Luzerner Todesmelodie - Monika Mansour - E-Book

Luzerner Todesmelodie E-Book

Monika Mansour

4,8

Beschreibung

In einer Villa am Vierwaldstättersee machen Cem Cengiz und sein Team von der Luzerner Polizei eine schreckliche Entdeckung: Im Haus liegen zwei blutüberströmte Leichen. Unter Verdacht gerät ein ebenso exzentrischer wie narzisstischer weltbekannter Geiger. Aus Mangel an Beweisen muss ihn die Polizei laufen lassen, doch als er Intimes aus Cems Leben preisgibt, beginnt ein perfi des Spiel mit der Macht . . . Ein Musiker unter Mordverdacht, ein Ermittler am Limit – eine kriminalistische Komposition mit fulminantem Finale.

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Monika Mansour, Jahrgang 1973, schreibt seit ihrer Kindheit Romane und Kurzgeschichten in den Bereichen Krimi und Thriller und zeichnet leidenschaftlich gerne. Nach einer Augenoptiker-Lehre ging sie auf Reisen und verbrachte mehrere Monate in Australien, Neuseeland und den USA. Heute ist sie hauptberuflich als kaufmännische Angestellte tätig und arbeitet nebenberuflich als Tattoo-Künstlerin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn im Kanton Luzern.

www.monika-mansour.com

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.  

©2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: mauritius images/Prisma Bildagentur AG/Alamy Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH) eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-121-5 Küsten Krimi Originalausgabe

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Für meine Helden

Ein Fremder ist ein Freund, dem wir noch nicht begegnet sind.

Irisches Sprichwort

Dem Manne muss die Musik Feuer aus dem Geist schlagen.

Ludwig van Beethoven (1770–1827)

Leute, die sich die Finger verbrennen, verstehen nichts vom Spiel mit dem Feuer.

Oscar Wilde (1854–

Wahrheit

1

«Hey! Pass doch auf!» Cem legte schützend die Hand um den Rosenkopf. Diese Menschenmenge war für das zarte Gewächs tödlich. Die junge Frau, die ihn rücksichtslos angerempelt hatte, um sich vorzudrängen, quittierte seinen Kommentar, indem sie ihre dunkle Haarpracht herumwarf und sich abwandte. Cem erhaschte einen Blick auf ihren Nacken, auf den kleinen Notenschlüssel, der da hinter ihr Ohr tätowiert war. Sie zwängte sich weiter vor und verschwand in dem Tumult, der an diesem Freitagnachmittag in der Ankunftshalle2 des Zürcher Flughafens herrschte. Was war da los? Wie sollte Cem seine Schöne unter all den Menschen bloss finden? Er fuhr die Ellbogen aus, gab der roten Baccara-Rose mit seiner geblähten Brust Schutz und schob sich zwischen den Menschen vor.

Die Menge wurde unruhig. Junge Leute. Komische Typen in Schwarz gekleidet. Die Männer trugen frackähnliche Teile oder weisse Rüschenhemden kombiniert mit Ledermänteln. Die Frauen hatten sich mit ausschweifenden Röcken herausgeputzt und sich die Taille mit Miedergürteln oder Korsagen zugeschnürt. Piercings und düsteres Make-up dekorierten ihre Gesichter. Die Frisuren glichen schwarzen Krähennestern oder violetten Trauerweiden. Manche waren seitlich kahl rasiert, und einige stellten obskuren Kopfschmuck zur Schau: Zylinder, Federschmuck und Wollmützen mit Totenkopf-Aufdruck.

Cem verzog irritiert den Mund. Gothic Freaks, Rocker? Oder war er auf dem falschen Planeten unterwegs?

Die Menschen zappelten spannungsgeladen umher und drängten sich nach vorne. Handykameras wurden gezückt. Ein schräger Vogel neben ihm scherte sich einen Dreck um Cems Netzhaut, als sein Blitz aufgrellte. Cem hielt sich die Hand schützend vor das Gesicht und wandte sich ab. Es gab nur eine Erklärung: Da musste gleich ein Promi der Musik- oder Filmszene durch die Zollabfertigung kommen.

Bei Allah, lass die Fans mit ihrem Prominenten abziehen, bevor meine Schöne in dem Tross verloren geht, dachte Cem. Er warf einen Blick auf den Infomonitor: Flug LX333 aus London war vor zwanzig Minuten gelandet. Sie müsste jeden Moment herauskommen.

Die milchglasigen Türflügel, die den Transitbereich von der Ankunftshalle abschirmten, öffneten sich automatisch. Die Menge kreischte jetzt hysterisch. Cem beneidete seine uniformierten Kollegen der Flughafenpolizei nicht. Sie wurden von der Masse überrollt. Cem konnte den Promi nicht sehen– wer immer das war–, aber mit ihm bewegte sich die skurrile Meute langsam Richtung Ausgang und zwängte sich durch die zu engen Türen. Oder waren das Bienen, die ihre Königin umschwärmten? Cem konnte einen flüchtigen Blick auf eine schwarze Limousine erhaschen, die von Bodyguards bewacht wurde.

Er atmete durch, als der Mob sich endlich auflöste. Es war jetzt herrlich ruhig in der Ankunftshalle. Cem schaute nach der Rose und stellte erleichtert fest, dass sie heil geblieben war.

«Cem!»

Wie er diese Stimme vermisst hatte.

Seine Schöne trat durch die offene Milchglastür, zog einen roten Rollkoffer hinter sich her. Was für ein Anblick, dachte Cem stolz und ging ihr mit ausgebreiteten Armen entgegen. Sie warf sich ihm um den Hals, und er drückte sie fest an sich.

«Ich kriege keine Luft», beschwerte sie sich nach einer langen Minute, aber er dachte nicht daran, lockerzulassen. «Cem!»

«Das bist du mir schuldig», flüsterte er in ihr Ohr. «Du hast dich über ein Dreivierteljahr nicht blicken lassen, seit letztem Silvester.» Er trat zurück. «Und jetzt ist Oktober. Schäm dich, Nesrin.»

Ihre rosigen Lippen schmunzelten.

Er griff an ihr zartes, etwas spitzes Kinn. Sie hatte ihre dunklen Haare hochgesteckt, und wie immer kringelten sich einige widerspenstige Locken um ihre Wangen. «Gut siehst du aus, Schwesterchen», sagte er und musterte sie von oben bis unten. Sie trug eine beigefarbene Leinenhose und Stiefeletten mit hohen Absätzen, dazu eine weisse Bluse mit einem definitiv zu männerfreundlichen V-Ausschnitt. «Aber zuerst besorgen wir dir etwas Anständiges zum Anziehen. So gehst du mir hier nicht auf die Strasse.» Er überreichte ihr die Rose.

Sie nahm sie feierlich entgegen, lächelte und tätschelte seine Wange. «Keine Angst, Brüderchen, du hast mich die nächsten vierzehn Tage ganz für dich allein– na ja, fast.»

Cem griff nach ihrem Koffer und führte Nesrin hinaus.

«Wie war dein Flug aus London?», fragte er.

Nesrin zögerte einen Moment. «Bequem.»

«Echt? Ich dachte, du hasst enge Flugzeugkabinen.»

«Tue ich auch.»

Es standen nur noch wenige dieser skurrilen Fans draussen auf der Vorfahrt herum. Sie liessen enttäuscht die Köpfe hängen. Offensichtlich hatten sie sich mehr von dem Zusammentreffen mit ihrem Star erhofft. «Da war echt was los vorhin», sagte Cem. «So ein Promi hat alle verrückt gemacht.»

«Tatsächlich?» Nesrin strich sich neckisch eine Haarsträhne hinters Ohr. «Eifersüchtig, dass die Leute nicht wegen dir so einen Aufstand machen?»

«Quatsch!» Cem schob sich seine Schiebermütze aus der Stirn. «Ich habe meinen grössten Fan doch hier.» Er legte mit einer guten Portion Machogehabe den Arm um ihre Schultern. «Aber den Grund für deinen Blitz-Überraschungsbesuch habe ich noch nicht begriffen. Wie war das noch mal?»

«Habe ich dir auch nicht verraten.»

«Aha. Ein Geheimnis?– Oder hast du Dummheiten angestellt?»

Sie betraten das Gebäude von Terminal3 mit den öffentlichen Geschäften und Fast-Food-Restaurants.

Nesrin blickte schelmisch auf. «Dummheiten sind dein Metier, schon vergessen? Seit ich dich das letzte Mal gesehen habe, bist du fast erstochen und aufgefressen worden.»

«Ha! Du übertreibst.»

«Tue ich nicht. Wie ist das denn mit dir und den Frauen, hm?»

«Kompliziert», brummte er.

«Schmollt deine Lila noch immer?»

Ja, das tat sie. Lila konnte ihm den dummen Kuss mit Eva einfach nicht vergeben. Da halfen keine tausend Entschuldigungen, keine Blumen und Geschenke. Und Cem konnte sie verstehen. Sie hatte zu viel durchgemacht in ihrer Vergangenheit. Vertrauen war ein schwieriges Wort für Lila.

Nesrin stupste ihn an. «Du musst mir deine Lila vorstellen, vielleicht kann ich sie umstimmen– natürlich nur, wenn sie mir auch gefällt.»

«Sei vorsichtig», drohte Cem mit schiefem Grinsen, «keine Intrigen hinter meinem Rücken.»

«Nein?» Nesrin ging auf die Zehenspitzen, um ihm direkt in die Augen zu blicken. «Ich hatte dich schon als Dreijährige im Griff.» Sie zwinkerte ihm zu. «Da habe ich dir deine erste Freundin vergrault. Erinnerst du dich? Ich glaube, sie hiess Gloria oder so…»

«Biest!» Ihm wurde bewusst, wie sehr er Nesrin vermisst hatte. Sie waren schon immer sehr eng verbunden gewesen, trotz der sieben Jahre Altersunterschied.

«Du hast Mum doch nicht gesagt, dass ich hier bin?», fragte sie.

«Mum? Ehrlich?» Cem runzelte die Stirn. «Du wolltest es so. Aber zu lange solltest du nicht warten. Ruf unsere Anne an. Sprecht euch aus.»

Nesrin nickte. «Ich will nur zuerst ein paar Tage allein mit dir geniessen. Es ist so lange her…»

Sie waren bei den Liften zum Parkhaus3 angekommen. Er steckte die Parkkarte in den Automaten. «Du musst mir alles erzählen, über dein Studium am London College, das Praktikum bei diesem Professor für… was noch gleich?»

«Geomikrobiologie.»

«Genau das. Und erzähl mir von deinen Freundinnen– und ob es Männer in London gibt, über die ich Bescheid wissen sollte.»

Sie legte den Arm um seine Taille und schüttelte den Kopf. «That’s private.»

Er warf zwei Fünfliber in die Parkkasse. «Hey! Ich erzähle dir auch jedes Detail über mein Beziehungschaos. Die Telefonrechnung beweist es.»

* * *

Vor ihm hing der schwarze Mantel auf einem Bügel an einer einfachen Kleiderstange. Lang war er. Und schwer. Aus feinstem Rind-Nappaleder. Handgefertigt. Ein Einzelstück. Eine breite, schwere Kapuze hing über den Rücken. Nietenversetzte Schulterriegel und Knöpfe aus echtem Silber, handgegossen, mit einem Totenschädel als Aufdruck, waren die einzigen Blickfänge. Ansonsten war der Mantel schlicht und schmal geschnitten. Simon musste dieses Unikat mit dem geforderten Respekt fertigstellen.

Er legte eine CD in seine alte Stereoanlage und drehte den Regler hoch. Hier konnte ihn niemand hören. Ganz sanft begann sie, Tartinis Violinsonate in g-Moll. Larghetto affettuoso. Simon verstand nichts von klassischer Musik. Früher hatte er sich Punk und Techno reingezogen. Vieles war jetzt anders.

Er wickelte sich den Schal enger um den Hals. Es wurde kühler. Herbst. Simon atmete schwer. Sie kam zurück, die Depression. Herbst auch in der Seele.

Er musste sich auf seine Aufgabe konzentrieren. Den Mantel hätte er auch in seiner Wohnung herrichten können, aber seine Mutter pflegte die widrige Angewohnheit, unangemeldet sein Leben zu kontrollieren. Simon machte sich eine mentale Notiz, ihr das endgültig auszutreiben.

Hier war er sicherer. Er hatte sich dieses verlassene Gehöft im Grünen, etwas abseits der kurvigen, engen Strasse zum Himmelrich hoch, gemietet. Eine ausrangierte Scheune. Die Aussicht verleitete zu schwermütigen Blicken über Luzern und den Vierwaldstättersee, die diese Tage jedoch unter einer stillen Nebeldecke verborgen lagen. Auch wenn Simon die Kälte hasste, die durch die Ritzen der undichten Holzwände drang, hier war es ruhig. Er blickte hinüber zu der Kiste, die er heute Morgen hochgebracht hatte. Das Piktogramm für explosive Ware hatte er mit einem dieser schwarz-weissen «Slow Down»-Sticker abgeklebt. In der Box daneben war all das Elektronikzeugs untergebracht: die kleinen Sprengkapseln, die Funkzündungen, Kabel und Drähte. Das Knallquecksilber lag sicher verstaut in einer Dose Baby-Milchpulver. Eine Kiste mit Schwarzpulver lag gut abgedeckt unter einer Plastikplane. Simon schob diese beiseite und kontrollierte den Inhalt. Alles trocken. Er deckte die Kisten wieder ab– das hatte noch etwas Zeit. Der Mantel war jetzt wichtiger.

Er schloss die Augen und lauschte den Violinklängen. So unschuldig begann sie, die Devil’s Trill Sonata. Und so meisterlich schön vermochte er sie zu spielen.

Auf dem alten Holztisch in der Mitte der Scheune lag ein Stapel Zeitungen und Zeitschriften. Simon war noch nicht durch mit dem Ausschneiden aller Artikel. So viel wurde in letzter Zeit berichtet. Einen Ordner hatte Simon bereits voll, fein säuberlich archivierte Berichte über Neven O’Brien.

Er schlug die oberste Zeitschrift auf dem Stapel auf. Ein marktschreierisches Boulevardblatt. Gleich auf der dritten Seite fand er ein Bild von Neven– von Neven mit seiner Stradivari unter dem Kinn.

DÄMONODERWUNDERKIND?

Neven O’Brien, zugleich teuflisch betörend und erschreckend düster, ist ein Phänomen. Skandalös mischt er die klassische Musikszene auf, wird vom Publikum vergöttert, von Musikern gefürchtet und durch die Kritiker verdammt.

Simon las nur die Überschrift und die ersten Zeilen. Das Schmierblatt war es nicht würdig, über Neven O’Brien zu berichten. Was wussten die schon über ihn?

Am oberen Tischrand lag ein Tages-Anzeiger vom Februar. Er nahm die Zeitung und blätterte sie bis Seite sieben durch. Mit einer Schere schnitt er den halbseitigen Artikel aus, legte ihn auf den Tisch und strich ihn glatt. Den brauchte er noch.

Er schob die anderen Papiere und Zeitschriften zur Seite, wischte die Oberfläche des alten Tisches mit einem Lappen sauber. Dann zog er ein rechteckiges Paket von der Grösse eines dicken Buches, sorgsam in Packpapier verschnürt, aus seiner Sporttasche am Boden und legte es vor sich auf den Tisch. Ebenfalls aus der Tasche zog er einen Kanister mit hochentflammbaren Chemikalien. Er holte noch ein Bündel schwarzen Satinstoff, eine Papiertüte mit Nadeln und Faden und, in einem Umschlag, das Schnittmuster des Mantels hervor und breitete alle Utensilien sorgsam vor sich aus.

Simon war nicht begeistert von der Arbeit, die da vor ihm lag. Viele Stunden würde er investieren müssen. Er war kein Schneider. Aber es machte Sinn, dass er letzten Frühling diesen Nähkurs besucht hatte.

2

Ein verflucht düsterer Morgen ist das, dachte Cem und knöpfte seine Lederjacke bis oben zu. Mitte Oktober und bereits Endzeitstimmung. Geisterhaft stiegen die Nebelschleier von der Reuss her auf und schlichen sich durch die gepflasterten Gassen der Luzerner Altstadt. Es war kurz nach sieben Uhr, und die Geschäfte waren noch geschlossen. Musste er ausgerechnet dieses Wochenende Dienst schieben? Eigentlich genoss Cem jeden Morgen den zehnminütigen Spaziergang zur Polizeizentrale, aber nicht an diesem Samstag. Er hatte Nesrin in seinem Bett schlafen lassen. Sein Rücken strafte ihn jetzt die noble Geste. Sein weisses Sofa war eine Folterliege, nichts Geringeres.

Er marschierte, die Hände in den Jackentaschen vergraben, über die Spreuerbrücke. Die Holzplanken stöhnten. Ein junges, übernächtigt wirkendes Pärchen kam ihm entgegen, ihre Schritte nicht mehr ganz so geradlinig, die Köpfe haltsuchend zusammengesteckt. Sie schlenderten an ihm vorbei, als wäre er Luft.

Cem überquerte den Kasernenplatz und ging die Bruchstrasse entlang bis zum Mutterhaus in der Kasimir-Pfyffer-Strasse. Dort grüsste er einen Arbeiter des Strasseninspektorats, der Laub zusammenwischte. Der junge Mann nickte freundlich zurück. Gut zu wissen, dass er nicht der Einzige war, der heute Morgen arbeiten musste. Er stellte sich auf einen ruhigen Tag ein und wollte Papierkram erledigen.

Als er die Stufen hoch zum Haupteingang des gläsernen Gebäudes nahm, stürmten Barbara Amato und Rolf Wymann heraus.

«Das lassen wir uns nicht gefallen!», schnaubte Barbara. Ihre roten Haare schienen an diesem Morgen wie Feuer zu glühen. «Das Biest kriegen wir, das schwöre ich bei der heiligen Madonna. Dio mio! Das kann ausarten, Rolf. Wir müssen überlegt vorgehen.»

Nach dem fünften Kopfnicken wirkte Wymann mit seinem Latein am Ende. Cem schien es, als wäre er beinahe erleichtert, ihn hier vor dem Eingang zu treffen.

«Herr Cengiz», sagte Wymann und blickte unglücklich an ihm vorbei in den Nebel. Augenkontakt war nicht die Stärke seines Chefs, so viel hatte Cem gelernt in den zehn Monaten, in denen er jetzt für die Abteilung Leib und Leben der Luzerner Kriminalpolizei arbeitete. Barbara, seine direkte Vorgesetzte, besass da ein ganz anderes Naturell. Sie wirbelte herum, als Wymann Cems Namen aussprach.

«Cem! Gut, dass du hier bist.» Sie trat viel zu nahe vor ihn.

Komplett überrumpelt starrte er hoch in ihre eisblauen Augen. Er war nicht gerade klein, aber Barbara überragte das ganze Team um Kopflänge. Daran gewöhnte man sich nie.

«Kleiner, hör mir jetzt genau zu», sagte sie. Ihre Sommersprossen leuchteten in den Farben des Herbstlaubes. «Wymann und ich müssen heute Morgen bei Oberstaatsanwalt Kernen antraben.»

Cem ging sicherheitshalber einen Schritt zurück und schob sich seine Baseballmütze aus der Stirn. «Kernen kriegt man an einem Samstagmorgen nur durch einen blutigen Mord aus den Federn.»

«Er hat einen Drohbrief erhalten», sagte Wymann trocken und kontrollierte den Sitz seiner Krawatte.

Sofort versteifte sich Cems Rückgrat. Seit Eva im August brutal zusammengeschlagen worden war, nahm er jede Drohung gegen die Staatsanwaltschaft ernst. Die verfluchten Täter liefen noch frei herum. Eva hatte für ihren Mut teuer bezahlen müssen. «Steckt die russische Mafia dahinter?», fragte Cem. «Hat Kasakow etwas damit zu tun?» Wut kochte in ihm auf, als er daran dachte, wie er Eva im Spital besucht hatte. Die stolze, energische und selbstsichere Staatsanwältin Eva Roos– ein Häufchen Elend, einbandagiert bis oben hin.

«Nein.» Barbara holte ihn aus den Gedanken zurück. Sie legte den Kopf schief, als schien sie zu verstehen, was gerade in ihm vorging. «Hier geht es um etwas anderes. Kernen hat einen Drohbrief erhalten. Wir beide sind das Ziel.» Sie schaute Wymann an, der regungslos auf der Treppe stand.

Cem konnte nicht ganz folgen. «Was habt ihr denn verbrochen?» Er schob einen unkeuschen Gedanken beiseite. Es wurde im Mutterhaus viel getratscht über die Beziehung zwischen Barbara und Wymann. Aber niemand konnte ihnen ein Verhältnis nachweisen.

Wymann nickte Barbara zu und verschränkte mürrisch die Arme vor der Brust.

«In dem Brief steht», begann Barbara, «dass Rolf und ich letzten Monat eine Frau sexuell bedrängt haben.»

Cem stutzte. «Echt jetzt? So ein Quatsch!»

Barbara blieb ernst. «Die Verfasserin des Briefes– sie nennt sich einfach‹S.›– behauptet, Beweisfotos zu haben. Und sollten Wymann und ich nicht umgehend vom Dienst suspendiert werden, werde sie damit zur Presse gehen.»

Cem war sprachlos, was eigentlich nie vorkam.

Wymann scharrte mit den Schuhsohlen auf der Treppenstufe.

«Kein Wort, zu niemandem. Verstanden?» Barbara zog sich die Jeansjacke enger um die Schultern. «Kevin ist der Einzige, der noch Bescheid weiss. Im Moment jedenfalls. Der Innenfahndungsdienst wird noch früh genug eine interne Untersuchung einleiten.»

«Sprechen wir doch erst mal mit Kernen», sagte Wymann.

Barbara verwarf die Hände, nickte dann aber.

«Wo ist Kevin?», fragte Cem.

«Er ist oben», sagte Barbara. «Er kann dir eine Kopie des Briefes zeigen, die Kernen uns heute per Mail geschickt hat.»

«Habt ihr denn eine Ahnung, wer euch was anhaben will?»

Barbara und Wymann schüttelten unisono die Köpfe. «Mehr erfahren wir jetzt gleich in Kernens Büro», sagte Wymann. «Gehen wir.»

«Gehen wir», wiederholte Barbara. «Wir sehen uns später.»

Cem hob zum Abschied kurz die Hand und schaute seinen beiden Chefs hinterher, wie sie in Wymanns Wagen stiegen. Na, der Morgen begann ja gut, dachte Cem, ging durch die Sicherheitskontrolle und nahm den Lift hoch in den sechsten Stock. Im Flur begegnete er einem Kollegen des Innenfahndungsdienstes. Er grüsste ihn, schon darauf vorbereitet, nach Barbara und Wymann ausgefragt zu werden, aber offensichtlich war die heisse Nachricht noch nicht durch. Gut, es war Wochenende.

Die Tür zu seinem Büro, welches er mit Kevin teilte, stand offen. Cem trat ein. Die Lippen seines Kollegen klebten an einer Dose Red Bull, während die Augen gebannt auf den Bildschirm seines Laptops starrten. Er blickte kurz auf und winkte Cem heran.

«Ist das der ominöse Brief?», fragte Cem und trat neben Kevin.

Dieser warf die leere Dose in den Abfalleimer unter dem Tisch und nickte. Seine blonden Haare hüpften dabei in alle Richtungen auf und ab. «Das kann zu einem Skandal ausarten.»

«Lügen.» Cem sah sich die Fotokopie des Briefes genauer an. «Behauptungen. Da steckt nichts dahinter als ein Racheakt.»

«Ärger gibt es trotzdem.»

Der Brief war von Hand geschrieben. Eine schöne Schrift mit sorgfältig geschwungenen Linien. Ein paar brisante Details wurden geschildert. Frau Amato habe sie von hinten auf den Stuhl gedrückt, während Herr Wymann ihr unter die Bluse gegriffen habe. Cem las den Brief zu Ende und lehnte sich an die Tischkante. Er zog seine Baseballmütze vom Kopf und warf sie auf den Tisch. «Puh, delikat, die Sache.»

«DieseS. gibt weder Zeit noch Ort der Tat bekannt.»

«Die Techniker sollten sich auf jeden Fall den Originalbrief vornehmen. Und wir müssen erst abwarten, was das Gespräch bei Kernen ergibt. Warum hat dieseS. gerade ihm den Brief geschickt?»

Kevin lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück und steckte einen Bleistift zwischen die Zähne. «Keine Ahnung. Er wurde ihm heute Morgen unter der Tür durchgeschoben. Zu Hause.»

«Hi, Jungs!»

«Gabi?» Kevin stand auf und führte seine Verlobte ins Büro.

«Sorry, wenn ich so reinplatze, aber Roland hat mich hochgelassen.»

Kevin drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. «Schöne Überraschung.»

«Lange nicht gesehen», grüsste Cem. «Gut siehst du aus.» Gabi hatte abgenommen, fand er, obwohl sie nie wirklich pummelig gewesen war. Das musste daran liegen, dass sie im Dezember in ihr Hochzeitskleid passen wollte. «Bin gerade auf dem Weg zu meiner Kosmetikerin. Testschminken.»

«Hast du das nötig?», fragte Cem schelmisch.

«Der ist so ein Charmeur, dein Kollege», sagte Gabi. Sie war nicht sehr gross, aber ihre Haltung verlieh ihr Grösse. Sie war eine sehr selbstbewusste Frau. Cem mochte ihre unbekümmerte Art. Dunkelblonde Locken kringelten sich wild um ihren Kopf. «Ach, ist gestern nicht deine Schwester angereist?», fragte sie.

«Yep. Nesrin schlummert jetzt friedlich in meinem Bett.»

«Oh, dann müsst ihr unbedingt zu uns zum Essen kommen. Mitte nächster Woche vielleicht.»

«Nur, wenn du wieder dieses herrliche Lamm brutzelst. Du schuldest mir noch das Rezept dafür.» Gabi war eine begnadete Köchin– eine Leidenschaft, die Cem mit ihr teilte.

«Ja, sicher.» Gabi strahlte. «Oh, aber deswegen bin ich nicht hier.» Sie kramte in ihrer Handtasche. «Hier, Schnuggel, du hast dein Portemonnaie zu Hause liegen lassen.»

Kevin kratzte sich den Kopf. «Habe ich noch gar nicht bemerkt.» Er steckte es in seine Hosentasche. «Danke, Schatz.»

Cem grinste. «Gabi, du lenkst deinen Verlobten zu sehr von seinen Pflichten ab.»

«Gar nicht. Ich bin schon weg.» Sie drückte Kevin einen dicken Schmatzer auf die Wange, winkte Cem kurz zu und war verschwunden.

Kevin wollte etwas sagen, als das Telefon klingelte. Es war ein interner Anruf.

Cem nahm ab. «Ja? Cengiz. Leib und Leben.»

«Wir haben einen Notruf erhalten.»

Cem kannte die Stimme. Es war Steffen von der Einsatzleitzentrale unten im Haus. «Ein Überfall. Velofahrerin. An der Seestrasse in Kastanienbaum. Sie wurde mit einer Schusswaffe bedroht, geschlagen und ausgeraubt. Streife und Krankenwagen sind unterwegs. Das ist ein Fall für euch Jungs von Leib und Leben.»

«Alles klar», sagte Cem. «Leibacher und ich fahren gleich los.» Er legte auf.

«Einsatz?», fragte Kevin.

«Einsatz», bestätigte Cem und schnappte sich seine Baseballkappe.

* * *

Kevin fuhr den Dienstwagen von der Stadt her über St.Niklausen bis nach Kastanienbaum. Auf der Seestrasse, sie hatten die Stadtgrenze passiert und waren nun auf Boden der Gemeinde Horw, war es ungewohnt ruhig.

Cem blickte aus dem Fenster. Der Vierwaldstättersee lag fast gespenstisch eingebettet zwischen den weiss gezuckerten Bergen. Die wenig befahrene Strasse, gesäumt von alten Bäumen und Rebhängen, war an schönen Tagen ein Magnet für Sportler und Spaziergänger. Auch Cem drehte hier manchmal mit seinem Bike eine Runde. Er musste zugeben, dass er die reichen Leute beneidete, die sich hier eine schmucke Villa mit Seeanstoss leisten konnten.

Vor sich sah er den Streifenwagen und die Ambulanz. Sie standen am Strassenrand neben einer dichten Hecke, die ein Privatgrundstück vor neugierigen Blicken schützte.

«Wollen wir?», fragte Kevin rhetorisch und parkierte an der Seite. Sie stiegen aus. Sofort kamen ihnen zwei uniformierte Kollegen entgegen. Sie grüssten sich kurz.

«Was ist vorgefallen?», fragte Cem und blickte sich um. Weiter vorne sah er zwei Mountainbiker.

«Die junge Frau wurde brutal überfallen», begann der eine Kollege zu erklären. Er war um die fünfzig und trug einen beachtlichen Schnauz. «Sie war mit ihrem Velo unterwegs. Ein Wagen kam von hinten, überholte und schnitt ihr den Weg ab. Zwei Männer stiegen aus, der Fahrer blieb sitzen. Einer der Männer richtete eine Waffe auf das Opfer, der andere zerrte die Frau vom Velo, dabei schlug sie mit dem Fuss am Randstein auf. Einer der Täter hat ihr einen Fusstritt in den Bauch verpasst, sagt sie. Portemonnaie und Handy haben die Kerle ihr abgenommen und sind damit davongefahren.»

«Wer hat uns verständigt?», fragte Cem.

«Ein Rentner hat sie gefunden. Wir haben seine Aussage. Er wohnt nicht weit von hier, wenn ihr noch mit ihm reden wollt. Aber er hat den Überfall nicht gesehen, kam erst später dazu.»

Cem nickte. «Ist im Moment nicht nötig. Wie geht es der Frau?»

«So weit ganz gut», sagte der andere Kollege, ein Langer, Dünner. Er führte sie zum Ambulanzwagen.

Die Frau sass hinten auf der Seitenbank. Ein Sanitäter desinfizierte die Schürfwunde an ihrem Knöchel. Sie blickte auf, als Cem und Kevin neben sie traten.

«Hallo», sagte Cem und setzte sein gewinnendes Lächeln ein. «Da hatten Sie heute Morgen ganz schön Action, was?»

Sie starrte Cem an, ihr Kinn zitterte.

«Hey.» Cem legte ihr die Hand auf die Schulter. «Alles gut. Die Kerle sind weg.»

Die junge Frau nickte und strich sich eine Träne aus den Augen.

«Wie heissen Sie?», fragte Kevin und zog einen Notizblock aus der Jackentasche.

Der Sanitäter hatte seine Arbeit getan und ging diskret nach vorne zu seinem Kollegen am Steuer, der dabei war, Papiere auszufüllen.

Die Frau brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. «Caduff. Ich heisse Ladina Caduff.»

«Ausweis haben Sie keinen dabei?», fragte Kevin.

«Das habe ich schon gesagt. Die haben mir alles gestohlen. Und mein Velo ist auch hin.» Sie sprach mit leichtem Akzent, Cem konnte ihn nicht gleich zuordnen.

Er blickte über seine Schulter zurück. Ihr Fahrrad lag am Strassenrand, das Vorderrad total eingedrückt.

«Gut, wir kümmern uns später um die Papiere», sagte Kevin. «Ihre Adresse?»

«Ich wohne in Luzern, im Maihof.»

Kevin notierte die Personalien.

«Kannten Sie die Täter?», fragte Cem.

Ladina schüttelte den Kopf. Sie hatte ihre langen braunen Haare im Nacken zusammengebunden. Um den Hals trug sie einen extragrossen Strickschal, und sie war in eine goldfarbene Daunenjacke gepackt.

«Wurden Sie in letzter Zeit von jemandem bedroht?»

«Nein», antwortete sie auf Cems Frage.

«Was für einen Wagen fuhren die Täter?»

Ihre grossen Augen starrten Cem an. «Ich… ich weiss nicht. Er war grau.» Ihre Lippen zitterten erneut.

«Schon gut.» Cem versuchte sie zu beruhigen. «Wie sahen die Männer denn aus?»

«Sie hatten schwarze Wollmützen auf. Ihre Gesichter verdeckten sie mit einem Schal.»

Kevin notierte fleissig. «Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen? Ihre Sprache? Ein Dialekt? Hautfarbe? Grösse? Statur?»

Sie hielt sich die Hand vor den Mund und schüttelte den Kopf.

«Was ist mit der Waffe? Hatten beide Männer eine Waffe dabei?», fragte Cem. «Oder war nur einer bewaffnet?»

Sie zuckte mit den Schultern.

Eine grosse Hilfe war diese Ladina nicht gerade, dachte Cem. Zu verstört, erinnert sich an nichts Brauchbares.

Er versuchte, aus dem Überfall schlau zu werden. Weshalb fielen Unbekannte so brutal über eine Velofahrerin her? Um ihr das Portemonnaie und Handy zu klauen? Und warum hatten die Täter auf sie eingeschlagen? Cem war kein solches Muster aktenkundig. Er glaubte nicht an einen Zufall. Dieser Überfall war eine gezielte Aktion gewesen. Um Ladina Caduff einzuschüchtern?

Er tauschte einen vielsagenden Blick mit Kevin. Der hatte wohl ähnliche Gedanken.

«Haben Sie Familie in Luzern?», fragte Cem.

«Nein, habe ich nicht. Ich studiere in Luzern. Meine Familie wohnt in Chur.»

Daher der Akzent, dachte Cem, Bündner Dialekt. «Freund? Ehemann?»

«Nein. Warum fragen Sie das alles?»

«Was studieren Sie, Frau Caduff?»

Sie brach plötzlich in Tränen aus und wollte sich überhaupt nicht mehr beruhigen.

Der Sanitäter kam zurück und reichte ihr ein Taschentuch. «Sie steht unter Schock und braucht Ruhe», sagte er.

«Wir können hier abbrechen», sagte Kevin. «Ihre Aussage nehmen wir am Nachmittag in der Polizeizentrale auf, wenn es Ihnen besser geht.»

Cem wollte nicht so schnell aufgeben. «Hatten Sie–»

Ein lauter Knall unterbrach ihn jäh.

Ein Schuss!

Instinktiv griffen Cem und Kevin nach ihren Waffen. Sie tauschten hektische Blicke. Der Schuss war aus der Villa gekommen, die gleich hinter der Hecke am See lag.

«Verdammt!», fluchte Cem. «Wer schiesst da?»

Die uniformierten Kollegen eilten herbei, ebenfalls mit gezückten Waffen. «Was tun wir?», fragte der Kollege mit Schnauz. Das Adrenalin trieb seinen Atem hoch.

Cem wirbelte zu dem Sanitäter herum. «Weg hier. Sofort.»

Der Sanitäter nickte und rief die Anweisung an seinen Kollegen am Steuer weiter.

Zu der Frau sagte Cem: «Melden Sie sich am Nachmittag in der Polizeizentrale am Empfang.»

Sie nickte verstört, und Cem schloss umgehend die hinteren Türen des Ambulanzwagens. Dann klopfte er mit der flachen Hand dagegen, und der Wagen fuhr los.

Den uniformierten Kollegen gab Cem die Anweisung, Verstärkung zu rufen. Dann folgte er Kevin zu dem Eisentor an der Hecke. Es gab zwei schlichte weisse Klingelknöpfe. Selbst die sahen teuer aus. Keine Namensschilder. Aber eine Gegensprechanlage.

«Gehen wir rein?», fragte Cem.

Kevin drückte beide Klingeln. Nichts.

«Vielleicht schiesst jemand auf Tontauben?» Cem war von seiner eigenen These wenig überzeugt. Er griff nach der Klinke des Tores. Nicht verschlossen. Er drückte das Tor auf und betrat zusammen mit Kevin das Grundstück.

Die Villa roch nach verdammt viel Geld. Ein modernes, kaltes Gebäude. Graue Betonwände, spiegelnde, lamellenbedeckte Glasfronten, ein Flachdach. Er fühlte, wie seine Nackenhaare sich instinktiv aufstellten. Cem hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Er hielt seine Glock fest umklammert. Es war riskant, zum Haus zu laufen. Auf dem kurzen Weg zur Villa gab es keinen Schutz, sollte jemand auf sie schiessen wollen.

Kevin drückte seinen Körper gegen die Hecke. «Du liebst doch Action, Cem. Ich lasse dir gerne den Vortritt und gebe dir Deckung.»

«Action, klar doch», flüsterte Cem und rannte los.

War das eine gute Idee? Bei Allah, er wollte diesen Tag überleben.

* * *

Der Brief war in eine Plastiktüte gepackt, was ihn aber nicht vor Barbaras Zorn schützte. Sie knallte ihn Oberstaatsanwalt Kernen auf den Tisch zurück. «So ein Schwachsinn! Alles erstunken und erlogen. Wann sollen wir bitte schön dieseS. bedroht haben?» Sie blickte zu Wymann hinüber, der ruhig auf dem Stuhl sass, den Rücken gerade, das Gesicht versteinert. Oh, manchmal könnte sie ihn für seine kühle Gelassenheit auf den Mond schiessen.

«Barbara, beruhige dich», setzte Kernen an. Er sass hinter seinem gläsernen Arbeitstisch und rückte mit einer eleganten Bewegung die Brille zurecht. «Das wird sich aufklären.»

«Und wenn schon», zischte Barbara und trat vor die Fensterfront. Auf der anderen Seite lag das Gefängnis, der Grosshof. «Bis wir es beweisen können, hat die Presse sich doch längst auf uns gestürzt.»

«Vielleicht findet die Spurensicherung Fingerabdrücke», sagte Kernen schlichtend, «und wir kriegen dieseS. noch vor Sonnenuntergang. Oder wie siehst du das, Rolf?»

Wymann strich sich über seine gepflegten Bartstoppeln. «Vermutlich nur die leere Drohung einer Frau, die nicht polizeifreundlich gestimmt ist.»

Kernen lehnte sich in seinem Sessel zurück. «Weshalb gerade ihr beiden?»

War das ein Verhör? Barbara steckte die Hände in ihre Jeanstaschen, liess die Schultern fallen und hob das Kinn. «Wir verschweigen nichts.»

Wymann warf ihr einen stillen Blick zu.

Barbara schnappte sich den leeren Stuhl neben ihm und liess sich hineinfallen.

Ihr Handy klingelte. Sie zog es aus der hinteren Jeanstasche und blickte auf das Display. «Die Zentrale», murmelte sie und drückte den Anruf weg. «Die können warten.»

Wymann knöpfte sein Jackett auf. «Wir haben vor ein paar Wochen einen jungen Mann verhaftet. Mehrfacher Diebstahl. Bei seinem letzten Raub hat er einen Rentner verprügelt.»

Barbara horchte auf. «Warum bin ich nicht darauf gekommen? Genau! Seine Freundin hat gezetert wie eine Furie, als wir ihn abgeführt haben.»

«War sie an den Überfällen beteiligt?», fragte Kernen.

Barbara schüttelte den Kopf. «Sie wusste von nichts und war felsenfest überzeugt, dass ihr Freund unschuldig ist.»

«Ihr sprecht von René Meisner, der in U-Haft sitzt?»

«Genau der», sagte Wymann.

Kernen griff nach seinem Telefon. «Herr Franke, Sie sind doch an dem Fall Meisner dran?» Kernen lauschte einen Moment. «Gut. Kommen Sie nachher in mein Büro? Danke.» Er legte auf.

«Ist Franke die Vertretung für Frau Roos?», fragte Barbara.

Kernen wurde ernst. «Wir sind unterbesetzt und arbeiten auch an den Wochenenden. Eva fehlt im Team. Sie ist unsere beste Staatsanwältin. Aber wir können jetzt nichts daran ändern und müssen ein paar Wochen ohne sie auskommen.»

«Wie geht es ihr?», hakte Barbara nach. Auch wenn sie nicht so viel Kontakt mit ihr gehabt hatte wie Cem, so wusste sie Eva Roos zu schätzen. Sie war kompetent. Und hatte Rückgrat.

Kernen seufzte. Der Vorfall vor zwei Monaten hatte auch ihn nicht kaltgelassen. «Sie erholt sich gut. Ihre rechte Hand macht ihr noch Sorgen, die anderen Verletzungen sind verheilt. Es sind die seelischen Wunden– die heilen nicht so einfach.»

Barbara verschränkte die Finger ineinander. Eine Geste, die sie von ihrer streng katholischen Mutter übernommen hatte. Eine Geste im Kampf gegen das Böse, zumindest nach dem Glauben ihrer Mutter. «Kasakow hat sie übel zusammenschlagen lassen. Menschenhändler! Die schrecken vor nichts zurück. Eva Roos hat zu tief in deren Dreck gewühlt und schlimm dafür gebüsst. Wütend macht mich, dass wir dem Mistkerl nichts nachweisen können. Und er weiss das.»

«Ich denke, die paar Wochen Ferien mit ihrem Sohn auf Teneriffa tun ihr gut», sagte Kernen ganz diplomatisch. «In der Zwischenzeit–»

Wymanns Handy klingelte und unterbrach den Oberstaatsanwalt.

Rolf zog sein Smartphone aus der Innentasche des Jacketts. Er blickte auf das Display. «Die Zentrale», sagte er. «Es könnte wichtig sein.» Er nahm den Anruf entgegen. «Wymann.– Wann?» Er lauschte eine ganze Weile. «Gut, wir kommen gleich.» Er legte auf und steckte das Handy zurück ins Jackett.

Die Ruhe selbst, dachte Barbara und fragte: «Was ist los?»

«Eine Schiesserei», sagte er trocken. «In Kastanienbaum. Cengiz und Leibacher stellen wohl gerade den Täter.»

3

Cems Bauch rebellierte, als er geduckt auf die Villa zurannte. Die etwa einhundert Meter schienen endlos. Kevin gab ihm Feuerschutz, aber Cem fühlte sich, als würde er über ein offenes Minenfeld rennen.

Das Haus allein war schon bedrohlich genug. Ein rechteckiger, abstossender Klotz war das. Er wurde symmetrisch nach beiden Seiten gespiegelt. In der Mitte lagen zwei Eingangstüren. Ein Doppelhaus. Der Grosshof und diese Villa mussten vom gleichen Architekten entworfen worden sein. Wer konnte in so einem kalten Haus wohnen?

Kurz geschnittener Rasen umgab das Grundstück, das zu beiden Seiten und der Strasse hin durch hohe, blickdichte Hecken abgeschirmt war. Vorne lag der See. Sonst gab es nichts. Keinen Garten, keine Büsche, keinen Swimmingpool, keinen Gartensitzplatz, jedenfalls konnte Cem von hier aus nichts sehen. Vielleicht besass die Villa nach vorne hin eine Terrasse.

Die Einfahrt war nicht gepflastert, sondern kiesig. Er sah deutlich Reifenspuren. Der Vorplatz des Hauses war gross genug, damit sechs Wagen bequem parkieren konnten. Er war leer.

Cem atmete erleichtert auf, als er die Fassade erreichte. Er suchte an der rechten Ecke Schutz. Aber wo war der Schuss gefallen?

Seine Glock in Armeslänge vor sich, wagte Cem einen ersten Blick durch das Fenster ins Innere. Nicht nur das spiegelnde Glas, auch Holzlamellen im Inneren machten es unmöglich, Details zu erkennen. Er gab Kevin ein Handzeichen, richtete seine ganze Aufmerksamkeit dann auf die Umgebung und gab seinem Kollegen Feuerschutz, als dieser losrannte. Kevin suchte an der anderen Ecke der Villa Deckung.

Nochmals klingeln oder direkt zur vorderen Front des Hauses vorpirschen? Cem deutete die Frage mit Körpersprache an, und Kevin zeigte umgehend zum See hin.

Jeder schlich auf einer Seite nach vorne. An den Ecken angekommen, suchten sie Blickkontakt. Kevin deutete mit zwei Fingern auf seine Augen und dann auf die Fenster.

Einen Blick wagen? Na gut, dachte Cem. Hier war die Fensterfront zurückversetzt. Wie er vermutet hatte, lag davor eine überdeckte Terrasse.

Sie würden näher an die Fenster heranmüssen, um im Inneren etwas erkennen zu können. Kevin gab ihm ein Zeichen und rannte unter Cems Feuerschutz los. Er huschte geduckt über die Terrasse. Sie musste von beiden Hauspartien genutzt werden und erstreckte sich über die gesamte Längsseite. Ein weisser Marmortisch mit acht Stühlen stand unter dem Vordach aus Beton. Sonst gab es nichts. Keinen Gartenzwerg, keinen Blumentopf, keinen pinkelnden Engel aus Marmor. In der Antarktis herrschte mehr Leben als hier, dachte Cem. Selbst der Nebel, der vom See her aufzog, versprühte noch eine angenehme Wärme im Vergleich mit diesem kalten Haus.

Kevin spähte durch das Fenster. Dann schüttelte er den Kopf. Nichts.

Na gut. Cem rannte los. An der Fensterfront seines Hausteils angekommen, schirmte er mit den Händen das reflektierende Licht ab und schaute hinein. Im Inneren brannte Licht. Ein Feuer. Es brannte in einem offenen Cheminée, das mitten im Raum stand. Das musste das Wohnzimmer sein, auch wenn es eher an einen Aufenthaltsraum auf Raumschiff Enterprise erinnerte. Doch das futuristisch-minimalistische Interieur war nicht sein Problem.

Sein Problem waren die beiden blutüberströmten Opfer.

Und das noch grössere Problem war der Mann, der neben ihnen kniete.

Nein, das hier war nicht Raumschiff Enterprise. Das war Gotham City. Und der Mann, der da kniete, war kein Geringerer als Batman!

Cem konnte ihn nur von hinten sehen. Er trug einen langen schwarzen Mantel und eine schwarze Mütze auf dem Kopf. Unheimlich. Neben ihm am Boden lagen ein Fleischermesser und eine Pistole.

Verflucht!

Cem wandte den Blick ab und atmete kurz durch, dann winkte er Kevin heran. Als dieser durchs Fenster spähte, blieb auch er für einige Sekunden wie eine Marmorstatue stehen. Solch einen visuellen Überreiz musste das Hirn erst einmal verarbeiten.

«Scheisse», flüsterte Kevin mit trockener Kehle. «Reingehen oder auf Verstärkung warten?»

«Wir gehen rein, bevor der Kerl noch Suizid begeht oder wer weiss was anstellt.»

«Die Terrassentür steht einen Spalt offen.» Kevin holte tief Luft. «Schnappen wir uns das Monster.»

Während Kevin eine Hand an die Schiebetür aus Glas legte, um sie im richtigen Moment aufzureissen, zielte Cem bereits mit seiner Waffe auf den Mann. Sie zählten per Handzeichen rückwärts: drei– zwei– eins.

Los!

Kevin riss die Tür auf, und Cem stürmte ins Haus.

«Polizei! Keine Bewegung!» Cem rannte um Batman herum, um ihn von vorne zu stellen, Kevin visierte dessen Rücken an.

«Schön ruhig die Hände zur Seite, sodass ich sie sehen kann», sagte Cem und zielte mit seiner Glock auf den Kopf des Mannes.

Batman gehorchte und streckte mit hängendem Kopf die Arme aus wie Jesus, bereit, sich ans Kreuz nageln zu lassen.

Kevin riss sofort seine Hände nach hinten und legte ihm Handschellen an. Er zitierte ihm seine Rechte.

So leicht ging das.

Der Mann liess seine Verhaftung ruhig über sich ergehen, hob den Kopf und starrte aus dem Fenster zum See hinaus. Er zeigte keine Regung. Keine Überraschung. Keine Angst. Keine Schuld.

Cem packte ihn an seinem Mantel und zerrte ihn auf die Füsse. Er gehorchte willig. Sie zogen ihn vom Tatort fort, um nicht unnötig Spuren zu verwischen.

«Hast du ihn?», fragte Cem.

«Der geht nirgendwohin», bestätigte Kevin, hielt ihn von hinten fest und drückte ihm die Waffe zwischen die Schulterblätter.

Cem eilte zu den beiden blutüberströmten Menschen. Eine Frau, attraktiv, gepflegt, um die fünfzig, sass zusammengesunken in einem modernen Holzsessel. Keine Chance, dass sie noch lebte. Ihre Halsschlagader war auf der rechten Seite durchstochen. Das viele Blut verfärbte ihre zitronengelbe Seidenbluse dunkel. Cems Hand zitterte, als er dennoch einen Finger auf die andere Halsschlagader legte. Kein Leben mehr. Ein schreckliches Déjà-vu. Bei seinem ersten Fall im Januar hatte es auch zwei Leichen gegeben, beiden war in den Hals gestochen worden. Cem schüttelte den Kopf, wollte die Bilder zurück in den Hinterkopf drängen. Das hier war anders. Die Tatwaffe steckte nicht mehr im Hals des Opfers.

Er wandte sich der männlichen Leiche zu. Der Mann lag auf dem Rücken, die Augen in Panik aufgerissen. Cem sah deutlich, wie die Kugel Schläfe und Hinterkopf durchstossen hatte. Hirnmasse klebte auf dem teuren Tropenholzboden. Die linke Hand und der Arm des Mannes waren blutüberströmt, sein ganzes Hemd voller Blutspritzer. Der Tote war schon etwas älter. Er besass diese gepflegte Schönheit, die sich reiche Menschen, unabhängig von genetischen Vorzügen, leisten konnten.

Angeekelt und traurig zugleich wandte sich Cem ab und holte sein iPhone hervor. Rasch gab er der Zentrale einen Lagebericht durch.

Als er fertig war, massierte er sich den Nasenrücken. So eine Scheisse. Er holte tief Luft und trat vor Batman.

Nein, Cem musste seinen Vergleich korrigieren, der Kerl glich eher Van Helsing. Oder Jesus? Definitiv hatte er etwas von Kurt Cobain an sich. Unter der Mütze trug er lange dunkelblonde Haare, sie waren nass. Sein Gesicht war schmal, fein, fast schon feminin. Er trug einen kurzen, gepflegten Bart. Seine Augen waren hellblau und mit schwarzem Kohl umrandet. Er besass die Frechheit, Cem direkt in die Augen zu starren. Der Kerl war gross, gut einen Kopf grösser als Cem. Etwa Mitte dreissig. Unter dem schwarzen Ledermantel, der fast bis zum Boden reichte und nicht zugeknöpft war, trug er zerrissene schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck einer brennenden Geige darauf. «Passion Burns» stand darüber.

«Was ist hier passiert?», fragte Cem. «Wer sind die beiden? Und wer sind Sie?»

Cem glaubte ein kleines Lächeln in den Mundwinkeln zu sehen, als der Mann den Kopf schief legte und offensichtlich über Cems Fragen nachdachte. Aber vielleicht täuschte er sich. Das Licht hier drinnen war gespenstisch. Die Flammen im Cheminée wurden von der Fensterfront reflektiert und tanzten als düstere Schatten auf dem Gesicht dieses noch düstereren Mannes. Langsam bewegte sich sein Blick von Cem weg, hinüber zu dem Mann am Boden.

«Ich habe sie getötet.» Er sprach die Worte mit einer Leichtigkeit, die Cem Angst machte. Seine Stimme war tief und heiser und liess die Luft um ihn herum vibrieren. Er sprach perfektes Hochdeutsch mit einem leichten englischen Akzent. «Meinen Vater», sagte er und richtete danach den Blick auf die Frau, «und meine Stiefmutter. Ich habe sie getötet.» Jäh drehte er wieder den Kopf nach vorne und starrte Cem an. Seine durchdringenden Augen waren unheimlich. Das Licht des Feuers loderte in seinen Pupillen. Er nahm einen tiefen Atemzug, so als schnuppere er an Cem. Dann fuhr er sich mit seiner Zunge über die Oberlippe, so langsam, als hätte er alle Zeit der Welt. «Zu Ihrer dritten Frage, Herr Kommissar», sprach er heiser, «ich bin Neven O’Brien.»

* * *

Nach und nach traf die ganze Entourage ein. Beamte in Uniformen, welche den Tatort abriegelten, der Amtsarzt, Metzger und sein Team von der Spurensicherung, und ein paar der harten Jungs in ihrer schwarzen Kampfmontur waren auch hier. Und Wymann und Barbara. Sie strafte Cem und Kevin mit einem sehr stillen und sehr bösen Blick, bevor sie die Leitung der Tatortsicherung übernahm. Wymann telefonierte gleich mit dem Oberstaatsanwalt, kaum hatte er sich umgesehen.

Cem zog sich auf die Terrasse zurück und machte Metzger und seinen Leuten in den weissen Anzügen Platz. Ein Kollege hatte ihm vorhin erzählt, dass Schaulustige Wind von einem Mord im Hause der O’Briens bekommen hatten. Der Verdächtige war kein Niemand, hatte sich Cem belehren lassen. Neven O’Brien war Stargeiger der klassischen Musikszene. Cem schaute durch die offene Verandatür hinein ins Innere. Das Erdgeschoss war ein einziger grosser Raum. Entree, Wohnzimmer und Küche gingen fliessend ineinander über. Mitten im Raum, gleich neben dem offenen Cheminée, stand eine breite, geländerlose Wendeltreppe, ganz in Weiss, die senkrecht nach oben führte. Modern und kalt. Cem mochte solche Häuser nicht.

In der Küche sass Neven O’Brien in Handschellen auf einem Stuhl, bewacht von zwei Kollegen der Spezialeinheit. Sie waren ausgerüstet wie für den Dritten Weltkrieg. Denen würde keine Fliege entkommen. Neven schien gelassen, ja fast schon gelangweilt. Ungewöhnlich, dachte Cem. Er beobachtete, wie Metzgers Assistentin in die Küche ging. Sie legte ihren schwarzen Koffer auf die Ablage, öffnete ihn und kramte einige Utensilien heraus. Sie nahm Neven die Fingerabdrücke ab. Er liess es mit einem freundlichen Lächeln geschehen, was die Assistentin schnell aus dem Konzept brachte. Die Fotokamera fiel ihr zu Boden, als sie danach greifen wollte. Nervös hob sie sie auf. Offensichtlich war das Ding heil geblieben. Sie bat Neven O’Brien, aufzustehen, und fotografierte ihn von allen Seiten, vor allem auch seine blutbeschmierten Hände. Dann holte sie einen grossen Plastiksack hervor. Die Kollegen der Spezialeinheit schlossen kurz die Handschellen auf, damit Neven O’Brien seinen blutbespritzten Mantel und sein T-Shirt ausziehen konnte. Die Assistentin packte die Kleidungsstücke direkt in den Sack. Das gleiche Prozedere bei der Hose. Sie reichte ihm frische Kleidung, die sie wohl vorher aus seinem Kleiderschrank geholt hatte. Hastig packte sie danach ihre Sachen zusammen und ging, noch bevor sich Neven fertig angezogen hatte. Ihm wurden wieder die Handschellen angelegt, und er setzte sich geduldig auf den Stuhl.

Cems Blick schweifte hinüber zu Wymann. Sein Chef stand an der Wendeltreppe und diskutierte am Telefon. Man wollte Neven O’Brien direkt in den Grosshof bringen lassen und ihn dort verhören, so viel hatte Cem verstanden.

Kevin stiess zu ihm und quälte sich ein Lächeln ab. «Sind wir jetzt Helden, oder wird Barbara uns die Hölle heissmachen?»

Zu spät konnte Cem ihn warnen.

Barbara trat hinter Kevin und funkelte Cem wütend an. «Hölle, definitiv. Das nächste Mal wartet ihr auf die Spezialeinheit, bevor ihr eine Villa stürmt und einen Doppelmörder im Alleingang überführt. Das hätte auch anders ausgehen können. Ich brauche fähige Arbeitskollegen und keine übermütigen Avengers. Verstanden?»

«Wären wir früher da gewesen, hätten wir vielleicht noch ein Leben retten können. Es war das Risiko wert.» Cem war nicht bereit, diesen Rüffel einzustecken. Er hatte schon viel Mist gebaut in seiner noch nicht sehr langen Karriere als Ermittler bei der Kriminalpolizei. Aber diesmal hatte er alles richtig gemacht. Und er wusste, dass Barbara mit ihrer Wut nur die Sorge um sie beide überspielte.

Sie seufzte und klopfte Kevin auf die Schulter. «Lass dich von Cem nicht immer in den Schlamassel hineinziehen.»

«Gerne hätte ich mich vor diesem Nervenkitzel gedrückt», sagte Kevin, «aber es war richtig, sofort einzugreifen.»

«Was sagt der Amtsarzt?», fragte Cem, um das Thema zu wechseln.

Barbara blickte zu den Leichen hinüber. «Wir wissen noch nicht viel. Zuerst wurde der Frau das Messer in den Hals gerammt. Ich vermute, sie sass zu diesem Zeitpunkt bereits in dem Holzsessel. Auf dem Hemd des Mannes sind ihre Blutspritzer zu finden– auf Bauchhöhe. Er muss nach der Tat direkt zu ihr hingeeilt sein. Wir haben einen blutigen Handabdruck an der Bluse auf ihrer Schulter gefunden. Der stammt mit grosser Sicherheit von ihrem Mann. Er versuchte wohl noch, die Blutung zu stoppen, bevor die Kugel ihn in den Kopf getroffen hat. Er ist definitiv nach ihr getötet worden und in ihrer Blutlache liegen geblieben. Die Waffe wurde an der linken Schläfe aus nächster Nähe aufgesetzt, das zeigen die Schmauchspuren rund um die Eintrittswunde.»

Cem schob sich seine Mütze aus der Stirn. «Ein kaltblütiger Doppelmord, und Neven O’Brien bleibt einfach neben den Opfern am Boden sitzen?»

«Er hat gestanden», sagte Barbara. «Totschlag im Affekt, vermute ich. Vielleicht gab es einen Streit. Meinungsverschiedenheiten. Familienprobleme. Der Druck, der auf einem Musikgenie lastet, ist oft gross. Dazu ein impulsiver Charakter… Genug Faktoren, die zu einer brutalen Tat führen können.»

«Was war der Auslöser? Das Motiv?» Cem glaubte nicht, dass es so einfach war.

Barbara strich sich ihre Haare aus der Stirn. «Wir müssen die Familie durchleuchten. Die Hausangestellten befragen. Seinen Manager. Seinen Bruder.»

«Seinen Bruder?», fragte Kevin.

«Ja.» Barbara schaute zu dem Täter hinüber, der ruhig auf seinem Stuhl in der Küche sass und dem Treiben der Beamten zuschaute. «Er hat vorhin ausgesagt, dass sein Manager und der Bruder mit den Angestellten heute Morgen ins KKL gefahren sind, um Vorkehrungen für das Konzert zu treffen. Wir haben seinen Manager erreicht. Einen Alex Jäggi. Sie sind auf dem Weg hierher.»

«Welches Konzert?» Cem hob ratlos die Hände.

«Auf welchem Planeten lebst du denn?», fragte Barbara. «Das Konzert ist seit Wochen restlos ausverkauft. Neven O’Briens erste selbst komponierte Symphonie soll nächsten Freitag uraufgeführt werden. Er als Solist an der Geige, zusammen mit dem Luzerner Symphonieorchester.»

«Ich wusste nicht, dass du auf klassische Musik stehst.»

«Gehört zur Allgemeinbildung», sagte Barbara. «Oben haben wir übrigens die Geige gefunden. Muss ein Vermögen wert sein. Eine Stradivari. Neven O’Brien hat ein eigenes Zimmer, nur um zu üben. Sieht aus wie ein Tonstudio ohne Elektronik.»

Der Amtsarzt trat zu ihnen. Er schüttelte unaufhörlich den Kopf. «So viel Blut habe ich noch selten gesehen. Schlimm. Ganz schlimm.» Er war ein Mann kurz vor der Pensionierung und hatte sich als Dr.Haller vorgestellt. Cem hatte ihn noch nie getroffen.

Dr.Haller zog seine Brille von der Nase und putzte die Gläser mit einem Taschentuch, das er aus seiner Hosentasche gezogen hatte. Er war sichtlich mitgenommen. «Wir sollten das Institut für Rechtsmedizin in Zürich informieren», sagte Dr.Haller nach einer halben Ewigkeit.

«Weswegen?», fragte Barbara.

Dr.Haller setzte die Brille wieder auf die Nase. «Ich habe meine berechtigten Gründe. Und das hier ist einfach zu viel für einen alten Mann.» Er drehte sich um und liess sie stehen.

«Dann kommt wohl Dave Berger ins Spiel», bemerkte Cem.

Barbara lächelte, ohne ihre Sorgenfalte auf der Stirn zu verlieren. «Holen wir Dave dazu.» Sie kramte ihr Telefon hervor und ging ein paar Schritte hinaus auf den Rasen. Augenblicklich wurde sie von der Nebelsuppe verschluckt, einzig ihre roten Haare schimmerten noch durch das trübe Grau.

Gruselig, dachte Cem und ging um das Haus herum auf den Vorplatz. Der war jetzt belegt mit Polizeiwagen, einer Ambulanz und zwei Leichenwagen.

Cem blieb nachdenklich an der Hauswand stehen, lehnte sich an den kühlen Beton. Er hatte kein gutes Gefühl. Es juckte ihn, sofort mit diesem Neven O’Brien zu sprechen, aber Wymann hatte es untersagt. Sie wollten ihn im Grosshof vernehmen und jedes Wort aufzeichnen. Sie hatten es mit Prominenz zu tun, und eine schlechte Presse wegen schlampiger Arbeit konnte sich die Polizei nicht leisten. Zudem lag der Fall klar, es ging einzig noch um das Tatmotiv und die Zurechnungsfähigkeit des Täters. Man wollte beim Verhör einen Psychologen beiziehen. Auf einen Anwalt hatte Neven O’Brien bisher verzichtet.

Cem beobachtete, wie ein schwarzer Audi durch das Tor auf das Gelände der Villa fuhr. Kurz erhaschte er einen Blick nach draussen. Mehrere Wagen standen kreuz und quer auf der Seestrasse parkiert. Gut ein Dutzend Reporter, ihre Kameras mit riesigen Objektiven bestückt, drängten am Tor zusammen. Wie hatte die Presse so schnell Wind von den Morden bekommen?

Hinter dem Audi schloss sich das Tor und sperrte die Reporter aus. Der Wagen parkierte auf dem Vorplatz. Sofort wurden drei Türen aufgestossen. Vorne stiegen zwei Männer aus, hinten eine junge Frau.

Cem musste nicht lange raten. Auf den Gesichtern konnte er die Panik, das Entsetzen und den Unglauben ablesen.

Familienangehörige.

Der Mann am Steuer musste dieser Manager Alex Jäggi sein, vermutete Cem. Er schien noch einigermassen gefasst. Eine hagere Gestalt, sein Kopf war im Verhältnis zum Körper gross geraten. Die Nase war dominant mit einer beachtlich konvexen Krümmung. Sein Haaransatz stand hoch oben auf der Stirn, und seine Haare besassen nicht wirklich eine Farbe– braun, beige, ocker? Er war so um die vierzig. Das einzig Attraktive an seiner Erscheinung war der Anzug. Der war definitiv teuer gewesen. Selbst in diesem diffusen Licht vermochte der feine Zwirn zu glänzen.

Ganz anders der junge Mann, der neben der Beifahrertür stehen geblieben war. Er stürzte fast zu Boden und warf wild mit den Armen um sich. Terror stand in seinem Gesicht geschrieben.

Der Bruder.

Er rannte los. Zum Haus. Zwei uniformierte Beamte konnten ihn gerade noch zurückhalten, bevor er die Haustür erreichte.

Die junge Frau war reglos stehen geblieben. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schwerfällig. Sie war die wandelnde Trauer, der wandelnde Schmerz. Ihr zartes, hübsches Gesicht leichenblass. Sie trug ihre blonden Haare kurz geschnitten. Ihre Hände umklammerten den Türrahmen. Offenbar war sie nicht bereit, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Ihr Blick war nicht auf die Villa gerichtet, sondern auf den Bruder. Wer immer diese Frau war, sie litt mit ihm, nicht mit den Toten im Haus.

Kevin trat neben Cem, wechselte einen flüchtigen Blick mit ihm, und zusammen gingen sie zum Audi.

Sofort trat der Manager vor sie. «Ich bin Alex Jäggi. Was ist passiert? Wo ist Neven? Ich will zu ihm.» Seine hohe Stimme überschlug sich.

Cem machte eine beruhigende Geste. «Das geht im Moment nicht. Sie dürfen das Haus nicht betreten.»

«Meine Eltern!», rief der Bruder dazwischen. «Wo sind sie?» Auch er sprach Hochdeutsch mit einem ausgeprägten englischen Akzent.

«Sie sind Shane O’Brien?», fragte Kevin.

Shane versuchte die Beamten abzuschütteln. Sein Mund stand offen. Er schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Cem trat vor ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter. «Können wir irgendwo ungestört sprechen? Diese Villa ist ein Doppelhaus. Wer bewohnt die linke Haushälfte?»

Shane blinzelte verwirrt. «Meine Eltern– meine Eltern und ich wohnen dort.»

«Gut», sagte Cem. «Gehen wir hinein und setzen uns. Ich erkläre Ihnen dann, was passiert ist.»

«Dad? Wo ist er? Und Neven?» Shane röchelte hysterisch, seine Augen waren wässrig. Er war mit Sicherheit einige Jahre jünger als sein Bruder. Seine Gesichtszüge waren weich, daran änderte auch der ausgeprägte Kieferknochen nichts. Sein Teint erinnerte Cem an Milch. Shanes Augen besassen das gleiche Blau wie diejenigen von Neven, aber seine Haare waren pechschwarz, schulterlang und zerzaust. Cem entging nicht, wie sein ganzer Körper zitterte. Shane wirkte sensibel und verletzlich, feinfühlig. Er besass nicht die Selbstsicherheit von Neven. Man musste kein Psychologe sein, um zu erkennen, dass er im Schatten des Starbruders stand.

«Ich habe den Schlüssel», sagte Alex Jäggi, schloss auf und verschwand im Haus.

«Kommen Sie», sagte Cem und führte Shane weg vom Wagen. Dabei nickte er kurz den beiden Beamten zu. Diese zogen sich zurück.

Kevin gab ihm mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er Barbara holen ging.

Während Cem Shane in die Villa führte, sah er aus den Augenwinkeln, wie ihnen die junge Frau folgte. Still und fast schleichend.

Jäggi hatte unterdessen die Lichter im Inneren angezündet. Obwohl dieser Hausteil architektonisch die exakte Spiegelkopie von Neven O’Briens Haus war, so war die Inneneinrichtung ein krasser Kontrast. Auch hier waren die Möbel modern und teuer, aber sie verbreiteten diese Atmosphäre, die man zum Leben brauchte: Wärme und Geborgenheit. Auf dem karamellfarbenen Sofa lagen viele Kissen und eine Kuscheldecke. Der gläserne Salontisch war mit einem Blumenarrangement geschmückt. Auf dem Esstisch lagen einige Magazine, und es standen bunte Kerzenständer aus Glas darauf.

Jäggi machte eine Handgeste und zeigte auf das Sofa. «Bitte, setzen Sie sich doch. Wie war noch gleich Ihr Name?»

«Ich bin Cem Cengiz, Ermittler bei der Luzerner Kriminalpolizei.» Cem vergewisserte sich, dass Shane O’Brien sich neben ihn setzte. Er schien nahe an einem Kollaps. Sein Atem ging stossweise und viel zu schnell. «Mein Kollege Herr Leibacher und die Leiterin der Ermittlungen, Frau Amato, werden gleich zu uns stossen.»

Als wäre das Stichwort gefallen, traten Kevin und Barbara ins Haus. Während Jäggi ihnen die Hände schüttelte, beobachtete Cem die junge Frau. Sie stand abseits an der Wand und rieb sich die Oberarme. Ihr Blick klebte regelrecht an Shane. Als sie bemerkte, dass Cem sie beobachtete, blinzelte sie ein paarmal verwirrt, schien zu überlegen und kam zögernd auf Shane zu. Behutsam setzte sie sich neben ihn aufs Sofa. Ihre Finger suchten nach seiner Hand. In Zeitlupentempo tasteten sie sich darauf zu. Kaum berührte sie Shanes Hand, packte dieser zu, und Cem befürchtete schon, er würde die zarten Finger der jungen Frau brechen.

Barbara übernahm das Gespräch. «Danke, dass Sie so schnell kommen konnten. Leider habe ich keine gute Nachricht zu überbringen.»

«Neven? Was ist mit ihm?», fragte Jäggi und schritt energisch auf und ab. Für seine mickrige Gestalt besass er einen strammen Schritt. Er musste im Militär gedient haben, vermutete Cem.

«Ihm geht es gut», sagte Barbara. «Aber Gerard O’Brien und Anna-Katharina Lehner sind tot.» Barbara liess den Anwesenden Zeit, die Information zu verarbeiten.

Jäggi erstarrte mitten im Schritt. Die junge Frau stiess einen leisen Schrei aus und klammerte sich an Shanes Arm. Dieser sass einfach da, liess seinen Tränen freien Lauf.

«Was ist passiert?», fragte Jäggi, nachdem er sich gefasst hatte.

«Sie wurden ermordet», antwortete Barbara.

Cem sah, wie auch sie die Reaktionen der drei genau beobachtete.

«Einbrecher?» Jäggi kaute auf der Innenseite seiner Wange herum.

Barbara seufzte und schaute Shane an. «Ihr Bruder Neven hat den Doppelmord gestanden.»

Wie von der Tarantel gestochen schoss Shane vom Sofa auf und rannte auf Barbara zu, als wollte er die Überbringerin der schlechten Nachrichten gleich eigenhändig erwürgen.

Barbara liess sich nicht einschüchtern, machte sich noch grösser, als sie schon war, und blieb unerschrocken stehen. Nur Zentimeter vor ihr hielt Shane plötzlich inne– und sank zu Boden. Ein Häufchen Elend. Er versuchte nicht, seine Trauer zu unterdrücken, und weinte herzzerreissend. Entweder er hatte seinen Vater und seine Stiefmutter abgöttisch geliebt, oder er war ein verdammt guter Schauspieler. Cem konnte Shanes Reaktion noch nicht richtig einordnen.

Die Frau eilte zu Shane und nahm ihn in die Arme wie ein Baby. Er klammerte sich an sie und weinte.

Cem war noch nicht so abgebrüht wie Barbara, hatte noch nicht so oft schlechte Nachrichten an Familienangehörige überbringen müssen, aber selbst seine Chefin liess der Gefühlsausbruch nicht kalt. Sie ging ebenfalls in die Knie und tätschelte Shanes Schulter. «Kommen Sie», sagte sie ruhig, «setzen wir uns wieder.»

Er gehorchte schwerfällig, liess sich von den beiden Frauen zum Sofa führen. Cem machte ihnen Platz und stand auf.

«Das kann nicht sein», sagte Jäggi. «Neven ist kein Mörder. Niemals. Wie ist das passiert?»

«Das wissen wir noch nicht», sagte Kevin, seinen Notizblock in der Hand. «Wir werden ihn deswegen vernehmen. Wie war seine Beziehung zu seinem Vater und seiner Stiefmutter?»

«Gut», sagte Jäggi.

Cem bemerkte, wie die Frau bei seiner Antwort aufblickte. Sie hielt noch immer Shane im Arm. «Darf ich fragen, wer Sie sind?», fragte Cem.

Sie drehte den Kopf zu ihm um. «Ich bin Zoë Sommer.» Ihre Stimme war leise, fast schon elfenhaft, und sehr warm. Cem mochte sie auf Anhieb. «In welchem Verhältnis stehen Sie zu der Familie O’Brien?»

«Ich bin Nevens Assistentin.» Sie warf Cem einen flehenden Blick zu und biss sich auf die Unterlippe. Dann senkte sie den Kopf.

Cem musste es nicht aus ihrem Mund hören, um zu verstehen, dass sie und Shane ein Verhältnis hatten. Ein heimliches Verhältnis. Es war wohl gegen die Regeln, wenn die persönliche Assistentin eines arroganten Superstars dessen verletzlichen, unterdrückten Bruder liebte. Gut zu wissen, dass es auch in anderen Familien Probleme gab, dachte Cem und liess Zoë Sommer vorerst mit weiteren Fragen in Ruhe. Er wandte sich an Jäggi. «Es gab keine Streitigkeiten?»

Dieser zuckte mit den Schultern. «In welcher Familie gibt es die nicht? Neven ist schwierig. Und sein Vater hat viel von ihm gefordert. Wir waren zwei Monate auf Tournee und sind erst gestern zurück in die Schweiz gekommen.»

«Wie stand er zu seiner Stiefmutter?», fragte Barbara.

Jäggi setzte seinen Marsch fort. «Er hat sie nie als ein Familienmitglied anerkannt. Für ihn war sie einzig die Geliebte seines Vaters, obwohl die beiden schon seit vielen Jahren verheiratet waren.» Er kramte sein Telefon aus dem Jackett. «Ich muss Tournier anrufen, unseren Anwalt», murmelte er mehr zu sich selbst.

«Weshalb hätte er Anna-Katharina töten sollen?», fragte Zoë. Ihre zarte Stimme klang erstaunlich gefasst. «Und seinen eigenen Vater? Nein. Neven hat das nicht getan.»

Barbara nickte. «Wir gehen das in Ruhe an, sprechen mit allen Beteiligten. Und wir warten die Ergebnisse der Spurensicherung ab.»

Shane blickte plötzlich auf und rieb sich hektisch mit dem Arm die Tränen von den Wangen. «Wie sind sie gestorben? Haben sie gelitten?»

Barbara atmete tief durch. «Es ging schnell. Frau Lehner wurde erstochen. Ihr Vater starb durch einen Kopfschuss.»

Zoë legte die Hand auf den Mund. «Neven war das nicht. Er hat noch nie in seinem Leben eine Waffe angefasst.»

Kevin kritzelte die Aussage in seinen Notizblock. «Wir werden dem nachgehen.– Wer von Ihnen besitzt denn eine Waffe?»

«Nur Gerard», antwortete Jäggi. «Er hat einen Waffenschein dafür. Seine Waffe liegt im Safe, oben im Arbeitszimmer.»

«Und wer kennt die Kombination für den Safe?», fragte Cem.

«Wir alle», sagte Zoë. «Dort liegen wichtige Verträge von Neven drin.»

«Sonst noch etwas?», fragte Kevin.

«Nur Bargeld», sagte Jäggi. «Ein paar Tausender. Das ist alles.»

«Gut.» Barbara wollte das Gespräch hier offensichtlich abbrechen. «Herr Leibacher nimmt jetzt Ihre Personalien auf und vereinbart einen Termin heute Nachmittag für eine Einvernahme in der Polizeizentrale. Wenn Sie wünschen, schicken wir unterdessen einen Arzt oder Seelsorger zu Ihnen, mit dem Sie sprechen können. Herr Leibacher wird sich darum kümmern.– Und noch einmal mein herzliches Beileid zu Ihrem tragischen Verlust.» Barbara zwinkerte Cem zu, und dieser verabschiedete sich kurz von der Familie und folgte ihr nach draussen.

«Was denkst du?», fragte sie.