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Anton Glock ist auf dem Weg nach oben. Als man ihm anbietet, die Leitung der zentralen Strategieabteilung eines großen Münchner Konzerns, der Schuegraf AG, zu übernehmen, überschlagen sich plötzlich die Ereignisse: Eine Bekannte wird brutal verstümmelt, sein Vorgesetzter begeht Selbstmord und er erhält mysteriöse Drohbotschaften. Der ehrgeizige Glock muss feststellen, dass in seinem neuen Verantwortungsbereich geheime Abteilungen existieren, die auf keinem Organisationsplan erscheinen. Er versucht, die Vorkommnisse zu verstehen und dringt dabei tief in die Strukturen und inoffiziellen Netzwerke des Konzerns ein, den er bisher so gut zu kennen geglaubt hatte …
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Seitenzahl: 364
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Rainer C. Koppitz
Machtrausch
Wirtschaftskrimi
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von photocase.de
ISBN 978-3-8392-3186-9
Bibliografische Information
der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
Ob sich ein Mensch ohne Phantasie die Wirklichkeit vorstellen kann?
Ahmed:Tauchguide auf den Malediven
Alabanda, Hinko:Chef der Schuegraf AG in Italien
Beckendorf, Elisabeth:Seit dreißig Jahren Ehefrau von Kurt Beckendorf
Beckendorf, Kurt:Vorstandsvorsitzender (CEO) der Schuegraf AG.
Blaubusch, Josef:Enger Mitarbeiter Anton Glocks in der Strategieabteilung
Brosi, Josef:Ehemaliger Leiter der Schuegraf-Fabrik in Münster
Cerveny, Dagmar:Leiterin der Controlling-Abteilung bei Schuegraf
Emerson:Leiter der Schuegraf-Fabrik in Hannover
Fittkau, Erich Bruno:Leiter der Abteilung IA (Interne Angelegenheiten), einer Unterabteilung der AfU (Abteilung für Unternehmenssicherheit)
Frey, Peter:Chef der Schuegraf AG in England (UK)
Frühwein, Louise:Leiterin der Abteilung EA
Glock, Barbara:(geb. Eißner) Streitbare Ehefrau von Anton und Inhaberin eines Bioladens in München-Neuhausen
Glock, Dr. Anton: (Stellvertretender) Leiter der Strategieabteilung von Schuegraf
Hassan:Schulleiter auf der maledivischen Insel Noonufinolhu
Herb, Dr. Hans:Stellvertreter und Vorgänger von Dr. Minor Schachter-Radig
Hügel, Hermine:Personalchefin der Schuegraf AG
Kaltfeuer, Birgit:Mitarbeiterin der AfU
Klausing, Volker:Guter Freund von Anton Glock; arbeitsloser Schreiber von Kurzgeschichten und Stammgast im Irish Pub
Kroupa, Johann:Chef der Schuegraf AG in Österreich, Liebhaber von Wilhelm-Busch-Zitaten
Lachotta, Peter:Marketing-Chef der Schuegraf AG
Miller, Marvin Ray:Rechtsanwalt der Glocks
Nagelschneider, Heinrich:Finanzvorstand (CFO) der Schuegraf AG
Nockele, Frau:Treue Sekretärin von Röckl, Anton Glocks Vorgesetztem
Polster, Renate:Personalberaterin und Ex-Geliebte von Anton Glock, mit besten Kontakten in die Top-Etagen der Wirtschaft
Raps, Babette:Gute Freundin von Barbara Glock
Rauch, Alois:Mitarbeiter der Strategieabteilung, Lebenskünstler und Anton Glock freundschaftlich verbundener Kollege
Reissenbacher:Steuerberater der Glocks
Röckl, Josef:Chef der Strategieabteilung bei Schuegraf und Anton Glocks Vorgesetzter
Schachter-Radig, Dr. Minor:Leiter der Abteilung AE (Aktive Eingreiftruppe), einer Unterabteilung der AfU und Urheber der »Verbiegungs-Theorie«
Schuegraf, Eduard:Gründer des Familienunternehmens Schuegraf AG
Weizenbeck, Walter von:Vorstandschef der Schuegraf AG und Nachfolger von Kurt Beckendorf
Eröffnungsspiel: Englische Partie
»Dem Schicksal ist die Welt ein Schachbrett nur,
und wir sind Steine in des Schicksals Faust.«
Kurt sah seiner Frau vom Bett aus beim Baucheinziehen zu. Sie zwängte sich vor dem Spiegel des hölzernen Strandbungalows in ein viel zu enges Paillettenkleid. Der Vorgang rührte ihn zutiefst. Zu Beginn der Ehe wollte man die Macken des Partners nicht sehen oder man redete sie sich schön. Dann stieß man laufend darauf, versuchte die Macken auszumerzen und verzweifelte, da es nicht funktionierte und zu unschönen Auseinandersetzungen führte. In dieser Phase waren die meisten Ehen ihres Bekanntenkreises gescheitert. Elisabeth und Kurt Beckendorf hatten es bis in die letzte Phase geschafft, eine gelassene und liebevolle, gegenseitigen Toleranz. Heute hatten sie ihren dreißigsten Hochzeitstag und der sollte bei eiskaltem Champagner und frisch gefangenem Hummer gebührend gefeiert werden. Barfuß an einem Tisch im Korallensand direkt am Indik.
»Könntest du mir die Perlenkette zumachen, Schatz?«, bat ihn seine Frau. Er stand auf und fingerte an dem hakeligen Verschluss herum. Dann küsste er ihr liebevoll den Nacken und zog sich selbst an. Leichte beige Hose, schwarzes Polohemd, keine Schuhe. Der Weg zu ihrem Abendessen führte am Strand der kleinen Insel entlang an das andere Ende. Das gesamte Eiland war so klein, dass man es in gut zehn Minuten umrunden konnte. Außer ihrem gab es nur vierundzwanzig weitere Bungalows unter hohen Palmen direkt am Strand. Indischer Ozean, Furanafushi Island. Ihre Hochzeitsreise hatten sie seinerzeit auf einer kleinen Ostseeinsel verbracht, Südsee wäre damals finanziell noch undenkbar gewesen. Derartigen Luxus genossen sie gerade darum so sehr, als sie diesen eben auch heute noch nicht als selbstverständlich erachteten. Mittlerweile hatte Kurt eine eindrucksvolle Karriere hinter sich und war seit gut vier Jahren Vorstandschef der Schuegraf AG, einem großen deutschen Metallkonzern. Er liebte seinen Job, auch wenn er in letzter Zeit ziemlich vom Aufsichtsrat unter Druck gesetzt wurde. Die zehn Tage Malediven-Aufenthalt hatte er sich mühsam aus dem Terminkalender schneiden müssen.
Der frische Hummer vom Grill schmeckte wundervoll, sie bestellten zur Feier des Abends eine weitere Flasche Champagner und Kurt ließ eine dicke Montecristo-Zigarre in Rauch aufgehen.
»Erinnerst du dich an den Abend unserer Flitterwochen an der Ostsee, als wir Krabbenomelette und teuren Rheinriesling bis zum Abwinken bestellt haben?« Beide konnten sich sehr gut daran erinnern, denn die Geschichte erzählten sie sich an jedem Hochzeitstag erneut. Es war eines der in einer Ehe so wichtigen Rituale.
»Ja, Schatz. Und am Ende hatten wir unser Urlaubsgeld für fünf Tage an einem einzigen Abend auf den Kopf gehauen und lebten die nächsten Tage von Keksen und Apfelsaft – aber herrlich war es! Und wir würden die Köstlichkeiten heute doch gar nicht so genießen, wenn wir nicht auch andere Zeiten gehabt hätten, oder!?« Sie stießen einmal mehr an, und auch die zweite Flasche war bald geleert.
»Und morgen«, freute sich Elisabeth und zitierte eine Zigarettenreklame, »mache ich mal, was ich will: Nichts!«
»Und ich«, kündigte ihr Mann an, »werde mich in die blauen Fluten stürzen und zum Tauchen gehen! Wir haben für die Zeit unseres Urlaubs einen privaten Dive-Guide samt Boot zu unserer Verfügung, den wir jederzeit in Anspruch nehmen können. Ahmed heißt er und ich glaube, er war vor zwei Jahren auch schon hier. Ich habe heute kurz mit ihm gesprochen. Es gibt einen etwas weiter entfernten Tauchplatz namens ›Green Caves‹ mit vielen Höhlen, die innen wegen ihres dichten Bewuchses leuchtend grün schimmern. Und auf dem Riffdach wimmelt es vor lauter Rotfeuerfischen! Wir brechen sehr früh auf, und ich bin nachmittags wieder zurück.«
»Mach das – und übermorgen gehen wir dann gemeinsam tauchen!« Beide hatten vor einigen Jahren bei einem Seychellen-Urlaub das Tauchen gelernt und waren seitdem mindestens einmal pro Jahr in die wohltuend stille Welt unter Wasser abgetaucht.
Lange nach Mitternacht tranken sie einen Espresso, genossen ein abschließendes Glas Cognac und ermöglichten den Kellnern, den mittlerweile letzten Tisch am Strand abzudecken. Die anderen Gäste waren längst in ihren Bungalows oder in der Inselbar verschwunden. Eng umschlungen gingen Kurt und Elisabeth barfuß durch das warme Wasser am Strand zu ihrem Bungalow zurück. Die schlichten goldenen Eheringe, die sie vor über dreißig Jahren gemeinsam ausgesucht hatten, funkelten im Licht des klaren Sternenhimmels.
Am nächsten Morgen um acht klingelte der Wecker und Kurt stand leise auf, um Elisabeth nicht zu wecken. Er griff sich seine Sporttasche und machte sich in Richtung der kleinen Tauchbasis an der gegenüberliegenden Inselseite auf. Das kleine Holzboot lag zum Ablegen bereit am hölzernen Steg, direkt neben der Hütte der Tauchbasis. Drei Flaschen mit komprimierter Luft befanden sich schon an Bord (jeweils eine für den Guide, eine für ihn und eine als Ersatz) und Kurt begrüßte noch etwas müde Ahmed, einen kleinen freundlichen Burschen, mit dem er vorletztes Jahr bereits einmal getaucht war, so weit er sich erinnern konnte. Er verstaute seine Tasche mit dem Tauchjacket, den Flossen, der Brille und dem Atemgerät an Bord, holte noch einen Bleigürtel mit sechs Kilogramm aus der Tauchhütte und signalisierte Ahmed und dem ebenfalls einheimischen Bootsführer, dass er zum Ablegen bereit sei.
Die Insel Furanafushi war ziemlich in der Mitte des Korallenatolls, die ›Green Caves‹ lagen etwa eineinhalb Stunden Fahrzeit mit dem hölzernen Boot entfernt. Kurt legte sich, nur mit seiner Badehose bekleidet, auf den blau gestrichenen Boden des Bootes, während sie durch das fast unbewegte, türkisblaue Wasser glitten. Ahmed brachte ihm einen Kaffee und besprach mit ihm kurz das heutige Tauchprofil: Das Riff erhob sich nicht über den Wasserspiegel, sondern endete in acht Meter Tiefe. Es war fast kreisförmig und unterhalb des Riffdaches gab es rundum eine senkrechte Steilwand mit vielen Aushöhlungen und Überhängen. In vielen davon fand man einen ungewöhnlichen, intensiv grünen Algenbewuchs, weshalb der Tauchplatz auch ›Green Caves‹ genannt wurde. Sie würden kurz vor der Steilwand vom Boot ins Wasser springen und dann zu zweit, je nach Strömung, im oder gegen den Uhrzeigersinn einmal um das Riff herumtauchen. Maximal achtundzwanzig Meter tief, die schönsten Überhänge befanden sich ohnehin in etwa zwanzig Meter Tiefe. Nach ungefähr vierzig Minuten wollten sie dann langsam auf das Riffdach tauchen, um den Tauchgang dort gemütlich ausklingen zu lassen. Es gab dort eine Menge Rotfeuerfische, die mit ihrem tiefroten Gefieder zu den schönsten und eigentümlichsten Fischen der Tropen zählten. Die Berührung mit ihren Stacheln war hochgiftig. Kurt nickte. Er hatte bereits über vierhundert Tauchgänge in den unterschiedlichsten Gewässern hinter sich gebracht, viele davon an Riffen, die den Green Caves stark ähnelten. Danach zog sich Ahmed wieder in den hinteren Teil des Bootes zurück, um sich mit dem Bootsführer zu unterhalten. Beide lachten häufig. Kurt schlürfte langsam den heißen Instantkaffee und, wie leider viel zu oft, schweiften seine Gedanken in Richtung der Firma ab. Die Schuegraf AG, deren Chef er war, war weltweit aktiv und machte ordentlich Gewinn. Bisher immer ausreichend. Doch neuerdings gehörte die Mehrheit der Firma nicht mehr der ursprünglichen Gründerfamilie Schuegraf, sondern einer Gruppe englischer Investoren. Jenen schien die Dividende plötzlich zu niedrig zu sein, und über ihre Vertreter im Aufsichtsrat verliehen sie immer stärker der Meinung Ausdruck, man müsse größere Anstrengungen unternehmen, das in der Firma schlummernde Potential auszuschöpfen. Dies war die positive Umschreibung von: Trennung von renditeschwachen Unternehmensteilen, Aussortieren von Lieferanten, die nicht jährlich ihre Preise im zweistelligen Prozentbereich reduzieren konnten und, womit er am meisten haderte, radikale Verlagerung von Fertigungskapazitäten aus Deutschland in Länder mit niedrigeren Löhnen. Bislang hatte er sich dem widersetzen können, hätten die geforderten Schritte doch eine klare Abkehr von seinem Prinzip bedeutet, einen ausgewogenen Kurs zwischen den Interessen von Kunden, Aktionären, Lieferanten und den über dreißigtausend Mitarbeitern zu fahren. Er fragte sich, wie lange er diese anscheinend aus der Mode gekommene Linie noch weiterverfolgen konnte, ohne dass es zum offenen Dissens zwischen ihm und den neuen Eignern kommen würde. Der Versuch, diese Gedanken zurückzudrängen und sich auf die friedfertige Stimmung des Indischen Ozeans und das gleichmäßige Motorgeräusch des Schiffsdiesels zu konzentrieren, gelang ihm nicht völlig.
Nach fast neunzig Minuten geruhsamer Fahrt, bei der sie lediglich zwei kleinen Fischerbooten begegnet waren, verlangsamte der Bootsführer das Schiff. Mitten im offenen Meer, in der Ferne war das Sandweiß und Palmengrün der nächstgelegenen kleinen Inselchen zu erkennen, blieb das Dhoni schließlich bewegungslos auf der glatten Wasserfläche liegen. Hier, direkt unter ihnen, mussten die Green Caves liegen, ein Riff, das so tief unter der Wasseroberfläche endete, dass Kurt Beckendorf von oben mit seinen ungeübten Augen annähernd nichts sah – außer Wasser. Ahmed bedeutete ihm, er solle sich tauchfertig machen. Daraufhin begab er sich zu seiner Tasche, montierte mit geübten Griffen Tauchjacket und Atemgerät auf die bereitstehende 12- kg-Aluflasche und zog sich mühsam den drei Millimeter dicken Neoprenanzug sowie die Füßlinge an. Um das Anlaufen im Wasser zu verhindern, verteilte er etwas Spucke in seiner Taucherbrille und wusch sie mit einem Schluck aus der Süßwasserflasche wieder aus. Dann legte er Bleigürtel und die quietschorangen Flossen an, bevor ihm Ahmed in das Jacket mit der Flasche hinein half. Abschließend reichte ihm der Tauchguide einen Leihcomputer in der Größe einer dicken Armbanduhr, den er am linken Handgelenk befestigte. Ahmed selbst brauchte keine zwei Minuten, um sich ebenfalls bereit zu machen. Sie griffen nach den schweren Tauchlampen und setzten die Masken auf.
Der Sprung vom Boot ins kristallklare Wasser war mit das Schönste beim Tauchen, fand Kurt. An der Wasser-oberfläche gaben sich Ahmed und er kurz das OK-Zeichen, ein mit Daumen und Zeigefinger gebildeter Kreis, worauf sie sich durch den abwärts gerichteten Daumen bedeuteten, jetzt gemeinsam abzutauchen. Beide drückten an ihrem Inflatorschlauch den Auslassknopf, der die Luft langsam aus dem Jacket entweichen ließ. Die Schwerkraft und der Bleigürtel taten ihre Arbeit, die beiden Taucher sanken langsam unter die Wasseroberfläche. Sofort wurde es still, und sie hörten nur noch das Blubbern des eigenen Luftausatmens. Kurt hielt sich mit der rechten Hand die Nasenlöcher durch die Silikonmaske hindurch zu und blies Luft in die Nase, um den mit zunehmender Tiefe notwendigen Druckausgleich herzustellen. In drei Metern Tiefe piepste plötzlich sein Tauchcomputer, der sich automatisch bei Wasserberührung und einem gewissen Außendruck aktivierte. Das Piepsen klang unvertraut, fast wie ein Alarm. Er sah auf dem grauen Display das Wort Error blinken. Schlecht, dachte er, denn das Tragen eines funktionierenden Tauchcomputers war absolute Pflicht. Zwar konnte man auch mit Tauchtabellen mühsam berechnen, wie lange man in welcher Tiefe höchstens bleiben konnte, ohne die oft vorkommende tödliche Dekokrankheit zu riskieren. Seit dem Aufkommen der leistungsfähigen Tauchcomputer tat das jedoch kein Mensch mehr. Ahmed hatte das Riffdach bereits hinter sich gelassen und war bereits in etwa zehn Metern Tiefe, als er bemerkte, dass sein Tauchpartner oberhalb geblieben war und den Abstieg abgebrochen hatte. Er stieg etwa zwei Meter wieder auf und sah im klaren Wasser die Zeichen, mit denen ihn sein Partner auf den defekten Computer hinwies. Ahmed überlegte kurz, deutete dann auf seinen eigenen Computer und signalisierte Kurt, das Piepsen zu ignorieren und mit ihm gemeinsam weiter abzusteigen. Kurt verstand. Er würde sich, was ohnehin vorgesehen war, in unmittelbarer Nähe von Ahmed halten, so dass die von dessen Computer ermittelten Werte automatisch auch für ihn gelten würden. Sie stiegen weiter ab. Unmittelbar neben ihnen schoss in zwölf Metern Tiefe ein Schwarm Makrelen vorbei. In dem Licht leuchteten die Fische intensiv blau. Der Steilhang, den sie hinabtauchten, war über und über mit Weichkorallen in den Farben grün, gelb und rot bewachsen, wobei das Rot nur zu sehen war, wenn Kurt den Strahl seiner Tauchlampe darauf richtete. In achtzehn Metern Tiefe kamen die ersten Überhänge, in die Kurt, auf dem Weg nach unten, kurz hineinleuchtete. Er sah nichts Besonderes. Ab etwa sechsundzwanzig Metern Tiefe wurden die Überhänge immer größer und dunkler. Sie stoppten den Abstieg und leuchteten in die Höhlen hinein. Gekonnt schwebten sie im klaren Wasser, das sogar hier unten noch so viel Tageslicht durchließ, dass es trotz der Tiefe heller war als an einem bewölkten Novembertag in München. Die vor ihnen liegende Höhle hatte einen runden Eingang von vielleicht zwei Metern Durchmesser, und im Schein der Lampe sah Kurt den faszinierend leuchtendgrünen Algenbewuchs. Er wunderte sich, woher die Pflanzen das Licht zum Wachstum bekamen. Fische konnte er keine in der Höhle entdecken, aber sein Lampenstrahl kam auch nicht ganz bis ans Ende, da die Höhle innen zunehmend enger wurde und nach etwa drei Metern einen Knick nach rechts machte. Kurt wollte gerade auf gleicher Höhe im Uhrzeigersinn
weitertauchen, als er bemerkte, dass Ahmed ihm ein kurzes Wartezeichen gab und, ohne mit Flasche oder Flossen die Wände der Höhle auch nur zu berühren, hineinschwamm. Von außen sah er, wie sein Tauchpartner bis zu dem Knick schwamm, dort innehielt und in den verborgenen Teil hineinleuchtete. Nach etwa zwei Minuten schob er sich, eine Wende war in der engen Höhle nicht möglich, vorsichtig rückwärts zurück und wieder aus dem Höhleneingang heraus. Dort machte Ahmed Kurt deutliche Zeichen, in dem er mit beiden Händen am Kopf Antennenwedeln imitierte, sich dann den Bauch rieb und mit den Händen die Zahl zehn zeigte. Kurt verstand: In der Höhle waren an die zehn große Langusten oder Hummer versteckt. Ahmed bedeutete ihm, ebenfalls hineinzuschwimmen. Nur kurz zögerte Kurt, wollte den Tauchguide aber keinesfalls durch Desinteresse enttäuschen. Äußerst ungern schwamm er in Höhlen hinein, vor allem nicht in so enge. Kein vernünftiger Taucher tat so etwas ohne Not. Der Gedanke verursachte ihm ein übles Gefühl in der Magengegend. Unter Wasser ließ es sich jedoch schwer argumentieren, und so gab er Ahmed das OK-Zeichen. Vorsichtig und ebenfalls berührungslos schwebte er also in den dunklen Höhleneingang hinein und bewunderte den grün-
lichen Belag, der im Licht der Lampe intensiv leuchtete. Vielleicht handelte es sich um eine Schwammart, dachte er. Dann hatte er den Knick erreicht und richtete den Strahl der Lampe in den von außen verborgenen Teil der Höhle. Der Bewuchs hörte hier abrupt auf, und er sah nur nackten Fels. Keine der markanten Antennen von Langusten, keine Hummerscheren. Er leuchtete das Höhlenende noch einmal komplett aus und … In dem Moment spürte er etwas hinter sich, konnte sich auf Grund der Höhlenenge und der sperrigen Aluflasche auf seinem Rücken aber nicht ausreichend umwenden. Plötzlich umklammerte etwas seine Beine, so dass er sich nicht mehr bewegen konnte, während er gleichzeitig eine Bewegung in seiner Rückengegend zu spüren vermeinte. Panik erfasste ihn und er drehte und wendete sich ruckartig hin und her, ohne jedoch die Umklammerung an seinen Beinen lösen zu können. Mit der linken Hand versuchte er, hinter sich zu langen, während ihn in der rechten Hand die große Tauchlampe behinderte, die mit einer eng sitzenden Schlaufe am Handgelenk befestigt war. Er atmete hastig und alle möglichen wirren Gedanken schossen ihm in lähmender Angst durch den Kopf. Versuchte man ihn umzubringen? Er strampelte wie ein Wahnsinniger und stieß mit den nackten Händen immer wieder an den rauen Fels. Über Wasser würde man schreien, dachte er in Panik, und versuchte, seinen für ihn unsichtbaren Gegner durch Ausschlagen mit den Flossen loszuwerden. Doch der Klammergriff um seine Beine wurde eher noch fester. Im selben Moment merkte er, wie es immer mühsamer wurde, Luft aus dem Atemgerät zu ziehen. Hektisch sog er so viel des Atemgases aus der Flasche, wie nur möglich. Doch trotz heftigem Ziehen kam kaum noch etwas in seinen Lungen an. Jemand drehte ihm langsam an der Flasche auf seinem Rücken das Ventil zu! Alle Reserven mobilisierend bäumte er sich in der engen Höhle so weit wie möglich auf, doch der eiserne Griff um seine Beine verstärkte sich nur. Da blieb die Luft ganz aus und er wusste, dass dies das Ende bedeutete. In einem verzweifelten Versuch, sich rückwärts seinem Gegner entgegen zu schieben, schlug er sich die Handgelenke an der Felswand blutig. Gegen seinen eigenen Willen riss er sich das jetzt nutzlose Atemgerät reflexartig aus dem Mund, schluckte Salzwasser, sah im Strahl der Lampe seinen Ehering blitzen, hustete Salzwasser in Salzwasser aus, schluckte erneut, sah schwarz vor Augen, erschlaffte. Er dachte noch an Elisabeth, die ab jetzt alleine sein würde, und dann spürte er nichts mehr.
Dr. Anton Glock brauchte eine Pause. Eines seiner zahlreichen Gesetze – allesamt Maximen, die er aus seiner Beobachtung des prallen Lebens ableitete – hieß: Wenn man in einer wichtigen Besprechung plötzlich an Flucht dachte, hatte dies meist einen wichtigen Grund, und man tat gut daran, sich die Erfüllung dieses Wunsches nicht zu versagen. Er verließ den Sitzungssaal, ging in das nüchterne Treppenhaus und zündete sich eine Zigarette an. Man konnte ihn als Gelegenheitsraucher bezeichnen. An manchen Tagen konsumierte er gierig ein halbes Päckchen, dann wieder wochenlang keine einzige Zigarette. Der Blick aus dem Fenster zeigte viel Grün und die auf dem weiten Gelände locker verstreuten Verwaltungsgebäude der Konzernzentrale. Weiße Stahl- und Glasbauten eines Stararchitekten aus den Siebzigerjahren, die technische Kompetenz, Modernität und Macht des Konzerns betonen sollten. Im Sitzungssaal wurde weiterhin heftig diskutiert. Heute hatte man die Chefs der elf wichtigsten Landesgesellschaften eingeladen, um ihnen einen Plan zur deutlichen Steigerung der Vertriebseffizienz in den nächsten Jahren vorzustellen. Dies hieß: Mehr Umsatz mit weniger Aufwand erreichen. Der Plan war von Anton Glock entwickelt worden, der als ›Stellvertretender Leiter der zentralen Abteilung für Unternehmensstrategie‹, wie er offiziell hieß, die Erstellung derartiger Programme im Konzern verantwortete. Die Brisanz des heutigen Termines lag in der Anwesenheit des Finanzchefs des Konzerns, Heinrich Nagelschneider, der in den nächsten Wochen darüber zu entscheiden hatte, ob er, Glock, seinen Chef in der Leitung der mächtigen Zentralabteilung beerben würde. Viel hing davon ab, ob er heute eine gute Figur machte und sich auf dem politisch glatten Parkett der hochkarätigen Veranstaltung in den Augen des Finanzers bewährte.
Er drückte die Zigarette auf dem marmornen Fensterbrett aus und betrat den Sitzungssaal wieder. Einige missbilligende Blicke aus der knapp zwanzigköpfigen Runde brachten zum Ausdruck, dass sein kurzzeitiges Verlassen des Raumes seiner jugendlichen Ungeschliffenheit zugerechnet wurde. Gerade erläuterte Kroupa, der österreichische Geschäftsführer, warum der österreichische Marktanteil der Firma ohne den Kauf eines Konkurrenten ›definitiv nicht zu steigern‹ sei, und dass man das gedeihliche und nutzbringende Verhältnis der österreichischen Geschäftsleitung zur Arbeitnehmervertretung nicht durch hässliche Diskussionen über eventuelle Stellenkürzungen bei den Vertriebsmitarbeitern gefährden dürfe. Er schloss mit den Worten:
»Meine Damen und Herren, Sie wissen, dass wir Wiener in der Vergangenheit stets Vorreiter waren, um im Schuegraf-Konzern Maßnahmen zur Ergebnisverbesser-ung durch- und auch umzusetzen. Das wird natürlich so bleiben! Der uns heute vorgestellte Plan ist vom guten Willen beseelt, die Firma nach vorne zu bringen. Die Vorschläge machen einen plausiblen Eindruck und sind uns durch viele Zahlen und Grafiken veranschaulicht worden. Und dennoch: Es ist das Werk einerZentralabteilung,einer Abteilung mit hochintelligenten Leuten wie unserem Herrn Dr. Glock«, hier wedelte er mit seinem silbernen Laserpointer kurz in Glocks Richtung,
»… die in ihrem Leben aber bislang keinerlei Gelegenheit hatten,operativeGeschäftsverantwortung zu schultern und gerade darum immer wieder den alten und weisen Satz vergessen: ›Strategy is easy, implementation is hard!‹Meine Damen und Herren, Sie wissen, wie sehr gerade mir daran gelegen ist, diese Firma voranzubringen. Ich schlage darum vor, heute erst einmal keine Entscheidung zu treffen und erkläre mich statt dessenfreiwilligbereit, gemeinsam mit meinem italienischen Kollegen, Signor Alabanda, in den nächsten acht Wochen einen weitaus praktikableren Alternativplan auszuarbeiten, der diesmal aus dem Geiste der Praxis geboren sein wird. Vielen Dank.« Während Kroupa sich setzte, klopfte die Mehrzahl der Anwesenden spontan applaudierend mit den Fingerknöcheln auf den Konferenztisch. Der mächtige Finanzchef des Konzerns, Nagelschneider, saß schweigend in seinem Sessel und bewegte keine Augenbraue in seinem asketischen, schmalen Gesicht. Alle schauten erwartungsvoll zu Glock. Die blumigen Ausführungen des Österreichers, garniert mit kleinen Messerstichen in Richtung der Zentralabteilung und gipfelnd in einem konkreten Vorschlag zur Vertagung sowie zur Ausarbeitung eines Alternativvorschlages, würden praktisch das Aus für seinen in vielen Wochen ausgearbeiteten Plan zur Steigerung der Vertriebsleistung bedeuten. Alle hier wussten dies. Und alle warteten wie die Aasgeier auf die Antwort des Vize-Unternehmensstrategen, der mit seinen gerade einmal fünfunddreißig Jahren der jüngste Manager in diesem Raum war. Heute Morgen hatte sich Glock noch auf die Sitzung gefreut, denn das sollteseinTag werden. Das Vertriebseffizienz-Programm, das wichtigste Programm der nächsten Monate im Konzern, würdeseineHandschrift tragen und auch den Finanzchef davon überzeugen, dass er der richtige Nachfolger seines Chefs war. Für dieses Programm hatte er die letzten fünf Wochenenden geopfert, von den Nächten Montag bis Freitag ganz zu schweigen. Dieses Programm,sein Programm, drohte nun unterzugehen, und plötzlich bereute er die heutige Abwesenheit seines Chefs Röckl, der politisch mit allen Wassern gewaschen war und dessen Unterstützung er nun so dringend gebraucht hätte. Jetzt kam es darauf an: Seine Reaktion entschied übervielmehr als nur über das Effizienzprogramm. Zieh nie in eine Schlacht, die du nicht gewinnen kannst, lautete eine seiner Maximen. Erst recht nicht aus so albernen Gründen wie Stolz, Rache, Rechthaberei oder gar Spaß am Kampf. Diese Regel befolgend stand er langsam auf und stellte sich an das Kopfende des Konferenztisches. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, und bis auf das leise Brummen des Beamers war es totenstill in dem abgedunkelten Raum.
»Meine Damen und Herren. Ich bedanke mich bei Herrn Kroupa für die anschaulichen Ausführungen und bitte Sie, seinem pragmatischen Vorschlag zuzustimmen.« Ungläubiges Staunen. Gemurmel. Der Finanzvorstand schaute erstmals während der gesamten Konferenz interessiert auf.
»Herr Blaubusch«, bat Glock einen seiner Mitarbeiter, der im Hintergrund das Notebook mit den Präsentationen bediente und wesentliche Teile der Analysen durchgeführt hatte, »bitte zum Backup Seite acht wechseln.« An der Wand erschien eine bunte Grafik mit der Überschrift »Marktanteilsveränderungen der elf größten Landesgesellschaften«. Glock richtete seinen Laserpointer auf die Säulendiagramme und erläuterte:
»Die linke Säule stellt jeweils den Marktanteil der Landesgesellschaftvor fünf Jahrendar, die Säule daneben denheutigen. Es fällt auf, dass bis auf zwei Landesgesellschaften – Osteuropa und England –allein den letzten Jahren deutlich Marktanteile verloren haben, einige sogar im zweistelligen Bereich!« Die Konferenzteilnehmer folgten dem roten Leuchtpunkt des Laserpointers zu den Säulen mit den Marktanteilen der Alpenrepublik und registrierten, dass hierzu augenscheinlich auch Österreich zählte, obwohl Glock das Land mit keiner Silbe erwähnte. An zwei Stellen im Raum kicherte es verhalten. Kroupa sah verärgert drein und versuchte Glock mit einem seiner bekannten Wilhelm-Busch-Zitate den Angriffsschwung zu nehmen:
»Mein lieber Glock: ›Wer durch des Argwohns Brille schaut, sieht Raupen selbst im Sauerkraut …‹Sie vergessen die sagenhaft hohe Gewinnmarge, die wir im letzten Jahr erwirtschaftet haben!« Sein Kontrahent ignorierte den kleinen Reim und das vereinzelte Grinsen im Raum.
»Nächste Seite bitte.« Diesmal sah man Säulen in abnehmender Größe und der Stratege fuhr fort:
»Hier sehen Sie die Vertriebseffizienz der Landesgesellschaften inabfallenderReihenfolge. Wir haben je Land die Vertriebskosten ins Verhältnis zum Umsatz gesetzt, so dass man sieht, wie viel Euro Umsatz der EinsatzeinesEuros im Vertrieb bringt.« Glock hatte diese detaillierten Analyse-Folien mit dem Vergleich der Länder bewusstnichtim Hauptteil seines Vortrages gezeigt, um keine der Landesleitungen vor dem Finanzchef an den Pranger zu stellen. Dies hätte die Zustimmung zu seinem Effizienzprogramm gefährdet, die dann ja ohnehin ausgeblieben war. Glock fuhr fort:
»Was deutlich auffällt beim Vergleich der beiden Grafiken, ist, dass jene Länder mit der heute bereitshöchstenVertriebseffizienz nicht nur die wenigsten Marktanteile verloren, sondern, im Gegenteil, vereinzelt sogarMarktanteile dazugewonnenhaben – wie beispielsweise Eng-land!« Am heftigen Nicken des englischen Kollegen, Peter Frey, erkannte Glock einen potentiellen Unterstützer, der sich nur noch nicht aus der Deckung wagte.
»Meine Damen und Herren: Vertriebseffizienz – leider zu häufig mit plumpem Personalabbau gleichgesetzt –undMarkterfolge schließen sich also keineswegs aus, sondern bedingen sich sogar gegenseitig!« Strategische Pause und Spannung im Saal, was nun kommen würde. Mit seiner Zustimmung vorher zum Österreich-Plan hatte er die Schlacht aus Sicht der Teilnehmer ohnehin verloren, egal wie unwiderlegbar seine Ausführungen jetzt auch sein mochten.
»Ich schlage daher wie gesagt die Annahme der Idee von Herrn Kroupa vor und halte es für ein gutes Zeichen, dass mit seiner Person jemand ausIhremKreis der Landesleitungen die Federführung des Programms übernehmen will. Zusätzlich empfehle ich – in Anbetracht der gerade dargelegten Fakten – neben Österreich und Italien noch einen zusätzlichen Landeschef in das Ausarbeitungsteam aufzunehmen; den Chef eines Landes, das bereits in der Praxis bewiesen hat, dass man erfolgreich Marktanteile gewinnen kann,ohnedie Kosten explo-dieren zu lassen: England! Und zweitens: Ich empfehle, die Zeit für die Ausarbeitung des Alternativplanes von acht auf vier Wochen zuhalbieren,da wir rein rechnerisch jeden Monat 0,1% Marktanteil verlieren. Wir müssen jetzt vor allemschnellhandeln! Und drittens biete ich an, persönlich in der Arbeitsgruppe unter der Federführung von Herrn Kroupa mitzuarbeiten und meine bisherigen Überlegungen und Erkenntnisse aktiv einzubringen. Ich schlage vor, dies heute als Beschluss zu verabschieden.« Noch bevor Glock sich setzen konnte, ergriff jetzt für alle überraschend Nagelschneider das Wort und kam damit Kroupa zuvor, den es sichtlich zu einer Erwiderung drängte und der sich kaum auf dem Stuhl halten konnte.
»Ich denke«, fing der CFO gewohnt bedächtig und mit leiser Stimme an, »wir haben heute einige sehr treffende Analysen unserer Situation gesehen. Wir alle sind es dieser Firma schuldig, jetztschnellund mit Augenmaß zu handeln. Ich meine, wir alle können dem vorliegenden Vorschlag zum weiteren Vorgehen, wie von unserem Herrn Dr. Glock gerade dargelegt, ohne Einschränkungen zustimmen. Ich bitte Sie, Herr Kroupa, diesem Kreis spätestens in einem Monat den überarbeiteten Plan vorzulegen. Sind alle einverstanden?« Er blickte kurz in die Runde. Kroupa blieb nur noch übrig, zu nicken. Ein langes, blondes Haar löste sich dabei von seinem Mittelscheitel und landete auf dem dunklen Besprechungstisch. Der mit Haaren nicht mehr allzu üppig gesegnete Österreicher betrachtete es wehmütig. Der Finanzchef der Schuegraf AG fuhr unterdessen fort:
»Ich bedanke mich bei allen Anwesenden für die Anreise zu diesem für unsere Zukunft so wichtigen Programmauftakt. Mein besonderer Dank gilt jedoch Herrn Dr. Glock und seiner Mannschaft, die den Stein so wirkungsvoll ins Rollen gebracht haben … Meine Damen, meine Herren, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.« Sprach’s und verließ den Konferenzsaal. In Anton Glocks Magen löste sich ein großer, rostiger Metallklumpen in Luft auf. Er hatte eine drohende, totale Niederlage erfolgreich abgewendet und damit in den Augen der Anwesenden deutlich an Respekt gewonnen. Den Rest des Tages würde er brauchen, um seinen Adrenalinspiegel wieder herunterzufahren.
Barbara Glock zuckelte mit ihrem kleinen Fiat-Lieferwagen über die Landstraße im Landkreis Rosenheim und ließ ihre Gedanken schweifen. Zwischen ihr und ihrem Mann Anton gab es selten Streit, außer über politische Ansichten. Seit sie vor knapp vier Jahren geheiratet hatten, führten sie das, was man eine harmonische Ehe nennt. Harmonisch, aber aus Barbaras Sicht nicht langweilig. Dafür sorgte schon ihre komplett unterschiedliche Herangehensweise an das Thema Beruf. Anton wollte schlicht Karriere machen und hatte dies auch nie verleugnet. Ob das nun in einem Produktionsbetrieb für Tiernahrung oder in einem Bankkonzern passierte, war ihm schlicht einerlei. Seine Loyalität zum jeweiligen Arbeitgeber war direkt abhängig von der ihm dort ermöglichten Geschwindigkeit nach oben. Eines von Glocks Gesetzen, mit denen ihr Mann sie regelmäßig an seinen Einsichten über das Leben teilhaben ließ, besagte in etwa: Unternehmen opfern ihre Mitarbeiter ohne zu zögern, wenn es ihnen wirtschaftliche Vorteile bringt. Die Intelligenteren unter den Angestellten wissen das und lachen sich auf dem Firmenklo über die Unternehmensleitsätze kaputt, in denen Mitarbeiter alswichtigstes Kapitalder Firma gepriesen werden. Mit anderen Worten: Die Firmen behandelten einen Mitarbeiter genau so lange gut, wie sie daraus wirtschaftliche Vorteile zogen und ließen ihn fallen, sobald dies nicht mehr der Fall war. Die Mitarbeiter taten darum gut daran, jegliche Loyalität gegenüber der Firma über Bord zu werfen und ihr nur so lange treu zu bleiben, bis sich etwas Besseres fand. Barbara war diese Einstellung zu Beginn ihrer Beziehung äußerst suspekt gewesen, bis sie schließlich bemerkte, dass sich sein widerlicher Opportunismus strikt auf den Beruf beschränkte. Sie selbst sprach ein Wort wieKarriereplanungvoller Verachtung aus. Als für den frisch promovierten Anton die Entscheidung anstand, sich bei einem Unternehmen zu bewerben, hatte sie eifrig mit ihm diskutiert und mit ihren Meinungen zu einzelnen Firmen nicht hinter dem Berg gehalten. Er hatte über private Beziehungen schnell das verlockende Angebot einer großen Textilfirma erhalten, die dortige Controllingabteilung aufzubauen. Barbara hatte ihr Veto eingelegt, da die Firma im Billigsegment tätig war und ihre konkurrenzlos guten Preise nur durch die Inkaufnahme von Kinderarbeit in Drittweltstaaten halten konnte. Zumindest war das die Meinung in Barbaras Bekanntenkreis gewesen. Daraufhin hatte Glock sie um konkrete Vorschläge gebeten, welche großen Firmen sie ihm denn guten Gewissens für seinen Broterwerb empfehlen könne. Sie hatte recherchiert und eine Liste akzeptabler Arbeitgeber erstellt: Das Familienunternehmen Schuegraf war dabei gewesen. Neben Siemens, Allianz, der Deutschen Post und ein paar langweiligen Mittelständlern. Barbara selbst hatte Einzelhandelskauffrau bei einer der großen deutschen Lebensmittelketten gelernt und hatte schließlich angewidert einen Abschluss mit hervorragender Bewertung abgeliefert. Doch statt, wie ursprünglich geplant, ein Studium anzuhängen, zog sie die Konsequenzen aus all den Aha-Effekten der Ausbildungszeit und beschloss, es den Handelskonzernen mit dem dort erworbenen Handwerkszeug zu zeigen: Sie hatte die kleine Erbschaft ihres jung verstorbenen Vaters verwendet, um einen kleinen Lebensmittelladen in München zu kaufen, dessen altgediente Besitzer finanziell vor dem ›Aus‹ standen.
Seitdem versuchte sie den Laden wieder auf Vordermann zu bringen, schloss aber bis jetzt immer noch jeden Monat mit einem dicken Minus ab, das durch Antons Gehalt finanziert wurde. Ein Thema, das ihr Mann lieber nicht ansprach. Als sie ihn kennen gelernt hatte, befand sie sich gerade im letzten Ausbildungsjahr, und er schrieb fleißig an seiner Doktorarbeit. Über irgendein Thema, das sie noch jetzt, elf Jahre später, zum Gähnen brachte, wenn sie nur den Versuch machte, sich daran zu erinnern.
Sie waren sich seinerzeit im Zoo das erste Mal begegnet, genauer gesagt in der Fisch-Abteilung des Münchner Zoos. Anton, ermüdet von der trockenen Schreibarbeit in seinem kleinen Apartment, stand vor den blubbernden Aquarien und blickte sehnsüchtig auf die bunten Tropenfische, die ihn an das Tauchen an Korallenriffen erinnerten. Dazu hatte er aktuell weder Geld noch Zeit. Barbara befand sich zufällig im selben Raum. Sie bemitleidete die Fische in den gläsernen Käfigen und plante in Gedanken einen Infostand vor dem Haupteingang des Zoos, in dem sie die Zurschaustellung von Lebewesen in zoologischen Gärten anprangern wollte. Anton, das hatte er ihr später erzählt, war sofort fasziniert gewesen von der auf so natürliche Weise anziehenden Frau, die ganz anders wirkte als seine geschminkten Kommilitoninnen in ihren Markenklamotten. Einer spontanen Regung folgend hatte er sie angesprochen: »Wunderschön, diese Papageienfische! Ich habe zu Hause ein eigenes Aquarium mit ein paar seltenen Schwalbenschwänzen. Wenn du möchtest, kannst du gerne einmal vorbeikommen und sie dir ansehen …« Anton hatte eine sehr dunkle Stimme gehabt und Barbara wäre, obwohl sie es augenscheinlich mit einem Tierquäler zu tun hatte, am liebsten sofort mitgekommen. Schwalbenschwänze!
Es war die sprichwörtliche Liebe auf den ersten Blick gewesen. Schwarzer Rollkragenpullover, grüne Augen, verstrubbeltes Haar und eine Anmache, die in ihrer Primitivität nur an die klischeehafte Einladung zum gemeinsamen Betrachten der Briefmarkensammlung erinnerte. Die beiden hatten Adressen ausgetauscht, und Anton hatte die nächsten Tage an einer geeigneten Formulierung herumgebastelt, die ihr das Nichtvorhandensein eines Aquariums in seiner Wohnung erklären sollte. Er hatte nämlich noch nie eines besessen.
Bei Barbaras erstem Besuch führte genau diese kleine Notlüge dazu, dass die beiden auf direktem Weg im Bett landeten: Erstens war sie überaus erleichtert, sich in keinen Fischquäler verliebt zu haben, und zweitens zeigte ihr die spontane Lüge Antons nur, wie gut sie ihm auf Anhieb gefallen hatte. Sie war überaus geschmeichelt gewesen und musste stets schmunzeln, wenn sie an den Beginn ihrer Beziehung dachte. Heute, ein Jahrzehnt später, liebte sie ihren Mann noch immer und wünschte sich ein Kind. Barbara merkte jedoch, dass Anton diesem Thema auswich. Und sie merkte, dass ihr Wunsch nach purem Sex in gleichem Maße nachließ, wie der Kinderwunsch wuchs. Sie nahm sich vor, dieses Thema demnächst bei einer Flasche Wein offen anzusprechen.
Heute war sie mit ihrem kleinen Fiat-Lieferwagen bis ins Voralpenland gefahren, um sich dort einen Biobauernhof in der Erwartung anzusehen, dort eventuell günstig Bioeier, Käse und Gemüse für ihren Laden beziehen zu können. Die Hoffnung hatte sich jedoch schnell zerschlagen, da der Hof bereits ausreichend über gut zahlende Abnehmer im reichen Münchner Umland verfügte und Barbara bei ihren aktuell noch geringen Absatzmengen keinen wirklich guten Preis verhandeln konnte. Sie hatte sich mit der Junior-Chefin des Hofes jedoch persönlich gut verstanden und wollte erneut auf sie zukommen, wenn sich ihre Kundenbasis ausgeweitet haben würde. Jetzt fuhr sie in der Abendsonne gen München und sinnierte über den Unterschied zwischen ihrem Arbeitsalltag und jenem von Anton nach. Endlose Besprechungen und Konferenzen mit – ihrer Ansicht nach – glattlackierten Managern auf der einen und der tägliche Existenzkampf zwischen Milch, Käse, Gemüse und Geiz-ist-geil-versessenen Kunden auf der anderen Seite. Wenn die beiden sich abends, jedenfalls dann wenn Anton einmal pünktlich heimkam, gegenseitig ihren Tages- ablauf und die neuesten Geschehnisse schilderten, trafen zwei derartig unterschiedliche Welten zusammen, dass sie häufig lauthals darüber lachen mussten. Ebenso häufig führten sie hitzige Diskussionen über die Interpretationshoheit aktueller politischer Ereig- nisse. Sie gab jetzt etwas mehr Gas, denn Anton hatte versprochen, nach seiner wichtigen Konferenz heute erstmals seit Wochen wieder zu einem vernünftigen Zeitpunkt nach Hause zu kommen. Sie wollte noch etwas kochen und hatte auf dem idyllischen Hof zumindest alles eingekauft, um nachher ein paar saftige Lammkoteletts grillen und einen knackigen Salat zubereiten zu können. Es war schon recht spät und die tief stehende Abendsonne schien schräg und feuerrot durch das geöffnete Autofenster, als das Mobiltelefon auf dem Sitz neben ihr klingelte. Es war das Telefon ihrer Freundin Babette, die sie gerade im Laden vertrat. Barbara, sonst strikte Handy-Gegnerin, hatte es sich für die heutige Fahrt geliehen, um für Babette bei dringenden Fragen aus dem Laden erreichbar zu sein. Sie fischte das Handy vom Beifahrersitz, erkannte auf dem Display sofort ihre eigene Geschäftsnummer und fand, auf dem für sie völlig ungewohnten Gerät, erst nach einigem Herumdrücken den richtigen Knopf.
»Ja, was gibt’s Babette? Bin sowieso gleich zurück in München.« Sie hörte nur ein schmerzvolles, dumpfes Stöhnen, keine Antwort sonst. Da stimmte etwas nicht.
»Hallo, hallo! Babette, bist du es? Sag doch was! Ist was?« Sie wusste nicht, ob sie anhalten sollte, um die Fahrgeräusche verstummen zu lassen und den Anrufer besser verstehen zu können, oder ob sie besser Gas in Richtung München geben sollte. Schließlich bremste sie hektisch an einem Feldweg, presste das Handy an ihr Ohr und fragte erneut:
»Babette, Babette! So sag doch was! Ist was passiert?« Panikschweiß trat ihr aus allen Poren.
»Mhmmm, mhhhh!!!« Ein Stöhnen, das wie Zustimmung klang.
»Bist du im Laden?«
»Mhmmmm, mhhhm!!!« Sie traf einen Entschluss:
»Ich lege jetzt auf, rufe Hilfe und komme so schnell wie möglich, o.k.!?«
»Mhmmmm, mhhhm!!!« Sie unterbrach mit zittrigen Fingern die Verbindung, wählte die 110, gab der Polizei die Adresse ihres Ladens und raste die letzten Kilometer nach München zurück. Sie hatte gar nicht gewusst, was in dem alten Fiat alles steckte.
Vor ihrem Laden in der beschaulichen Altbaustraße in München-Neuhausen standen auf dem Bürgersteig ein Notarzt- und ein Polizeiwagen. Sie stellte das Auto mit Warnblinker in die zweite Reihe und stürzte auf den Eingang ihres Geschäftes zu. Zwei Polizisten brachen gerade die Glastür auf, die eigenartigerweise abgeschlossen war, zwei Sanitäter standen ungeduldig daneben. Sie fuchtelte mit ihrem Schlüssel und drängte sich durch die Handvoll Passanten, die die Szenerie umstanden. Dann schloss sie auf, während ihr Herz vor Angst auf das, was sie im Laden erwartete, wild raste. Die Polizisten stürzten voran. Der große, dunkle Ladenraum war leer, hinter der hölzernen Theke kein Mensch, auch nicht im kleinen Bürozimmer dahinter. Nichts. Kein Lebenszeichen von ihrer Freundin. Sie rief den Polizisten zu: »Der Keller!« Mit einem Mal wurde ihr schwarz vor Augen. Sie hielt sich an der Theke fest, atmete tief durch und zählte langsam bis zehn. Dann stolperte Barbara mühsam die steile Treppe zum Keller des Jahrhundertwendehauses hinunter und stieß die Tür zum Lager auf. Dort waren die beiden Polizisten bereits dabei, sich um ihre Freundin Babette zu kümmern, die zusammengekrümmt am Boden lag.
»Die Hände waren an ein Heizungsrohr gefesselt, in einer Hand hatte sie noch das Schnurlosteil des Ladentelefons, von dem aus sie Sie angerufen hatte«, erklärte ein Polizist. »Füße und Mund waren mit Paketband verklebt.« Barbara bemerkte frisches Blut am Kopf der Freundin, das sich feucht auf dem blonden Haar abzeichnete und – sie stieß einen Entsetzensschrei aus, als sie sich über Babette beugte – man hatte ihr den kleinen Finger der rechten Hand abgeschnitten. Das fehlende Gliedmaß lag wie eine weggeworfene Zigarettenkippe auf dem schmutzigen Beton des Kellerbodens. Barbara wurde erneut schwarz vor den Augen. Die Polizisten zogen sie vorsichtig von Babette weg, und man kümmerte sich um die verletzte Frau, die leise vor sich hinwimmerte und auch nach Entfernen des Klebebandes keinen vernünftigen Ton herausbekam.
Eine Stunde später saßen Anton und Barbara Glock auf der Couch ihrer geräumigen Altbauwohnung im Stadtteil Haidhausen. Barbara schluchzte leise und stammelte immer wieder »Warum, warum nur?« Anton legte den Arm um sie und versuchte beruhigend auf sie einzureden, wobei er sie bewusst in ihrer Ansicht bestärkte, dass etwas ganz Schreckliches passiert war. Glock wusste und hatte eine Maxime daraus abgeleitet: Jemand, der weinte, wolltekeineswegsdavon überzeugt werden, dass es gar keinen Grund zur Traurigkeit gab. Am wirkungsvollsten half man, in dem man den Trauernden sogar noch nach Kräften darinbestärkte.Er war sich ziemlich sicher, was passiert war und kochte innerlich: Vor etwa vier Wochen hatte Barbara Besuch erhalten von zwei jungen Männern mit slawischem Akzent, die dem Laden ihre Dienste angeboten hatten. Sie gaben an, für einen privaten Sicherheitsdienst zu arbeiten und machten ihr den Vorschlag, auch ein wenig auf Barbaras kleinen Laden zu achten, da sie ohnehin einige Kunden in dieser Gegend hätten. Barbara hatte, nichts Böses ahnend, höflich abgelehnt, da sie München ›für sehr sicher‹ hielt, sie sich ›keine weiteren Kosten leisten‹ konnte und sie im Übrigen auch ›mit Lebensmitteln und nicht mit Wertgegenständen‹ handelte. Die beiden so genannten Sicherheitsleute hatten sich nach dieser Antwort verblüfft angesehen und dann etwas hilflos darauf hingewiesen, dass die alten Vorbesitzer des Ladens ›seit Jahren‹ von ihren Diensten profitiert und die Zusammenarbeit nie bereut hätten. Bester Beweis: »Es ist in all den Jahren hier nie etwas passiert!« Barbara hatte energisch verneint, worauf die Männer gelacht und angekündigt hatten, sie würden in ein paar Wochen wiederkommen mit »Argumenten, die hoffentlich überzeugender sein« würden. Barbara hatte sich fröhlich und in aller Naivität von den Besuchern verabschiedet. Ihr Mann hatte sie hinterher heftig gerügt: »Wie kannst du derartig weltfremd sein? Du fabulierst immer von den kriminellen Machenschaften der bösen Industriekonzerne, und wenn dir dann mal wirklich ein Verbrecher über den Weg läuft, schaust du ihn mit deinen großen Kinderaugen an und wünscht ihm einen Guten Tag! Mann, Barbara, wach auf, das waren knallharte Schutzgelderpresser! Kein Wunder, dass die Vorbesitzer deines Ladens lieber verkauft haben! Und das in München, das gibt’s doch nicht! Wir müssen unbedingt zur Polizei gehen.« Doch auch die Polizei war fest im Feindbild von Barbara verankert und man kooperierte mit ihr nur, wenn es gar nicht anders ging. Sie war sich sicher, dass die Männer nach ihrer klaren Ablehnung und ihrem Hinweis auf das finanziell noch unrentable Geschäft nicht wieder kommen würden. Er ließ das Thema schließlich fallen, nachdem sie ein ganzes Wochenende darüber diskutiert hatten und nahm ihr das Versprechen ab, bei einem erneuten Besuch scheinbar auf das Angebot einzugehen und dann mit ihm gemeinsam die Polizei zu informieren. Doch anscheinend hatten die Männer gleich Nägel mit Köpfen gemacht und ihrem Angebot für eine Geschäftspartnerschaft noch vor der nächsten Verhandlungsrunde blutig Nachdruck verliehen. Er überlegte kurz, ob er auf Barbaras Frage »Warum nur?« entsprechend antworten sollte, streichelte sie stattdessen aber lieber beruhigend im Nacken. Die Lammkoteletts wurden eingefroren, da keiner Lust auf Fleisch hatte und Glock machte den frischen Salat zurecht, damit sie zumindest etwas im Magen hatten. Anschließend gingen sie früh ins Bett, und Barbara weinte sich in seinen Armen leise in den Schlaf. Ihr Mann grübelte noch lange in die Nacht hinein.
Am nächsten Morgen sprach er das Thema beim Frühstück an und überzeugte seine Frau, die mit verquollenen Augen vor der Morgenzeitung saß, ohne den Sinn der Buchstaben aufzunehmen, die Polizei heute über die Schutzgelderpresser zu informieren, die ihr vor einem Monat einen Besuch abgestattet hatten. Er bot an, den Polizeibesuch für sie zu übernehmen. Allerdings erst, nachdem er seinen frühmorgendlichen Überraschungstermin beim Finanzvorstand der Schuegraf AG hinter sich gebracht haben würde: Der Termin war gestern, kurz nach der prekären Konferenz, noch per Mail hereingekommen und schien eine unmittelbare Reaktion auf die gestrige Sitzung zum Vertriebseffizienz-
Programm zu sein. Der Gedanke an diesen Termin erfüllte ihn mit prickelnder Spannung, da er noch nie einen Vieraugentermin mit Nagelschneider gehabt hatte und ahnungslos war, was dieser mächtige Mann von ihm wollte. Heinrich Nagelschneider war Herr über die Finanzen eines Dreißig-Milliarden-Euro-Konzerns mit Dutzenden von Tochtergesellschaften und einer mehr als hundertjährigen Firmengeschichte. Da der Vorstandsvorsitzende und Nachfolger des verstorbenen Kurt Beckendorf, Dr. von Weizenbeck, noch sehr neu war, galt der Finanzchef allgemein als der eigentliche Konzernlenker und Entscheider. Macht und Einfluss hatten Glock schon immer angezogen. Als Schüler war der seinerzeitige Inbegriff von Macht sein Traumjob gewesen: Schuldirektor. Der Berufswunsch hatte sich später stark gewandelt, der Wunsch nach Einfluss und Macht war geblieben. Dieses Bedürfnis hatte sich als starke und wichtige Triebfeder erwiesen. Glock musste beim Gedanken an seinen pubertären Schuldirektor-Wunsch schmunzeln und leitete ein passendes Gesetz ab: Wer überdurchschnittlich talentiert ist und stets exzellente Arbeitsergebnisse abliefert, wird dennoch immer subalterner Sachbearbeiter bleiben, wenn ihm derentscheidendeFaktor für den Aufstieg fehlte: der kompromissloseWille zur Macht. Daran