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Anschläge, Verfolgungsjagden und Kopfgeldjäger - für den exzentrischen Unternehmer Dr. Valerius Lunkenheimer gerät die Welt aus den Fugen. Nachdem er den Zuschlag für einen vielversprechenden Deal in der Antarktis erhalten hat, setzen seine Konkurrenten alles daran, ihn des profitablen Geschäftes zu berauben. Für Lunkenheimer beginnt eine Flucht, die ihn nicht nur um die Erde, sondern auch aus den Konventionen seiner Alltagswelt führt.
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Seitenzahl: 430
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Das Start-up ALPHA & OMEGA sucht einen finanzstarken Unterstützer für das Projekt, Rohstoffe in der Antarktis zu erschließen. Den Zuschlag dafür erhält LWGP, der Konzern des konservativen, egozentrischen Dr. Valerius Lunkenheimer. Das russische Rohstoffunternehmen RORUS, einst ein guter Partner von LWGP, unterlag im Bieterstreit, da es aufgrund erschöpfender Rohstoffquellen in Sibirien kurz vor der Insolvenz steht. Die Führungskräfte von RORUS fühlen sich der letzten Chance beraubt, auf alternative Rohstofffelder auszuweichen, und versuchen, Lunkenheimer dazu zu zwingen, die offenen Geldschleusen seines Unternehmens zu ihren Gunsten zu schließen.
Als Lunkenheimers großzügige Angebote zur Kooperation ignoriert werden, ergreift er die Flucht, um nicht den Erfolg seines Projektes zu gefährden, unmittelbar verfolgt von den auf ihn angesetzten Kopfgeldjägern, Attentätern und Verbrechern.
Sein höflicher Umgang, seine Umständlichkeit und seine Korrektheit werden ihm nun zu einer ernsten Gefahr, weil es nun gilt, schnell und taktisch geschickt zu handeln, um seinen Häschern zu entkommen.
Auf seinem Weg durch Europa und Südamerika begleiten ihn Abenteuer, neue Bekanntschaften und Einblicke in andere Welten, aber auch große Gefahren und Katastrophen.
Gereon Müller-Werden wurde 1999 in Gerolstein geboren. Schon seit der Grundschulzeit schreibt er eigene Geschichten. Mit „Lunkenheimer – Die außergewöhnliche Flucht eines Gentlemans“ liefert er sein Romandebüt. Momentan ist er Schüler des St. Matthias-Gymnasiums in Gerolstein.
Weitere Titel von ihm sind „Die Klippen der Vergessenen“ und „Szenen aus dem Deutschen Bauernkrieg“.
Alle Personen und Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Aus Gründen der rechtlichen Sicherheit sind Markennamen nicht ausgeschrieben worden.
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Das vorliegende Schriftstück, ein schnuckeliges Tagebuch der üblichen Manier, verfolgt allein den Zweck, einsam in der Unendlichkeit des Universums herumschwirrende Gedanken, entstanden durch die gewissen Schwierigkeiten des Denkers, auf ein Blatt Papier niederzubannen, der Tatsache zum Trotz, dass dies unter Umständen als recht nutzlos und entbehrlich zu betrachten ist. Schließlich wenden diese Zeilen seine Notlage und sein Leid herzlich wenig ab, auch verändern sie den Verlauf der Weltgeschichte im Gegensatz zu ihrem Begründer nur geringfügig und unbedeutend, obgleich meinem Gemüt mit diesen zumindest frische Hoffnung zugeführt werden kann. Dies ist nämlich das furchtbarste Leid an meiner jetzigen Situation, denn ich vermag mich als jenen Denker vorzustellen: Kein einziges wohlmeinendes Individuum hegt Interesse an meiner Person, ich bitte um Verzeihung, zumindest eines, um der Ehrlichkeit willen dieses winzige Detail hervorzuheben, wenngleich dieses nicht sonderlich zur Befreiung meiner dramatischen Notlage beizutragen imstande ist. Dies jedoch möchte ich erst im fortgeschrittenen Verlauf meines Berichtes aufgreifen.
Sollte eine andere Art des Interesses in der Tat der Fall sein, dann nur im negativen Sinne.
Ich schreibe lediglich aus Zeitvertreib in meiner unsäglichen Einsamkeit und aus gewissen Gründen, derer ich mir selbst nicht gewahr bin.
Diese handlungslose Ausführung trägt freilich wenig zu einem gelungenen Tagebuch bei. Doch wer, außer vielleicht mein persönlicher Zwang, halten mich von dem Risiko ab, jenes Werk auf diese Weise fortzuführen?
Nun denn, meine Vernunft flüstert mir ein, ich solle, wie in durchschnittlichen Schriftwerken nun einmal üblich, am Anfang beginnen, da ich sonst den unwissenden, nicht existierenden Leser verärgern würde.
Ich bin Dr. Valerius Lunkenheimer, wenn ich den Titel weniger als ein Zeichen der Unhöflichkeit, sondern vielmehr zu meiner Liebe nach Vollständigkeit nicht unerwähnt lassen darf. Ich bin ein studierter Historiker und Wissenschaftler für Alte Geschichte und offizieller Vorstandsvorsitzender und Gründer eines international operierenden Konzerns, welcher einen großen Einfluss auf die Wirtschaft und das Fortschreiten der Entwicklung ausübt, auf welchem Wege, dies möchte ich Ihnen in Bälde unterbreiten.
Zu meiner Person lässt sich sagen, dass ich ein begeisterter Träger von Anzügen, Schleifen und Koteletten bin, der die Konventionen des Bürgertums im 19. Jahrhundert zu schätzen weiß, besonders, wohl bemerkt, die der glanzvollen Biedermeierzeit. Die Figur des fleißigen und häuslichen Biedermanns hat für mich seit jeher die Rolle eines nachahmenswerten Ideals eingenommen.
Ich halte mich, wenn man es so ausdrücken darf, für einen verantwortungsvollen Gesellschafter. Denn ein solcher zu sein, dies ist der Grundsatz des traditionsreichen Geschlechtes der Lunkenheimers, seit mein Urahn Ludwig Heinrich Arthur Lunkenheimer, aus ärmeren Gefilden entsprungen, zur Zeit der deutschen Industriellen Revolution eine Schuhmanufaktur gegründet hatte und, zu wohlverdientem Wohlstand aufgestiegen, ein Musterbeispiel des ehrgeizigen Geldadels geworden ist. Aus diesem Grunde verfolge ich seit jeher den Lebenszweck, dem einen Wohl und mir selbst Reichtum zukommen zu lassen, was sich auch in meiner gesamten Geschäftsstrategie widerspiegelt.
Ich studierte nämlich Alte Geschichte, da dies mein Interessengebiet war und freilich noch immer ist, doch entfernte ich mich nach der Absolvierung des Studiums rasch von diesem Bereich und strebte ein hohes Ziel an.
Ohne ein tiefes Wissen in der Wirtschaftskunde zu besitzen, gründete ich einen Konzern, welcher zu den größten Teilen aus einem Fonds und einem Verlag besteht. Der Konzern trägt den Namen LWGP AG und verfolgt und leitet eine Symbiose zwischen dem Fonds und dem Verlag.
LWGP bedeutet in der ausgeschriebenen Form „Lunkenheimer Wissenschaftsgewinnung und -publikation“, was das Portfolio meines Konzerns zutreffend darlegt.
Der Fonds nämlich, der, aus internationalen Gründen in der englischen Sprache abgefasst, den Namen „Lunkenheimer Science Fund“ trägt, unterstützt finanziell wissenschaftliche Forschungsprojekte und Entwicklungen aus sämtlichen Sparten der Wissenschaft und Wirtschaft, die als allgemeines Ziel die Verbesserung der Lebensqualität beziehungsweise die Erweiterung unseres Erkenntnishorizontes führen. Ich möchte das Spektrum von der Archäologie über die Quantenphysik bis in die Wirtschaftsforschung, die Medizin und die Pharmazie und auch die zukunftsorientierte Forschung wie die Rohstoffsuche und die Entwicklung einer intelligenten Infrastruktur und noch viel weiter darüber hinaus spannen; und lasse mein Vermögen nach dem üblichen Prinzip in zahllose solcher Projekte einfließen.
Einst noch finanzierte ich nur Forschungen in meinem alten Themengebiet, der Alten Geschichte, der Archäologie und der Schriftkunde, erweiterte aber sehr rasch mein Spektrum und öffnete die Tore für alles, was zu der Forschung hinzuzuzählen ist. Freilich lässt sich mit dem Begriff „Forschung“ auch wie mit einem Ball herumspielen, ihn missbrauchen und falsch interpretieren. So gaben etwa produzierende Unternehmen des Öfteren die Entwicklung ihrer Produkte als zukunftsorientierte Forschung aus. Auch diese ließ ich teilweise über meinen Fonds fördern, sofern nichts wie niemand geschädigt wurde, der Fonds nicht in seiner Mobilität eingeschränkt wurde und sich der öffentlichen Presse kein Anlass zu unangenehmer Kritik bot.
Da immer mehr Wissenschaftler und entwickelnde Unternehmen von meinem Fonds Gebrauch machten und die Themenvielfalt der diesen Nutzenden immer reichhaltiger wurde, erreichte er rasch eine internationale Bedeutung und verfügte über ein ansehnliches Vermögen.
Nun mag sich freilich der wachsame, nicht vorhandene Leser fragen, welch eine Rolle der Verlag, „Fachliteratur Lunkenheimer“ heißend, in meinem Konzern einnimmt, und ich möchte es ihm gerne erläutern.
Der Fonds ist der ausgebende Teil meines Konzerns und der Verlag; später erschuf ich parallel dazu auch einen Fernsehsender; der einnehmende. Denn zu dem Namen meines Konzerns gehört neben der Wissenschaftsförderung freilich auch die Publikation der gewonnen wissenschaftlichen Erkenntnisse, und nichts anderes tut mein Verlag. Er veröffentlicht die Forschungsergebnisse, welche durch den Fonds gewonnen werden in Fachbüchern, Broschüren, Bildbänden, schweren Katalogen und auch, um etwas Popularität zu gewinnen, in spektakulären Dokumentationen. Es ist ein Vertragsbestandteil zur Nutzung des Lunkenheimer Science Fund, dass allein Fachliteratur Lunkenheimer die Rechte zur Publikation innehat und kein anderer Verlag, weshalb ich in dem Sektor aktueller Fachbücher rasch eine Monopolstellung erlangte.
Nur durch den Verlag und den Fernsehsender allein lässt sich die Symbiose, welche meinen Konzern zusammenhält, selbstverständlich nicht bewerkstelligen, da die Ausgaben zur Forschungsfinanzierung in keiner Relation zu den Einnahmen eines Verlages stehen. Es ist deshalb für die Nutzer meines Fonds auch eine ausschlaggebende Bedingung, dass sie verpflichtend die Forschungsergebnisse kommerziell nutzen und mir von dem etwaigen Gewinn prozentual festgelegte Anteile zukommen lassen müssen. Freilich mag dies in so manchen Ohren kapitalistisch klingen, doch ich verweise darauf, dass die Existenz meines Konzerns nicht wie bei zahlreichen Hilfsorganisationen auf Spendengeldern barmherziger Bürger beruht, sondern auf den Gewinnen risikoreicher Investitionen. Schließlich ist nicht jedes Forschungsprojekt von dem Erfolg einer profitablen Innovation gekrönt.
Durch meinen Einfluss in dem Entwicklungssektor vieler Institutionen und Unternehmen erlangte ich eine große Macht in der Grundlagenforschung, was mir Reichtum und ein hohes Ansehen verschaffte.
Den Leser mag es vielleicht wundern, dass ich diese Entwicklung nur allzu knapp schildere, wo sie doch derart umfangreich ist. Ich gestehe allerdings, dass es mich schmerzt, in dieser Zeit, die mich durch Einsamkeit und Leiden prägt, in dem Glanz alter Tage umherzuwühlen, jedes Wort darüber kommt einem Peitschenhieb gleich, und ich möchte sowohl den Umfang dieses Tagebuches als auch die Intensität meiner Schmerzen beim Mindesten belassen. Urteilen Sie, geschätzter Leser, selbst, ob mir diese Aufgabe mit Bravour gelingen wird. Ich möchte also lediglich logisch mit dem hierauf Folgenden einen Bezug herstellen, und dafür so viele Worte wie nötig, aber so wenige wie möglich aufwenden.
Das jüngste Vorhaben schließlich, nach rund zwanzig Jahren erfolgreichen Wirtschaftens, sollte eines der umfangreichsten sein, das ich jemals unterstützen sollte. Es handelte sich um das Wagnis der Erschließung von Rohstoffen in der Antarktis, die bekanntermaßen über ein gigantisches Reservoir an fast allen erdenklichen Rohstoffen von Uran bis hin zu Schwarzkohle verfügt. Zudem sollten zahlreiche neue Erkenntnisse über den weitestgehend unbewohnten, geheimnisvollen Kontinent im Süden der Erdkugel gewonnen werden: So über die Entstehung des Antarktischen Ozonloches, über die Landschaft unterhalb der zwei und einen halben Kilometer dicken Eisschicht und über die antarktische, überraschend lebendige Unterwasserwelt; doch dies alles, wie ich gestehe, allein, um den Fokus der Öffentlichkeit von den kommerziellen Interessen, will meinen, der Rohstofferschließung zum Zwecke der Gewinnung und des Verkaufes derselben, zu lenken.
Der globale Konkurrenzkampf der Rohstofflieferanten sollte durch die hinzugewonnenen Rohstoffflächen in der Antarktis einen vollkommenen Neubeginn nehmen, der Ausgang der Ressourcen der Erde über mehrere Jahrhunderte hinausgezögert werden. Der gefürchtete Rohstoffmangel, der für desolate Zustände in Wirtschaft und Gesellschaft sorgen könnte, hätte sich für viele Generationen erübrigt, aus diesem Grund wurde das Vorhaben auch allseits mit größter Spannung und Interesse von den Firmen verfolgt.
Das Forschungsteam, ein Start-up namens ALPHA & OMEGA, erbat die nötigen finanziellen Zuschläge für dieses Projekt, und zahlreiche Firmen weltweit boten unterschiedliche Geldmittel hierfür an. Freilich zählte zu denen auch mein Unternehmen, dem es eine angenehme Pflicht war, sich an der bunten Zukunftsgestaltung unserer Erde zu beteiligen.
Nach einer wahrhaftigen Versteigerung des Projektes standen sich nur noch der russische Rohstofflieferant RORUS und mein Fonds gegenüber, welche die höchsten Investitionssummen aufbringen konnten.
Das Ziel der Führung von RORUS war eine vollständige Umstrukturierung des Konzerns, der mit Hilfe des Lunkenheimer Science Fund in Swerdlowsk im großen Maßstab Eisenerz abgebaut und dabei die gesamte Erzlagerstätte nun erschöpft hatte. Die Führungskräfte sahen in der Antarktis einen ungemein zukunftsfähigen Raum, den es in Beschlag zu nehmen galt.
Eigentlich waren die Geschäftsbeziehungen von LWGP und RORUS nicht beklagenswert gewesen und ich verstand mich persönlich recht gut mit dem Vorstandsvorsitzenden Andrej Sorokin, wenn wir auch keine Freunde waren. Doch im Laufe unseres Wettstreites mit ALPHA & OMEGA verschlechterte sich das Verhältnis zunehmend, bis sich Herr Sorokin und ich auf einmal unversehens als Gegner gegenüberstanden. Freilich bemühte ich mich um Kompromisse und äußerte mündlich wie schriftlich entsprechende Angebote zur gemeinsamen Bewältigung der Kooperation mit ALPHA & OMEGA, wo es mir doch fern lag, einen guten Partner so unehrenhaft zu verraten. Doch die Resonanz hierzu blieb vollkommen aus, weshalb, wusste ich nicht und es wunderte mich.
Unter sämtlichen Augen der Weltöffentlichkeit schließlich fiel der Zuschlag an meinen Fonds, da dieser über größere finanzielle Mittel verfügte als der Konzern RORUS, der aufgrund von mangelnden Rohstoffflächen kurz vor der Insolvenz stand. Er hatte es ungeschickterweise unterlassen, neben dem Abbau des Eisenerzes nach neuen Rohstofffeldern zu suchen, sodass das Versiegen jener Quelle umso herber ausfiel.
Unmittelbar darauf sandte mir ein anonymer Absender am Tage nach den Verhandlungen einen schockierenden Brief, in welchem mir gar mit dem Tod gedroht wurde, wenn ich meine offenen Geldschleusen zur zugesagten Unterstützung jenes Projektes nicht unverzüglich schließen und meine Initiative beenden würde. Gewisse Formulierungen wie die, ich solle Loyalität zeigen und beweisen, dass ich meine Freunde nicht nur im Erfolg, sondern auch im Elend stütze, dass die Vergangenheit eine Lehre für die Zukunft sei oder dass man in zu großen Höhen links und rechts nichts mehr von der Welt sieht, gewährten eine gewisse Assoziationsfreiheit mit dem jetzigen Verhältnis zwischen RORUS und LWGP.
Ich eröffnete RORUS unverzüglich ein großzügiges Hilfsangebot, in dem ich dem Unternehmen bei einer gewissen prozentualen Beteiligung bei der Finanzierung das Recht zugestand, die gewonnenen Rohstoffe alleinig weiterverarbeiten und verkaufen zu dürfen. Freilich sollte LWGP dafür einen Teil des Umsatzes für sich verbuchen dürfen. Obgleich mir das Angebot von ungemein symbiotischer Natur erschien, verhallte es bar jeder Reaktion. Ein um Rat gefragter IT-Experte konnte nicht nachweisen, ob meine E-Mail tatsächlich in den Rechnern des Unternehmens eingegangen war, und die Telefonnummern von RORUS waren für all meine Telefonapparate gesperrt. Mir schien, als würde sich mein einstiger Partner regelrecht gegen all meine Offerten abschotten, ganz gleich, wie irrational dieses Handeln schien.
Stattdessen erschien bald darauf eine weitere, noch weitaus eindringlichere, bösartige Drohung, sodass ich mich schweren Herzens entschloss, mit der Polizei Kontakt aufzunehmen, da mir RORUS, den ich als den Verfasser jener Texte identifiziert zu habe meinte, offen mit mutwilliger Körperverletzung gedroht und sich somit einer gravierenden Straftat schuldig gemacht hatte. Bedauerlicherweise aber war mir dies nicht möglich, da der Telefonapparat meines Büros aufgrund eines technischen Defektes funktionsuntüchtig war. Darauf beorderte ich einen treuen Angestellten des Verlages, den Brief der ortsansässigen Polizei zu übergeben, doch er sollte nimmer deren Präsidium erreichen.
Am nächsten Tage klirrte eine Rauchbombe durch die Scheiben in die Bibliothek meines größten Verwaltungsgebäudes, in welcher ich zu dieser Zeit selbst tätig war. Das hierauf folgende Inferno vernichtete auch die drei umliegenden Büros, bis es von der herannahenden Feuerwehr eingedämmt werden konnte.
Als schließlich an dem Tage darauf ein Mitarbeiter, welcher einen Brief, der für mich bestimmt war, in mein Büro bringen wollte, mit Milzbrand infiziert wurde und zahlreiche andere mit leichten Verletzungen, nach ihren Angaben feige im Dunkeln von elenden Straßenschlägern zugefügt, zu ihrer Arbeit in meinen Verlagsgebäuden und Verwaltungsgebäuden antraten, entschloss ich mich, selbst tätig zu werden. Da mein für private Anliegen vorbehaltener deutscher Sportcoupé wegen eines Unfalls, bei dem ich keine Mitschuld trug und bei dem ich glücklicherweise anders als mein Fahrzeug nahezu unverletzt hervorgegangen war, einer umfangreichen Reparatur bedurfte, machte ich mich nach dem Ende eines Arbeitstages zu Fuß auf den Weg zum Polizeipräsidium, kam dort wohlbehalten an und unterbreitete dem anwesenden Hauptkommissar meine Not. Dieser äußerte sein Bedauern und versicherte mir die Unterstützung der Polizei, doch er verlangte sowohl für den Brief als auch für die Übergriffe stichhaltigere Nachweise, die meinen Verdacht gegenüber RORUS als Urheber erhärten konnten und über die ich freilich nicht verfügte. Mit einer gewissen Enttäuschung machte ich mich auf den Heimweg.
In meinem Wohnsitz in Bad Neustadt, einer kleinen Villa am Rande der Stadt, eröffnete sich mir ein verstörender Anblick. Die Fenster des Wohnzimmers waren aufgebrochen worden und die kühle Nachtluft hatte sich in allen Räumen eingenistet. Als ich voller Schrecken den Lichtschalter betätigte, um mich von etwaigen Schäden und Diebstählen zu vergewissern, fand ich, am Kronleuchter aufgeknüpft, eine überraschend lebensechte Puppe vor, die einen schwarzen Anzug mit Fliege, ein von roter Farbe durchtränktes Hemd und einen Zylinder trug und die leicht in der sanften nächtlichen Brise baumelte.
Verstört nahm ich Reißaus und fand Unterschlupf bei einem Angestellten, der seine liebe Not hatte, meine Raserei zu besänftigen und die perverse Montage als einen harmlosen Streich zu verklären.
Sehr wohl aber hatte ich die Gefahr erkannt, in der ich schwebte. Als ich wieder in der Lage war, rational zu denken, spielte ich die Möglichkeiten durch, die sich mir nun allein eröffneten. Die eine freilich ist die, auf die unmissverständliche Aufforderung einzugehen und LWGP aus der vertraglichen Bindung mit ALPHA & OMEGA zurückzuziehen. Aber wie würde ich dann dastehen in der Weltöffentlichkeit, als ein Feigling, der kleinliche Drohungen zum Anlass nimmt, ein weltbewegendes Projekt in weniger verantwortungsvolle Hände zu geben; als ein Narr, der die einmalige Chance, einen leuchtenden Fußstapfen in der Weltgeschichte zu hinterlassen, aus persönlichen Unzulänglichkeiten, die in geschriebener Form so harmlos erklingen, ausschlägt! Nein, nie sollte ich einknicken vor diesen Gemeinheiten, nie sollte mein Name mit diesem Schmutz besudelt werden!
Bietet sich mir denn eine Alternative? Was bliebe mir denn sonst zur Wahl? Etwa den Alltag und dessen Normalität beibehalten und die vielen Gefahren und all die Augen, die mir nachlauern, missachten? Oh nein, auch dies kann nicht die Möglichkeit sein, die in gegebener Situation die Richtige ist. Die Schandtaten der Häscher sind zu dreist dafür, zu sehr verspotten sie die Rechtsstaatlichkeit, die mir ihre Hilfe verwehrt hat; zu erbarmungslos sind sie, zeigen sie doch die sadistische Wollust, die diesem Treiben zugrunde liegt; und auch zu professionell sind sie, fehlen doch Ansätze, die uns den Weg zu einer heißen Spur weisen und das Machwerk der Täter und deren Motive offen legen. All dies, was die Ungenannten getan haben, sei es an meinem Seelenheil oder dem körperlichen Wohlbefinden meiner Angestellten, lässt Rückschlüsse auf die Fähigkeiten zu, die diese im Falle eines tatsächlichen Attentats unter Beweis stellen können. Dieses Attentat kann sich dann nicht gegen LWGP und nicht gegen meine Angestellten richten, nein, sondern nur gegen meine Person, da ich allein als der Vorstandsvorsitzende die Befugnisse innehabe, die notwendigen Schritte einzuleiten, welche die Absender verlangen. Und da mein Wille, wie ich Ihnen, mein guter, nicht vorhandener Leser, ja unterbreitete, diesbezüglich unerschütterlich ist wie ein Fels in der Brandung, schien mir, aus Sicht jener Täter, ein garstiger Schritt notwendig, um dies schändliche Ziel letztlich doch zu erreichen: Meine Entführung und unendliche Qualen, die mein Gemüt zur hurtigen Änderung meiner Haltung bewegen sollen.
Nein, nein, nein, nie darf ich dies zulassen, mich wie ein hilfloses Kleinkind den Händen jener Schurken auszusetzen, sie schlichtweg zu ignorieren, anstatt deren tatsächliche Gefahr zu akzeptieren!
Doch was nun tun, was nur, was? Ja, da ist eine Möglichkeit, nur eine einzige, die mich dieses Netz, das über mich geworfen ist, zerreißen lässt: Ich muss den hiesigen Gefilden entspringen, flink wie ein Wiesel den Kugeln der Jäger ausweichen, entkommen und irgendwo, sei es in einer Höhle, unter einem Baumstumpf oder in den Händen eines Tierfreundes, Zuflucht finden und warten, bis sich die Raserei der Jäger gelegt hat und sie sich einem anderen Opfer zuwenden.
Innerhalb der nächsten Tage, die ich in größter Anspannung verbrachte und die begleitet von Graffitis an der Fassade des Verlagsgebäudes, drastischeren Attacken auf meine Angestellten und der Sendung weiterer, expliziterer Briefe waren, bereitete ich hastig wie sorgfältig eine unerkannte Flucht vor. Ich informierte mit einer kurzen Notiz meinen Vizevorstandsvorsitzenden Victor Harzstein von meiner baldigen Abwesenheit und übertrug ihm gewissenhaft alle anstehenden Aufgaben, ohne jedoch meine Position eines Vorstandsvorsitzenden aufzugeben. Außerdem packte ich einen mattschwarzfarbenen Koffer, der noch die Größe eines Bordcases innehatte und der dennoch alle wichtigen Gepäckstücke in sich aufnehmen konnte, und verstaute ihn in meinem Geschäftswagen, mit dem ich nach dem Verlust meines Sportcoupés nun aufbrechen musste.
Obgleich ich meinen Konzern nun dem Schicksal überlassen musste, allerdings bei meinen fähigsten Managern, besonders bei meinem Freund und Vertreter Victor Harzstein, in den besten Händen wusste, und unwürdig wie ein sterbender Stern vor dem Licht der Öffentlichkeit daniederzugehen hatte, versuchte ich mein trauriges, egozentrisches Gemüt mit der unumstößlichen Tatsache zu besänftigen, dass ich wohl den Verlauf der Menschheitsgeschichte nur positiv beeinflusst hatte, und zwar in einem recht ansehnlichen Maße.
Folgend verabschiedete ich mich von all meinen mir nah stehenden Angestellten, denen, die Opfer der Übergriffe waren. Zu ihrem Schutz und als Entschädigung für ihre körperlichen und seelischen Schäden sowie als Dank für ihre unerschütterliche Loyalität stellte ich sie mit einer hohen Abfindung zu einem Urlaub von zwei Wochen frei.
Nachdem ich nun also den letzten Beschäftigten verabschiedet und zu dem mehr oder minder geheimen und von Efeuranken verborgenen Hinterausgang des größten Verlagsgebäudes in Bad Neustadt, in welchem ich an meinem letzten Arbeitstag ansässig war, geleitet hatte, stand ich allein in dem riesigen, dunklen Bauwerk, welches mir mehr ans Herz gewachsen war als das bei Weitem größere Verwaltungsgebäude in Elmshorn in der Nähe von Hamburg, und das die Form des Jupitertempels von Rom inne hatte. Sofern es mir erlaubt sei, eine unbedeutende Information nennen zu dürfen, wurde dessen Außenseiten allein durch eine Gruppe fleißiger Experimentalarchäologen errichtet, welche sich lediglich an den Plänen des römischen Architekten Vitruvius und den steinernen Relikten jener glanzvollen Zeit orientiert hatten.
Im Grunde genommen musste ich jetzt allein noch mein Büro aufsuchen, um dort einen wichtigen Gegenstand abzuholen, dann konnte ich meine Flucht antreten.
Nun also lag sie vor mir, die Flucht, die mir Abenteuer, Not, Chaos und Schrecken bescheren sollte. Die Flucht, die mich zwang, mein Lebenswerk, den Konzern LWGP, sich selbst zu überlassen. Würde er, einmal auf den Sattel gehievt, selbst reiten können?
Es dämmerte bereits und ich war erschöpft. Dies war freilich auch nicht weiter verwunderlich nach dem letzten und sicherlich härtesten Arbeitstag meines Lebens, in welchem ich letzte Vorkehrungen zu meinem Entschwinden bereitet, mir zustehende Arbeiten an Angestellte verteilt und letzte Vertragsbedingungen mit dem Vorsitzenden von ALPHA & OMEGA, dem jungen George Brooks, einem Amerikaner aus dem Bundesstaat Florida, ausgehandelt hatte.
Zudem hatten einige meiner treuen Kollegen und ich an der letzten Ausgabe einer gewissen Zeitschrift gearbeitet, die zwar in Parallelbetrachtung zu meinem Konzern unbedeutend ist, doch welche ich sobald als möglich im folgenden Handlungsverlauf aus gewissen Gründen erwähnen muss.
Ich hatte jene noch während meiner Zeit als Student erfunden. Ich gedachte nämlich damals, mit dieser meinen Lebensunterhalt zu sichern, bevor ich auf die Idee des Wissenschaftskonzerns kam, und hatte sie darauf in das Programm meines Verlages eingegliedert, weil ich sie nicht einfach sterben lassen wollte.
Es handelte sich um den „Kurier der Kulturgeschichte“, in dem, halbmonatlich erscheinend, chronologisch die Geschichte der Antike von der Zeit der Pharaonen bis zu jener der Spätantike, den Römern mit dem Untergang ihres Reiches unterhaltsam und bildgewaltig erzählt wurde, denn schließlich bin ich ja eigentlich ein begeisterter Historiker. Es handelte sich übrigens um die letzte Ausgabe, da in ihr der Untergang der Antike mit dem des schwächelnden Römerreiches beschrieben wurde und sowohl meine teuren Angestellten als auch ich keine nennenswerten Sympathien für das düstere Mittelalter hegen.
Es war eine wehmütige Zeit gewesen, jene letzte Ausgabe anzufertigen, die ich übrigens mitunter höchstpersönlich mitgestaltet hatte, es handelte sich um meine letzte Tat als tätiger Vorstandsvorsitzender. Zwar behielt ich meinen Rang als ein solcher auch folgend im Unternehmen bei, ganz abkoppeln wollte ich mich nicht von meinem Werk, die letzten Zügel sollten noch immer in meiner Hand liegen, doch eben als einer, der sämtliche weniger relevante Entscheidungen den untergeordneten Managern überlässt. Mit jedem Buchstaben, den ich niedergeschrieben hatte, wurde mir präsenter, dass ich mich mehr und mehr von meinem Konzern entfremdete, ich ward gewahr, dass jene Aktivität die letzte sein sollte, welche ich in meiner aktiven Funktion als Konzernleiter vollführen konnte.
Ich verspürte, wie mir jeder Buchstabe einen Dolch tiefer in das Herz trieb, und bei dem letzten Buchstaben fühlte ich mich, wie nach einem langen, schmerzlichen Todeskampf, mausetot, denn mir hatte mein lieblicher Konzern in meinem Leben alles bedeutet, und da er für mich nun in unerreichbare Gefilde hinfort gerückt war, fühlte ich mich bedeutungslos und nichtig wie eine einzelne Ameise.
Die förmlich spürbare Energie, die früher stets durch die von Marmorbüsten gesäumten Gänge des Verlagsgebäudes geflossen war, erlosch von einer Sekunde auf die andere und ich stand nun in einer unendlichen Leere, die einst wie mein Heim für mich gewirkt hatte.
Bevor ich nun meinen liebsten Ort auf der Erde, das alte Verlagsgebäude in Bad Neustadt, zu verlassen gezwungen war, musste ich noch einen kleinen, metallenen Tresor aus meinem privaten Büro schaffen. Jener war als eine bare Notreserve gedacht, auf welche ich zurückgreifen konnte, wenn mein Konzern und mein Vermögen aufgrund einer wirtschaftlich etwaig instabilen Lage in unangenehme Verhältnisse schlittern würde und ich auf diese für mich persönlich letzte, bare Reserve zurückgreifen müsste.
Ich begehrte, mich schnell zu meinem persönlichen Aufbruch bereit zu machen, denn mir war nicht recht wohl. Ich fühlte es beständig, ich konnte das Verlagshaus und auch meinen gesamten Konzern LWGP nicht mehr als mein eigentliches Eigentum ansehen, das Gegenteil war der Fall: Die Gänge wirkten düster wie die eines schottischen Schlosses und standen ihnen in ihrer Unheimlichkeit in nichts nach, LWGP erschien mir keineswegs als mein eigenes Werk als vielmehr das einer mir vollkommen fremden und fernen Person. Meine kindliche Fantasie wurde geweckt und ich stellte mir trotz eines verzweifelten Kampfes zwischen zwei Parteien in meinem Gehirn, der Vernunft und der Fantasie, lebendig gewordene Ritterrüstungen und kettenrasselnde Gespenster vor.
Ich erhöhte das Schritttempo zu meinem Büro, in dem ich noch den besagten Gegenstand auflesen wollte. Viel lieber würde ich mich ja auf dem schnellsten Wege aus diesem seiner Seele beraubten Gebäude entfernen!
Meine mattschwarzfarbenen Schuhe hallten bei jedem Schritt durch die mit tiefblauem und schwarzem Marmor gefliesten Gänge, und es wurde der Eindruck erweckt, es befänden sich noch andere Personen in dem Verlagshaus, die ihren Schritt dem meinen angepasst hatten. Mich überkam eine unvorstellbar große Angst, und zu meiner persönlichen Beruhigung blieb ich auf der Stelle stehen, damit das unheimliche Schrittgehall nur aussetzen möge.
Doch wider all meiner Erwartungen setzte es nicht aus, das Gegenteil war der Fall, es verstärkte sich gar!
Unter bösen Vorahnungen drehte ich mich langsam um und hatte gegen die Ohnmacht anzukämpfen, die mein Gehirn mir auferlegen wollte.
Welch eine andere Reaktion hätte denn auch die Tatsache hervorrufen sollen, dass meine Person keineswegs allein in diesem Gebäude trostlos dahinvegetierte, sondern dass sich gleich eine Gruppe von einem geschätzten Dutzend, unfreundlich dreinblickender Gestalten in ihm eingefunden hatte und mich schon seit geraumer Zeit verfolgt haben musste?
Die Gestalten trugen zwar Anzug und Krawatte, wie es in meinem Verlagshaus auch vorgeschrieben war, doch waren die Anzüge bereits nach meinen ersten, kundigen Blicken als minderwertig zu beschreiben, wie man heutzutage sagt, „von der Stange“, und aufgrund ihrer schwarzen Farbe sehr stillos, und die Krawatten, nachlässig gebunden, dem Jackett keineswegs harmonierend angepasst, ebenso wirkten die dies tragenden Personen weder wohlwollend noch derart, als hätten sie an einer Erziehungsanstalt für höhere Söhne teilgehabt. Gleichwohl sie offenbar versucht hatten, sich meinem Schritte anzupassen, besaßen sie nicht die schnelle Reaktionsfähigkeit, wie ich ihren Schritt anzuhalten, und nun hatte ich sie also entdeckt.
Es bestand wohl kein Zweifel, dass ich sie zu dem einen oder anderen Zeitpunkt bemerkt hätte, es lässt sich aber vermuten, dass es dann bereits zu spät gewesen wäre. Ihr Überraschungsmoment nämlich war, ihnen zum Unglimpf, durch mein frühzeitiges Umwenden ausgefallen. Ebenfalls erübrigte sich die Frage, ob sie mir wohl gesonnen waren, denn wenn das der Fall gewesen wäre, so hätten sie zuvor einen Termin für ihren Besuch angekündigt.
Dies bestätigte sich lediglich durch den Ausruf ihres offensichtlichen Anführers, der, kaum dass er ihre vorzeitige Entdeckung bemerkt hatte, die Worte „Los, los, schnappt ihn euch!“, ausspie.
Unverzüglich setzten sich die übrigen der Männer in Bewegung und stürmten auf mich zu. Mit neunundvierzig Jahren, denn dies war zu jener Zeit mein Alter, glaubte ich mich ihnen hoffnungslos unterlegen, als ich mich des Spruches „Angst nimmt dir die Kraft“, besann, wo ich doch mutterseelenallein und in die Enge getrieben einer hoffnungslosen Zukunft entgegenblicken musste. Dennoch unternahm ich den Versuch, zu meinem Büro zu gelangen, bevor sie mich erreichen konnten. Dies stellte meine letzte Chance gegen ihren Zugriff dar, denn mit meinem Büro endet dieser Gangzweig des Verlagsgebäudes und sie hätten mich ansonsten umzingelt und wären dazu fähig, all ihre beabsichtigten Schandtaten an mir auszuüben. So setzte ich mich, ohne, dass ich bewusst meinem Gehirn diesen Befehl erteilt hatte, in Bewegung und jagte, gefolgt von meinen stetig aufholenden Verfolgern, durch den düsteren Gang. Es verschaffte mir ein wenig Befriedigung, als ich hörte, wie einer der unangemeldeten Gäste mit der Wucht eines Sprintenden unverhofft gegen eine der am Rande des Ganges aufgestellten Marmorbüsten stürmte und samt dieser unter einem kläglichen Schmerzensschrei zu Boden stürzte. Zumindest erfreute es mich derart lange, bis ich aufgrund meines genau eingeprägten Lageplanes aller Büsten in diesem Gebäudetrakt gewahr der Tatsache wurde, dass es sich bei der umgestürzten Büste um keine andere als um die des Nero handelte! Um jenen Nero, dessen voreilig gebildeten, schlechten Ruf ich mit weiteren Grabungen in der Domus Aurea und neu gefundenen, schriftlichen Quellen widerlegen konnte und in drei, zweihundert Seiten füllenden Sonderausgaben meiner Zeitschrift und opulenten archäologischen Fachpublikationen hartnäckig bekämpft hatte, da er sich bei genauerer Betrachtung jenes bemitleidenswerten römischen Herrschers schnell als verleumdend und falsch erweist!
Die Wut, die durch diese unverzeihliche, fahrlässige, ja frevelhafte Tat in mir entflammt wurde, ließ meine Erschöpfung vergessen und beschleunigte meine Sprintgeschwindigkeit, bis ich, noch unversehrt, an der Tür meines Büros angelangte.
Doch damit befand ich mich keineswegs in Sicherheit. Schließlich galt es ja noch die Tür aufzuschließen, in das Büro zu gelangen und selbstverständlich die Tür wieder abzuschließen, und all dies, bevor meine schlecht erzogenen Gäste mich zu erreichen vermochten!
Gleichwohl meine Lage mehr als aussichtslos zu sein schien, kramte ich in Windeseile meinen Schlüsselbund aus der Innentasche meines anthrazitfarbenen Sakkos und versuchte den passenden Schlüssel zu finden. Freilich war ein solches Unternehmen unter den gegebenen Umständen mit reichlich vielen Komplikationen versehen. Beispielsweise hinderte mich die durch den unverhofften Sprint herrührende Erschöpfung, welche meine Hand zittrig werden ließ wie die eines Greises, an dem Ergreifen des richtigen Schlüssels. Zudem bereitete mir die Vorstellung, gleich mit einer solch bebenden Hand das Schlüsselloch finden und den Schlüssel in die richtige Richtung drehen zu müssen, wahrhaftige Höllenqualen.
Ein außerdem nicht außer Acht zu lassender Faktor war die einsetzende Dämmerung des Frühlingsabends, welche mich der genauen Sehfähigkeit beraubte.
Ich habe einst in einem buddhistischen Ratgeber für die Bekämpfung von Lethargie, Stress und Impulsivität gelesen, dass man in einer Situation ähnlich meiner jetzigen einmal kurz durchatmen und sich zureden soll: „Ich schaffe es!“ Welch Ironie, dass selbst ein Atemzug in jener unvergleichlichen Stresssituation ein zu langer Augenblick gewesen wäre.
Die Distanz zwischen mir und den Lakaien einer mir finster gesonnenen Macht schätzte ich vor einer Sekunde noch auf fünfundzwanzig Meter, nun auf lediglich zwanzig. Ich ersparte mir auszurechnen, in wie vielen Sekunden sie mich erreicht haben würden.
Wie ein Blitz grub sich mir die Erkenntnis ins Gehirn, dass der Büroschlüssel der wohl am einfachsten zu findende sei an meinem reichhaltigen Schlüsselbund, da ich auf ihn den Anfangsbuchstaben meines Vornamens hatte gravieren lassen, welchen zu ertasten freilich eine minder dramatische Schwierigkeit darstellte.
Und wie ich nun die erste mir auferlegte Hürde überwunden hatte, befähigte mich ein letzter Lichtstrahl der untergehenden Sonne durch ein Aufblitzen des goldenen Türgriffes, den ungefähren Standort des Schlüsselloches zu erahnen.
Nachdem ich vorsichtig und behutsam mit dem Schlüssel nach dem für ihn vorgesehenen Schloss getastet hatte, ließ er sich, wie die Zeit den Zeiger einer Uhr vorantreibt, drehen, und das wohltönende mechanische Mahlgeräusch, welches er dabei verursachte, erweckte in mir unvorstellbar erleichterte Gefühle.
Trotz dieses Teilerfolges rief ich mir ins Gedächtnis, dass mein Vorhaben noch nicht beendet war und dass meine vorläufige Sicherheit erst in den Gefilden hinter dieser massiven Eichenholztür garantiert werden konnte.
Ein weiteres Problem, welches ich vorhin nicht erwähnt hatte, bestand in jenem Faktor, dass die Tür zum Gang hin aufschwang. So musste ich, in jener Situation ein unvorstellbar zeitaufwändiges Unterfangen, einen Schritt zur Seite treten, außerdem, nicht zu vergessen, den Schlüssel aus dem Schlüsselloch ziehen. Da ich beides gleichzeitig tat, subtrahierte sich glücklicherweise zeitlich zumindest ein Vorhaben.
Dies geschehen, trat ich hastig mit einem großen Schritt in mein Büro und zog die wuchtige Eichenholztür hinter mir zu. Keine Sekunde zu früh, denn augenblicklich danach vernahm ich einen der Verfolger gegen die zum Gang gewandte Seite der Tür stoßen, allerdings mit einer solchen Wucht, dass ich mir vielmehr vorstellen konnte, dass er vergessen hatte, seinen Sprint zu drosseln. Ein herrliches Gefühl, dies wahrzuhaben, nicht wahr? Mein Verdacht bestätigte sich durch die nun folgenden, wüsten Flüche, die mir selbst in einer Ausnahmesituation nicht in den Sinn gekommen wären.
Mich in bösartiger Schadenfreude an dem Unglück meines Feindes weidend, schloss ich die Tür mit der höchsten Geschwindigkeit von innen zu, die mir ohne Risiken für einen möglichen Misserfolg gewährt war. Offenbar war selbst diese Geschwindigkeit zu schnell, denn kaum hatte er seinen Zweck erfüllt, brach der Bart des Schlüssels ab und blieb in dem Schloss stecken, während ich den anderen Teil noch verwundert in der Hand hielt. So war ich auf zwei Weisen in meinem Büro gefangen. Obgleich ich von der unvorstellbaren Misslichkeit meiner Situation wusste, gönnte ich es mir, direkt hinter dieser schweren Tür wie ein dahingeworfener Sack, gefüllt mit Kartoffeln, zusammenzusacken und vorerst, teilweise beruhigt, durchzuatmen.
Meine Freude über den Erfolg währte jedoch nicht lange, denn kaum wähnte ich mich schon in Sicherheit, bekamen meine Ohren die Versuche meiner unhöflichen Gäste, die Tür gewaltsam einzuschlagen, zu hören.
Es handelte sich bei meiner Bürotür um eine aus massivem Eichenholz. Doch selbst dieses würde sich sicherlich von einem gewalttätigen Pack wie jenem, welches nur einen halben Meter von mir entfernt mutwillige Sachbeschädigung zu meinem Schaden vollzog, entzwei teilen lassen.
Nun, obwohl ich es noch nicht erwähnt habe, weiß der werte, nicht vorhandene Leser sicherlich schon, dass es sich bei den ungezogenen Gästen um niemand andere als um Kopfgeldjäger des Konzerns RORUS handeln könnte; so lautete zumindest meine erste Vermutung, wo ich diesen doch derart schmerzlich gedemütigt und einer gewaltigen Geldquelle beraubt hatte, dass sie sich bereits nicht darüber erhaben sahen, mir ungehobelt unfrankierte und gar darüber hinaus mit Milzbrand infizierte Drohbriefe zukommen zu lassen!
Ich befand mich in einer recht seltsamen Situation. Gleichwohl ich doch offen ehrliche Hilfsangebote hatte verlauten lassen und mit RORUS über Jahre hinweg ausgezeichnete Beziehungen gepflegt hatte, bin ich augenscheinlich Opfer eines Verrates oder eines großen Missverständnisses geworden, wobei ich weder identifizierbare Hintermänner noch konkrete Ziele benennen könnte. Ich würde mich aber dafür verbürgen, dass nicht der Vorstandsvorsitzende von RORUS, Andrej Sorokin, für den Umstand der ungebetenen Gäste in meinem Verlagshaus verantwortlich ist, die mir selbst hinter verschlossenen Türen nach dem Leben trachteten.
Nun, dass ich gezwungen war, den Versuch zu unternehmen, sofern ich meinen kostbaren Leib in Unversehrtheit zu wissen wünschte, vor den Attentätern zu fliehen, steht hiermit für den geneigten Leser sicherlich außer Frage. Dennoch erschien mir die Frage, was diese mit mir zu vollziehen wünschten, sollten sie mich - bewahre mich eine höhere Macht bloß davor! - erreicht haben, von äußerstem Interesse. Um mir darüber Klarheit zu verschaffen, blieb mir keine Alternative, als den Dialog zu versuchen.
„Bei allem Respekt, den ich meinen unangemeldeten Gästen entgegenbringe“, sprach ich also mit fester Stimme, die nicht meine große Nervosität anmerken ließ, in der Hoffnung, dass die massive Tür die Schallwellen besser durchließ als körperliche Zusammenstöße. „Darf ich mich höflichst nach dem Grund Ihres mit Sachbeschädigung und versuchter Körperverletzung verbundenen Eindringens erkundigen?“
Dies sagte ich ohne den geringsten Hauch von Ironie, obgleich diese Situation eines solch respektvollen Umganges sicherlich nicht bedurfte.
Ich vernahm noch einen lauten Schlag, dann mit derselben, heiseren, kommandierenden Stimme wie jener, die eben meine missliche Lage heraufbeschworen hatte: „Stoppt grad’ mal!“.
Es folgte nun keine Erschütterung mehr, in der darauf folgenden Pause überlegte ich mir, wie man den groben Satz des Anführers der Attentäter auf eine etwas elegantere Ebene umformulieren könnte.
„Was sagtest du gerade?“, erkundigte er sich, und als sinnlose Rechtfertigung ergänzte er: „Bei diesem Lärm kann man halt nichts verstehen!“
Ich wiederholte mein Anliegen und ließ es nicht aus, den Schlägerknaben darauf hinzuweisen, dass es allgemein üblich sei, fremde Personen vorerst mit „Sie“ anzureden.
Nun folgte ein höhnisches Lachen, dann die ersehnte Antwort: „Von unangemeldetem Eindringen kann hier nicht die Rede sein. Schließlich haben doch unsere Auftragsgeber schön höflich schon vorgestern unser Kommen angekündigt. Nun ja, wenn man einen mit Milzbrand-Viren verseuchten Brief lesen kann... Tja, und sorge dich, oh, Verzeihung, sorgen SIE sich nicht, für das hübsche Sümmchen, was sie uns gegeben haben, können SIE sich sicher sein, dass wir auch weiterhin nicht von IHNEN ablassen werden!“
„Sie sind nicht nur ein elender Gesetzesloser, sondern zählen auch noch zu der verabscheuungswürdigen Gilde der Kopfgeldjäger!“, rief ich zornig erregt, die Stimme gefüllt voller Ekel vor meiner Nähe zu dem Unrat unserer Gesellschaft, welchem kein einziges Mittel zum Erreichen ihrer unehrenhaften Ziele zu schmutzig ist und ersparte es mir, den Ungebildeten auf den Fehler hinzuweisen, dass es sich bei den Milzbrand-Erregern mitnichten um Viren, sondern um Bakterien handelt. Doch dies ist einerlei, vielmehr sollte ich der güldnen oder pechschwarzen Information mehr Bedeutung beimessen, dass jeglicher Zweifel nun ausgeräumt war. In der Tat trachtete mir RORUS nach dem Leben. In keinen Worten vermag ich mein Entsetzen hierfür auszudrücken, dass mich ein guter Partner nun so schmählich verraten hatte, meine Ausdrucksweise vermittelte nur einen Bruchteil meines bestürzten Hasses. „Hinfort mit Ihnen und Ihrem ehrlosen Gesindel! Ich verlange, dass Sie unverzüglich mein Gebäude verlassen und mir zuvor noch einen Schadensersatz für die Büste und die Tür erstatten, dann ziehe ich es in Erwägung, Ihnen die Anzeige wegen versuchter Körperverletzung sowie ausartenden Hausfriedensbruches zu ersparen!“, rief ich weiter mit erregter Stimme, während mein Geist vor Zorn brodelte wie ein Vulkan.
„Dummer, besserwissender Hampelmann!“, fluchte nun mein mir unsichtbares Gegenüber: „Um Ihnen einen wohlgemeinten Rat zu geben, hören Sie bloß auf mit diesem dämlichen Rumgequatsche! Das hilft Ihnen jetzt auch nicht weiter. Lassen Sie sich demnächst bessere Dinge einfallen, wenn Sie uns rumkriegen wollen.“
„Ich kann Ihre Neigung zur Bestechlichkeit nur belächeln“, antwortete ich, die schlechten Charakterzüge meines Gesprächspartners nun in Gänze durchleuchtend. „Für gewöhnlich pflege ich Verhandlungen ja Auge in Auge zu führen. Doch ich nehme an, Sie sind nicht gekommen, um mit mir ein anregendes Gespräch zu führen, wie ich bedaure. Was genau beabsichtigen Sie, mit mir zu vollziehen, sollte ich, rein des Zufalls willen, die Absicht hegen, mich freiwillig zu stellen?“
Nun folgte eine längere Pause. Ich nahm an, dass mein Gast wohl überlegte, inwiefern er mir reinen Wein einschenken dürfe.
Dann folgte die nüchterne Antwort: „Wir erhielten die Anweisung, Sie möglichst unbeschadet zu unseren Auftragsgebern nach Jekaterinburg zu bringen.“
„Ich habe nun erfahren, was mir von höchstem Interesse war“, meinte ich sachlich. „Fahren Sie nur fort mit ihren Schandtaten, doch lassen Sie auch mich mein beabsichtigtes Tun zu Ende führen!“
Darauf erwiderte mein Gesprächspartner einen wüsten Fluch, den hier zu erwähnen das Papier zu erhaben ist, und die übrigen der kriminellen Gruppe setzten die Versuche, die Eichentür gewaltsam zu öffnen, fort.
Wenigstens war mir durch das massive Holz ein wenig Zeit vergönnt, einen Fluchtplan zu überlegen. Eine solche Situation ist doch ein ausschlaggebender Beweis dafür, dass sich mein gezahlter Tribut in Qualität rechnet, nicht wahr?
Ich blickte mich also in meinem Raum um. Ich kannte es sehr gut, das Büro. Ich hatte es zu den Zeiten meiner Aktivität als Konzernleiter schließlich als etwas Vertrautes und Heimeliges wie ein Kinderzimmer angesehen. Es war gutbürgerlich eingerichtet, mit einem mit Ranken versehenen Perserteppich auf dem Boden und schweren, schlicht, aber mit einer großen Sensibilität verzierten, dunkelbraunen Möbeln. Die Wand gegenüber der Tür war eine lange Fensterzeile, an deren Seiten zwei purpurne Gardinen hingen, vor der in der linken Ecke mein geliebter Schreibtisch stand, der dank der Form für den dort Sitzenden gleich zu zwei Seiten eine Arbeitsplatte bot.
Unzählige Stunden hatte ich an ihm verbracht, Briefe geschrieben, über den Computerbildschirm verhandelt, Vorträge vorbereitet und die üblichen Verwaltungsdinge erledigt, und nun wirkte er, wie die anderen Teile des Büros, dunkel und verlassen. Freilich wurde dieser Eindruck ebenso durch die einbrechende Dunkelheit verstärkt. Außerdem ist noch erwähnenswert, dass ich es mir erspart hatte, den Lichtschalter zu betätigen.
Neben der Fensterzeile mit dem Schreibtisch bestand der restliche Teil meines Büros aus Wänden, die vom Boden bis zur Decke, wohl sortiert, mit zahlreichen Büchern gefüllt waren, Aktenordner standen dort, besonders erfolgreiche Fachbücher, Notizhefte, Verwaltungsdokumente und Protokolle der wissenschaftlichen Experimente, welche ich zur Kontrolle der verhandelten Bedingungen zu meiner Finanzierung eingefordert hatte.
Ich stand inmitten meines in einem sehenswerten Zeitraum von vierundzwanzig Jahren vollbrachten Werkes, denn so lange existierte mein Konzern in aller Pracht schon, und hatte jetzt, bei der vermutlich letzten Gelegenheit, jemals dieses Büro zu betreten, nur einen flüchtigen Blick für dies alles übrig.
Meine größte Aufmerksamkeit nämlich galt der Fensterzeile, freilich der einzigen Möglichkeit, auf einem anderen Wege als durch die nun unmöglich passierbare Tür dieses Büro verlassen zu können.
Mein Büro befand sich im zweiten Stockwerk des Verlagshauses. Darunter lag eine große, freie Wiese, welche mir schon oft durch ihre Weite und absolutistische Schönheit, denn meine Gärtner hatten sie nach den Gärten von Schlössern des Barock bepflanzt, ein wenig Inspiration, Ruhe und Optimismus während meiner Tätigkeit im Büro zugeführt hatte.
Jede vernünftig denkende Person, mit der Ausnahme von Selbstmördern vielleicht, die sich aber zum größten Teil nicht in dieses Spektrum einschließen lassen, weiß sicherlich, dass das zweite Stockwerk zu dem Zwecke des Hinunterspringens denkbar ungeeignet ist, sofern man unversehrt auf dem Boden zu landen wünscht.
Für Neunundvierzigjährige, wie ich eben einer bin, wäre selbst das erste Stockwerk ein wenig zu hoch gelegen zum unverletzten Aufschlage.
Neben dem Springen existierten glücklicherweise noch einige weitere Optionen, wie zum Beispiel das Klettern.
Diese Möglichkeit erschien in jenem Falle sehr geeignet, da die äußeren Wände des Gebäudes die Form eines römischen Tempels innehaben und demzufolge aus großen Sandsteinblöcken zusammengesetzt sind, die, um dem Original sehr nahe zu kommen, außen nur grob behauen worden sind. So eigneten sich die Unebenheiten perfekt zum Festkrallen und Abstützen, den bedeutendsten Tätigkeiten des klassischen Kletterns.
Freilich war auch dieses Vorhaben mit einer großen Absturzgefahr verbunden, jedoch die sicherste und die einzige mir in den Sinn kommende Möglichkeit, um den kaltblütigen Händen meiner unliebsamen Gäste zu entgehen. Mein Geist kümmerte sich jedoch in jenem Augenblicke keineswegs um diese gar furchtbare Gefahr.
Die Eindringlinge rammten seit meinem gehaltvollen Gespräch mit ihrem Anführer ohne Unterlass gegen meine Eichentür und ich bedankte mich stumm bei ihr, dass sie zumindest bis zu diesem Augenblick tapfer Widerstand geleistet hatte. Doch verkündete schon ein Unheil verkündendes Knirschen vom baldigen Scheitern ihrer Widerstandskraft und es lag nun an mir, die mir noch geschenkte Zeit bestmöglich zu nutzen.
Also öffnete ich das mittlere Fenster, oder, um es ehrlicher zu formulieren, ich drehte und riss verzweifelt an dem, ebenso wie die Türklinke goldenen Griff, bis er in die passende Position gerückt worden war, sodass das Fenster nach innen aufschwang und mir einen Blick hinab in gähnendes Schwarz freilegte.
Ja, die Erde drehte sich weiter hinfort, diesen für sie verhältnismäßig unbedeutenden Vorfall ignorierend, sodass der Abend nun beinahe zu einer Nacht gewandelt war. Es wehte eine klare Luft in mein Büro, und ich vernahm deutlich das harmonische Zirpen der Grillen, die jenem düsteren Vorgang auch keine Beachtung schenkten und nur den Befehlen ihrer Ganglien gehorchten. Es wäre sicher ein schöner Abend geworden, wenn sich da nicht gerade die Flucht eines unglücklichen Vorstandsvorsitzenden dazwischen geschoben hätte, den momentanen Zustand hierbei inkludiert.
Nun, es blieb mir jetzt nichts anderes übrig, als in der Hoffnung, keinen Fehltritt zu begehen, die besagten zwei Stockwerke hinunterzuklettern. Dabei musste ich mich ganz auf mein Tastorgan verlassen, und sollte dieses zu ungenaue Informationen an mein Gehirn liefern, so würde ich mir schwere Verletzungen zufügen oder gar den Tod erleiden.
Auch meine Kleidung war denkbar ungeeignet für das beabsichtigte Unternehmen, denn ich trug anstatt einer typischen Bergsteigerausrüstung mit schweren Stiefeln, einer dicken Jacke und einem eisernen Karabiner einen dreiteiligen, anthrazitfarbenen Anzug mit einem weißen Hemd und einer seidenen Schleife, welche ich mit einem schlichten, weißen Einstecktuch kombiniert hatte, wie ich es zu allen Zeiten zu tragen gepflegt hatte. Darüber war ein rabenschwarzer, einreihiger Mantel, dies alles sehr orientiert an der stilvollen Kleidung der glanzvollen Biedermeierzeit. Meine schwarzfarbenen, matten Schuhe, es handelte sich um gute Budapester, ließen nicht gerade eine große Trittfestigkeit zu dem Zwecke des sicheren Abstützens zu. Ich ersparte mir, mich des Paares weißer Handschuhe zu entledigen, ich hatte in der Manteltasche schließlich noch ein zweites und wünschte mir zudem, nicht meine kostbaren, feingliedrigen Finger bei der nachfolgenden Aktivität aufzuschürfen.
Bevor ich den gefahrvollen Abstieg wagte, ließ ich es nicht aus, noch den besagten, handlichen, mit einem sehr hohen, baren Geldbetrag gefüllten Tresor von dem Schreibtisch zu klauben und ihn aus dem Fenster zu befördern, schließlich war ja ihn an mich zu nehmen auch mein eigentliches Anliegen zum Aufsuchen meines Büros gewesen.
Jenen wollte ich mit auf meine Flucht nehmen, da sich freilich ein Geldbetrag in den Händen seines Besitzers besser macht als wenn er in einem verlassenen Büro verstaubt.
Selbstverständlich befindet sich der Hauptteil meines beträchtlichen Vermögens, wenn ich dies erwähnen darf, noch auf mehreren Konten in diversen Finanzinstituten und in zahlreichen, Gewinn versprechenden Aktien und Fonds. Zugriff auf mein Geld hatte ich durch Karten, die an jedem Geldautomaten nutzbar sind, in einem Portemonnaie verwahrt, von welchem ich mich niemals trennte, ich verspüre sogar ein gewisses Unwohlsein, wenn ich nicht den beruhigenden Druck dieses Gegenstandes an meiner Brust verspüre.
Da sieht man doch einmal, was die Gier nach Geld für Katastrophen heraufbeschwören kann, und ich selbst gar war der Tor in jener Geschichte: Obgleich es mir nicht an Finanzen mangelte und ich es keineswegs nötig hatte, auf weitere Geldreserven zurückzugreifen, war ich nicht darüber erhaben, den traurigen Geldbetrag in dem Tresor einfach liegen zu lassen, nein, oh, wie verfluchte ich mich jetzt dafür, wollte ich noch den letzten Cent meines Vermögens in meinen Händen wissen, und dies hatte mich folglich in die jetzige Situation gebracht, einfach mein unbezähmter Hunger nach Geld. Pfui Schande, wie habe ich mich zuvor noch geschimpft? Einen „moralischen Kapitalisten“, jawohl, das habe ich!
Nun denn, suchen wir wieder den roten Faden in meiner Leidensgeschichte auf. So wagte ich dann den Abstieg, indem ich vorsichtig mit meinen Schuhen nach einem stabilen Abstützplatz suchte, ihn fand und mich mit den Händen an dem Fenstersims festkrallte, wie ein kleines Neugeborenes während des Schlafens seine Fäustchen zu ballen pflegt.
Nun tastete ich mich Zentimeter für Zentimeter weiter zu einer tiefer liegenden Mulde und gönnte es mir dieses eine Mal auch, einmal kurz durchzuatmen und mir beruhigend zuzusprechen: „Ich schaffe es!“
Doch nun drohten mich ein schreckliches Knirschen und ein darauf folgendes Krachen aus der Konzentration zu bringen, denn diese verkündeten, dass meinen in der Tat schlecht erzogenen Gästen der Durchbruch in mein Büro geglückt war. Es bedurfte meines vollen Aufmerksamkeitsvermögens, gegen den Drang anzukämpfen, vor Verzweiflung aufzuschreien und unkontrollierte Bewegungen mit den Händen zu vollführen, welche mir einen Sturz und damit den sicheren Garaus beschert hätten.
Mit ununterbrochenem innerlichen Mutzuspruch führte ich meinen Abstieg fort und gelangte unversehrt zu den Fenstern des ersten Stockwerkes. Dort erlaubte ich es mir, sicher auf der Fensterbank stehend, nacheinander meine Finger zu entkrampfen, um mein Vorhaben auch weiterhin erfolgreich fortführen zu können. Die unerwarteten Eindringlinge vernahm ich fluchen, als einer sagte: „Er ist nicht mehr hier! Entweder ist er aus dem Fenster gesprungen oder hat sich irgendwo versteckt.“
„Mmmh“, brummte wer mit der Stimme des Anführers. „Das geöffnete Fenster ist eigentlich der Beweis dafür, dass er nach draußen stiften gegangen ist. Aber du hast Recht, er könnte uns damit auch nur auf eine falsche Fährte gelockt haben. Jedenfalls glaube ich nicht, dass ein so pikefeiner Mensch einfach so aus dem Fenster springt.“
Mir blieb nichts anderes übrig, als den gefahrvollen Abstieg weiterhin, dessen unbeachtend, fortzusetzen, obgleich sie mich jederzeit zu entdecken drohten.
Ich hatte schon ein geschätztes Viertel der Distanz zwischen der ersten Etage und dem Erdgeschoss zurückgelegt, als mir schließlich doch ein Attentäter auf die Schliche kam und sich sein massiger Körper schwarz über das Sims der oberen Etage schob.
„Da! Der Trottel hat es tatsächlich gewagt, die Wand runterzuklettern! Boss, was sollen wir jetzt tun?“
„Ich hätte da eine hübsche und schmerzhafte Idee!“, so ertönte darauf die grausame Stimme des Anführers. Folgend hörte ich ihn höhnisch: „Literatur kann unter gewissen Umständen etwas Erschlagendes haben!“ rufen und sah danach einen schwarzen Gegenstand in meine Richtung fliegen. Dann verspürte ich eine harte Erschütterung auf meiner Brust, ich empfand es, als sei eine Granate explodiert und hätte mir mit ihrem Druck die letzte Luft aus der Lunge gepresst. Vor Schmerz und Pein tanzten mir bunte Flecken vor den Augen, meine Hände erschlafften urplötzlich. Das Gewicht des noch undefinierten Gegenstandes riss mich mit zu Boden, die restliche Strecke, die ich einst hinunterzuklettern gewünscht hatte hinab, sodass ich ungewollt hart auf der Wiese aufschlug und der Gegenstand schwer auf mir lastete. Mit Bedauern stellte ich fest, dass jener Gegenstand, den ich nun von meinem Leibe zog, eines der holden Fachbücher war, ein Gegenstand, der doch eigentlich Freude und Wissen liefern soll und nicht Schmerz und Verderben! Den werten Titel sollte ich nie erfahren, im Grunde stehe ich in dem Glauben, dem sei auch besser so, wo ich doch von jedem Buche meines Verlages eine gute Meinung beibehalten möchte.
Ich überprüfte mich nach jedweden Verletzungsmöglichkeiten und stellte zufrieden fest, dass ich mir außer einigen Prellungen und einem schmerzenden Brustkorb nichts Ernsthaftes zugefügt hatte. Auch die maßgeschneiderte Kleidung schien nur durch die Wiese ein wenig feucht geworden zu sein, ich musste sie also nicht einmal zu einer Änderungsschneiderei, sondern lediglich zur Reinigung geben.
Als ich wieder der Herr meines Denkens und meiner Motorik war, tastete ich in der Dunkelheit nach dem handlichen Tresor, bis ich auch dessen kalten Stahl an meinen Händen verspürte.
Doch auch bedrohliche Neuigkeiten blieben mir nicht unerkannt. So vernahm ich gleich wieder das abscheuliche Stimmorgan meines Widersachers rufen: „Los, los, schnell! Er entkommt uns noch! Versucht, ihn mit allen Mitteln aufzuhalten!“
Nun sollte ich diese Mittel auf eine in der Tat unangenehme Weise erfahren, denn es handelte sich tatsächlich um einen Hagel unschuldiger Bücher, welche auf mich und die Umgebung herniederprasselten. Ich verdankte es nur einer instinktiven Bewegung meiner Hände, dass mein Kopf vor dieser schändlichen Attacke verschont blieb und ich demzufolge auch weiterhin fähig war, weitere Strategien meiner Flucht zu planen. Welch ein Glück, dass mich nur drei der Bücher heftiger an Rücken und Arm trafen, die darauf folgenden Verletzungen sollte ich aber mit nicht minder fröhlichem Lebensverlauf überleben. Endlich war ich aus dem Gefahrenbereich der Bücherflut, als ich die Gebäudeecke erreichte. Dann schlich ich, bemüht, das selbige Schwarz wie das der Nacht anzunehmen, vorsichtig an der steinernen Gebäudewand entlang.
Mein jetziges Ziel war es, mein Kraftfahrzeug, welches in meiner privaten Garage neben dem Gebäude untergebracht war, aufzusuchen, um auf dem schnellsten Wege diese Stätte des Verderbens verlassen zu können. In dem Wagen hatte ich nämlich auch schon einen mattschwarzen Koffer mit mehreren Ersatzkleidungsstücken untergebracht, in der weisen Voraussicht nach den unheilvollen Anschlägen auf meine Person, eines Tages überhastet aufbrechen zu müssen und so bald nicht wieder über die Möglichkeit verfügen zu können, zurückzukommen.
Welch ein Glück, dass ich vorläufig meinen ungezogenen Verfolgern entkommen war! So erlaubte ich es mir, meine gebückte, zum Schleichen eingenommene Haltung aufzugeben und mit meinem üblichen, fließenden wie hurtigen Gang die Frontseite des Verlagsgebäudes entlang zu schreiten, welche annähernd eine Strecke von fünfundsiebzig Metern füllte und ihm einen besonderen, geradezu imperialen Glanz verlieh.
Wie auch sonst zu besseren Zeiten war die Fassade hell erleuchtet. Zwischen den zwei mittleren der wuchtigen, acht korinthischen Säulen waren auf einer steinernen Tafel in römischer Schreibweise, mit roter Farbe verstärkt, die Buchstaben LWGP und darunter der Name des Verlages zu sehen, welcher ja einen kleinen, jedoch wichtigen und feinen Teil meines Konzerns ausmacht.
Darunter war das mächtige Eingangsportal platziert. Die Räume zwischen den Säulen waren mit massivem Glas ausgefüllt, welches Blicke in das luxuriös mit Perserteppichen, vergoldeten Statuen und einer reichlich verzierten Stuckdecke ausgestatte Foyer zuließ. Von dort zweigten Gänge ab zu den Büroräumen, zu der Bibliothek, denn freilich war nicht jene des Verlagsgebäudes, sondern die des Verwaltungsgebäudes, welches einige hundert Kilometer entfernt in Elmshorn stand, ausgebrannt, dem Tagungsraum, dem kleinen Museum, zu der Druckerei und zu weiteren wichtigen Räumlichkeiten eines vollständigen Verlages.
Doch für all dies hatte ich keine Muße, es wahrzunehmen, ich gönnte lediglich der eingeschlagenen Scheibe, durch welche sich meine unangemeldeten Gäste offensichtlich Zutritt zu meinem Gebäude verschafft hatten, einen etwas längeren, empörten Blick.