Lupus Noctis - Melissa C. Hill - E-Book
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Lupus Noctis E-Book

Melissa C. Hill

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Beschreibung

Was als Spiel begann, wird tödlicher Ernst … Sechs Jugendliche steigen hinab in ein unterirdisches, verlassenes Bunkerkrankenhaus, um den perfekten Nervenkitzel zu erleben. An diesem unheimlichen, nahezu lichtlosen Ort wollen sie ihr Lieblingsrollenspiel Lupus Noctis weiterspielen. Doch schon nach kurzer Zeit stellt sich heraus: Der Schlüssel zur Tür fehlt – der Ausgang ist versperrt. Ein Versehen? Oder wurden sie in der Dunkelheit eingesperrt? Wer willst du sein – und wer bist du wirklich? - Hochgradig spannender Jugendthriller. - Inspiriert vom Rollenspiel Die Werwölfe von Düsterwald, bekannt aus Online- und WhatsApp-Spielen. - Genialer Twist vor gruseligem Setting: In einem Bunker aus dem Kalten Krieg kommen die dunkelsten Geheimnisse ans Licht. - TikTok-Star, Yoga-Girl oder Asthmatikerin mit Micky-Maus-Shirt – wer sagt die Wahrheit, wer spielt falsch?

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Über dieses Buch

Sechs Jugendliche steigen in ein unterirdisches, verlassenes Bunkerkrankenhaus hinab, um den perfekten Nervenkitzel zu erleben. Dieser nahezu lichtlose Ort soll der Schauplatz für ihr Lieblingsrollenspiel Lupus Noctis sein. Doch schon nach kurzer Zeit stellt sich heraus: Der Schlüssel zur Tür fehlt und der Ausgang ist versperrt.

Ein Versehen? Oder hat sie jemand in der Dunkelheit eingeschlossen? Je länger die sechs in der Finsternis festsitzen, umso mehr dunkle Geheimnisse kommen ans Licht.

 

 

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

unser Buch enthält einige Themen und Motive, die für manche Menschen möglicherweise triggernd wirken könnten. Um Spoiler zu vermeiden, findest du die Triggerwarnung hinten im Buch.

Melissa und Anja

 

 

 

Für unsere Mitwölfe vom Schliersee, aus Gunzenhausen, in Würzburg … und überall sonst

Prolog

12:00 Uhr ist Werwolfstunde. Als sie das Spiel erfunden haben, stand das von Anfang an fest.

Er zählt die Schläge der Uhr. Seine Stunde hat geschlagen. Die Stunde der Wölfe. Zeit, auf die Jagd zu gehen, Zeit, den Durst nach Blut ein weiteres Mal zu stillen. Er reißt die Augen auf und sein Blick fällt als Erstes auf das Windlicht, das vor ihm auf dem Boden steht. Die Kerzenflamme flackert im Luftzug, der durch ein zerbrochenes Fenster hereinweht. Der zerschlissene Vorhang bläht sich immer wieder auf, als würde das Haus tiefe, gleichmäßige Atemzüge nehmen. Das Zimmer muss irgendwann einmal einem Kind gehört haben. Es gibt kein Spielzeug mehr, aber einen schmalen Kleiderschrank und ein Gitterbettchen ohne Matratze. Alles zurückgelassen als stumme Zeugen aus der Zeit, in der das Haus noch bewohnt gewesen ist.

Leise erhebt er sich aus dem Schneidersitz. Wer morden will, muss unentdeckt bleiben. Die letzte Nacht war ein Blutbad, aber das große Finale kommt erst noch. Heute Nacht geht es um Leben und Tod. Er ist wild entschlossen, heute zu gewinnen.

Auf den losen Holzdielen ist es eine besondere Herausforderung, den Raum unbemerkt zu verlassen, um sein Wolfsrudel zu treffen. Er setzt jeden Schritt mit Bedacht.

Jemand anderes ist heute Nacht offenbar nicht so vorsichtig. Die Schritte lassen auf schwere Stiefel schließen. So etwas trägt doch keiner von ihnen in einer Spielnacht.

An der Tür bleibt er stehen und lauscht. Noch etwas an den Schritten beunruhigt ihn. Sie klingen nicht nur unvorsichtig, sondern auch weit entfernt.

Eine Berührung an seinem Arm lässt ihn zusammenfahren. Doch es ist nur seine Wolfsgefährtin, die unruhig darauf wartet, dass sie ihr nächstes Opfer auswählen können. Sie ist bereit zu töten, ungeduldig, blutdurstig, wie er eben selbst noch. Sein Blick fällt automatisch auf ihre Füße. Leichte Stoffturnschuhe, die in der Dunkelheit weiß leuchten.

Er bedeutet ihr mit einer Handbewegung, leise zu sein und zu lauschen. Im Inneren des Hauses ist es so still, wie es in einem so alten Haus nur sein kann. Hier und da knacken Balken oder raschelt etwas im Wind. Hier und da bewegt sich vielleicht auch einer ihrer Mitspieler, dem seine zusammengekauerte Haltung unbequem wird. Ganz still kann es mit sechs Personen gar nicht sein.

Gerade will er sich in Bewegung setzen, da werden die Augen seiner Wolfsgefährtin groß. Dieses Mal hört sie es auch. Schritte auf knarrenden Dielen. Sie kommen aus dem Stockwerk unter ihnen.

»Nicht gut«, flüstert er. Ohne sich abzusprechen, setzen sich die beiden Nachtwölfe in Bewegung. Die anderen zu alarmieren, wird ihre Tarnung auffliegen lassen und das Spiel ruinieren. Aber es bringt alles nichts. Soeben sind die Wölfe zu den Gejagten geworden und da hilft nur eines: Flucht.

Theo / Samstag, 31.08., 15:45 Uhr

Dunkel, unübersichtlich, verwirrend – das Wohnzimmer der Bergers ist ein einziges Bücherlabyrinth. Aber ein wunderbar gemütliches! Theo blickt sich kopfschüttelnd um. Täuscht er sich, oder war dieser bedrohlich schwankende Bücherstapel neben dem Kamin bei seinem letzten Wochenendbesuch noch nicht da? Das sind doch mindestens – er schätzt die Höhe mit Kennerblick – 24 neue Bücher! Eine reife Leistung in nur 14 Tagen, selbst für seine bibliophilen Eltern. In den Regalen, die sämtliche Wohnzimmer- und Flurwände einnehmen, ist natürlich längst kein Platz mehr. Dort drängen sich Fachbücher, Klassiker und Lexika, viele davon auf Latein oder Altgriechisch. Normalerweise fiele ihm das Chaos hier überhaupt nicht auf. Aber ausgerechnet heute kommt Josefine, damit sie dann zusammen zum Lupus Noctis-Wochenende aufbrechen können. Er hat sie eingeladen, weil ihnen ohne Hanan eine Mitspielerin fehlt. Womöglich überlegt sie es sich noch mal anders, wenn sie diese Messie-Höhle erblickt.

»Wir sollten Menschen in der Dunkelheit kennenlernen. Dort zählt nur, was du hörst. Und nicht, was du siehst.«

Theo zuckt zusammen, als die scheinbar körperlose Stimme zu ihm spricht. Dann geht er um ein wackeliges Ikea-Regal herum und blickt in die Lese-Ecke. Arthur, Theos ältester Bruder, lümmelt in einem Sessel. Auf seinen Beinen liegen weitere Bücher, die ihn wunderbar tarnen.

»Herodot?«, rät Theo, nachdem er sich von seinem Schreck erholt hat.

Sein Bruder verzieht das Gesicht zu einem Grinsen. »Sinnspruch aus dem Metal-Forum«.

Theo seufzt. Er beginnt, vollgekritzelte Notizzettel auf einen Haufen zu schichten und die leeren Teetassen auf dem Wohnzimmertisch zu stapeln. Vielleicht schafft er es ja zumindest noch, einen Hauch von Ordnung hier hereinzubringen.

»Suchst du was, Schätzchen?« Theos Mutter kommt ins Zimmer. Sie hat ihre Lesebrille hoch in die grauen Haare geschoben und trägt Hannibal, den Hauskater, um die Schultern wie eine kostbare Nerzstola.

»Nein, Mum, ich will nur ein bisschen sauber machen.«

»Sauber machen? Bist du krank?« Stirnrunzelnd legt Theos Mutter ihre Hand an seine Stirn.

Theo zieht seinen Kopf weg. »Mir geht’s gut. Ich erwarte nur Besuch.«

»Ach, wie schön, wer kommt denn?«

»Josefine, meine Nachhilfeschülerin.«

»Dieses reizende Mädchen mit den mangelhaften Rechenkünsten?«

Gerade als Theo zu einer Erwiderung ansetzt, öffnet sich die Wohnzimmertür und ein braun gebrannter, strubbeliger Kopf schiebt sich hindurch. Roland ist gerade erst von einer Exkursion aus Ägypten zurück und trägt seine Bräune wie eine Auszeichnung. »Mädchen? Unser kleiner Theo bekommt Besuch von einem Mädchen?«

Als hätte oben jemand auf das Stichwort gewartet, poltern sogleich Schritte die Treppe im Flur hinab. »Ja, wer ist denn die Glückliche?« Bernhard hat deutlich an Gewicht zugelegt, seit er sich mithilfe von Gummibärchen und Chips durch seine philosophischen Schwarten ackert.

»Dass ich das noch erleben darf!« Die karierte Decke rutscht plötzlich vom Sofa neben Arthurs Sessel in der Lese-Ecke und enthüllt nun einen gähnenden jungen Mann mit strähnigem schwarzen Haar und Nickelbrille. Konrad hat vermutlich die ganze Nacht hindurch programmiert und ist zum unpassendsten Zeitpunkt erwacht.

Theo seufzt schicksalsergeben. Seine vier großen Brüder haben ihm gerade noch gefehlt. Schlimm genug, dass sie alle gleichzeitig Sommerferien haben und hier aufeinander hocken, aber dass sich ausgerechnet jetzt alle im Wohnzimmer versammeln müssen, ist wirklich eine besonders perfide Laune des Schicksals.

»Musst du nicht gleich los? Zu eurem Treffen?«, fragt Theos Mutter.

»Ein Date?«, greift Arthur die Frage auf. Seine Geschwister fallen sofort mit ein:

»Am Samstagnachmittag?«

»Das haben wir dir aber anders beigebracht.«

»So wird das nie was.«

»Da braucht wohl selbst jemand Nachhilfe.«

»Von Tantchen Kama Sutra.« Alle vier lachen.

Theo verdreht die Augen. »Es ist kein Date. Die ganze Gruppe trifft sich, ich nehme Josefine nur mit, weil wir sonst einer zu wenig wären.«

Theos Mutter streichelt den Kater, der seinen Schwanz träge vor ihrer Nase hin und her schwenkt. »Aber dann kannst du ja gar nicht mit zum Grillen zu Tante Bene!«

»Ja, schade …« Theo wird heiß unter seinem T-Shirt. »Aber ich habe sie ja erst vorletzte Woche besucht.« Hoffentlich wird er jetzt nicht rot. Die Schwester seines Vaters wohnt in einem kleinen Hexenhäuschen am Rande des Burgstalls. Sie arbeitet im Gunzenhäuser Stadtarchiv und bietet Führungen mit fundiert historischem Hintergrund an. Und sie besitzt einen ganz bestimmten Schlüssel, einen, der sich gerade verbotenerweise in Theos linker Hosentasche befindet. Zum ersten Mal hat er etwas geklaut.

Schnell zieht Theo die Hand aus der Tasche. Wenn seine Familie jetzt etwas merkt, können sie das Wochenende vergessen. Für einen Moment lang hat er sich ertappt gefühlt. Arthur und seine unselige Neigung zu absurden Zitaten. »Wir sollten Menschen in der Dunkelheit kennenlernen.« Es passt fast zu gut auf sein heutiges Vorhaben. Hoffentlich hat er nicht auffällig reagiert. Zum Glück sind seine Brüder damit beschäftigt, ihn damit aufzuziehen, dass er Damenbesuch erwartet.

Eigentlich hat er den Schlüssel ja gar nicht wirklich geklaut, mehr so geliehen, nur für ein paar Tage. Tante Bene wird ihn während der kurzen Zeit bestimmt nicht vermissen. Dafür ist die Location, in die er die Gruppe heute hineinschmuggeln wird, einfach extrem cool. Cool und unheimlich. Die perfekte Kombi für ein spannendes Wochenende. Und für die vielleicht denkwürdigste Spielrunde aller Zeiten.

In diesem Moment knallt es so laut, dass Theo zusammenzuckt und Bernhard gegen ein Bücherregal stolpert. Bücher fallen zu Boden, eine Tasse zerbricht. Verwirrt blickt Theo um sich.

»Da!«, Arthur zeigt auf das Wohnzimmerfenster. Ein Sprung zieht sich durch das Glas.

»Runter! Da schießt jemand!«, schreit Konrad. Er lässt sich mit den Händen über den Kopf auf den Boden fallen. Roland geht hinter dem Sofa in Deckung und zerrt an Theos Hand. Er knickt um und spürt den harten Holzboden unter seinen Knien. Wo ist seine Mutter, was …?

»Ein Vogel«, sagt sie mit leiser Stimme. »Tot.« Sie steht an der Verandatür und blickt in den Garten hinaus. Hannibal streicht jetzt aufgeregt maunzend um ihre Beine. Theo rappelt sich auf und tritt neben sie. Vor dem Fenster liegt eine riesige Krähe, den Hals merkwürdig verdreht.

»Das Mistvieh ist gegen das Fenster geflogen.« Konrad klingt fassungslos.

»Von wegen ›da schießt jemand‹. Du hast wohl zu viel ›Call of Duty‹ gezockt.« Bernhard sammelt die Porzellanscherben auf. Seine Brüder beginnen sofort wieder damit, sich gegenseitig aufzuziehen.

Nur Theo starrt nach draußen. Eine tote Krähe, fast wie eine Botschaft für ihn. Pechschwarze Federn, geballte Dunkelheit. Er tastet nach dem Schlüssel in seiner Tasche. Wo bleibt Josefine? Lupus Noctis wartet.

Lena / Samstag, 31.08., 16:00 Uhr

Lena starrt den Inhalt ihres Rucksacks an, den sie ohne große Umsicht auf das frisch gemachte Bett gekippt und dort ausgebreitet hat. Es ist alles noch da. Zwei dicke Norwegerpullover, ein kleiner Kulturbeutel mit dem Allernötigsten, ihr Geldbeutel und das Smartphone, dessen Display zwei neue Nachrichten anzeigt, der frisch bestückte Erste-Hilfe-Beutel und eine Trinkflasche mit Leitungswasser.

Trotzdem besteht kein Zweifel: Jemand muss an ihrer Tasche gewesen sein. Er hat vielleicht nichts weggenommen, aber eindeutig etwas dagelassen.

Der Zettel liegt neben dem Chaos auf den rot-weißen Karos der Bettdecke, und obwohl er so unschuldig und harmlos aussieht, will Lena ihn gar nicht mehr anfassen. Sie wischt mit der Hand über ihre Jeans und kann dabei den Blick nicht von dem Stück Papier abwenden.

Es muss ein schlechter Scherz sein. Jemand muss den Zettel in ihren Rucksack gesteckt haben, um ihr eins auszuwischen. Jemand, der gestern Abend mit ihr im Zug nach Gunzenhausen gesessen hat. Oder gleichzeitig mit ihr am Bahnhof war. Jemand, der weiß oder zumindest ahnt, dass Lena etwas zu verbergen hat.

Lena greift nach dem roten Norwegerpullover und faltet ihn auseinander, aber weder in seinem Inneren noch in dem des blauen Exemplars findet sie Antworten oder irgendetwas Verdächtiges. Aber obwohl die Pullover unverändert aussehen, kommen sie ihr nun irgendwie beschmutzt vor. Jemand war an ihrer Tasche, hat mit seinen Fingern heimlich den Reißverschluss aufgezogen. Und das während sie ganz in der Nähe war. Im Zug lag der Rucksack neben ihr, am Bahnhof war er auf ihrem Rücken. Nein, nicht die ganze Zeit. Sie hat ihn abgesetzt, nachdem dieser Typ sie angerempelt und dabei seine Glasflasche zerbrochen hat. Um ihre Klamotten abzuwischen und ihm mit den Scherben zu helfen. Hat er nicht sogar mit einem Taschentuch an ihrem Gepäck herumgeschrubbt, während er sich hundertmal entschuldigt hat? Lena versucht, sich den Kerl ins Gedächtnis zu rufen, aber sie erinnert sich nur an eine eckige Brille und den Geruch der verschütteten Cola. Hätte er die Chance gehabt, ihr den Zettel zuzustecken? Aber wozu? Sie kennt ihn ja nicht einmal!

Lenas Blick wandert noch einmal prüfend über ihr ausgebreitetes Gepäck, dann durch den Rest ihres Zimmers. Man sieht dem Raum an, wie selten sie hier ist, seit sie studiert. Das einzig Neue hier ist das gerahmte Foto von Marcel und ihr auf dem Nachtkästchen. Sie hat es extra hier aufgestellt, damit es sie auch an den Wochenenden bei ihrer Familie daran erinnert, dass sie es endlich geschafft hat, Marcel für sich zu gewinnen.

Lena nimmt es in die Hände und betrachtet Marcel. Es ist eines der seltenen Fotos, auf denen er nicht für die Kamera lacht. Sie erkennt es daran, dass sein Lächeln ein bisschen schief ist. Er mag das nicht, aber Lena findet, dass es ihm steht. Und auf dem Foto gilt es ihr ganz allein.

Die Tür fliegt auf und knallt gegen den Schrank. Der Bilderrahmen rutscht Lena aus den Händen, schlägt gegen die Bettkante und fällt auf den Boden. Lena tritt beinahe darauf, als sie einen Schritt zurückstolpert, doch hinter ihr wirbelt nur ihre Schwester Anne ins Zimmer. Kein Axtmörder. Kein Drohbriefschreiber. Nur Anne.

»Na, bist du bald fertig?« Anne bleibt neben Lena stehen oder tänzelt vielmehr neben ihr hin und her, während sie das Chaos auf dem Bett begutachtet. »Sieht nicht gerade so aus.«

Lena erwidert nichts, während sie in die Hocke geht und das Foto aufhebt. Schon das Knirschen sagt alles. Sie ist normalerweise nicht so schreckhaft – Anne hat sich noch nie mit Anklopfen aufgehalten. Es muss die Anspannung wegen dieses Zettels sein.

Der Zettel! Hastig stellt Lena das kaputte Bild an seinen Platz zurück, rafft Geldbeutel, Wasserflasche und das Stück Papier zusammen und stopft alles in ihren leeren Rucksack. Zu spät fällt ihr auf, wie verdächtig ihre Schwester dieses Verhalten finden muss. Sie weiß genau, dass Lena normalerweise sogar ihre getragene Wäsche aus dem Studentenwohnheim gefaltet zum Waschen mit nach Hause bringt. »Ich hab nur noch mal nachgesehen, ob ich an alles gedacht habe.«

Anne sieht sie mitleidig an. »Als hättest du schon jemals irgendetwas vergessen.« Sie greift nach dem Kulturbeutel und hält ihn Lena entgegen. Ehe Lena das Täschchen aus Annes Händen nehmen kann, hat diese schon den Reißverschluss aufgezogen und hineingespäht. »Sag ich doch. Niemand außer dir würde Deo oder Puder mit in irgendeine leere Fabrikhalle nehmen. Oder wo steigt ihr dieses Mal ein?«

»Wir steigen überhaupt nirgends ein.« Lena reißt ihr den Kulturbeutel aus den Händen und steckt ihn, offen wie er ist, in den Rucksack zurück. Die Norwegerpullis und der restliche Kram folgen.

»Hab ich dir irgendwas getan?«

»Nein, Quatsch.« Lena verschließt ihren Rucksack und nestelt unnötig lange am Reißverschluss herum, ehe sie es schafft, sich ein Lächeln ins Gesicht zu zwingen. Natürlich hat Anne ihr nichts getan. Sie ahnt nichts von Lenas Geheimnis und auch nichts von dem Drohbrief in ihrer Tasche.

Ihre Schwester hat aufgehört, herumzutänzeln. Sie steht einfach da und mustert Lena von der Seite. »Also … bleibst du länger hier, jetzt wo du Sommerferien hast?«

Lena wendet ihrem Rucksack den Rücken zu und verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich muss noch eine Hausarbeit fertig schreiben. Außerdem kann ich Pestalozzi nicht so lange alleine lassen.«

Annes Blick wandert für den Bruchteil einer Sekunde zu dem gerahmten Foto auf dem Nachtkästchen. Sie wissen beide, dass das Lenas wahrer Grund ist, ihre Sommerferien lieber in München als bei ihrer Familie zu verbringen. »Aber ich komme auf jeden Fall noch mal für eine Woche oder so nach Hause«, lenkt Lena schnell ein, ehe Anne den Gedanken aussprechen kann. »Und Pestalozzi bringe ich einfach mit.«

Anne verzieht das Gesicht. Mit Lenas Ratte hat sie noch nie viel anfangen können. »Und ihr spielt heute wieder euer Wolfsspiel?« Sie stellt diese Frage so betont beiläufig, dass Lena beinahe schon wieder nach dem Reißverschluss greift. Gerade noch so kann sie sich zusammenreißen und nickt stattdessen vage.

»Wo denn dieses Mal?«

»Weiß ich nicht«, erwidert Lena mit Nachdruck. »Theo hat sich um den Spielort gekümmert.«

Anne hebt einen Mundwinkel. »Ich würd’s auch nicht sagen, wenn es nicht ganz legal ist.«

Nun kann Lena nicht mehr anders: Sie wirbelt herum und schnappt sich ihren Rucksack. »Gott, Anne«, stöhnt sie mit dem Rücken zu ihrer Schwester. »Du hast zu viel Fantasie. Es ist nur ein Spiel.«

Marcel / Samstag, 31.08., 16:10 Uhr

Direkt in Marcels Blickfeld baumelt ein Glücksbärchi im rosa Tutu von Eileens Rückspiegel. Wo sie das scheußliche Ding nur herhat? Leider fällt sein Blick immer wieder darauf, denn in Eileens Fiat 500 ist einfach alles nah an ihm dran. Er hat den Sitz bereits nach hinten geschoben, aber trotzdem stoßen seine Knie an das Handschuhfach. Auf der Rückbank liegt sein Rucksack eingequetscht zwischen Eileens ganzem Gepäck. Sie hat nicht nur einen kleinen Rollkoffer dabei – lächerlich, wenn man bedenkt, was für eine Art von Übernachtung vor ihnen liegt –, sondern auch einige Jutetaschen und einen Korb mit seltsam aussehendem Gemüse sowie eine Yogamatte.

»Musstest du dir unbedingt so eine Sardinenbüchse zulegen?«

Eileen wirft ihm einen herausfordernden Blick zu und lässt eine Kaugummiblase vor seinem Gesicht platzen. »Du kannst jederzeit aussteigen, Sweetheart.«

»Aussteigen ist gut gesagt. Wahrscheinlich kann ich keinen Knochen mehr bewegen, wenn es mal so weit ist.«

»Ooooh, du Armer. Wie wär’s, wenn du deine Zwangslage gleich mal auf TikTok postest? Da finden sich sicher ein paar Verehrerinnen, die dir helfen, deinen Unterleib wieder in Schwung zu bringen.«

Marcel muss sich ein Grinsen verkneifen. Vorsichtshalber wechselt er das Thema. »Hast du zufällig schon mal ›Among Us‹ gespielt?« Normalerweise ist Eileen die Erste, die neue Trends ausprobiert. Oft hat Marcel sogar das Gefühl, dass etwas nur deshalb zum Trend wird, weil Eileen es macht.

»Mal reingeschaut, warum?« Eileen überholt mit breitem Lächeln ein bunt bemaltes Wohnmobil. »Süß, oder? Dieses Raumschiff und die putzigen Männchen, mit denen man herumläuft.«

»Ich finde eher interessant, dass es da um ein ähnliches Spielprinzip geht wie bei Lupus Noctis. Bloß als Onlinegame.«

»Reale Auseinandersetzungen sind mir lieber.« Sie hupt einen LKW an, der vor ihnen die Landstraße entlangzockelt.

Marcel, den Eileens Fahrstil zunehmend nervös macht, gibt es auf, ein vernünftiges Gespräch führen zu wollen. Stattdessen schnuppert er in der Luft herum. »Ist das dein komisches Gemüse, was da so riecht, oder hast du noch andere Pflanzen am Start?«

»Andere Pflanzen?« Wenn Eileens Stimme derart unschuldig klingt, ist Vorsicht geboten.

»Unauffällige, getrocknete, ver-bo-te-ne Pflanzen mit hohem THC-Gehalt?«

»Oooh, Chéri, das ist bloß das Cannabis-Duftbäumchen.«

Marcel traut ihr sofort beides zu. Dass sie an der Tankstelle ein Cannabis-Duftbäumchen gesehen und für cool befunden hat, oder dass sie unter seinem Sitz eine Tüte Gras versteckt hat. Besser, wenn er gar nicht weiter nachfragt, dann kann er bei einer Polizeikontrolle schon nichts Falsches sagen. Hoffentlich sind sie bald da.

Er versucht, sein Handy aus der Hosentasche zu ziehen. Dafür muss er den Kopf schief legen, damit er nicht an das Dach stößt, und sich mit den Beinen vom Sitz hochdrücken.

»Vielleicht sollte ich eine neue Serie von Fitnesstipps drehen: So kräftige ich meine Muskulatur im Inneren eines Kleinwagens.«

»Darauf hat die Welt gewartet.«

»Hey, meine Follower mögen mich und meine Postings.«

»Dein inszeniertes Ich meinst du wohl.«

Marcel antwortet lieber nichts darauf. Wenn es um seine TikTok-Postings geht, fühlt er sich Eileens spitzer Zunge manchmal nicht gewachsen. Trotzdem ist ihm ihre Meinung immer noch wichtig. Er gibt sich große Mühe, seine Videos so perfekt wie möglich hinzukriegen. Was er erklärt, wie er es sagt, welche Übungen er zeigt, welche Kameraeinstellung er wählt, welche Musik dazu passt … Für ihn ist das Arbeit, auch wenn er sie gerne macht.

»Übrigens gibt es erstaunlicherweise auch echte Menschen, die den echten Marcel mögen. Ganz abseits von TikTok und Co. Und einigen davon wirst du heute begegnen, wenn du dein Handy lange genug herunternimmst.« Eileen boxt ihm sacht gegen den Oberarm. »Wow, da war aber jemand im Gym, nicht schlecht!«

Marcel grinst in sich hinein. Näher wird Eileen einer Entschuldigung für ihre kritischen Kommentare zu seiner Influencer-Karriere nie kommen. Aber dass sie ihm gegenüber auch noch ein Kompliment ausspricht, zeugt von herausragend guter Laune. Das Kräftemessen mit ihr ist aufregend, aber mittlerweile findet Marcel die deutlich ruhigere Beziehung mit Lena viel entspannter. Sie unterstützt ihn, hört ihm zu und versteht, was ihn antreibt. Was für ein berauschendes Gefühl es ist, Vorbild für mehrere Tausend Leute zu sein! Er liebt es, wenn seine Follower ihn um Rat fragen oder berichten, wie sie seine Fitnesstipps umgesetzt haben. All das bringt ihn seinem Traum näher, als Personal Trainer zu arbeiten, Menschen zu motivieren, sein eigener Chef zu sein. Und dadurch die Freiheit zu haben, sein Leben genau so zu gestalten, wie – und mit wem – es ihm gefällt.

Unauffällig schaut er zu Eileen hinüber. Sie ist ganz auf das Fahren konzentriert, singt dabei leise den Popsong im Radio mit. »Paparazzi« von Lady Gaga, uralt inzwischen, aber immer noch gut. Das mag er an Eileen, dass ihr nichts peinlich ist. Er kann den Maracujaduft ihrer Haare riechen. Ein vertrauter Geruch für ihn, auch wenn ihre Haare gefühlt jedes Mal anders aussehen. Momentan trägt sie ihre Löwenmähne gefärbt, die Strähnen werden nach unten hin immer dunkler. Sieht gut aus, das muss er zugeben. Eigentlich unvorstellbar, dass Lena und Eileen beste Freundinnen sind. Und das schon seit der Schulzeit. Sie sind so unterschiedlich, schon was den Kleidungsstil angeht.

Natürlich trägt Eileen Leggins, schließlich hat sie kein Problem damit, wenn man ihre Figur sieht. Dazu einen grauen Kapuzenpulli mit einem Aufdruck der Universität Harvard. Wo sie den wohl mitgehen hat lassen? Oder ist er liegen geblieben, in ihrem Schlafzimmer womöglich, nach einer der Partys, auf denen sie so häufig anzutreffen ist und von denen sie sicher nicht jedes Mal alleine nach Hause geht?

Er wird ihr nicht den Gefallen tun, zu fragen. Schließlich kann es ihm komplett egal sein, wie sie ihre Nächte verbringt oder mit wem.

Sie singt noch immer. »I’m your biggest fan, I’ll follow you until you love me, papa-paparazzi.«

Zum ersten Mal hört er den Text richtig. Ein Schauder läuft ihm über den Rücken.

»Mach das Lied aus.« Seine Stimme klingt gepresst.

Eileen tut, als habe sie nichts gehört. »Promise, I’ll be kind, but I won’t stop until that boy is mine.«

Marcel schließt die Augen, ihm wird übel. Bilder kommen hoch. Rote Rosen vor seiner Tür, er greift danach, ein scharfer Schmerz, ein Blutstropfen rinnt seinen Finger hinunter, auf den Zettel, der zwischen den Blumen steckt und den er gar nicht liest. Er wirft alles in den Mülleimer. Mitten in der Nacht, sein Handy klingelt. Anonymer Anruf. Er geht erst nicht ran, weiß schon, was kommen wird. Kann dann doch nicht anders. »Marcel, ich liebe dich. Du bist alles für mich!« Eine verstellte Stimme, immer dieselbe. Er schreit ins Telefon. »Lassen Sie mich in Ruhe, hören Sie, das muss aufhören!« Ein Nachmittag in den Pasing Arcaden. Sein Handy signalisiert den Eingang einer Mail. »Du siehst süß aus, wenn deine Haare so verstrubbelt sind …« Er zuckt zusammen, schaut sich um, wer ist es? Wo ist sie? Was will sie von ihm?

»Baby, you’ll be famous, chase you down until you love me, papa-paparazzi.«

Eileen hat den Song noch lauter gedreht. Das macht sie mit Absicht! »Wechsel den Sender, Eileen!« Auch er wird jetzt lauter. Als sie nicht reagiert, kann er nicht anders. Seine Hand schnellt nach vorne, haut auf die Knöpfe des Radios. Es knistert, dann verliest jemand Staumeldungen.

»Hey! Spinnst du?« Eileen zeigt ihm den Vogel.

Marcels Hände fühlen sich eiskalt an, er hält das Handy ganz fest, damit Eileen nicht sieht, dass sie zittern.

Josefine / Samstag, 31.08., 16:20 Uhr

Josefine findet es selbst etwas albern, aber ihr Herz vollführt eine Art Stepptanz, als dem zaghaften Fingerdruck auf den Klingelknopf ein blechernes Scheppern hinter der Haustüre folgt. Dicht gefolgt von nicht einer, sondern gleich drei tiefen Stimmen, deren Worte sie hier draußen nicht verstehen kann.

Wie befürchtet ist es dann auch nicht Theo, der die Türe aufreißt, sondern jemand, der wie eine etwas ältere, etwas bärtigere Version von ihm aussieht. Es kann eigentlich nur einer seiner Brüder sein.

»Ähm … ich bin Josefine.« Hastig setzt sie ein breites Grinsen auf. »Ich will zu Theo. Also … äh, er ist doch da, oder?«

»Selbstredend. Er erwartet dich schon sehnsüchtig.«

»Äh … ja, klar«, entgegnet sie wenig einfallsreich. Und dann, weil sie sich selbst gar nicht so kennt und normalerweise wirklich nicht auf den Mund gefallen ist: »Du weißt aber, dass er mein Nachhilfelehrer ist, und ich würde ja wohl nicht ernsthaft etwas mit meinem Lehrer anfangen. Das wäre wie … wie Will und Lake oder so, nur irgendwie in schräg.«

Die beiden buschigen Brauen ihres Gegenübers heben sich Richtung Haaransatz.

»Ja«, meint Josefine schulterzuckend. »Ich hab mir schon gedacht, dass du so was eher nicht liest. Ähm … vielleicht Lydia und Graham? Oh Gott, warum lese ich eigentlich so viele Bücher, in denen Schülerinnen was mit ihren Lehrern –«

Zum Glück unterbricht Theo jede weitere Erläuterung ihrerseits, indem er mit donnernden Schritten die Treppen hinunterkommt. »Ich hab doch gesagt, ich geh schon.«

»Und ich war schneller. Wirklich, Theo, ich verstehe nicht, warum du die Kleine so lange unter Verschluss gehalten hast. Von wegen Professionalität und in der Bücherei könne man sich besser konzentrieren.«

Dieses Argument seitens Theo hat Josefine jedenfalls nie zuvor so gut verstanden wie jetzt, als sie zum ersten Mal im Flur seines Zuhauses steht. Aus der Küche dringt neben einem halb süßen, halb angebrannt riechenden Aroma etwas, das sich verdächtig nach der Königin der Nacht aus Mozarts »Zauberflöte« anhört, und im oberen Stockwerk brüllt jemand quer durch das Haus, ob jemand sein »Elbisches Wörterbuch« gesehen hat.

»Ich bin noch nicht ganz fertig mit Packen.« Theo nickt in Richtung Treppe und fügt mit einem schnellen Seitenblick zu seinem Bruder hinzu: »Aber wir können in zwei Minuten los.«

»Schaut ihn euch an, nervös wie ein Schuljunge.« Sein Bruder schlägt Theo schwungvoll auf die Schulter. »Komm mit ins Wohnzimmer, Josefine. Anfänger. Sein Date lässt man doch nicht im Hausflur stehen.«

Theo zieht es erneut vor, dem nichts zu entgegnen. Es stimmt – er wirkt nervös. Aber Josefine bildet sich nicht ein, dass das tatsächlich an ihr liegt. Das hier ist kein Date und Theo und sie tatsächlich Nachhilfelehrer und Schülerin. Ihretwegen auch Freunde.

»Und, studierst du auch?« Theos Bruder ist ihr voran ins Wohnzimmer gegangen und hat sich auf eines der drei Zweisitzersofas geworfen. Die anderen beiden, das davor stehende Tischchen und der Boden sind mit Bücherstapeln bedeckt. Zwischen weiteren Bücherreihen thront auf einem Klavier eine Büste von Bach. Es könnte das einzige irgendwie Spießige in diesem Raum sein, wenn sie nicht einen Cowboyhut tragen würde. Aus Leder, mit Stern und allem.

»Nein. Also, noch nicht. Ich fange im Oktober mit Germanistik an. In Heidelberg.«

»Hat sich die Nachhilfe von meinem Brüderchen also gelohnt.«

Josefine zieht es vor, ihn in diesem Glauben zu lassen und nicht zu erwähnen, dass Theo ihr zwar seit mittlerweile fünf Jahren Nachhilfe in sämtlichen Naturwissenschaften gibt, sie was Sprachen angeht aber ziemlich auf einer Wellenlänge sein müssten.

»Schon fertig!« Theo erscheint im Türrahmen, einen Rucksack auf der linken Schulter, eine große Holzkiste unter dem rechten Arm und die Brille ein bisschen schief auf der Nase, weil er sich offenbar ziemlich beeilt hat.

»Ja, dann … bis irgendwann mal«, grüßt Josefine vage in den Raum, ehe sie Theo nach draußen in die ungepflasterte Einfahrt folgt. Sofort drückt er ihr die Holzkiste in die Hände. Sie ist unerwartet leicht und etwas rutscht in ihrem Inneren geräuschvoll hin und her.

»Brauchen wir das alles für das Spiel?«

Theo bejaht, ohne sich zu ihr umzudrehen, und zerrt einen hölzernen Leiterwagen aus dem Chaos der Garage. »Rein mit dem guten Stück.« Er bedeutet Josefine, die Kiste darin abzustellen, und wirft schwungvoll seinen eigenen Rucksack hinein. Auch darin scheppert es, als wäre er vollgestopft mit allem möglichen Kram.

»Hässlich, aber praktisch«, befindet Josefine, stellt ihren eigenen Rucksack auf die Kiste und greift nach der Zugstange. »Ist ja nicht weit, oder?«

Theo grinst. »Bis zur Berufsschule, das weißt du ja eigentlich schon. Strenggenommen darf das auch keiner genauer wissen. Das ist eine der Regeln bei Lupus Noctis: Normalerweise kennt nur der Organisator den genauen Spielort, bevor es losgeht. Den anderen hab ich nur geschrieben, wo wir uns treffen.«

»Okay, verstanden, Käpt’n.« Immerhin ist die Berufsschule nur ein paar Gehminuten entfernt und sie müssen mit dem Leiterwagen nicht auch noch den Marktplatz überqueren. Dafür hat der Sturm letzte Nacht hier schlimm gewütet. Sie ziehen den Leiterwagen über abgebrochene Äste, die unter seinen Rädern knacken, und kommen an einem Mülleimer vorbei, der aus seiner Verankerung gerissen wurde. Als hätte heute Nacht auch in Gunzenhausen ein Rudel Werwölfe ihr Unwesen getrieben.

»Und euer Spiel funktioniert wie ›Die Werwölfe von Düsterwald‹ oder ›Nacht in Palermo‹ und so?«

»So ähnlich.«

»Aber ihr spielt es mit Werwölfen und Dorfbewohnern?«, hakt Josefine nach. Endlich kann sie Fragen stellen, auch wenn Theo immer noch ausweichend reagiert. »Also … jeder bekommt eine geheime Rolle? Die Werwölfe wollen die Dorfbewohner umbringen und die Dorfbewohner die Werwölfe, ja?«

»Ehrlich gesagt haben wir keine normalen Dorfbewohner. Nur Wölfe und Sonderrollen. Ist ein bisschen langweilig, ein ganzes Spiel ohne besondere Fähigkeiten zu verbringen.«

»Aber das Spiel dauert doch nicht besonders lange.« Der Leiterwagen verkeilt sich in einem besonders großen Ast auf dem Gehweg. Er ist fast armdick und die abgebrochene Stelle sieht tatsächlich ein bisschen so aus, als hätten scharfe Fangzähne und nicht nur Naturgewalten ihn vom Rest des Baumes gerissen.

»Normalerweise nicht.« Theo bleibt stehen, als er bemerkt, dass Josefine nicht nachkommt. »Aber bei uns, also bei Lupus Noctis, schon. So mit drei, vier Stunden solltest du rechnen. Manchmal mehr. Deshalb spielen wir auch immer nur eine einzige Runde.«

»Und bist du der Erzähler? Dann kannst du selbst ja gar nicht mitspielen.«

»Wir brauchen keinen Erzähler.« Theo seufzt, greift nach dem Leiterwagen und hilft Josefine, das verkeilte Rad zu befreien. »Das Spiel ist in Tag- und Nachtphasen unterteilt.« Jetzt ist Theo in seinem Element. Josefine kennt das schon: Während der Nachhilfestunden hat er Lupus Noctis immer wieder erwähnt. Immerhin hat er selbst sich die Spielregeln für die Gruppe ausgedacht, nachdem er und seine Freunde bereits alle bekannten Rollenspiele dieser Art ausprobiert hatten. Er kann gar nicht anders, als begeistert davon zu erzählen. »Das kennst du ja wahrscheinlich. In den Nachtphasen greifen die Werwölfe an. In den Tagphasen wird verhandelt und gegebenenfalls verurteilt. Bei uns sind die Nachtphasen zusätzlich in Stunden untergliedert. Jede Figur hat ihre eigene Uhrzeit, wann sie aufwachen und ihre besondere Fähigkeit ausspielen darf. Zum Beispiel erwachen die Werwölfe natürlich zur Geisterstunde und haben dann bis genau 01:00 Uhr Zeit, sich ihr Opfer zu suchen.«

»Du meinst jetzt aber nicht wirklich 01:00 Uhr, oder? Dann würde ja eine einzige Nachtphase schon mehrere Stunden dauern.«

Theo schüttelt den Kopf. »Eine Nacht dauert bei Lupus Noctis vierzig Minuten. Immer nach fünf Minuten schlägt die Kirchturmuhr und kündigt allen Spielern die neue Stunde an. Die einen legen sich schlafen, die anderen erwachen. Um 06:00 Uhr ist die Nacht vorbei und wir treffen uns auf dem Marktplatz, um die Tagphase zu eröffnen. Und die dauert so lange, bis wir uns auf eine Verurteilung oder einen Freispruch einigen konnten.«

»Und wer verurteilt wird …«

»… kommt an den Galgen und ist damit raus, genau«, ergänzt Theo. »Wie bei den anderen Spielen auch. Dann darf man zuschauen, aber kein Wort mehr sagen. Wenn alle Wölfe tot sind, haben die Dorfbewohner gewonnen. Wenn alle Dorfbewohner tot sind, haben die Werwölfe gewonnen.«

»Und wenn alle tot sind«, versucht Josefine zu scherzen, der bei Theos Worten trotz der Sommersonne über ihnen ein Schauer über den Rücken läuft.

»… dann ist etwas schiefgelaufen, würde ich sagen.«

Hanan / Samstag, 31.08., 16:30

Hanan geht nervös in dem schmalen Gang auf und ab. Ihre Schritte hallen leise auf dem Steinfußboden, während sie versucht, sich den Aminosäuren- und Nukleotidstoffwechsel ins Gedächtnis zu rufen. Biochemie ist einfach verflixt schwer. Die Nachprüfung muss sie jetzt unbedingt bestehen, sonst wird sie nicht zum Physikum zugelassen.

Zum Glück ist es hier in einem der Nebengebäude der Universität schön kühl und sie schwitzt nicht allzu sehr in ihrem türkisfarbenen Kleid und den knöchellangen Leggins. Der Hijab ist schon warm genug, auch wenn sie das Kopftuch immer in hellen, freundlichen Farben trägt.

»Purinsynthese, Pyrimidinsynthese«, geht sie einige Stichworte im Kopf noch mal durch. Warum nur hat sie die Prüfung nicht schon im Juni bestanden! Dann könnte sie jetzt mit ihren Freunden ein ausgelassenes Wochenende in Gunzenhausen verbringen.

Sie liebt diese Nächte, in denen sie sich an verlassene Orte zurückziehen und bei Kerzenschein als Werwölfe, Hexen oder furchtsame Dorfbewohner durch die Dunkelheit schleichen.

Schon bei ihrer ersten Spielrunde ist ihr klargeworden, was den besonderen Reiz von Lupus Noctis ausmacht. Das Schlüpfen in unterschiedliche Rollen, der Nervenkitzel beim nächtlichen Herumschleichen und die regen Diskussionen am Tag, wenn die Dorfbewohner verzweifelt herauszufinden versuchen, wer unter ihnen insgeheim ein gemeingefährlicher Werwolf ist.

Hanans Lieblingsrolle ist der Wächter, der jede Nacht einen der anderen Spieler vor den Werwölfen beschützen und so dessen Leben retten kann. Aber auch die Hexe zu spielen, macht ihr Spaß, weil sie das Leben eines eben getöteten Dorfbewohners retten kann, wenn sie es geschickt anstellt.

Noch zehn Minuten. Vor lauter Nervosität ist Hanan viel zu früh gekommen, aber langsam füllt sich der Gang mit weiteren Studierenden. Hanan geht einige Meter weiter und lässt sich mit gekreuzten Beinen auf dem Boden nieder. Sie holt ihre Biochemie-Zusammenfassung aus der Tasche und schlägt das Skript wahllos auf. Bunt angemarkerte lateinische Begriffe buhlen um ihre Aufmerksamkeit, doch Hanan kann nicht verhindern, dass ihre Gedanken erneut abschweifen.

Wo die anderen wohl heute Nacht schlafen werden? Als Hanan sich in der Oberstufe mit Lena angefreundet hat und bald schon zum ersten Mal mit zu den Spielabenden genommen wurde, haben sie sich an möglichst leicht zugänglichen Orten getroffen: einem halb verfallenen Häuschen in Unterwurmbach, dem Limesturm im Burgstall oder einem alten Fabrikgebäude. Einmal auch in einem ziemlich verfallenen, leer stehenden Haus am Waldrand – ein Abend, der Hanan deshalb in lebhafter Erinnerung geblieben ist, weil sie beinahe entdeckt worden wären.

Mit der Zeit sind ihre Ansprüche gewachsen: Kaum hat Jakob seinen Führerschein gemacht, haben sie eine Übernachtung auf dem Uhlberg geplant. Um die verfallene Kapelle mitten im Wald ranken sich viele Sagen und Legenden. Statt Satanisten, Blutspuren an den Mauerresten und der legendären weißen Gespensterfrau haben sie jedoch nur freche Eichhörnchen und einige Kerzenreste gefunden.

Seit sie die verschiedenen Studiengänge in alle Ecken Bayerns verschlagen haben, sehen sie sich nicht mehr so häufig und die Lupus Noctis-Treffen bleiben auf die Sommerferien beschränkt. Hanan fehlen ihre Freunde sehr, ist sie doch die Einzige, die in Erlangen studiert. Ihre Eltern hätten es nie erlaubt, dass sie alleine oder in einer WG wohnt, sodass sie mit ihr nach Erlangen gezogen sind. Nur Hanans großer Bruder Isam ist in Gunzenhausen geblieben und bietet ihr seitdem Unterschlupf, wenn sie sich mit ihren Freunden treffen will, ohne davor erst lange mit ihrer Mutter diskutieren zu müssen.

Plötzlich öffnet ein HiWi die Tür und bittet die Studenten mit lauter Stimme, hereinzukommen und ihre Ausweise zur Identitätsüberprüfung bereitzuhalten. Während Hanan langsam hinter ihren Kommilitonen den Prüfungsraum betritt, hält sie sich an einem Gedanken fest: Wenn sie die Klausur überstanden hat, wird sie kurz nach Hause fahren, ihre Sachen packen und ihren Eltern verkünden, dass sie spontan zu Isam fährt. Und wer weiß, vielleicht kommt sie ja doch noch rechtzeitig nach Gunzenhausen, um sich den anderen anzuschließen.

Jakob / Samstag, 31.08., 16:40 Uhr

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie blau das Meer dort ist. Und die vielen kleinen Inseln. Die berühmteste ist natürlich Key West.« Linda beendet ihren Monolog nur, um sich eine mandelgetoppte Marzipanpraline in den Mund zu stecken. Während sie kaut, betrachtet sie ihre sorgfältig manikürten Nägel.

Jakob will ebenfalls nach einer Praline greifen, aber Klara ist schneller, zieht die ganze Schachtel zu sich und beginnt, die Abbildungen auf dem Rand zu studieren.

»Ach, das klingt traumhaft!«, seufzt ihre Mutter.

»Klara, du musst unbedingt auch mal in die Vereinigten Staaten reisen.« Linda ergattert die Pralinenschachtel zurück und pickt sich die letzte Marzipanpraline heraus.

»Ich habe diesen Sommer überhaupt keine Zeit für Urlaub.« Klara streicht sich eine imaginäre Haarsträhne hinter das Ohr. »Wobei ich im Herbst geschäftlich nach Amsterdam fliege. Ich bezweifle allerdings, dass ich viel Zeit für Sehenswürdigkeiten oder Land und Leute haben werde. Die meiste Zeit werde ich in verschiedenen Meetings und Besprechungen verbringen.«

»Immer so fleißig. Ich wusste immer schon, dass du es mal weit bringen wirst.« Ihre Mutter reicht die Pralinenschachtel von Linda zu Klara, ohne sich selbst eine zu nehmen oder Jakob eine anzubieten.

»Ich hab übrigens die Zulassung für Ansbach bekommen.« Jakob könnte sich auf die Zunge beißen, kaum dass die Worte über seine Lippen gerutscht sind. Verdammt, das klingt jetzt, als wolle er um jeden Preis mit seinen älteren Schwestern mithalten.

»Ach, wie schön.« Seine Mutter zieht die Mundwinkel hoch. »Siehst du, da hast du dich ganz umsonst gesorgt.«

Jakob runzelt die Stirn. Er hat sich kein bisschen gesorgt, so dringend will er diesen Studienplatz nun wirklich nicht. Eigentlich mehr, um sich und seinen Eltern zu beweisen, dass er es immer noch zu etwas bringen kann – trotz des nicht bestandenen Abis im vergangenen Jahr.

»Sag mal, Linda«, fährt seine Mutter auch schon fort. »Du hast noch gar nicht erzählt, wie euer Hotel auf Key West war. War das Essen okay?«

Linda studiert noch einen Moment die Pralinen, findet keine mit Marzipan mehr und stellt die Schachtel schließlich und endlich vor Jakob auf den Tisch. Der nimmt sich eine der verbleibenden drei mit dunkler Schokolade, beißt darauf und verzieht das Gesicht. Sahnetrüffel, großartig.

Während er kaut, wirft er einen verstohlenen Blick auf die Uhr. Zum Glück muss er jetzt sowieso los.

Seine Fingerspitzen fangen vor Nervosität an zu kribbeln, wenn er an das Bevorstehende denkt. Die Lupus Noctis-Treffen sind immer besonders, aber er hat so eine Ahnung, dass es dieses Mal noch spannender wird. Jakob greift nach seiner Tasche, die er neben dem Küchentisch abgestellt hat. Das orangefarbene Papier, das zum offenen Reißverschluss herausragt, raschelt bei der Berührung.

»Sag mal, Brüderchen, du hast doch nicht etwa eine Freundin?«, unterbricht Klara Lindas Ausführungen. »Das sind doch Blumen, oder hab ich was an den Augen?«

Jakob nestelt an seiner Tasche herum. »Doch, das sind schon Blumen. Ich will gleich noch bei Oma vorbeischauen.«

Die Reaktion seiner Familie wartet Jakob nicht mehr ab. Er greift nach seinem Rucksack, stellt sicher, dass die Blumen gut verstaut sind, und schlüpft nahezu unbemerkt aus der Küche. Mit dem Fahrrad sind es keine zwei Minuten zum neuen Friedhof am Weinberg.

Um diese Jahreszeit dominiert Grün diesen so vertrauten Ort. Hohe Bäume sind über den ganzen Friedhof verteilt und vermitteln normalerweise das Gefühl von Geborgenheit und Ruhe. Heute sieht der Friedhof allerdings ziemlich wüst aus. Der Sturm hat eine Menge Blätter und ganze Äste von den Bäumen gerissen. Sie liegen im Gras, auf den Wegen und sogar auf den Gräbern. Einige zarte Grabblümchen haben sie regelrecht zermatscht. Jakob befreit Omas Grab von den Überbleibseln des Sturms und ein paar vertrockneten Blüten. Dann setzt er sich neben dem Grab ins Gras und beginnt, die Blumen aus ihrer Papierverpackung zu wickeln.

Er betrachtet den üppigen Strauß in seinen Händen, der bei diesen Temperaturen schon in ein paar Tagen verblüht sein wird. So vergänglich, wie alles Schöne, sogar die Freundschaft, auch wenn man das natürlich nicht wahrhaben will. Aber immerhin treffen sie sich heute wieder einmal zu einer Runde ihres alten Lieblingsspiels. Obwohl sie mittlerweile alle in unterschiedlichen Städten wohnen und obwohl Jakob der Einzige ist, der noch hier zu Hause in Gunzenhausen sitzt, dazu verdammt, die Schule noch ein weiteres Jahr ohne seine Freunde zu besuchen. Die nicht bemerken, oder nicht bemerken wollen, welchen Anteil sie an allem haben. Doch seine Befürchtung, mit der Zeit würden sie ihn über ihrem geschäftigen Studentenleben vergessen, hat sich nicht bewahrheitet. Wieder einmal ist es Lupus Noctis, das sie verbindet und alle hierher zurückbringt.

Manchmal fragt Jakob sich, wo sie alle heute wären, wenn sie dieses Spiel nicht erfunden hätten. Ob sie noch Freunde wären. Und ob er der wäre, der er ist.

Mit einem Ruck versucht er, diese Gedanken aus seinem Kopf zu schütteln, erhebt sich und steckt die mitgebrachten Blumen in ein Schraubglas. Alle, bis auf eine. Eine Lilie zieht er aus dem Strauß und nimmt sie mit zu dem anderen Grab, das er gelegentlich besucht. Es ist wie immer sehr gepflegt und offenbar sogar frisch gegossen. Ein steinerner Engel kniet vor dem Grabstein auf der dunklen Graberde, die Hände gefaltet und den Kopf gesenkt. Letztes Mal war er noch nicht da. Vielleicht ein trauriger Ersatz für ein Geburtstagsgeschenk von der Familie. Jakob legt seine Lilie vor den Engel und betrachtet das Grab noch einen Moment. Er will gerade die Aufschrift auf dem Stein lesen, wie er es immer tut, da spürt er ein Kribbeln im Nacken.

Überzeugt, dass jemand den Friedhof betreten und ihn entdeckt haben muss, dreht er sich um. Er setzt sogar ein unverbindlich grüßendes Gesicht auf, um Fragen vorzubeugen, was er genau an diesem Grab verloren hat. Doch da ist niemand.

Jakob reibt sich mit der Hand über den Nacken. Er ist sich so sicher gewesen, dass ihn jemand beobachtet. Aber zwischen den Bäumen und Grabreihen kann er keine Menschenseele entdecken.

Mit einem drückenden Gefühl in der Magengrube wäscht er seine Hände am nächstgelegenen Brunnen und macht sich auf den Weg zu seinem Fahrrad. Es wird Zeit, die anderen sollen nicht auf ihn warten. Nicht heute, wo sie endlich wieder spielen.

Eileen / Samstag, 31.08., 16:50 Uhr

Inzwischen sind sie kurz vor Gunzenhausen. Eileen wirft Marcel einen schnellen Blick zu. Er sieht irgendwie verloren aus, wie er aus dem Fenster starrt, vielleicht hätte sie ihn doch nicht aufziehen sollen.

Sie nimmt eine Hand vom Lenkrad und streckt sie entlang des Armaturenbretts in Richtung Marcel aus. Sie weiß selbst nicht so genau, was sie eigentlich vorhat. Ihn beschwichtigend tätscheln? Die Hand zur Versöhnung reichen? Doch bevor sie auch nur in seine Nähe gekommen ist, schießt ein scharfer Schmerz ihren Finger hinauf. Sie zuckt zurück, wirft einen raschen Blick darauf, dann heften sich ihre Augen wieder auf die Straße. Doch der Moment hat ausgereicht, um die Blutstropfen zu sehen, die aus ihrem Finger hervorquellen.

»Wie ist das passiert? Mensch, das blutet aber heftig!« Marcel versucht, ein Taschentuch um Eileens Finger zu wickeln, während sie das Steuer umklammert hält.

»Mist, das Lenkrad wird ganz rutschig.« Das Taschentuch färbt sich rot.

»Du solltest anhalten.« Marcel klingt beunruhigt. »Wenn du willst, fahre ich weiter.«

»Ist schwierig hier, mitten auf der Bundesstraße.« Eileen führt die verletzte Hand an den Mund und zerrt das Taschentuch mit den Zähnen weg. Dann steckt sie den Finger in den Mund. Der übelkeitserregende Geschmack von Eisen wird für einen Moment übermächtig. Sie keucht auf.

Marcel tastet das Armaturenbrett ab. »Hier, da steht eine Nadel vor«, meldet er und macht sich vorsichtig daran zu schaffen. »Anscheinend bist du daran hängen geblieben und hast dir die Fingerkuppe aufgerissen.«

»Ich habe neulich einen alten Pin entfernt. Offenbar habe ich da was übersehen.« Sie erwähnt nicht, dass es ein Pin von einer Demo war, die sie gemeinsam mit Marcel besucht hat. Eileen lässt den Finger im Mund, bis sie merkt, dass die Blutung aufhört. So muss sie auch nichts weiter sagen. Mehrfach spürt sie Marcels Blick auf sich, doch sie blickt konzentriert geradeaus.

Immerhin scheint er die Stalkergeschichte wieder verdrängt zu haben. Die Zeit, die den Tiefpunkt ihrer Beziehung markiert. Eileen erinnert sich, dass sie einmal einen Wutanfall bekommen hat und eine von Marcels Hanteln auf das Foto von ihnen beiden auf dem Abiball geworfen hat. Die irre Briefeschreiberin hat nämlich erwähnt, wie niedlich sie Marcels Bauchnabel findet, der wie ein kleines Schneckenhaus geformt ist. Und das kann ja nun wirklich nur jemand wissen, der Marcel schon einmal ganz nah gekommen ist.

Marcel hat nur dagestanden und sie verstört angestarrt – und dann Besen und Kehrschaufel geholt, statt ihr zu versichern, dass er immer treu gewesen sei. Da hat sie es gewusst. Schon vorher waren ihr diese dämlichen Ausreden, warum er nicht bei ihr übernachten konnte, verdächtig vorgekommen. Weil er noch was für die Uni machen musste – na klar – weil sein Vater heute noch anrufen wollte – sicherlich – oder weil er solche Kopfschmerzen hatte – wer’s glaubt. Dass sie Schluss gemacht hat, war die beste Entscheidung ihres Lebens.

Wobei er ja recht gut aussieht. Leider. Geil. Eileen gefällt sein Hautton, der sie an Waldhonig erinnert, und der wunderbar zu seinen hellgrauen Augen und den dunklen Haaren passt. Den Teint hat er von seiner Mutter. Natürlich hat ihr Sonnyboy auch noch brasilianische Vorfahren. Lenas Sonnyboy, korrigiert sie sich schnell. Eileen hat ihr schon ein Foto geschickt, wie Marcel mit Gepäckstücken beladen auf seinem Sitz kauert und das Gesicht verzieht. Lena hat einen lauthals lachenden Smiley zurückgeschickt und zwei Küsschen. Eins für Marcel, eins für Eileen.

Marcel stöbert nun in ihrem randvollen Essenskorb herum. Eileen muss sich ein Grinsen verkneifen, denn der Inhalt wird kaum seinen Geschmack treffen: Chiabrot, Topinamburknollen, die man auch roh essen kann, Alfalfasprossen, Minikiwis, Hanfsamenkekse und Matcha-Tee.

»Du weißt schon, dass wir nur eine Nacht dort sind, oder?«, fragt Marcel.

Eileen ignoriert das. »Hoffentlich ist der Spielort wieder irgendwas Abgefahrenes, vielleicht einer von den alten Eiskellern? Da soll es irgendwo im Burgstall welche geben. Warum hat Theo sonst gesagt, dass wir was Warmes zum Anziehen mitnehmen sollen?«

»Ein Eiskeller?« Wenn Eileen Marcel nicht so gut kennen würde, würde sie fast denken, dass er irgendwie nervös ist. Seine Finger ziehen fahrig an dem Lederarmband um sein Handgelenk. »Glaube ich nicht«, fährt er fort. »Vielleicht eher etwas unter freiem Himmel. Wie damals auf dem Uhlberg.«

»Ich finde es ja immer noch schade, dass wir keine Satanisten getroffen haben.«

»Lenas und dein ständiges Gekichere hat wahrscheinlich alle potenziellen Satanisten in die Flucht geschlagen.«

»Ich glaube eher, es war das stundenlange Blitzen deiner Selfies«, gibt Eileen zurück.

»Mein strahlendes Lächeln kommt mit Blitz eben besser zur Geltung.«

Eileen ist versucht, etwas darauf zu erwidern, aber sie lässt es lieber bleiben. Das Gespräch würde sonst zu sehr nach Flirt klingen. Und sie flirtet nicht mit Ex-Freunden. Schon gar nicht mit Ex-Freunden, die jetzt mit ihrer besten Freundin zusammen sind. Sie zerknüllt das blutige Taschentuch in der Faust. Ihr Finger pocht unangenehm. Es wird Zeit, dass sie mit den anderen zusammentreffen. Alleine mit Marcel zu sein, tut ihr nicht gut. Da kommen Erinnerungen hoch. Und Gefühle. Und leider nicht nur die negativen.

Marcel / Samstag, 31.08., 17:00 Uhr

Erst als Eileen auf den komplett leeren Parkplatz der Gunzenhäuser Berufs- und Wirtschaftsschule einbiegt und ihr Autochen quer über zwei Parkslots abstellt, wird Marcel bewusst, was für ein seltsamer Treffpunkt das eigentlich ist. Was will Theo hier? Zugegeben, eine Schule ohne Schüler wäre ein ungewöhnlicher Übernachtungsort, aber er wird doch wohl nicht einbrechen wollen? Jetzt in den Sommerferien ist das Gebäude bestimmt gut gesichert.

Eileen blickt sich ebenfalls um. »Tote Hose hier. Schade, dass mein Fiat nicht länger ist, sonst könnte ich drei Parkplätze gleichzeitig belegen.« Sie wirft einen prüfenden Blick in den Rückspiegel, wuschelt ihre Löwenmähne noch ein wenig zurecht, sodass sie gekonnt zerzaust aussieht, und steigt dann aus. Marcel folgt ihr ächzend und streckt erst mal seine Arme und Beine.

»Marcel, endlich!« Lena kommt mit raschen Schritten auf ihn zu. Er sieht ihr an, dass sie am liebsten gerannt wäre, um ihn zu begrüßen, sich aber wegen Eileen nicht recht traut. Darüber muss er lächeln. In ihren braunen Rehaugen sieht er immer, was gerade in ihr vorgeht. »Hallo Kleines! Schön, dich zu sehen.« Er legt die Hände um Lenas Gesicht und drückt ihr einen Kuss auf den Mund.

Nun begrüßt Lena auch Eileen, mit den drei angedeuteten Wangenküsschen, auf die Eileen besteht, seit sie in München studiert. Weil das die Schickeria so macht oder Eileen sich das zumindest einbildet.

»Ihr seid die Letzten, die anderen drei warten schon.« Klingt da ein Vorwurf in Lenas Stimme mit?

Eileen überhört so etwas grundsätzlich. »Die drei? Wieso? Ich dachte, Hanan kommt nicht?«, fragt sie stattdessen.

»Theo hat einen Überraschungsgast im Schlepptau.«

»Oh, ich liebe Überraschungen! Ist es einer seiner großen Brüder? Der eine sieht mittlerweile gar nicht so schlecht aus, zumindest letztes Jahr auf der Kirchweih, man muss natürlich dieses leicht Verpeilte mögen, aber ich sage immer …«, entzückt plappert Eileen vor sich hin und belädt sich währenddessen mit ihren Jutetaschen, dem Korb und dem Rollkoffer. Die Yogamatte drückt sie Lena in die Hand.

»Was hast du denn da am Finger? Hast du dich geschnitten?« Lena wühlt sofort in ihrer Tasche und zaubert ein Pflaster hervor.

»Mein Autochen hat seine Stacheln ausgefahren. Du bist ein Goldstück, Dankeschön!« Eileen lässt sich verarzten, während Marcel das Gepäck übernimmt. »Also wer ist denn nun der neue Mitspieler?«, fragt er neugierig. Es ist lange nicht mehr vorgekommen, dass sie den vertrauten Kreis erweitert haben.

»Es ist ein Mädchen.« Lena spricht das Wort so gedehnt aus, als sei es ein Schimpfwort.

»Buh! Ein Mädchen, schwach, echt schwach.« Eileen gibt sich empört, dann singt sie plötzlich leise »I kissed a girl – and I liked it«.

Marcel wirft Lena einen schiefen Blick zu und sieht, dass auch sie grinsen muss. Gemeinsam nähern sie sich der Schule, die aus mehreren Gebäudeteilen besteht, von denen einer auf Säulen ruhend den halben Vorplatz überdeckt. Die Fensterrahmen sind in einem seltsamen Grünton gehalten, der wohl das triste Betongrau der Mauern etwas abmildern soll.

Neben einer der Säulen steht Theo und wirft einen Schlüsselbund in die Luft, um ihn wieder aufzufangen und erneut zu werfen. Seine roten Haare beißen sich wunderbar mit der ebenfalls grün umrahmten Eingangstür. Im Näherkommen mustert Marcel das Mädchen hinter ihm. Sie ist klein und sieht mit ihren rundlichen Körperformen alles andere als sportlich aus. Ihre langen Haare sind dunkelrot gefärbt, die Augen stark geschminkt. Mit den Chucks und den Festivalbändchen ums Handgelenk wirkt sie wie eine Rockerbraut, allerdings ist auf ihrem T-Shirt eine Mickymaus aus glitzerndem Roségold, darüber trägt sie einen schwarzen Cardigan. Theo hat offenbar einen ungewöhnlichen Geschmack, was Frauen anbetrifft. Sein T-Shirt mit dem Archaeopteryx-Skelett darauf passt jedenfalls super zu Micky. Marcel grinst in sich hinein.

Die Röte im Gesicht des Mädchens zeugt entweder davon, dass sie die sommerlichen Temperaturen nicht gut verträgt, oder dass sie das Gespräch mit Jakob ganz und gar faszinierend findet. Jakob hat sich auf den Rand eines der Balkonkübel gesetzt, die wohl theoretisch so etwas wie Blumen enthalten sollten, nach dem gestrigen Sturm aber nur noch zerfetzte Pflanzenteile zu bieten haben. Aufmerksam hört er dem Mädchen zu und sieht dabei wie immer aus, als befinde er sich in einer anderen Klimazone.

Marcel selbst geht in die Sonne, um braun zu werden, und zieht sich dann auch entsprechend an, oder eben aus. Jakob dagegen hockt mit schwarzem T-Shirt und langen Jeans in der Sonne und sieht dabei genauso blass und schmächtig aus wie immer. Seine schwarzen Haare sind bestimmt nicht deshalb verstrubbelt, weil er sie wie Marcel mithilfe von Gel und Wasser in eine extra windzerzauste Form gebracht hat, sondern weil sie einfach natürlich so fallen. Und die rahmenlose Brille trägt er nicht als modisches Statement, sondern weil er sie zum Lesen braucht.

Als sie herangekommen sind, stellt Theo Josefine vor. Sie besucht das musische Gymnasium in Ansbach, was wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass Marcel sie noch nie zuvor gesehen hat. Josefine winkt verlegen in die Runde. Theo klopft ihr aufmunternd auf die Schulter, verweigert Eileens Wangenküsschen, als sie ihn begrüßen will, und breitet dann die Arme aus. »Seid gegrüßt, Freunde der Nacht. Wir steigen dann jetzt hinunter in das alte Gunzenhäuser Hilfskrankenhaus, eine atomar abgeschirmte Bunkeranlage aus der Zeit des Kalten Krieges, die sich genau hier unter der Berufsschule befindet!« Theo hat ein derart breites Grinsen im Gesicht, dass man meinen könnte, er hätte im Drogenrausch erfahren, dass Weihnachten, Silvester und sein Geburtstag auf einen Tag fallen. Marcel fühlt sich ähnlich benommen. Nur ohne die Euphorie. Erst so nach und nach wird ihm bewusst, was Theo da gesagt hat.

Ein Bunker. Unter der Erde. In der Dunkelheit. Ohne Tageslicht. Marcels Herz hämmert plötzlich hart und schnell gegen seine Rippen. Er hat das Gefühl, schlecht Luft zu bekommen, und muss sich zwingen, erst auszuatmen, bevor er weiteren Sauerstoff in seine Lungen pumpt.

Gott sei Dank sind die anderen zu beschäftigt damit, Theo mit Begeisterungsausrufen, Kommentaren und Fragen zu überhäufen, um auf Marcel zu achten.

»Ein unterirdisches Krankenhaus? Hier unter der Schule? Du machst Witze!«, ruft Eileen.

»Oh nein, das ist ausnahmsweise mein voller Ernst, Blondie. Das ist eines der besonders spannenden Geheimnisse unserer idyllischen Kleinstadt.«

Jakob wuschelt sich aufgeregt durch die eh schon zerzausten Haare. »Ist das cool! Ich war vor Ewigkeiten mal mit einer Führung drinnen, aber damals wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass wir tatsächlich dort spielen würden. Dabei ist es perfekt!«

Theo rückt seine Brille zurecht. »Jaaa, war gar nicht so einfach, an den Schlüssel zu kommen.«

Lena blickt sich um. »Ist ja verrückt. Ich bin in Gunzenhausen geboren und aufgewachsen und niemand hat es für nötig gehalten, mir zu sagen, dass wir über einem überdimensionalen Maulwurfbau leben! Überlegt mal, hier laufen täglich Hunderte Schüler herum, nichtsahnend, dass unter den Sohlen ihrer Turnschuhe ein Atombunker liegt!«

»Der Wahnsinn!« Eileen stampft mit den Füßen auf den Boden. »Wie kommt man runter? Gibt es vielleicht irgendwo eine Falltür? Theo, ich feiere dich!«

Theo verneigt sich übermütig. »Cui honorem, honorem! Ehre, wem Ehre gebührt!« Er breitet die Arme aus: »Dann kommt mal mit in die Unterwelt, in den Gunzenhäuser Hades! Die Bunkergeister erwarten euch.«

Marcel hat noch immer kein Wort gesagt. Ohne sich zu bewegen, sieht er zu, wie Theo auf eine Treppe zugeht, die wenige Meter von ihnen entfernt im Boden verschwindet und der Marcel bis dahin überhaupt keine Aufmerksamkeit geschenkt hat. Es sieht harmlos aus, wie der Zugang zum Hausmeisterkeller oder so was. Nur, dass es ganz und gar nicht harmlos ist. Der Rest der Gruppe drängt Theo hinterher. Marcel macht ebenfalls ein paar zögernde Schritte auf die Treppe zu, während er sich eigentlich am liebsten umdrehen und weit weg rennen will, irgendwo hin, wo es hell ist und weit, auf einen Berggipfel zum Beispiel.

Er kann da nicht runter, er kann einfach nicht. Allein, wenn er daran denkt, wie er zwischen den engen Mauern steht und es um ihn herum dunkel wird, wird ihm ganz schlecht. Die Angst sitzt tief in seinem Magen und bohrt in seinen Eingeweiden.

Wie kommt er jetzt aus der Situation raus? Die Übernachtung ist lange geplant und das Lupus Noctis-Spielen können sie vergessen, wenn er so plötzlich aussteigt. Mit weniger als sechs Spielern wären die Teams nicht ausgeglichen. Er würde allen das Wochenende verderben. Aber was soll er sonst machen?