Wenn der Glaubenberg schweigt - Monika Mansour - E-Book

Wenn der Glaubenberg schweigt E-Book

Monika Mansour

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Beschreibung

Temporeicher Krimi mit Witz, Melancholie und knallharter Action. Die Luzerner Staatsanwältin Eva Roos wird von ihrer Vergangenheit eingeholt: Ihr schlimmster Feind Viktor Kasakow ist zurück. Der Kunsthändler und Multimillionär, der für ein russisches Syndikat arbeitet, bringt Eva in seine Gewalt. Ihr Ehemann, Ermittler Cem Cengiz, ist bereit, für seine Frau bis aufs Äusserste zu kämpfen. Unterstützt wird er von einem Agenten, den ihm der russische Geheimdienst zur Seite stellt. Doch in diesem undurchsichtigen Netz aus Intrigen, Verrat und Mord spielt jeder sein eigenes Spiel ….

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Monika Mansour, geboren 1973 in der Schweiz, liebte schon als Kind spannende Geschichten. Nach einer Lehre ging sie auf Reisen und verbrachte mehrere Monate in Australien, Neuseeland und den USA. Danach arbeitete sie am Flughafen, führte eine Whiskybar und war Tätowiererin. 2014 erfüllte sich ihr Traum vom Leben als Schriftstellerin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn im Luzerner Hinterland.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang findet sich ein Glossar.

©2021 Emons VerlagGmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Valentino Sani/Arcangel.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH)

E-Book-Erstellung: CPIbooksGmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-727-9

Originalausgabe

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regelmässig über Neues von emons:

«Warum bist du hier?»

«Ich bin hier, um dich zu töten.»

«Und ich dachte, du bist hier, um zu sterben.»

«Tja, alles eine Frage der Perspektive.»

James Bond, «Spectre»

Liebe Kinder, ich will hinaus in den Wald,

seid auf eurer Hut vor dem Wolf,

wenn er hereinkommt,

so frisst er euch mit Haut und Haar.

Der Bösewicht verstellt sich oft,

aber an seiner rauen Stimme und an seinen

schwarzen Füssen werdet ihr ihn gleich erkennen.

«Der Wolf und die sieben Geisslein», Märchen der Brüder Grimm

Wenn man liebt, wird der Berg zum Tale!

Maxim Gorki (1868–1936), eigentlich Alexej Maximowitsch Peschkow, russischer Erzähler und Dramatiker,

PROLOG

Wie zum Gebet gefaltet, ruhten seine Hände vor dem Mund, die dunklen Augen fixiert auf den Lippenstift, der sinnlich über ihre vollen, leicht geöffneten Lippen strich, immer und immer wieder. Sie betrachtete sich im Spiegel, zufrieden mit ihrem Aussehen. Elegant stülpte sie die Verschlusskappe über den Lippenstift und hielt ihn hoch. «Kardinalrot», sagte sie, «die perfekte Verführung. Meine Lieblingsfarbe.»

Er musterte ihr makellos gepudertes Gesicht: gerade, schlanke Nase; grosse Augen mit grau melierter Iris; volle, geschwungene Wimpern, die nicht echt sein konnten; messerscharf geschnittene Augenbrauen; pechschwarzes, langes Haar, das glatt wie ein seidener Wasserfall um ihre Gesichtskonturen fiel. Sie war eine künstliche Schönheit.

Er schaltete den Laptop aus. Hunderte Videos und Fotos hatte sie in den sozialen Netzwerken gepostet, hatte Abertausende von Followern und knackte nicht selten die Millionengrenze mit Likes und Herzchen. Nachdenklich betrachtete er sein schwaches Spiegelbild auf dem dunklen Monitor. Wurde er alt? Er zog die Teetasse heran: feinster Earl Grey, schwarz, ohne Zucker, dennoch rührte er mit dem Löffel bedächtig im Tee und starrte auf den kleinen Reisekoffer, der in der Ecke des Hotelzimmers stand. Es wurde Zeit, eine lange Fahrt lag vor ihm. Er klappte den Laptop zu. Dahinter lag sein Revolver, ein Klassiker, ein Colt Python 1972, Kaliber.357Magnum, ein antikes Arbeitsgerät. Er mochte die amerikanischen Revolver– wenn es auch das Einzige war, das er von den arroganten, grosskotzigen Amis schätzte. Dieser Revolver besass eine Seele, die eine Kalaschnikow nicht kannte. Der Revolver nährte sich von den Verdammten, deren Körper er genommen hatte.

Genüsslich trank er den Tee, griff nach dem Colt, der schwer und kalt in seiner Hand lag, schwenkte die Trommel aus und liess sie knatternd bis zum Stillstand um ihre eigene Achse rotieren. Da glänzte sie, die eine goldene Kugel, Spezialanfertigung. Die perfekte Kugel zum perfekten Lippenstift. Kardinalrot. «Spielen wir russisches Roulette», sagte er, stand auf und rückte die schwarze Krawatte zurecht. Er wusste, dass die späteren Schlagzeilen ihr Rekordzahlen an Likes im Internet bescheren würden. Ein respektabler Abgang für eine Influencerin– und eine weniger, dachte er, welche die Jugend von heute mit sinnlosen Beautytipps, Modetrends und hohlem Geplapper zumüllte.

EINS

Die Kriminalrichterin führte Lila auf der Abschussliste. Ihr Blick war finster, als sie zu Beginn des Beweisverfahrens ihre Fragen an die Angeklagte stellte.

Cem Cengiz hatte hinten im Gerichtssaal Platz genommen und blickte in die Gesichter der drei Kriminalrichter, vor denen Lila sass, um ihre Aussage zu machen. Hinter ihr sassen links der Verteidiger und rechts die Staatsanwältin Eva Roos Cengiz. So weit hätte es nie kommen dürfen, dachte Cem, dass seine Frau seine Ex-Freundin vor Gericht anklagte. Dies war Staatsanwalt Felders Fall gewesen. Dummerweise hatte er letzte Woche einen Autounfall gehabt und lag mit gebrochenen Beinen im Spital. Ob sie wollte oder nicht, Eva hatte übernehmen müssen. Cem steckte in der Zwickmühle. Ganz gleich, auf welche Seite er sich stellte, es war die falsche.

«Erzählen Sie uns von vorne mit Ihren Worten, wie Sie den Jungen Sambou aus dem Flüchtlingslager in Lampedusa geschmuggelt haben», forderte die Kriminalrichterin.

Cem konnte Lila nur von hinten sehen, sie sass aufrecht auf ihrem Stuhl, den Kopf erhoben. «Bon, comme vous voulez. Ich habe Sambou nicht aus dem Flüchtlingslager geschmuggelt, ich habe ihn vor Menschenhändlern gerettet, welche die Lager nach unbegleiteten Minderjährigen durchsuchen, um sie für ihre eigenen Zwecke zu versklaven. Die Lager befinden sich im tiefsten Süden Italiens. Dort herrschen teilweise chaotische Zustände. Was denken Sie, wer von diesem Chaos profitiert? Wir wissen alle, wer die wahre Macht im Süden Italiens besitzt.»

«Dieses Problem wird hier vor Gericht nicht verhandelt», erklärte die Richterin. «In den Auffanglagern gibt es zahlreiche minderjährige Flüchtlinge. Weshalb haben Sie ausgerechnet Sambou in die Schweiz geschleust?»

«Er kennt ein Geheimnis. Er hat Informationen über einen russischen Menschenhändlerring, hinter dem die Luzerner Staatsanwaltschaft seit über einem Jahr her ist.» Lila drehte sich auf ihrem Stuhl um und schaute Eva an. «Ist es nicht so, Frau Staatsanwältin? Wie geht es Ihrer Hand?»

Mensch, Lila! Cem biss sich auf die Lippen und umklammerte seinen Sitz. Bald würde er aufspringen und sich zwischen die beiden Frauen stellen müssen.

Eva antwortete erstaunlich ruhig. «Aus Ihrer langen Strafakte geht hervor, dass Sie in Extremsituationen überreagieren.» Energisch griff Eva nach einem Papier. «Sie haben Ihrem ehemaligen Zuhälter und Lebensgefährten die… Wie soll ich es ausdrücken…?»

Nicht, dachte Cem. Musste Eva die alte Geschichte ausgraben? Lila war für diese Tat lange genug eingesessen.

«Sagen Sie, wie es ist, Frau Staatsanwältin. Ich habe dem Arschloch die Eier herausgeschnitten, weil er mein ungeborenes Baby in meinem Bauch getötet hatte. Er hat die Strafe verdient, ich habe meine abgesessen, und heute bin ich hier, weil ich Ihnen helfen will. Sambou kennt ein Geheimnis über Viktor Romanowitsch Kasakow.»

«Ich störe Ihre intime Plauderei ungern», mischte sich der Gerichtspräsident ein, «aber wir verhandeln heute nicht über Persönliches oder Vergangenes.»

«Oh, excusez-moi, Monsieur le Président. Kommt nicht wieder vor.»

Cem konnte es nicht sehen, als Lila den Kopf über ihre Schulter drehte, aber er wusste, dass sie dem Richter ein bezauberndes Lächeln schenkte. Ja, das konnte sie. Darin war und blieb sie ein Profi. Auch mit ihren sechsundzwanzig Jahren war Lila der kindliche Typ Frau geblieben, zart und verführerisch, eine Lolita, der sich die Männer schwer entziehen konnten, was das gespielt strenge Räuspern des Richters bestätigte. «Bitte, Frau Kollegin Kriminalrichterin, fahren Sie mit der Befragung der Angeklagten fort.»

Bevor sich Lila wieder nach vorne umdrehte, warf sie Cem einen intensiven Blick zu. War sie wütend? Verunsichert? Enttäuscht? Lila war eine Herausforderung, gezeichnet von ihrer tragischen Vergangenheit als Prostituierte und Tänzerin in einem Nachtclub, misshandelt von ihrem Ex. Vertrauen war für sie ein schwieriges Wort. Aber sie war auch eine Kämpferin, die für ihre Überzeugung einstand, egal, welche Konsequenzen ihr Handeln zur Folge hatte. Ganz anders Eva. Behütet auf dem Bauernhof ihrer Eltern aufgewachsen, hatte sie studiert und sich bis zur Staatsanwältin hochgearbeitet, was als alleinerziehende Mutter eine Herausforderung war.

Die Kriminalrichterin fuhr fort, gänzlich unbeeindruckt von Lilas Charme. «Erzählen Sie uns, wie Sie mit Sambou in die Schweiz gereist sind.»

Cem stand auf, auch wenn er von den Richtern einen strafenden Blick erhielt, weil das Verlassen des Saals während einer Verhandlung nicht gestattet war. Er hatte genug gehört. Der Fall war kompliziert. Lila machte ihn kompliziert. Und Sambou. Der malische Junge sprach nicht. Seit er in der Schweiz war, schwieg er. Das half Lila nicht weiter– und auch nicht Eva. Es machte ihr Angst. Der Name Viktor Romanowitsch Kasakow war Evas grösster Alptraum. Zu Recht.

***

Sie trat aus dem Gerichtsgebäude. Es war Mittag, die Sonne stand hoch über dem See und lockte die Luzerner nach draussen. Der Sommer begann dieses Jahr schon Ende Mai. Eva zog die Jacke ihres Kostüms aus. Darunter trug sie eine zarte lilafarbene Seidenbluse. Unglückliche Farbwahl. Lila! Die Frau trieb sie in den Wahnsinn. Sie bezirzte mit ihrem süssen Lächeln den Richter. Wie hatte Cem nur…

«Hey, Küçüğüm!» Cem stand lässig an einen Baum gelehnt vor dem Gebäude in der Nähe der Werft, tippte zur Begrüssung an die Schiebermütze und grinste dabei wie ein frecher Schuljunge.

«Ich bin die Frau Staatsanwältin, nicht dein kleines Mädchen.»

«Na dann, schicke Man-dolos, Frau Staatsanwältin.»

Sie blieb stehen und zog die extrahohen Pumps aus. Der Asphalt unter ihren nackten Füssen war heiss. Rasch trat sie in den Schatten der Linde und schwang die High Heels vor Cems Gesicht hin und her. «Diese hier, mein Lieber, sind keine Manolos, sondern echte Christian Louboutins. Zolle ihnen den nötigen Respekt.»

«Dieser Christian ist mir egal. Mir gefallen deine nackten Füsse wesentlich besser.» Er zeigte auf ihre lackierten Fussnägel. «Sexy Farbe. Kirschrot?»

«Fast. Aber werde nicht zum Fussfetischisten.»

«Niemals würde ich dich bloss auf die Füsse reduzieren. Ich bin ein Eva-Fetischist.» Er nahm sie in die Arme und küsste sie.

Zu gerne hätte sie sich nach diesem Morgen fallen lassen. Eva seufzte und schob ihn sanft von sich weg. «Nicht hier. Die Pressegeier lauern.»

Cem hob die linke Hand und zeigte auf den Ehering. «Frau Staatsanwältin, hier hat alles seine gesetzliche Richtigkeit. Wir sind verheiratet, ist Ihnen dieser Punkt entgangen? Und küssen in der Öffentlichkeit verstösst nicht gegen das Sittengesetz– als Bulle muss ich das wissen. Meine Ehefrau zu küssen ist demnach eine legale Handlung– und meine Pflicht als schweizerisch-türkischer Ehegatte.»

«Ist das so?» Sie strich ihm über den kurzen Bart, den er jetzt trug. Stand ihm gut, machte ihn männlicher und nahm ihm sein Teddybär-Image, auf welches Lila beharrte. Zu oft nannte sie ihn «mon nounours», wenn sie sich trafen. Eva fühlte diese miese Eifersucht in sich keimen, dabei hatte sie sich fest vorgenommen, sie zu ignorieren.

Cem verzog schelmisch den Mund. «Meine bezaubernde Frau zu verwöhnen ist das oberste Gebot von Cem Cengiz, Familienmensch aus Leidenschaft. Deshalb gibt es jetzt Lunch.» Er hob einen Papiersack hoch, der neben ihm stand.

«Du raspelst Süssholz», sagte Eva.

«Gar nicht.»

«Nervös?»

«Ich? Niemals.»

«Du willst wissen, wie es lief?»

«Nein.»

«Du willst wissen, ob der Zickenkrieg ausgeartet ist? Wie lange warst du dabei?»

«Bis zur Kastration, danach hatte ich genug.»

«Du solltest dir ein dickeres Fell zulegen.»

Cem liess sein Dauergrinsen fallen. «Wie kannst du dabei ruhig bleiben?»

Eva genoss das Spiel. Cem aufzuziehen war zu ihrer neuen Leidenschaft geworden. Sie wandte sich ab und marschierte energisch Richtung Ufschötti, die Louboutins herausfordernd in der Hand schwingend.

«Luder», hörte sie Cem leise hinter sich murren. Er folgte ihr.

Sie drehte den Kopf zu ihm um. «Du solltest nicht so starren.»

«Und Sie sollten nicht so hinreissend aussehen, Frau Staatsanwältin.»

Am See setzten sie sich auf einen grossen Stein am Sandstrand. Privatsphäre war Luxus. Arbeitende, Schüler und Studenten assen heute ihren Lunch draussen.

«Lila fordert mich heraus», sagte Eva.

«Wie geht es ihr?»

«Ha! Das ist es, was dich interessiert? Sie ist die Böse, schon vergessen? Sie steht vor Gericht, weil sie gegen das Gesetz verstossen hat.»

«Sie hat einem Jungen das Leben gerettet.»

«Sie hat ein Kind mitgenommen.» Sie führten dieses Gespräch nicht zum ersten Mal. Es endete meist im Streit.

Cem schwieg, nahm die Tüte und holte eine Lunchbox hervor. «Caesar Salad mit extra Parmesan. Selbst gemacht.»

Sie griff danach. «Du bist ein Schatz. Ich will nicht streiten.»

«Dito.» Er zog ein Käsesandwich aus der Tüte. «Das ist dein Fall, ich sollte mich nicht einmischen. Du tust das Richtige, ich vertraue dir. Aber was ist mit Sambou? Schweigt er nach wie vor?»

«Ja. Wenn er nicht spricht, kann ich Lila nicht entlasten.»

«Glaubst du ihr?»

Eva streckte die Beine aus. Der Bleistiftrock reichte ihr bis zu den Knien. Die warme Sonne auf ihren Füssen war eine Wohltat. «Ich weiss es nicht. Lila ist schwierig. Ihr Leben war schwierig, traumatisch. Bei solchen Menschen verschmelzen nicht selten Wahrheit und Wunschgedanken. Aber ja, ich denke, sie lügt nicht, nicht absichtlich, aber ob sie die Wahrheit sagt?»

«Lila ist nicht verrückt.»

«Sie ist manipulativ, eine hervorragende Schauspielerin, unerbittlich und misstrauisch.»

«Sie hat eine Prise Glück im Leben verdient.»

Eva seufzte und schaute Cem an. «Weisst du, deshalb liebe ich dich. Du kannst vergeben. Du suchst nach dem Guten im Menschen. Du glaubst an die Gerechtigkeit. Und du bist gnadenlos zu den bösen Jungs.»

«Deshalb bin ich Bulle geworden.»

«Deshalb habe ich dich geheiratet, bevor dich eine andere mir wegschnappt.» Eva wollte locker klingen, doch Cem musste ahnen, dass sie dabei an Lila dachte. Mit vierunddreissig Jahren benahm Eva sich wie ein pubertierender Teenager. «Holst du heute Abend Alain bei meinen Eltern ab, wenn es hier spät wird?»

«Klaro. Es ist wenig los bei uns auf der Polizeistation. Die Verbrecher scheinen das schöne Frühsommerwetter zu geniessen und liegen faul rum. Die Oggenfuss hat uns zu lästiger Büroarbeit verdonnert. Da spiele ich doch lieber mit meinem Kumpel Räuber und Poli. Ist eine echte Spürnase geworden, der Kleine. Das wird mal ein toller Polizist.»

«Niemals!» Eva boxte Cem in den Oberarm. «Alain lernt einen anständigen Beruf, macht die Matura und studiert Medizin oder Ingenieurwesen. Ich erlaube nicht, dass er etwas tut, das ihn mit Schwerverbrechern in Verbindung bringt. Ich will mir nicht auch täglich um ihn Sorgen machen.»

«So wie ich mir um dich?», erwiderte Cem. «Dass Sambou Viktor Romanowitsch Kasakow kennt, gefällt mir nicht.»

Eva massierte reflexartig ihre linke Hand. Der kleine wie der Ringfinger hatten ein gutes Jahr nach der Attacke auf sie nicht zu früherer Beweglichkeit zurückgefunden. Unzählige Knochen in dieser Hand wurden zertrümmert, als die Stiefel… Sie versuchte, ihren Schmerz zu überspielen, der bei dem Namen automatisch aufflackerte. «Viktor hält sich selten in der Schweiz auf. Ich habe nichts mehr von ihm gehört.»

«Ja, weil du dich bisher aus dem Russengeschäft rausgehalten hast. Aber neu leitest du den Fall gegen Lila, und da ist sein Name gefallen.»

«Du denkst doch nicht…»

«Die Oggenfuss hat es zwar nicht offiziell erlaubt, aber sie weiss, dass ich Viktor im Auge behalte. Er ist seit Sonntag aus Sankt Petersburg zurück in der Schweiz. Deshalb will ich nicht, dass du allein unterwegs bist. Ich hole dich ab, wenn du heute Nachmittag hier fertig bist.»

Eva wollte nach der Salatschüssel greifen, aber ihre Hand zitterte so heftig, dass sie es bleiben liess. Natürlich bemerkte es Cem.

«Hey.» Er berührte ihre Hand und strich ihr mit dem Daumen über die rot lackierten Fingernägel. «Ich passe auf dich auf, auf dich und Alain. Ein weiteres Mal wird der Russe dich nicht kriegen. Versprochen.»

Eva nickte tapfer. Sie wusste, Cem meinte es ehrlich, aber er konnte sie unmöglich vierundzwanzig Stunden am Tag beschützen. Er war nicht ihr Bodyguard. Sie schaute auf die Rolex an ihrem Handgelenk. «Ich muss wieder rein. Der Prozess geht in zehn Minuten weiter.»

Cem stand auf und zog sie auf die Füsse. «Ich bringe dich hin.»

***

Er hatte die Mittagspause überzogen. Wenn die Oggenfuss eine Sache hasste, war es Unpünktlichkeit. Egal, Cem hatte eine passable Ausrede. Lässig steckte er seine Hände in die Taschen der Jeans, als er die Kasimir-Pfyffer-Strasse entlang zur Luzerner Polizei marschierte. Er sollte Eva am Abend zum Essen ausführen. Sie stand unter Stress, auch wenn sie das niemals zugeben würde. Der Fall machte ihr Angst. Typisch Lila, sie konnte nicht anders als Probleme in sein Leben bringen. Sie machte alles kompliziert. Dennoch konnte er ihr nicht böse sein. Sie handelte aus Überzeugung, egal, wie radikal ihre Taten waren.

Cem achtete nicht auf die Strasse und bemerkte den Schatten, der ihm folgte, zu spät. Die Hand auf seiner Schulter liess ihn abrupt innehalten. Er spürte den Atem in seinem Nacken.

«Was willst du?», fragte Cem ohne die kleinste Regung. Er kannte den Duft dieses Aftershaves.

«Gerechtigkeit.»

«Hast du keine bessere Antwort auf Lager?»

«Vertrauen? Wie wäre es damit?»

«Fade.»

«Sie hat das nicht verdient.»

«Lila hat ihr Schicksal herausgefordert.» Cem drehte sich um und starrte in das schnittige Gesicht des Holländers: attraktive Lachfältchen um die Augen, sorgfältig rasierte Kinnpartie, strahlend weisse Zähne. Die kurzen Haare waren akkurat mit Gel in Form gelegt. Der Hemdkragen war gestärkt, das Sakko lässig genug, um seinen Anzug nicht steif wirken zu lassen. «Du warst heute Morgen nicht im Gerichtssaal.»

«Ich hatte anderes zu tun. Vor Gericht kann ich Lila nicht helfen, im Hintergrund schon.»

«Hast du vom Flüchtlingshelfer wieder zum Journalisten gewechselt?» Cem verschränkte die Arme und zog den Mund schief. «Lila ist schwer zu kontrollieren, was?»

«Sie hat dich verletzt, schon klar.»

«Nein, Marius, daran hat sie nicht allein Schuld. Du bist mit ihr nach Italien durchgebrannt, schon vergessen?»

«Sie hat sich für mich entschieden, weil sie immer schon ahnte, dass du und Eva–»

«Halt die Klappe, du hinterhältiger Fuchs! Glaubst du echt, es geht hier um mich? Um meinen verletzten Stolz? Um meine Gefühle? Sorry, Liebeskummer ist das Letzte, was ich verspüre. Aber dir so leicht vergeben kann ich nicht.»

«Nur vier Monate nachdem Lila dich verlassen hat, hast du geheiratet. Du hast es ihr nicht gesagt.»

«Wie denn, wenn ihr auf dem Mittelmeer verschollen wart? Wir konnten euch über Wochen nicht erreichen. Und dann stand Lila plötzlich mit Sambou in meiner Wohnung. Wie hätte ich ihr schonend beibringen können, dass ich unter der Haube bin? Sie wollte es so, Marius.»

«Sie wollte, dass du glücklich bist, eine Zukunft hast. Eine Familie gründen kannst.»

«Ausgezeichnet. Denn Eva ist das Beste, was mir passieren konnte.»

Marius nickte. «Wieder Freunde?»

«Freunde? Freunde waren wir nie. Wir haben über Weihnachten zusammen an dem Hexenfall gearbeitet. Vorher kannten wir uns nicht, und danach bist du mit Lila nach Italien durchgebrannt. Das Wort Freund hat für mich eine andere Bedeutung.» Cem wusste, dass seine Worte zu harsch klangen, aber dieser Morgen war eine emotionale Folter gewesen, und Marius mit seinem schönen Gesicht war der perfekte Sündenbock, um Dampf abzulassen. Er kannte Marius gut genug, um zu wissen, dass dieser Streit nur von kurzer Dauer sein konnte. Sie waren mehr als Freunde, eher wie Brüder, und Brüder stritten heftig, aber selten für lange.

Marius rückte sein Sakko zurecht. «Wie du meinst. Du weisst, wo du mich findest, wenn du Hilfe brauchst. Im Recherchieren kannst du mir auch als Bulle nicht das Wasser reichen.» Er grinste schief. «Grüss Eva von mir. Sag ihr, sie soll dich nicht zu sehr verwöhnen. Du hast in den letzten Monaten ein paar Kilo zugelegt, mein Hübscher.»

«Tatsächlich? Hm, Pizza und Pasta lassen sich auch schlecht unter deinem Anzug verbergen, mein Süsser.»

***

Aufgebracht massierte sich Eva die schmerzenden Fingerknöchel, als sie das Quai entlang zum Bahnhofparkhaus marschierte. Die Verhandlung war frühzeitig abgebrochen worden, da Lilas Anwalt einen neuen Antrag zur Anhörung eines Zeugen gestellt hatte. Vermutlich war den Richtern die Lust an dem Fall vergangen, und statt sich auf ein weiteres Streitgespräch mit Lila einzulassen, hatten sie die Verhandlung kurzerhand vertagt.

Es war erst halb drei. Sie griff nach ihrem Mobiltelefon und rief Cem an. Erfolglos. Egal, dachte Eva, sie musste nicht beschützt werden. Es war ihr recht, einen Augenblick für sich allein zu sein, um durchzuatmen, bevor sie zu ihren Eltern nach Stans fuhr und Alain abholte. Sie hatte zu wenig Zeit für ihren Sohn, der die erste Klasse besuchte. Heute war Mittwoch, und er hatte den Nachmittag frei. Was würde Eva bloss ohne ihre Eltern machen? Alains Schuleintritt war der Grund, weshalb sie ihre Wohnung in Stansstad behalten hatte und Cem offiziell nach wie vor in Luzern wohnte, auch wenn er fast ausschliesslich bei ihr übernachtete. Sie konnten sich nicht für einen neuen, gemeinsamen Wohnort entscheiden. Eva brauchte ihre Eltern in der Nähe, anders ging es nicht. Sie wollte für Alain keine fremde Nanny einstellen. Familie war wichtig, darüber waren sie und Cem sich einig. Die Familie sollte der Mittelpunkt im Leben sein. Immerhin hatten sie sich vor zwei Wochen durchgerungen, eine Maklerin zu kontaktieren, die nach einem geeigneten Objekt zwischen Luzern und Stansstad Ausschau hielt. Bisher aber vergeblich.

Eva drückte den Knopf des Fahrstuhls, der sie vom Inseliquai hoch zum Südeingang des Parkhauses brachte. Oben angekommen, marschierte sie auf dem Fussgängersteg über den Bahntrassen hin zur Parkebene. Sie begegnete keiner Menschenseele. An der Kasse entwertete sie ihr Ticket und suchte nach ihrem AudiR8Coupé. Sie konnte ihn nicht gleich entdecken, da ein weisser Lieferwagen der Bäckerei Portmann davor geparkt hatte, viel zu eng, wie sie fand. Sie zwängte sich zwischen die beiden Wagen und kramte ihren Schlüssel aus der Handtasche hervor. Wie sollte sie da bloss einsteigen können? Abgelenkt nahm Eva das schleifende Geräusch nicht gleich wahr, welches sie hinter sich hörte.

Die seitliche Schiebetür des Kastenwagens ging auf.

Eva schnellte herum. Nicht schnell genug.

Eine Hand auf ihrem Mund erstickte den Schrei im Keim. In der Hand lag etwas Feuchtes. Es roch stark, und Tränen schossen ihr in die Augen. Panik liess sie erstarren. Wieder kamen ihr die Bilder hoch von damals: die Fäuste, die Stiefel, das Gelächter, der Schmerz, die Todesangst.

Viktor Romanowitsch Kasakow. Er war zurück.

Ein Arm legte sich um ihre Brust, drückte zu und schnürte ihr die Luft ab. Mit einem Ruck wurde sie nach hinten gezogen, hinein in den Kastenwagen. Sie strampelte mit ihren Füssen, bemerkte, wie sie ihren rechten Schuh verlor. Dann lag sie im Wagen und hörte, wie die Schiebetür zuknallte. Im Innern des Kastenwagens war es dunkel, oder lag das an ihren Sinnen, die sich langsam verabschiedeten? Ihre Fingerspitzen kribbelten, als sie vergeblich mit den lackierten Fingernägeln auf dem metallenen Boden des Wagens kratzte. Es wurde still, dunkel, bis es nichts mehr gab ausser mit Panik gefüllte Leere.

***

«Volles Haus heute», sagte Susanne Oggenfuss und grinste spitzbübisch. «Alle meine Schäfchen im Büro versammelt.» Bis auf Bissig, der war für zwei Wochen in den Ferien.

«Deine Anweisung.» Barbara Amato schwang demonstrativ ihre rote Haarpracht.

Cem hockte lässig auf dem Arbeitstisch und beobachtete seine beiden Vorgesetzten. Susanne war Abteilungsleiterin von «Leib und Leben» bei der Luzerner Kriminalpolizei, Barbara war die Chefermittlerin der Abteilung. Mehr Alpha ging nicht, und doch verstanden sich die beiden Frauen mittlerweile, als wären sie Blutsschwestern. Sosehr Cem auch versuchte, hinter das Geheimnis zu kommen, das die beiden seit der mörderischen Hochzeit auf dem Titlis verband, sie schwiegen.

Susanne war ein liebevoller Giftzwerg, klein, herrisch, mit kurzem braungrauem Haar und runder Hornbrille. Sie war dreiundfünfzig. Mode oder Make-up waren für sie Fremdwörter, und farb- wie formlose Kleidung war ihr am liebsten. Im Gegensatz zu Barbara. Die Mittvierzigerin liebte hautenge Jeans, die ihre endlos langen Beine betonten. Barbara war ein Riese. Ihre eisblauen Augen und die Sommersprossen im Gesicht ihr Markenzeichen. Ihre italienischen Gene waren dominant, und sie bemutterte Cem und seinen Kollegen Kevin oft mehr, als ihnen lieb war.

«Worauf warten wir?», brach Kevin das Schweigen. Er war der Jüngste im Team. Gerade dreissig geworden und werdender Vater. Seine Frau Gabi war erst im sechsten Monat schwanger, aber Kevin hütete sein Handy wie eine Glucke ihr Ei und rief seine Frau fast stündlich an.

«Wir erhalten Besuch», sagte Susanne. «Gehringer wird uns nächsten Monat, wenn er aus der Kur zurück ist, verlassen. Er hat entschieden, nach seinem Herzinfarkt letzten Monat per sofort in den frühzeitigen Ruhestand zu treten. Sein Nachfolger beginnt heute seinen Dienst.»

Cem holte sein Handy hervor, um auf die Uhr zu schauen. Da er es während der Arbeit auf stumm geschaltet hatte, entdeckte er erst jetzt den Anruf von Eva. Sie hatte vor zehn Minuten versucht, ihn zu erreichen. Er rief sie zurück. Das Telefon war ausgeschaltet. Sie musste noch im Gerichtssaal sein, also legte Cem das Handy weg und fragte: «Wer ist der Neue?»

In diesem Moment rief Roland vom Empfang im Büro an und meldete den Kollegen, der auf dem Weg nach oben war.

Susannes Grinsen wurde breiter, ein Grinsen, das Barbara galt. Was war daran witzig, wunderte sich Cem.

«Warum holst du ihn nicht beim Lift ab und bringst ihn zu uns ins Büro?», fragte Susanne und öffnete für Barbara die Tür.

«Ich soll… was?»

«Raus mit dir, nicht dass er sich bei uns verläuft.»

«Na, so kompliziert ist unsere Polizeizentrale auch nicht», sagte Barbara. «Wir haben genau einen Korridor.»

«Schwing deinen Hintern auf den Flur. Ich erwarte, dass du ihn herzlich empfängst.»

Hoppla, dachte Cem. Da geht was ab. Kevin hielt sich die Hand vor den Mund, um sein Lachen mehr halbherzig dahinter zu verbergen.

Barbara warf den Kopf so heftig herum, dass sie Susanne ihre roten Haarspitzen ums Gesicht schlug. Eins zu null für Barbara, dachte Cem.

Er hörte Barbaras energische Schritte im Flur, dann das Klingeln, welches die Liftkabine ankündigte. Es wurde still. Totenstill. Cem wechselte mit Kevin einen fragenden Blick. Beide schauten sie Susanne an, die zufrieden die Arme vor der Brust verschränkte und scheinbar unschuldig aus dem Fenster blickte.

«Kennen wir ihn?», fragte Cem.

«Sicher», antwortete Susanne. «Hans Peter Banz passt perfekt ins Team, was denkt ihr?»

«Banz?», riefen Cem und Kevin unisono.

Dave Berger würde das nicht gefallen.

***

Lila hockte in der Nische des Erkerfensters, die Hände auf ihrem Bauch. Es war heiss. Sie trug einzig ihren schwarzen Spitzen-BH und einen Slip. Der Blick auf die Museggmauer an diesem sonnigen Frühsommertag lichtete nicht den trüben Nebel, der ihre Gedanken umhüllte. In ihr war es dunkel. In ihrer Seele gab es keinen Sonnenschein, nur Gewalt, Verrat und Misstrauen. Es war wie ein Fluch, der sich durch ihr gesamtes mieses Leben zog. Stets versuchte sie, alles richtig zu machen, doch jede Entscheidung, die sie traf, schien das Gegenteil auszulösen, riss sie tiefer in ihre persönliche Dunkelheit hinein.

Merde! Was hatten die mit Sambou gemacht? Weshalb schwieg er? Die Behörden hatten den Zwölfjährigen bei einer Pflegefamilie untergebracht, von der Aussenwelt abgeschottet, weil man nicht wusste, ob er ernsthaft in Gefahr war. Lila konnte ihn nicht kontaktieren, nicht mit ihm sprechen. Sambou hatte bestimmt Angst, er fühlte sich verraten und im Stich gelassen. Sie konnte das nachvollziehen, nach allem, was er ihr in Italien anvertraut hatte, nicht seine ganze Geschichte, aber genug, um ihm zu glauben und zu handeln. Es machte ihr Leben schwierig. Statt als Heldin gefeiert wurde sie als Kindesentführerin angeprangert. Marius recherchierte obsessiv, entdeckte aber nichts, das sie entlasten konnte. Mit ihrem Vorstrafenregister standen die Chancen schlecht, dass die Richter ihre Vorurteile ablegten und ihr glaubten. Vor allem die arrogante Kriminalrichterin hatte sie auf dem Kieker, dabei meinte Lila es ehrlich, wollte Cem und Eva helfen, an den Russen heranzukommen.

Was hatte es gebracht? Cem war verstimmt, und Eva sass im Gerichtssaal hinter ihr und forderte drei Jahre Gefängnis. Drei Jahre! Wofür? Kindesentführung? Quelle connerie! Sie hatte Sambou das Leben gerettet. Fast hätten die Menschenhändler ihn in die Finger gekriegt. Aber die Gesetzbücher sahen das selbstverständlich anders. Gesunder Menschenverstand zählte nicht, Nächstenliebe auch nicht. Wie könnte Lila einem Kind Böses antun? Sie drückte fester mit den Händen auf ihren Bauch. Ein Bauch, der leer war.

Lila hörte, wie der Schlüssel an der Wohnungstür sich drehte. Sie sprang vom Sims des Erkerfensters hinunter. Im Flur fiel sie Marius um den Hals, bevor der seine Aktentasche hinstellen konnte. Er nahm sie in den Arm. Einen Moment verharrten sie regungslos.

«Frag mich nicht, wie es lief und weshalb ich schon zu Hause bin», kam sie ihm zuvor.

«Wie lief es?»

Sie kniff ihn in die Wange. «Du tust nie, was ich sage.»

Marius schaute auf sie herunter. Er war über einen Kopf grösser als Lila. «Bist du in diesem Outfit wieder am Erkerfenster gesessen?» Er strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. «Was denken da die Nachbarn? Herr Grüter von vis-à-vis lässt seinen Feldstecher schon auf dem Küchentisch liegen.»

Sie lächelte kokett. «Du klingst wie Cem. Ich mag mich unverhüllt.»

Mit ernster Miene stellte Marius seine Aktentasche ab und zog sein Jackett aus. «Zugegeben, ein bezaubernder Hauch von Nichts, den du da beinahe trägst. Gefällt mir.» Kurzerhand hob er sie hoch und trug sie ins Schlafzimmer.

«Oh, là, là, Monsieur, es ist mitten am Nachmittag. Was denken die Nachbarn, wenn wir die Schlafzimmervorhänge zuziehen?»

«Schmutzige Gedanken, würde ich sagen.»

«Hm, dann sollten wir die Vorhänge offen lassen.» Lila schlang die Arme um Marius’ Hals und knabberte an seinen Ohrläppchen. Er war ihr Lichtstrahl in der Dunkelheit. Ohne ihn könnte sie diese Farce vor Gericht nicht durchstehen. Wenigstens diesmal hatte das Glück sie beschenkt. Aber das Glück war launisch und konnte ihn ihr schnell wieder wegnehmen. Davor hatte Lila mehr Angst als vor den drei Jahren Gefängnis, die ihr bevorstanden.

ZWEI

Der Geruch des Kissens war ihr fremd. Ihr Nacken schmerzte und war steif. Sie lag auf dem Rücken, auf einem harten Untergrund. In ihrem Kopf hämmerte es. Ein ekelerregender metallischer Geschmack klebte ihr auf der pelzigen Zunge. Sie hustete, hielt die Augen aber geschlossen. Das grelle Licht blendete sie auch durch die Augenlider. Sie drehte sich zur Seite, weg von der Lichtquelle.

«Tief durchatmen», hörte sie eine Männerstimme, sanft und rau zugleich, nicht Cem, aber eine Stimme, die ihr nicht unbekannt war.

Langsam kam die Erinnerung zurück, und mit jedem Fetzen Erinnerung baute sich die Panik in ihr auf. Die Erkenntnis schlug ein wie eine Bombe.

Die Stimme.

Viktor Romanowitsch Kasakow.

Eva riss die Augenlider auf, bäumte sich auf und ballte reflexartig die Hände zu Fäusten, eine lächerliche Abwehr, die sie ihm zu bieten hatte. Er sass direkt vor ihr auf einer Holzkiste. Eva wusste sofort, wo sie sich befand. Der weisse Kastenwagen. Fenster gab es keine, einzig eine Scheinwerferlampe, angebracht an der Decke, leuchtete den Laderaum aus, in dem es zwei Holzkisten, ein Kissen und eine Wolldecke gab. An den Seiten waren Holzregale montiert. Es roch nach frisch gebackenem Brot.

Eva wollte reden, aber ihre Lippen waren zu trocken und zu rissig, die Zunge klebte am Gaumen fest.

Viktor hielt ihr eine PET-Flasche Wasser hin. «Dafür muss ich mich entschuldigen, aber eine telefonische Einladung auf einen Kaffee hätten Sie nicht angenommen.»

Eva rutschte auf dem Boden nach hinten, bis an die Wand, so weit weg von der Bestie, wie sie konnte. Viktor war ein hinterhältiger Wolf im Schafspelz, gab sich kultiviert, intelligent, mitfühlend. Er besass keine harten, kantigen Gesichtszüge, glich eher einem Engländer als einem Russen und sah gefährlich attraktiv aus, ein James-Bond-Typ, ein Hybrid aus Roger Moore und Daniel Craig. Die Kieferknochen und der Bartschatten verliehen ihm Männlichkeit. Sein dunkelblondes Haar war gepflegt zerzaust. Sein Blick war hellwach, neugierig, geheimnisvoll, die schiefergraue Iris hypnotisierend. Viktor war nicht gross, aber sportlich. Der Langstreckenläufer, kein Bodybuilder.

Eva fühlte, wie sie zu hyperventilieren begann. Ihre Hände zitterten stark, der Puls raste. Die letzten Minuten ihres Lebens hatte sie sich nicht eingesperrt mit ihrem grössten Feind im Laderaum eines Transporters ausgemalt. Wo waren sie? Wie lange war sie betäubt gewesen? Er konnte mit ihr über die Grenze ins Ausland gefahren sein oder irgendwo in einem Wald parkiert haben, wo niemand ihre Schreie hören konnte. Cem! Alain! Tränen schossen ihr in die Augen. Sie würde ihre beiden Jungs nie mehr wiedersehen. Alain war noch so klein. Musste er ohne seine Mami aufwachsen? Mein Gott, nein, das durfte nicht geschehen. Du bist schlau, sprach sie sich selbst Mut zu, du musst kämpfen für deinen Sohn. Sie schloss kurz die Augen und versuchte, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen. Fokussiere dich auf Fakten, wie du es im Studium gelernt hast.

Fakten.

Viktor Romanowitsch Kasakow, vierzig, schwerreicher Antiquitäten- und Kunsthändler, der jüngste Sohn einer russischen Oligarchenfamilie aus Sankt Petersburg, die mit Computern und Mobilfunknetzen ein Vermögen angehäuft hatte. Im Alter von zwanzig Jahren gründete Viktor seine eigene Firma und brach mit seiner Familie. Sein Vater vergab ihm nie, dass er nicht in das Familienunternehmen eingestiegen war. Viktor war ein intelligenter Geschäftsmann, der sein wahres Vermögen jedoch durch das organisierte Verbrechen erworben hatte, spezialisiert auf Geldwäsche, Kunstfälschung und Menschenhandel. Er gehörte dem russischen Syndikat W.Z.O.R. an, das in den höchsten Kreisen operierte und vor keiner kriminellen Tat zurückschreckte. Jedoch war es bisher niemandem gelungen, Beweise vorzulegen, welche ihn vor Gericht brachten– auch nicht Eva. Blauäugig war sie letzten Sommer auf seinen Charme hereingefallen, als sie ihn im Restaurant Montana zum Abendessen getroffen hatte. Sie glaubte, in ihm einen wichtigen Zeugen gefunden zu haben, der ihr helfen konnte, den Menschenhändlerring zu überführen. Naiv war sie gewesen, nicht zu erkennen, dass er dazugehörte, ja in der Schweiz der Drahtzieher war. Viktor war ein Meister der Tarnung, lebte still und zurückgezogen in Sankt Petersburg und in seiner Villa in Küssnacht am Rigi. Er pendelte zwischen seinen beiden Wohnsitzen hin und her. Viktor war Witwer. Sein Sohn Denis war acht, zwei Jahre älter als Alain, und besuchte in Weggis ein Internat.

«Trinken Sie, Eva.» Er hielt ihr erneut die Flasche hin. «Ist wichtig.»

Kein russischer Akzent war zu hören, er sprach perfektes Hochdeutsch.

«Was wollen Sie von mir?» Sprechen fiel ihr schwer, die Worte kamen stockend über die Lippen. «Werden Sie mich… umbringen?»

«Nein.»

Die Antwort hätte sie beruhigen sollen, tat es aber nicht. «Wollen Sie mich wieder zusammenschlagen, wie letzten Sommer?» Ihre Stimme kam zurück. Auch ihr Mut. Sie griff nach der Wasserflasche. «Wollen Sie ein weiteres Exempel statuieren, damit ich mich von dem Fall mit dem Jungen zurückziehe?»

«Das ist heute nicht der Plan, im Gegenteil.» Er lächelte und senkte den Kopf. Sein Gesichtsausdruck wirkte traurig, fast verletzlich.

Sei vorsichtig, dachte Eva, er ist geschickt, täuscht echte Gefühle vor. Ein kalter, herzloser Hund ist das.

«Ich möchte, dass wir Freunde werden», sagte Viktor.

«Sie… was? Sie haben mich letzten Sommer halb totschlagen lassen.»

«Falsch. Ich habe Ihnen das Leben gerettet.»

Eva konnte ein Schluchzen nicht mehr zurückhalten. Die ganzen Bilder kamen hoch. Ihr Magen verkrampfte sich, und sie begann zu würgen, schnappte nach Luft und brachte kein Wort mehr über ihre Lippen.

***

Hans Peter Banz nahm den Raum für sich ein. Cem hatte sich in die Ecke beim Fenster zurückgezogen und beobachtete, wie Barbara zu Banz hochstarrte. Morgen würde sie Nackenschmerzen haben. Die gute Barbara war es nicht gewohnt, zu einem Kollegen aufzuschauen, da sie das Team von Leib und Leben um einen Kopf überragte. Banz war ein anderes Kaliber. Ein Hüne, breitschultrig, mit vollem Bart bis hinunter zum Brustbein. Seine Haare waren dunkel, fast schwarz, auf dem Kopf kurz geschnitten. Die Augen lagen tief unter kräftigen Augenbrauen. Cem liess sich von seinem rustikalen Aussehen nicht mehr täuschen. Auch wenn Banz aussah wie ein Älpler, er war ein weltoffener Mann, der weit gereist und sportlich in Hochform war, ein begnadeter Kletterer und Mountainbiker.

«Was suchst du bei uns?», fragte Barbara und legte ihm drohend den Zeigefinger auf die Brust.

«Ihr braucht einen Nachfolger für Gehringer und habt euch für mich entschieden.» Banz’ Lippen waren unter dem Bart nicht auszumachen, aber Cem erkannte den Schalk in seinen wachen Augen.

«Das war die Personalabteilung», korrigierte Barbara und schnellte zu Susanne herum. «Du hast es gewusst? Warum wurde ich nicht informiert?»

«Um mir dein Gezeter nicht anhören zu müssen. Ihr werdet ein tolles Paar abgeben. Ich habe ab sofort die beiden besten Chefermittler aller schweizerischen Polizeikorps unter mir.»

«Ein tolles Paar? Träum weiter.» Barbara drehte sich zu Banz um. «Weshalb willst du von den Obwaldnern weg?»

«Budgetkürzungen. Stellenabbau. Ich bin freiwillig gegangen, damit meine Kollegen bleiben können. Bei euch war eine Stelle ausgeschrieben, und da ihr seit dem Fall auf dem Titlis fast schon wie Familie für mich seid, dachte ich, es wäre ganz… nett, mit euch zusammenzuarbeiten.»

«Nett?» Barbaras Zeigefinger schnellte in die Höhe. «Wir sind einmal ausgegangen. Einmal. Das nennt man Stalking, was du hier tust.» Aufgewühlt wandte sich Barbara an Susanne. «Du kennst mich, Susi, das ist nicht fair. Das könnt ihr nicht machen.»

«War das Date so schrecklich?», fragte Cem.

Barbara schoss herum. «Halt dich da raus, Grünschnabel.»

«Er ist der Richtige», sagte Susanne ruhig. «Der Richtige für unser Team.»

Barbara prustete Luft durch die Lippen und verliess das Büro. Einen Augenblick war es beklemmend still. Die Reaktion von Barbara war logisch. Jahrelang hatte sie eine heimliche Liebschaft mit Rolf Wymann, Susannes Vorgänger. Barbara wollte Privates von der Arbeit getrennt halten. Nach Wymanns gewaltsamem Tod letzten Oktober vor dem KKL hatte Barbara gelitten, bis sie im April auf Banz traf. Hatte sie Angst, sich erneut in einen Kollegen zu verlieben? Die Zusammenarbeit mit Banz in dem Fall um die tote Braut auf dem Titlis hatte ihre Lebensgeister geweckt. Die direkte, raue, aber ehrliche Art des Obwaldners holte sie zurück ins Leben. Vielleicht war es die Aussprache mit Susanne gewesen. Cem hatte nie erfahren, was in der Nacht im Hotel zwischen den beiden Frauen vorgefallen war, aber Barbara war danach wieder ganz die Alte und beendete das Trauern um Wymann. Komplizierend kam Dave Berger ins Spiel. Der glatzköpfige Professor vom Institut für Rechtsmedizin in Zürich warb offen um Barbaras Gunst. Als Rocker und Bodybuilder konnte es Berger, dessen Vater Afroamerikaner war, durchaus mit Banz aufnehmen. Hier warben zwei Titanen um eine Amazone, das konnte spannend werden. Cem schob den Gedanken beiseite und trat vor Banz. Wenigstens beugte das Hochschauen seinem drohenden Doppelkinn vor. «Hey, cool, dass du zu uns übergelaufen bist. Herzlich willkommen, Mann.» Er reichte Banz die Hand.

Das Telefon auf Susannes Tisch klingelte. Sie ging ran und hörte einen Moment zu. Der Blick, den sie Cem zuwarf, gefiel ihm nicht. «In Ordnung, bleiben Sie vor Ort. Wir sind unterwegs.»

«Ein Fall?», fragte Cem.

Susanne schien nach den richtigen Worten zu suchen. «Banz, ich will, dass du mit Cem mitgehst. Ihr fahrt sofort ins Bahnhofparking3, zweiter Stock. Passanten glauben beobachtet zu haben, wie eine Frau in einem weissen Kastenwagen einer Luzerner Bäckerei entführt wurde. Die Sicherheitspolizei ist vor Ort und hat die Aussagen aufgenommen.» Sie schaute Cem an. «Unsere Kollegen haben das Nummernschild des Wagens überprüft, in welchen die Frau einsteigen wollte. Es ist ein AudiR8Coupé. Neben der Fahrertür haben sie zudem einen einzelnen Schuh gefunden. Einen schwarzen Stöckelschuh.»

«Christian Louboutin», sagte Cem.

«Ähm, wer?», fragte Susanne überrascht.

«Dieser verfluchte Russe!» Cem ballte seine Hände zu Fäusten. Er würde diesen Dreckskerl eigenhändig ermorden, wenn er ihn zu fassen kriegte.

«Louboutin klingt nicht russisch. Wer ist der Mann?», fragte Kevin.

Susanne räusperte sich. «Ich warte auf die Bilder der Überwachungskameras, und ich lasse sofort Evas Handy orten.» Sie griff zum Telefon.

Verständnislos blickte Banz Cem an. «Was ist passiert?»

«Eva», antwortete Kevin, da Cem kein Wort über die Lippen brachte. «Eva wurde entführt.»

«Von einem Christian Louboutin?», fragte Banz.

Als wäre es das Stichwort, rannte Cem aus dem Büro, zückte sein Mobiltelefon und wählte Evas Nummer. Erfolglos. Ihr Handy war ausgeschaltet.

***

«Wir müssen uns besser kennenlernen», sagte Viktor und lehnte sich an die Rückwand des fensterlosen Kastenwagens. «Ich weiss, unser erstes Treffen im ‹Montana› war wesentlich angenehmer, aber wären Sie denn einer zweiten Einladung meinerseits gefolgt?»

«Sie haben mich halb totschlagen lassen und jetzt erneut betäubt und entführt. Was wollen Sie von mir?»

«Geschäftliche Zusammenarbeit», sagte er, als wäre es das Normalste der Welt.

«Ich soll mit Ihnen zusammenarbeiten? Sie sind ein Menschenhändler. Sie versklaven unschuldige junge Mädchen. Sie morden, foltern, betrügen…»

«Ja, es ist ein mieses Geschäft.»

Eva zitterte am ganzen Körper, doch wollte sie Viktor diese Genugtuung nicht geben. Er durfte ihre Angst nicht sehen, deshalb kanalisierte sie ihre Emotionen in Wut. Sie explodierte. «Sie mieses Schwein! Sie elender Hund. Sie gehören dem schlimmsten Abschaum der Menschheit an. Ich werde Sie kriegen und die Todesstrafe in der Schweiz wieder einführen.»

Viktor legte den Kopf schief. War er amüsiert? Seine Reaktion liess Evas Blut kochen. Sie wollte zu einem nächsten Schwall an Fluchwörtern und Beleidigungen ausholen, als Viktor die Hand hob und sie mit einem Zeichen zum Schweigen brachte. «Wie geht es Alain?», fragte er, als wäre er der freundliche Nachbar von nebenan.

Wie konnte sich hinter dieser sympathischen, gut aussehenden Maske ein so abgrundböser Mensch verbergen? Eva hielt sich die zitternden Finger vor den Mund. Sie durfte kein falsches Wort mehr sagen, wollte sie ihren Sohn nicht in Lebensgefahr bringen. Ein einziges Wort von ihm hatte gereicht, und sie war zu Viktors Sklavin geworden.

«Es ist eine Gemeinsamkeit, die wir teilen», fuhr er fort, ungezwungen, als spräche er über das Wetter. «Alain ist sechs, nicht? Mein Denis ist acht. Jungs sind toll in dem Alter.» Er seufzte. «Meine Frau starb früh. Denis war damals erst zwei. Es ist eine Herausforderung, ein Kind allein aufzuziehen. Es wird zum Mittelpunkt des Lebens. Sie kennen das. Für unsere Kinder würden wir beide alles tun.» Viktor schaute sie intensiv an, ein Blick, den Eva nicht deuten konnte.

Ihre Angst wich einer Panik, die sie nie zuvor in ihrem Leben verspürt hatte.

***

Banz musste sich an der Tür festhalten, als Cem das Lenkrad des Dienstwagens herumriss und rechts auf den Hallwilerweg einbog. Er fluchte und drückte wild auf die Hupe. Wie üblich war die Strasse verstopft. Er trat hart auf die Bremse.

«Kannst du einen Gang runterschalten?», fragte Banz. «Wenn nicht, lass mich ans Steuer.»

«Eva ist in Lebensgefahr.»

«Ja, und wir beide auch, wenn du wie ein Idiot bis zum Bahnhof fahren willst. Kriegst du deine Emotionen nicht in den Griff, bist du vom Dienst suspendiert. Subito. So habe ich mir meine erste Amtshandlung bei euch Luzernern nicht vorgestellt.»

«Sie ist–»

«Eva ist stark. Sie packt das. Und wir verhalten uns wie Profis und helfen ihr.»

Cem ging auf Abstand zu dem roten Opel vor ihm. Der Verkehr war zu dicht, da gab es kein schnelles Durchkommen. An der Verkehrsampel mussten sie eine gefühlte Ewigkeit warten, bis das Signal auf Grün schaltete. Cem bog links in die Pilatusstrasse ein.

«Klär mich auf. Weshalb ist Eva in Lebensgefahr?» Banz war nicht dazu gekommen, sich die Lebensläufe seiner Kollegen bei Polizei und Staatsanwaltschaft durchzusehen. Der Transfer zu den Luzernern war überraschend schnell über die Bühne gegangen.

«Bis letztes Jahr hat Eva an einem Fall gearbeitet, bei dem es um junge Frauen aus dem Ostblock geht, die unter falschen Versprechungen in die Schweiz gelockt und zur Prostitution gezwungen werden.»

«Sexsklavinnen.»

«Ja.» Cem atmete heftig durch. «Der Menschenhandel ist professionell organisiert, ein russisches Syndikat steckt dahinter. Eva stand mit den russischen Behörden in Kontakt, aber sie kam nicht an die Hintermänner heran. Im letzten Frühling endlich ein kleiner Durchbruch. Versteckt in einer Lieferung Antiquitäten wurde ein ukrainisches Mädchen am Zoll festgenommen. Sie sprach kein Wort, wurde gebüsst und wieder zurück in ihre Heimat geschickt.» Cem ignorierte das Rotlicht und bog rechts auf den Bahnhofplatz ein. Der Fahrer eines Wagens, der abrupt abbremsen musste, hupte wütend. «Die Lieferung war indirekt auf einen Viktor Romanowitsch Kasakow zurückzuführen, ein schwerreicher Antiquitätenhändler mit Wohnsitz in der Schweiz und in Sankt Petersburg. Eva fehlten die Beweise, um ihn vorzuladen. Er konnte glaubwürdig nachweisen, dass eine Drittfirma für den Transport beauftragt wurde. Sie versuchte während Monaten, mit ihm in Kontakt zu treten, da sie glaubte, er wisse Details über das Syndikat, die ihr weiterhelfen konnten. Im August meldete sich Viktor bei ihr und lud sie zum Abendessen ins ‹Montana› ein.– Ich hätte mit ihr gehen sollen…»

Cem hämmerte so plötzlich auf das Lenkrad, dass Banz zurückschreckte. Der Fall war für Cem mehr als persönlich. Ungünstige Voraussetzungen, um professionell zu arbeiten. Erneut riss er den Wagen nach rechts und fuhr hinauf zur Einfahrt des Bahnhofparkings3. «Viktor hat Eva an diesem Abend betäubt und entführen lassen. Sie wachte auf einer Parkbank bei der Ufschötti auf, umzingelt von drei Schlägertypen.» Cem schluckte schwer. «Die haben sie halb totgeprügelt. Danach lag sie mehrere Tage im Spital.»

Eine Ansage der russischen Mafia, dachte Banz, damit sich Eva aus ihren Angelegenheiten raushielt.

Cem bremste hart vor der Schranke und drückte auf «Ticketausgabe». «Wir fanden die Schläger nie und konnten Viktor den Auftrag zur Tat nicht nachweisen. Eva hat sich von dem Fall des Syndikats zurückgezogen. Ihre Angst war zu gross. Sie hat einen Sohn. Sie konnte nicht riskieren, ihn in Gefahr zu bringen.»

«Weshalb ist Viktor zurück?»

Die Schranke öffnete sich, Cem gab Gas und fuhr hoch auf die zweite Ebene. «Weshalb? Wegen Lila, meiner Ex. Lange Geschichte, erzähle ich dir später. Sie hat wieder einmal impulsiv gehandelt und die Russen ins Spiel zurückgebracht. Ich bringe sie um, wenn ich sie das nächste Mal sehe.»

«Das habe ich überhört», knurrte Banz. Vor sich sah er den Streifenwagen, geparkt neben einem schwarzen AudiR8Coupé. Ein Beamter in Uniform steckte den vermeintlichen Tatort ab. Ein zweiter Kollege unterhielt sich mit einem jungen Paar, das sich an den Händen hielt.

Cem trat harsch auf die Bremse und sprang aus dem Wagen. Banz folgte ihm. Am Boden sah er einen Schuh liegen, gleich neben der Fahrertür des Audi. Ein edler Schuh, schwarzes, glänzendes Leder mit beachtlichem Absatz und roter Schuhsohle.

Fassungslos starrte Cem ebenfalls auf den einen Schuh. «Christian Louboutin», keuchte er.

***

«Vertrauen Sie mir? Nein? Das müssen wir ändern. Letzten Sommer wollten Sie meine Hilfe, und ich konnte sie Ihnen nur bedingt geben.»

«Sie erkauften sich mein Schweigen durch Folter», kam es Eva über die Lippen. Nie zuvor hatte sie die Wahrheit mit so deutlichen Worten ausgesprochen.

«Als Geschäftsmann», Viktor streckte entschuldigend die Hand aus, «musste ich mich zwischen zwei Optionen entscheiden. Option eins war, durch körperliche Bestrafung sicherzustellen, dass Sie Ihre hübsche Nase nicht mehr in die Angelegenheiten der russischen Mafia steckten. Option zwei, Sie durch Ihren Tod zum Schweigen zu bringen.»

Eva schnappte nach Luft. Viktor sprach über ihr Leben, als ob er abwägte, ein altes Sofa zu restaurieren oder es als Sperrgut zu entsorgen.

«Option zwei wäre der sicherere Weg gewesen. Mit Option eins ging ich ein Risiko ein.»

Eva fasste all ihren Mut. «Option drei haben Sie ausgelassen. Sie hätten mir helfen können und mich meine Arbeit tun lassen sollen.»

Viktor schüttelte den Kopf. «Leider gab es nie eine Option drei. Hätte ich mich nicht entschieden, wäre das Syndikat eingesprungen und hätte kurzen Prozess mit Ihnen gemacht. Meine Auftraggeber waren diesbezüglich nicht zum Verhandeln bereit. Ich habe es versucht, aber das glauben Sie mir ja doch nicht.»

«Soll ich Ihnen als meinem edlen Lebensretter um den Hals fallen?» Eva starrte ihn entgeistert an. Er meinte seine Worte bitterernst. Oder spielte er mit ihr?

Sein Lächeln war herzlich. «Ein schlichtes Danke reicht.»

Evas Impulskontrolle versagte. Ihre Finger umklammerten die Wasserflasche, als sie reflexartig den Arm hob und Viktor die Flasche mit voller Wucht an den Kopf schmiss. Sie explodierte regelrecht, und das Wasser ergoss sich über Viktors Kopf. Komplett von ihrer Aktion überrumpelt, hielt er sich schützend die Arme vors Gesicht. Eva nutzte die Sekunde der Ablenkung, griff nach ihrem linken Christian Louboutin, schoss auf und riss in gebückter Haltung die Hand mit dem Absatzschuh hoch, bevor sie ihn krachend auf Viktors Kopf niederschmetterte. «Du elendes, mieses Arschloch! Ich werde nicht erneut dein wehrloses Opfer. Ich gebe nicht kampflos auf.»

Viktor schützte seinen Kopf, als Eva heftig auf ihn einschlug. Der vierte Schlag traf ihn so hart an der Schläfe, dass er nach vorne fiel. Sie nutzte die Chance, hechtete zur Schiebetür und riss sie auf. Sie erwartete, irgendwo im Niemandsland gestrandet zu sein, auf einem verlassenen Feld, im Wald, in einer Tiefgarage… Stattdessen stand der Kastenwagen auf dem Besucherparkfeld vor ihrem Wohnhaus, direkt am See in Stansstad.

Sie war zu Hause.

Eva hörte, wie Viktor sich hinter ihr bewegte. Panisch sprang sie aus dem Wagen zur rettenden Haustür. Sie war abgeschlossen. Ihre Handtasche mit dem Schlüsselbund, die lag im Kastenwagen. Eva drehte sich um und drückte sich an die gläserne Haustür. Sollte sie um Hilfe schreien? Auf dem Trottoir der Achereggstrasse sah sie eine Seniorin, die ihren Pudel spazieren führte. Sie schenkte Eva keine Beachtung.

Viktor stieg aus dem Wagen, blieb aber stehen. Er hielt sich den Kopf. Der Absatz des Schuhs hatte eine Platzwunde an der Schläfe aufgerissen, die stark blutete. Viktor griff im Wagen nach ihrer Handtasche und warf sie Eva vor die Füsse. Dann ging er um den Wagen herum, setzte sich auf den Fahrersitz und fuhr los.

Zitternd starrte Eva ihm nach, unfähig, sich zu rühren. Wie hatte sie Viktor so leicht ausser Gefecht setzen können? Wollte er sie nicht zurückhalten?

Was war der Sinn dieser Entführung?

***

Als der Anruf ihn vor knapp fünfzehn Minuten erreichte, hätte Cem auf die Knie fallen können. Er schenkte Allah ein Stossgebet, sprintete zurück in den Dienstwagen und raste los, Banz’ Rufe ignorierend. Evas Stimme am Telefon war aufgelöst gewesen. Sie sei zu Hause, sagte sie, er solle sofort heimkommen. Wenn Eva fluchte, ging es ihr schlecht, aber sie war zu Hause und sie lebte– unversehrt.

Mit quietschenden Reifen stoppte Cem den Wagen direkt vor dem Eingang des Wohnhauses in Stansstad. Er sprintete das Treppenhaus hoch zur Wohnung, schloss sie auf und rief nach Eva. Antwort bekam er keine. Er schaute in der Küche nach, im Wohnzimmer und fand sie schliesslich im Schlafzimmer, fest in die Decke gewickelt, obwohl es draussen an diesem späten Nachmittag bestimmt noch dreissig Grad waren. «Hey, Küçüğüm…» Er setzte sich auf die Bettkante und strich ihr über den Kopf. So unauffällig wie möglich suchte er nach Merkmalen physischer Gewalt. Zu seiner Erleichterung fand er keine. «Alles gut, ich bin hier.» Ihr Stolz liess es nicht zu, in Tränen auszubrechen. Sie kämpfte hart dagegen an. Ihr Kinn zitterte. Cem rückte näher und nahm sie in den Arm.

«Er… er hat mich entführt.»

«Wissen wir. Passanten haben es im Parkhaus beobachtet. Hat er dir wehgetan? Hat er…» Ein schrecklicher Gedanke kam Cem. Seine Brust zog sich zusammen.

«Nein, hat er nicht. Er hat mit mir… geredet, gedroht, aber er hat das Gespräch nicht unbeschadet überstanden. Mein Stöckelschuh wurde zur Waffe, und ich konnte entkommen… zu leicht entkommen. Dieser dreiste Barbar. Er hat den Lieferwagen direkt hier parkiert, vor meiner Wohnung. Ihr müsst ihn finden.» Sie schluchzte. «Cem, hol Alain her, sofort. Und lass meine Eltern beschützen. Niemand ist vor Viktor sicher, niemand, der mir nahesteht.»

Cem zögerte keine Sekunde. Er rief Susanne an, klärte sie kurz auf und verlangte, dass sofort ein Wagen der Sicherheitspolizei zu Familie Roos auf den Hof fuhr. «Komm», sagte Cem und steckte das Telefon weg, «ich koche uns Tee, wir setzen uns aufs Sofa, und du erzählst, was passiert ist, okay?» Er strich ihr mit den Fingern eine Haarsträhne aus der Stirn.

Eine halbe Stunde später war Eva auf dem Sofa eingeschlafen. Cem zog die Vorhänge zu und ging in die Küche. Er rief Banz zurück, der fünfmal versucht hatte, ihn zu erreichen. «Sag mir, dass ihr dem Mistkerl auf der Spur seid.» Cem schlug mit der flachen Hand auf den Marmor der Küchenabdeckung.

«Wir haben den Lieferwagen der Bäckerei Portmann vor fünf Minuten in Horw gefunden, verlassen in einer Quartierstrasse. Die Spurensicherung ist unterwegs. Es soll Blutspuren im Inneren geben.»

«Das war Christian Louboutin.»

«Klärst du mich endlich über diesen Typen auf? Was hat der mit unserem Fall zu tun?»

«Finde es selbst heraus», sagte Cem. Er genoss den Moment, Banz im Dunkeln zu lassen. «Google kennt Louboutin. Wie geht es Alain und meinen Schwiegereltern?»

«Gut. Kollegen von uns sind bei ihnen. Sie bringen Alain mit einem Streifenwagen in der nächsten halben Stunde zu euch. Barbara und Kevin sollten auch gleich bei euch sein. Wir mussten unsere Nidwaldner Kollegen einschalten. Stansstad ist ihr Hoheitsgebiet.»

«Okay, danke.» Cem legte auf.

DREI

«Was ist an dem Wort ‹lebensgefährlich› so schwer zu verstehen?» Susanne knallte den Hörer des Telefons zurück auf den Apparat.

«Will das Gericht den Fall nicht verschieben?», fragte Kevin.

«Eine Woche, eine läppische Woche. Wir müssen diesen Russen rasch zu fassen kriegen. Eva ist in Gefahr, das können wir nicht leugnen.»

«Und wenn sie den Fall abgibt?»

«Die haben niemanden, der die Eier hat, sie zu vertreten. Wie geht es den dreien?»

Kevin zog einen Stuhl heran und setzte sich. «Ich habe ihnen heute Morgen frische Gipfeli gebracht. Alain weiss von nichts. Er fand es cool, gestern in einem Streifenwagen nach Hause zu fahren. Eva wirkte gefasst. Einzig Cem war nicht fähig, für eine Minute still zu sitzen. Er will Viktor fassen, um jeden Preis.»

«Genau das macht mir Sorgen. Cem ist emotional zu sehr involviert. Er muss sich bei unseren Ermittlungen möglichst raushalten.» Susanne wischte sich ihre Brillengläser an ihrem übergrossen T-Shirt sauber. «Eva hat von den Nidwaldnern bereits Personenschutz erhalten. Kollegen sind vor dem Haus in Position.» Sie setzte sich die runde Brille auf die Nase. «Du warst vorhin unten bei der Spurensicherung. Neuigkeiten?»

«Sie haben Blut im Inneren des Lieferwagens gefunden, auf dem Lenkrad und auf dem Sicherheitsgurt des Fahrersitzes, aber nicht im Laderaum. Leider haben wir von Viktor keine DNA für einen Abgleich. Er ist nicht in unserem System erfasst. Fingerabdrücke gibt es im Wagen keine. Er war vorsichtig.»

«Wie kommt Viktor zum Lieferwagen der Grossbäckerei Portmann?»

«Der Besitzer behauptet, der Wagen sei gestohlen. Wir arbeiten an den Details.»

«Was ist mit den Bildern der Überwachungskamera im Parkhaus?»

«Viktor hat peinlich genau darauf geachtet, nie erfasst zu werden. Wir sehen nur den Lieferwagen.»

Susanne verwarf die Hände. «Das ergibt alles keinen Sinn. Weshalb entführt Viktor Eva und fährt sie heim?»

«Einschüchterung.»

«Barbara und Banz sollen zu der Staatsanwaltschaft nach Kriens fahren. Oberstaatsanwalt Kernen ist informiert und arbeitet mit ihnen zusammen. Ich will, dass die beiden in den alten Akten von Eva stöbern und alles über diesen Viktor Romanowitsch Kasakow in Erfahrung bringen. Ich will wissen, welche Windeln er getragen hat, wie sein erster Schulschatz hiess und wann er die letzte Prostata-Untersuchung hatte.»

Kevin runzelte die Stirn. «Prostata?»

«Sicher. Prostata.»

Kevin stand auf. «Du denkst, Barbara und Banz zusammen…»

«Lass die machen. Vermutlich fliegen die Fetzen, bis die Rangordnung feststeht, aber sie werden es überleben. Zurück zum Alltag. Welche anderen Fälle stehen an?»

«Einige Einbrüche, einfache Körperverletzung, nichts Dramatisches.» Kevin hob die Hand. «Ah, bevor ich es vergesse. Unten sitzt eine nette Seniorin, die mit jemandem von uns sprechen will. Sie will sich Roland vom Empfang nicht anvertrauen. Es sei wichtig.»

«So wichtig, dass sie gleich bei Leib und Leben anklopft?»

«Das sagt sie. Laut Roland ist sie äusserst gelassen und ruhig… Sie strickt.»

«Was?»

«Woher soll ich das wissen? Einen Pullover oder eine Mütze? Sie ist kaum hier, um einen Mord zu melden. Vielleicht wurde ihr Hund vergiftet.»

«Jungchen, lass dich nicht von entspannten, strickenden Omas täuschen.» Susanne setzte sich hinter ihren Tisch. «Schick die Dame hoch. Ich übernehme persönlich ihr Anliegen.»

***

Cem betrat die Liftkabine und fuhr hoch in den sechsten Stock der Polizeizentrale, wo das Büro lag, das er sich mit Kevin teilte. Er ging auf den Flur hinaus, griff nach seinem Handy und rief Eva an. Sie reklamierte, weil er sich alle zehn Minuten bei ihr meldete, schliesslich habe sie Polizeischutz vor dem Haus, er solle einen Gang zurückschalten.

Als Cem das Mobiltelefon zurück in seine Jeanstasche steckte, war er kein bisschen ruhiger. Energisch öffnete er die Tür zu seinem Büro. «Sag mal, Kevin, wo… Wer sind Sie?» Er starrte auf die ältere Dame, die auf seinem Stuhl hinter dem Tisch sass und Jasskarten sortierte. Sie blickte auf und strahlte. «Guten Morgen, junger Mann, Sie müssen der besagte Cem Cengiz sein. Ihre Chefin hat von Ihnen geschwärmt.»

Irritiert starrte Cem zu Kevins Arbeitsplatz hinüber, der leer war. «Wo ist mein Kollege?»

«Er ist reizend. So einen Schwiegersohn hätte ich gerne. Leider waren mir eigene Kinder vergönnt. Er ist extra über die Strasse, um mir in einem Café einen Verveine-Tee zu besorgen. Aber bitte, setzen Sie sich, damit wir über die ermordete junge Frau sprechen können.» Sie zeigte auf den Stuhl an seinem Tisch, der für Kunden reserviert war.

«Wer ist tot?» Hatte sich Cem verhört?

«Weiss ich nicht. Sie ist hübsch.»

«Und tot.»

«Sage ich doch. Sind Sie schwer von Begriff? Das ist ungünstig, wenn Sie bei der Polizei arbeiten wollen.»

«Entschuldigung. Ich will nicht bei der Polizei arbeiten, ich tue es. Ich bin Cem Cengiz, Ermittler bei Leib und Leben, und Sie, gute Frau, Sie sitzen auf meinem Stuhl.»

«Ja, der ist wesentlich bequemer als der Holzstuhl für die Besucher. Sie werden den doch nicht einer Seniorin zumuten?»

Cem zog die Baseballmütze vom Kopf und rieb sich den Haaransatz. Konnte es sein, dass er kurzzeitig überfordert war? Hatte sich eine Irre in sein Büro verlaufen?

Ohne Vorwarnung schlug sie mit der flachen Hand auf den Tisch. Cem machte einen Schritt rückwärts. «Setzen Sie sich, oder ich bekomme einen steifen Nacken. Wir müssen über die Tote reden.»

Cem hatte keine Ahnung, weshalb er gehorchte.