Guten Tag, Frau Pohl. Ich bin Nico, Nico Sönderborg.«

Frau Pohl war überrascht, eine so förmliche Begrüßung zu hören. Sie antwortete: »Guten Tag, Nico. Herzlich willkommen in unserem Chaos.« Dann lachte sie. »Freut mich, dass du schon einen Freund gefunden hast, Lukas.«

Die beiden Jungen grinsten sich an.

»Sag mal, Nico. Wissen deine Eltern, dass du hier bist?«

»Meinem Dad ist es egal, wann ich nach Hause komme«, sagte Nico. »Er meint immer, es ist gut, wenn ich an der frischen Luft bin.« Er grinste, weil sie ja den ganzen Nachmittag drinnen verbracht hatten.

»Es ist schon fast halb sieben!«

»Halb sieben?«, entfuhr es Lukas.

Sie hatten gar nicht auf die Zeit geachtet. In der Tat war es draußen mittlerweile dunkel geworden. Jetzt erst merkte Lukas, dass er großen Hunger hatte.

Nico sagte: »Dann muss ich wohl doch nach Hause. Abends macht er sich schon Sorgen, wenn ich nicht heimkomme.«

»Sollen wir dich vielleicht mit dem Auto bringen? Wo wohnst du?«, fragte Lukas’ Mutter.

»Ja, das wäre sehr nett, wenn Sie mich nach Hause fahren würden. Herzlichen Dank für das Angebot.« Und dann fügte er leiser und beinahe vorsichtig hinzu: »Wir wohnen im Birkenweg, Hausnummer 1.«

Er schaute Frau Pohl dabei angespannt an, als erwartete er eine ganz bestimmte Reaktion. Als die ausblieb, entspannte er sich wieder.

Frau Pohl holte den Wagen aus der Garage, und die drei stiegen ein. Nico wies den Weg.

Der Birkenweg lag am Rand von Neuendorf: eine schmale Stichstraße, die geradewegs auf den angrenzenden Wald zuführte, ohne jede Bebauung. Nur ganz am Ende stand ein einzelnes großes Haus, komplett aus Holz gebaut. Es sah aus wie in amerikanischen Filmen: zwei Etagen und eine weiße Veranda vor der Haustür. Rechts daneben befand sich eine große Doppelgarage, und links hatte das Haus einen Anbau, der etwas vorstand. Rasen im Vorgarten und ein paar Sträucher rundeten das Bild ab. Das Einzige, was nicht zu dem Rest passte, war der breite, runde, mit silbernen Metallplatten verkleidete Turm, der ganz links auf dem Dach des Anbaus stand. Er hatte ein halbkugelförmiges Dach. Fenster konnte Lukas keine entdecken.

Was ist das denn?, fragte er sich verwundert.

Nico stieg aus, verabschiedete sich von Lukas und seiner Mutter und verschwand im Haus.

Frau Pohl wendete den Wagen.

»Das ist aber schön, dass du schon so schnell einen Freund gefunden hast.«

»Ja, Nico ist echt klasse. Wir sitzen in der Schule nebeneinander. Und, stell dir vor: Er hat einen Tornister mit der Blizzard drauf.«

»Diesem Raumkreuzer?«, fragte Frau Pohl.

»Genau! Und er liest auch Captain Amazing! Und sein Vater ist immer zu Hause. Nico sagt, er hat ein Labor im Haus.«

»Hauptsache ist, ihr versteht euch«, sagte Frau Pohl, ein wenig abwesend, wie Erwachsene das manchmal tun.

Lukas traut seinen Ohren nicht

Am nächsten Tag in der Schule stellte Lukas fest, dass es auch Nachteile haben konnte, mit Nico befreundet zu sein. Wo auch immer der kleine Blondschopf stand oder ging, stets gab es jemanden, der ihn schief anblickte, als hätte er eine ansteckende Krankheit. Andere flüsterten hinter seinem Rücken, aber so, dass Nico es hören musste:

»Spinner!«

»Der ist total beknackt.«

»Idiot!«

Nico verzog dabei keine Miene, er schien das zu kennen.

Was war denn los? Lukas verstand das nicht. Wieso stießen die anderen Kinder seinen neuen Freund aus?

›Spinner‹ konnte Lukas ja noch halbwegs verstehen, immerhin redete Nico manchmal vor sich hin und dachte sich Geschichten aus.

Aber das war doch kein Grund, ihn so zu ärgern! Das machten andere doch auch!

Nachdem Lukas’ Klassenkameraden nach und nach merkten, dass er mit Nico befreundet war, wurde er ebenfalls zur Zielscheibe der Seitenblicke. Manche schauten ihn argwöhnisch an, und wenn er mit Nico auf dem Pausenhof zusammenstand, warfen sie den beiden schiefe Blicke zu.

Ganz besonders schlimm trieb es Max. Er stellte Lukas ein Bein und schubste ihn, wenn keiner hinsah. Oder er schaute ihn finster an und knurrte: »Du wirst mich noch kennenlernen! Pass bloß auf!«

Nur, worauf Lukas aufpassen sollte, das verriet Max ihm nicht.

Lukas verstand die Welt nicht mehr.

Auch in den nächsten Tagen ging das so weiter.

»Wieso machen die das?«, fragte er seinen neuen Freund in einer Pause, als Max und ein paar andere wieder einmal Schimpfwörter hinter ihnen her gerufen hatten.

»Och, das machen die schon lange. Man gewöhnt sich mit der Zeit daran«, tat Nico die Sache ab.

Doch Lukas merkte seiner Stimme an, dass es ihn nicht so kalt ließ, wie er vorgab.

Er kam ins Grübeln. Sollte er wirklich weiterhin mit Nico befreundet sein? Das konnte doch nicht ewig so weitergehen. Er wollte nicht der unbeliebteste Schüler der Klasse sein.

Was sollte er nur machen? Er hatte Nico echt gerne, und soweit er das beurteilen konnte, war der kleine Junge völlig normal. Außerdem hatten sie so viel Spaß zusammen.

Es klingelte zur nächsten Stunde, doch Lukas blieb stehen. Er war unschlüssig, was er tun sollte. Gerade lief Max wieder an ihm vorbei und schaute ihn finster an, während er mit der Faust drohte. Lukas zuckte zusammen. Mittlerweile hatte er richtig Angst vor dem Klassenrüpel.

Da blieb auf einmal Lisa vor ihm stehen. Sie war das Mädchen, neben dem am ersten Tag ein Platz frei gewesen war. Schon ein ums andere Mal hatte Lukas sich ausgemalt, wie es wohl gekommen wäre, hätte er sich neben sie gesetzt.

Was wollte sie denn jetzt von ihm? Wollte sie ihn auch ärgern? Nein, im Gegenteil: Sie lächelte ihn an. Das tat richtig gut!

»Hab keine Angst vor Max«, sagte sie in beruhigendem Ton. »Das ist ein Hund, der zwar laut bellt, aber nicht beißt. Der klopft nur große Sprüche.« Sie seufzte. »Ignoriere ihn einfach!«

Bei ihrem aufmunternden Lächeln wurde Lukas ganz komisch zumute.

»Ja, mache ich«, sagte er heiser und versuchte, ebenfalls zu lächeln. Daraufhin drehte sich Lisa um und schaute zurück über die Schulter. »Was ist, kommst du nicht mit?«

»Na klar«, beeilte er sich zu sagen. Zusammen gingen sie zur dritten Stunde. Lisa gehörte zu denen, die ihnen bisher noch nie etwas hinterhergerufen hatten.

Ab da wurde es etwas besser. Auf jeden Fall, was Max anging. Lukas lernte tatsächlich, ihn zu ignorieren. Doch die fiesen Bemerkungen seiner Mitschüler, die immer wieder mal kamen, machten ihm trotzdem zu schaffen.

Wenn ich Nico nicht hätte, dachte Lukas einmal, dann wäre ich schon ganz schön alleine in der Klasse.

Dann korrigierte er sich. Wenn ich Nico nicht hätte, würden mich die anderen gar nicht erst ausstoßen.

Und dann erfuhr Lukas ausgerechnet von Max, warum die Leute so komisch und gemein zu Nico waren, und warum sie ihn für einen Spinner und einen Verrückten hielten.

»Der ist plemplem und sein Vater auch«, sagte Max eines Tages zu Lukas. »Die ham’se nich’ alle im Schrank. Du bist schön doof, dass du dich neben den da gesetzt hast. Wohnen direkt am Wald, die Spinner!« Er zeigte auf Nico, der etwas abseits stand und leise vor sich hin redete.

»Ich find’ ihn nett«, sagte Lukas trotzig. »Was ist denn mit dem Wald so Schlimmes los?«

Max drehte sich zu seinen drei Freunden um, die ihn wie immer begleiteten. »Mann, ist der doof! Wollen wir ihm sagen, was mit dem Wald los ist?« Er neigte sich zu Lukas und sagte hinter vorgehaltener Hand: »Mensch, das ist doch der Geisterwald!«

»Alles okay mit dir, Max?«, fragte Lukas. »Hallo? Geisterwald? Quatsch!«

»Ach, du hältst dich wohl für ’n Superschlauen. Da kannste jeden hier im Dorf fragen. Im Geisterwald spukt’s, stimmt’s Jungs?«

»Yup, hat mir ne Gänsehaut verpasst!«

»Ich hab mir fast in die Hosen gemacht!«

»Yoh, das ist echt unheimlich!«

»Sagt mal«, unterbrach Lukas und musste sich zusammennehmen, um nicht laut loszulachen. »Was seid ihr denn für Angsthasen? Geisterwald! Dass ich nicht lache! Max, hast du auch Schiss gehabt?« In diesem Moment fühlte sich Lukas sehr stark.

»Klappe, Kleiner! Max hat vor gar nichts Angst!« Der andere ballte seine Faust. »Aber du wirst schon noch sehen. Der Wald ist nich’ normal. Und die Sönderborgs auch nich’! Denk an meine Worte!«

In diesem Moment fing es an zu regnen, und alle Kinder verließen den Schulhof, um sich in der Pausenhalle unterzustellen.

Geisterwald, was für ein Quatsch!, dachte Lukas und lief auf Nico zu. Das war nun echt das Blödeste, was er je gehört hatte.

Und er entschied, dass ihm alle, die Nico nicht mochten, gestohlen bleiben konnten.

Während der nächsten Tage regnete und stürmte es draußen immer häufiger. Die ersten großen Herbstunwetter kündigten sich an. Als sie eines Mittags nach der Schule nach Hause liefen, begann es unvermittelt, wie aus Eimern zu schütten.

Lukas rief: »Komm mit zu mir, das ist näher!«

»Guter Plan!«, rief Nico zurück.

Sie zogen die Schultern hoch und rannten, was das Zeug hielt. Trotzdem waren sie patschnass, als sie in den Hausflur der Pohls polterten.

Draußen ächzten und schwankten die Bäume, Blätter wurden abgerissen und wehten umher.

Der Tag verging, aber der Sturm ließ nicht nach. Der Regen wurde dichter, und noch früher als sonst herrschte draußen finstere Nacht.

»Nico, ich glaube, wir bringen dich heute lieber wieder mit dem Auto nach Hause«, schlug Frau Pohl beim Nachmittagskaffee vor.

»Danke, das wäre wirklich sehr nett, Frau Pohl«, antwortete Nico. Lukas’ Mutter staunte wieder einmal über die feinen Manieren, die der Junge an den Tag legte.

»Nico, sag mal …«, fragte sie ihn plötzlich, »… bisher hast du immer nur von deinem Vater gesprochen. Was ist denn mit deiner Mutter?«

»Die hat uns verlassen, als ich noch klein war«, antwortete Nico.

»Das tut mir leid. Du wohnst also mit deinem Vater alleine?«

»Ganz genau. Warum auch nicht? Er arbeitet doch zu Hause, und außerdem kann ich ganz gut auf mich selbst aufpassen.« Nico biss herzhaft in ein Stück Kuchen.

»Was arbeitet denn dein Vater eigentlich?«, fragte Lukas. Irgendwie hatten sie noch gar nicht über dieses Thema gesprochen. Er hatte nur von diesem Labor im Haus gehört.

Lukas stellte sich Nicos Vater als einen Chemiker oder Physiker vor, der in einem geheimen Kellerraum mysteriöse Experimente machte. Dinge, die kein anderer sehen durfte. Deshalb lag das Haus auch so weit am Rande des Dorfes.

»Mein Vater ist Astronom. Genauer gesagt, er ist Astrophysiker«, sagte Nico stattdessen. »Er erforscht das Mikrowellenspektrum und die Röntgenstrahlung im All. So möchte er mehr über die Anfänge des Universums erfahren.«

Lukas hatte nicht viel verstanden. Seine Mutter offenbar auch nicht, denn sie sagte nur: »Aha.«

Später brachten sie Nico wie versprochen mit dem Auto nach Hause. Lukas hatte diesmal kein Auge für das Haus der Sönderborgs, sondern betrachtete argwöhnisch den Wald.

Das also war der geheimnisvolle Geisterwald, von dem Max gesprochen hatte. Irgendwie sah er ganz normal aus, überhaupt nicht unheimlich. Was hatte es nur damit auf sich, dass Max und sein Team solche Angst bekommen hatten? Und konnte es stimmen, dass jeder im Dorf dachte, es würde dort spuken?

Lukas konnte es sich nicht vorstellen. Er hatte gehört, dass früher die Leute auf dem Land abergläubisch gewesen waren, aber im Zeitalter von Internet und Handykameras glaubte doch keiner mehr an Gespenstergeschichten.

Oder etwa doch?

Das Rätsel des Geisterwaldes

In der Nacht ließ der Sturm nach, und der Regen hörte auf. Es klarte auf, denn der Wind hatte alle Wolken vertrieben. Direkt am nächsten Tag ging Lukas nach der Schule zum ersten Mal mit zu Nico nach Hause.

Er war gespannt, Nicos Vater kennen zu lernen. Die Erklärung, er wäre ein Astrophysiker mit Labor im Haus, hatte Lukas neugierig gemacht. Er stellte sich einen Forscher im Labor immer mit einem weißen Kittel vor, die Haare wirr, eine Brille auf der Nase, oder besser noch, die Brille auf die Stirn hochgeschoben. Groß und hager musste er sein und stets etwas abgelenkt. Eben der Typ: zerstreuter Professor.

Wie überrascht war er, als die Tür aufging und er … exakt das sah, was er sich vorgestellt hatte. Der Laborkittel, den Professor Sönderborg trug, war schon etwas älter, an den Taschen franste er aus. In der Brusttasche steckten mehrere Stifte und etwas, das wie ein dickes Lineal aussah. Die Haare waren vermutlich einmal rot gewesen, zumindest sah man einen leichten rötlichen Schimmer in dem ansonsten grauen Schopf, der genauso wirr in alle Richtungen abstand wie der von Nico. Der Professor trug sogar eine Brille. Lukas musste sich ein Lachen verkneifen.

Aber anders als in seiner Vorstellung war Herr Sönderborg überhaupt nicht zerstreut. Er lächelte Lukas an und hielt ihm seine Hand hin.

»Hallo, du musst Lukas sein. Mein Sohn hat mir schon viel von dir erzählt. Ich heiße dich herzlich willkommen. Komm herein!«

Dann zwinkerte er Lukas zu. »Jemanden, der Heft eins von Captain Amazing hat, wollte ich immer schon einmal treffen. Du hast es nicht zufällig dabei?«

Lukas starrte ihn entgeistert an. Glaubte Nicos Vater im Ernst, er würde alle seine Comics stets mit sich herumtragen?

Doch der lachte nur laut und herzlich und sagte: »War nur ein Scherz.«

Grinsend hängten die Jungen ihre Jacken auf, dann zog Nico seinen Freund nach oben in sein Zimmer.

Nicos Zimmer war absolut cool! An den Wänden hingen überall Fotografien von Sternen, Sternbildern, Galaxien und kosmischen Nebeln. Ein Modell des Sonnensystems mit der Sonne, den acht Planeten und ein paar Monden hing von der Zimmerdecke herab.

In den Regalen standen Modelle und Actionfiguren aus Star Wars und Captain Amazing. Ein großes Fenster zeigte direkt zum angrenzenden Wald.

»Wow!«, entfuhr es Lukas. Nico strahlte. Sie holten ein paar von den Figuren und Raumschiffen aus den Regalen und spielten eine Weile Captain Amazing.

Irgendwann sah Lukas aus dem Fenster und erinnerte sich an das Gespräch mit dem Klassenrüpel.

»Sag mal, Nico, wieso nennt Max diesen Wald Geisterwald?«

»Hat er dir das gesagt, ja?« Nico lachte. »Na ja, Max nennt ihn so, weil der Wald tatsächlich so heißt.«

»Du spinnst!«

»Nein, wirklich! Schau mal!« Nico kramte aus einer Kiste im Regal einen Stadtplan von Neuendorf und den umliegenden Gemeinden hervor und breitete ihn auf dem Boden aus. Und – tatsächlich! – zwischen dem Birkenweg, in dem die Sönderborgs wohnten, und dem Nachbardorf Rubenstein stand über einer grünen Fläche die Schrift: ›Geisterwald‹.

»Ich glaub’s ja nicht!«, stieß Lukas hervor. »Wieso heißt der so?«

Nico blickte Lukas geheimnisvoll an. »Bist du bereit für die Wahrheit?«, fragte er mit komisch verstellter Stimme. »Hast du starke Nerven?«

Lukas lachte nur. Da stand Nico auf und rief auf den Flur hinaus: »Dad! Lukas möchte alles über den Geisterwald erfahren!«

»Okay«, antwortete der Professor von unten aus der Küche. »Kommt runter, ich hole schon mal den Ordner.«

In der großen Wohnküche im Erdgeschoss legte Professor Sönderborg gerade einen Ordner auf den Tisch.

Er blickte Lukas an und sagte schmunzelnd: »Man hat dich also vor dem Wald und vermutlich auch vor uns gewarnt, nicht wahr? Hat man dir gesagt, wir wären nicht ganz richtig im Kopf?«

Lukas wurde rot und sagte nichts.

»Macht nichts«, sprach Nicos Vater weiter, »das kennen wir. Leider. Tja, was ist das Besondere am Geisterwald? Ganz einfach, die Leute meinen, dass es dort spukt.«

»Hä?«, machte Lukas und wartete auf die Auflösung dieses Witzes. Aber Herr Sönderborg legte nur ein großformatiges Farbfoto auf den Tisch und sagte: »Hier, schau selbst!«

Das Foto zeigte den Wald bei Nacht. Von den Bäumen konnte man nicht viel erkennen, dafür war es zu dunkel. Nur in der Mitte, zwischen den schwarzen Baumstämmen, sah man einen grünlichen Schein, so als würde dort eine Lampe leuchten.

Das war alles? Lukas war etwas enttäuscht. Er hatte bei der Ankündigung mindestens Frankensteins Monster erwartet.

Nicos Vater wartete eine kleine Weile, dann sagte er: »Sieht harmlos aus, nicht wahr? Lass mich eines klarstellen! Ihr Jungs von heute seid durch Fernsehen und Computerspiele eventuell etwas abgestumpft. Das hier«, er tippte auf das grüne Leuchten, »ist kein Filmtrick. Das hier ist die Wirklichkeit.«

»Was leuchtet da?«, fragte Lukas.

»Ich weiß es nicht. Niemand weiß es«, antwortete der Professor geheimnisvoll. »Dieses Licht erscheint in manchen Nächten. Irgendetwas in diesem Wald leuchtet. Und es macht den Leuten Angst!«

»Nur ein grünes Licht? Ist das ein Witz?« Lukas runzelte die Stirn.

Der Professor wurde übergangslos ernst.

»Nein, mein Junge, ein Witz ist das absolut nicht! Ich verbringe schon viele Jahre damit, hinter das Rätsel des grünen Lichtes zu kommen, und ich habe nach wie vor keine Ahnung, was dort ist. Wie gesagt, niemand weiß es. Und das schon seit über hundert Jahren.«

»So lange gibt es das schon?«

»Ja. Ich zeige es dir!« Der Professor blätterte, bis er eine alte, vergilbte Seite fand, die in einer Klarsichthülle steckte.

»Das hier ist eine Ausgabe der Lokalzeitung von 1907. Die stammt noch aus der deutschen Kaiserzeit, noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Dieser Bericht ist der älteste Beleg für die Erscheinung, zumindest der älteste, den ich auftreiben konnte.«

Lukas blickte auf die Zeitungsseite. Die Zeichen waren altmodisch und verschnörkelt. Die meisten Texte konnte er nicht lesen. Nur die Überschriften waren einfacher gedruckt, und Lukas entzifferte die größte, oben in der Mitte:

»Geiftererfeinung im Starnwald« las er laut vor und runzelte die Stirn.

Nico lachte und fiel fast vom Stuhl.

Herr Sönderborg sagte sanft: »Das hier ist ein S und kein F.«

»Ehrlich?«, fragte Lukas. Es sah ihm sehr wie ein F aus.

»Ja, so schrieb man früher. Lies es noch einmal mit einem S!«

»Geistererscheinung im Starnwald«, hieß es jetzt.

»So ist es richtig. Der Wald hieß damals noch Starnwald. Die Starn ist der kleine Bach, der hindurchfließt. In diesem Zeitungsartikel wird von einer grünen Leuchterscheinung berichtet, die nachts zu beobachten ist. Viele Worte darüber, wer sie entdeckt hat und wann sie erscheint, aber keine Erklärung, um was es sich dabei handelt. Tja«, er richtete sich auf und streckte sich, »und so ist das im Wesentlichen bis heute geblieben.«

»Wie oft kann man das Leuchten sehen?«, wollte Lukas wissen.

»Oh, so ungefähr alle ein bis zwei Wochen einmal. Manchmal mehrere Tage direkt hintereinander. Und manchmal sieht man es dann für Wochen oder sogar Monate gar nicht.«

»Hat man es schon gesehen, seit ich hier wohne?«

»Oh ja«, sagte Professor Sönderborg. »Gerade letzte Nacht war es wieder da. Es hat schrecklich gestürmt, und alle Bäume sind hin und her geschwankt. Nicht aber das Licht, es blieb ganz ruhig und bewegungslos.«

Er seufzte. »Jetzt weiß ich wieder etwas Neues, nämlich, dass die Quelle des Lichtes nicht in den Zweigen oder an den oberen Teilen der Stämme befestigt ist, sonst hätte es sich bewegt.«

Er sah Lukas an. »Ich forsche seit zehn Jahren daran, aber ich weiß bedeutend mehr darüber, was es nicht ist, als darüber, was es ist.«

Er hob die Hand und zählte an den Fingern ab: »Das Licht wird nicht durch eine Glühlampe erzeugt und nicht durch eine Leuchtstoffröhre. Ich habe die einzelnen Spektrallinien im Spektrometer analysiert: Es ähnelt entfernt dem Leuchten der Glühwürmchen, aber man findet auch Kennlinien von nicht organischen Leuchtstoffen darin.«

Lukas verstand nicht viel, aber er nickte. Glühwürmchen?, dachte er. Das müssen aber ein paar riesige Glühwürmchen sein.

Der Professor fuhr mit seiner Aufzählung fort: »Das Licht strahlt nicht vom Boden nach oben, es strahlt aber auch nicht von oben nach unten. Die Intensität, also die Helligkeit, wechselt und schwankt nicht, wenn man einmal von dem An- und Abschwellen am Anfang oder Ende absieht. Die Farbe ist ebenfalls stets gleich, sofern ich das bis in die Anfänge der Farbfotografie nachvollziehen konnte. Durch präzise Peilung kann ich mittlerweile sagen, wo das Licht herkommt, aber an dieser Stelle habe ich nichts entdeckt, was es hervorrufen könnte. Seit über zehn Jahren versuche ich herauszubekommen, was da leuchtet, aber ich komme einfach nicht dahinter.« Nicos Vater sah verzweifelt aus.